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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA – Manuskriptdienst Den Aufbruch wagen Die katholische Kirche und die Reformen (1/2) Autor und Sprecher: Professor Hubert W...
Author: Adolf Kuntz
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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 AULA – Manuskriptdienst

Den Aufbruch wagen Die katholische Kirche und die Reformen (1/2)

Autor und Sprecher: Professor Hubert Wolf * Redaktion: Ralf Caspary Sendung: Dienstag, 25.12.2012, 8.30 Uhr, SWR 2 ___________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR2 Wissen/Aula können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml

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Ansage: Mit dem Thema: „Den Aufbruch wagen – Wie kann sich die katholische Kirche reformieren? Teil 1“. Die Kirche muss sich ändern, sagen viele Kritiker und auch überzeugte Katholiken, wenn sie sich ewig gleich bleibt, laufen ihr die Gläubigen weg und sie verpasst den Anschluss an die Moderne. Die Frage ist nur: Wie kann und soll sie sich ändern, welche Konzepte oder Traditionen wären wichtig. Diese Fragen beantwortet heute und morgen Professor Hubert Wolf, Kirchengeschichtler an der Universität Münster. Er plädiert für eine Wahrheit, die aus der Geschichte kommt, aus der konkreten Empirie, aus der Geschichte der Kirchen mit ihrer Vielfalt kommt – so Wolf – die Kraft zur Reform. Im ersten Teil skizziert Wolf diesen historischen Ansatz, der für ihn im Weihnachtsfest symbolisiert wird.

Hubert Wolf: „Es ist an der Zeit, dass die Anmaßungen der historischen Wissenschaft und der wissenschaftlichen Historiker auf ihre eigene Sphäre und auf ihre eigenen Grenzen verwiesen werden.“ So ereiferte sich Bischof Edward Manning auf dem Ersten Vatikanischen Konzil 1870. Er hatte dabei vor allem seinen Rottenburger Bischofskollegen, den profilierten Kirchenhistoriker Karl Joseph von Hefele, im Blick, der sich mit historischen Argumenten gegen die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit ausgesprochen hatte. Manning fuhr fort, wer wirklich katholisch sein wolle, dem sei es verboten, „vom unerschütterlichen Felsen der Wahrheit des kirchlichen Lehramtes in den Sumpf der menschlichen Geschichte hinunter zu steigen“. Hefele hielt dagegen: Seine Verantwortung als Kirchenhistoriker und Bischof gebiete ihm, Widerspruch gegen das neue Unfehlbarkeitsdogma einzulegen, weil der Papst an sich nicht unfehlbar sein könne, da historisch feststehe, dass zumindest ein Papst in der Geschichte in einer zentralen Glaubensfrage geirrt hat. Honorius I., der im Monotheleten-Streit den menschlichen Willen in Christus leugnete. Das Sechste Ökonomische Konzil von Konstantinopel 680/681 verurteilte Honorius I. feierlich als Ketzer. Über mehrere Jahrhunderte hinweg mussten alle römischen Päpste bei ihrem Amtsantritt ausdrücklich sich von der Irrlehre des Honorius distanzieren und ihren als Häretiker verurteilten Amtsvorgänger auf dem Stuhl Petri mit dem Anathem belegen. Für Hefele war klar, was historisch nachweislich falsch ist, nämlich die ununterbrochene Unfehlbarkeit der Päpste, kann auch theologisch nicht wahr sein. Was dem geschichtlichen Befund eindeutig widerspricht, kann nicht zu einer dogmatischen Wahrheit erhoben werden. Vier Fünftel der deutschen Bischöfe ließen sich 1870 auf dem Ersten Vatikanischen Konzil von ihrem kirchenhistorisch gebildeten Amtsbruder überzeugen und sprachen sich gegen eine Dogmatisierung der Unfehlbarkeit aus. Hefele glaubte aus Gewissensgründen seine Verantwortung als Kirchenhistoriker wahrnehmen zu müssen. Verzweifelt schrieb er SWR2 Aula vom 25.12.2012 Den Aufbruch wagen – Die katholische Kirche und die Reformen (1/2) Von Professor Hubert Wolf

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an einen Freund: „Lieber als ehrlicher Schwabe, wenn auch suspendiert, in die Grube fahren als aus Menschenfurcht falsches Zeugnis geben. Und später etwas, was an sich nicht wahr ist, für göttlich geoffenbart anzuerkennen, das tue, wer kann. Non possum – ich kann’s nicht.“ Manning hielt entgegen: „Wir sind doch hier nicht in der Schule, sondern auf einem Ökumenischen Konzil. Nicht die Historiker sind zu befragen, sondern das lebende Orakel der Kirche. Und selbst wenn Hefele hundert Mal historisch recht habe, dann sei dies bedeutungslos, denn dann müsse halt das Dogma die Geschichte besiegen.“ Und genauso kam es: Jahrzehnte lange mühsame kirchenhistorische Forschung spielte in Rom keine Rolle. Trotz des häretischen Papstes Honorius I. wurde 1870 die Unfehlbarkeit der Päpste zum Dogma erhoben. Die opponierenden Bischöfe reisten vor der Schlussabstimmung ab, weil sie sonst aus Gewissensgründen gegen den Papst hätten stimmen müssen. Nach und nach unterwarfen sich aber alle, am Ende nach einem Jahr auch Hefele, den die doppelte Verantwortung fast zerriss. Als Kirchenhistoriker blieb er von der Unmöglichkeit des Unfehlbarkeitsdogmas überzeugt, als Bischof jedoch wollte er nicht die Verantwortung für eine Spaltung der Kirche übernehmen. Es ist aber die Einheit der Kirche ein so hohes Gut, dass sie sogar höchste persönliche Opfer rechtfertigt, das „sacrificium intellectus“. So begründete Hefele seinem Rottenburger Klerus gegenüber seine schlussendliche Unterwerfung unter das neue Dogma. Von dieser Niederlage hat sich die Kirchengeschichte, die im 19. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Geschichte, als Leitwissenschaft der katholischen Theologie gegolten hatte, im Grunde bis heute nicht erholt. Kirchengeschichte spielt im Rahmen der theologischen Erkenntnislehre bei aller formelhaften Beschwörung der Bedeutung von Geschichte und Geschichtlichkeit faktisch keine Rolle. Es kam im Gefolge des Ersten Vatikanischen Konzils zu einer weitgehenden Selbstmarginalisierung. In aktuelle Debatten mischten sich Kirchenhistoriker nicht ein, heiße Eisen fassten sie nicht mehr an. Der Münchner Kirchenhistoriker Ignatz von Döllinger, der wegen seiner Ablehnung des Unfehlbarkeitsdogmas exkommuniziert worden war, warf seinen Fachkollegen nicht umsonst vor, sie betrieben nur noch theologische Allotria. Die Kirchenhistoriker versuchten alles, um aus dem Wetterwinkel des römischen Lehramts herauszukommen, was ihnen auch tatsächlich weitgehend gelang. Kirchenhistorische Arbeit galt in Rom eher als harmlos, wenn auch in der Antimodernismus-Enzyklika Pius X. von 1910 noch einmal der Entwicklungsgedanke, ohne den kirchenhistorische Arbeit wie geschichtliche Arbeit insgesamt nicht funktionieren kann, feierlich verworfen wurde. Diese erfolgreiche Vermeidungsstrategie gegenüber römischen Bannstrahlen hat unser Fach freilich mit theologischer Bedeutungslosigkeit bezahlt. Die Kirchenhistoriker entwickelten zwei ganz unterschiedliche Modelle, um sich zu schützen. Zum einen betrieb man Kirchengeschichte rein positivistisch und konzentrierte sich auf monumentale Akteneditionen, verzichtete aber auf jede Wertung. Und man vermied das Feld der Dogmengeschichte wie der Teufel das Weihwasser. Statt Dogmenentwicklung betrieb man Realienforschung. Wer aber heute eine dogmenhistorische Frage beantwortet wissen will, der kann sich nicht an ein katholisches Lehrbuch halten, sondern muss protestantische Autoren befragen.

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Zum anderen unterwarf man die historische Arbeit einem dogmatischen Kriterium: Die von Jesus Christus gestiftete Kirche wurde von den neuscholastisch orientierten Kirchenhistorikern als ihrer Natur nach unveränderlich angesehen. Das heißt: Wesen, Verfassung, Lehre und Disziplin der Kirche mussten genauso bleiben, auch nach 2.000 Jahren, wie sie Jesus Christus von Anfang an gesetzt hatte. Jede Art von Entwicklung war dabei von vorne herein ausgeschlossen, eine offene historische Forschung nicht mehr möglich. Denn die Erkenntnis der Kirchengeschichte lässt sich a priori erkennen. Zitat: „Jeder Forscher, der nicht irren will, muss mit einer solchen a priori von ihr erworbenen Kenntnis an ihr Studium herangehen.“ Die Ergebnisse liegen also vor Beginn des Forschens bereits fest, weil die Dogmatik und in letzter Konsequenz das kirchliche Lehramt definieren, was die kirchliche Forschung zutage fördern darf und was nicht. Kirchengeschichte ist so kein eigenständiges Fach, sondern allenfalls eine unmündige Magd, die der Dogmatik und dem Lehramt die Schleppe hinterher trägt. Beide Konzeptionen sind nicht geeignet, der großen Verantwortung gerecht zu werden, die Johannes Paul II. der Kirchengeschichte im Vorfeld des Heiligen Jahres 2000 zugeschrieben hat: Am 1. September 1999 führte der Papst aus: „Die Kirche fürchtet gewiss nicht die Wahrheit, die aus der Geschichte kommt.“ Und im Kontext der Öffnung der Archive der römischen Inquisition hatte er bereits am 20. November 1998 die Aufgabe der Geschichtswissenschaften genauer umrissen: „Das kirchliche Lehramt kann nicht mit Gewissheit einen moralischen Akt wie die Bitte um Vergebung vornehmen, bevor es sich exakt über die Situation der jeweiligen Zeit hat ins Bild setzen lassen. Deshalb besteht der erste Schritt in der Befragung der Historiker, von denen man sich nicht eine ethische Bewertung erwartet, sondern vielmehr eine Hilfe zur möglichst präzisen Rekonstruktion der Ereignisse, Gewohnheiten und Einstellungen von damals im Zusammenhang des geschichtlichen Umfelds der betreffenden Epoche“. Bevor das Lehramt also handeln kann und angesichts der derzeitigen schwierigen Lage der Kirche Schritte der Reform einleitet, besteht die erste Aufgabe der Kirche und der Verantwortlichen darin – wenn man Johannes Paul II. ernst nimmt –, die Kirchenhistoriker zu befragen und nach ihrer möglichst präzisen Rekonstruktion der historischen Wirklichkeit entsprechende Schlüsse zu ziehen. Im Moment wird ja in der katholischen Kirche intensiv über Reform diskutiert. Die Bischöfe haben einen Dialogprozess eingeleitet. Und da im Moment angesichts des 50-jährigen Jubiläums der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils das Thema der Reform und das Thema des „Aggiornamento“ ganz aktuell ist, tut ein Blick in die Dokumente dieses Konzils sehr gut. Im Ökumenismus-Dekret lesen wir, die Kirche brauche eine stetige Umkehr und Erneuerung. Angesagt sei eine „Perennis Reformatio“, eine ununterbrochene Reform. Der Schritt zu dem alten Satz „eglesia semper reformanda“ – die Kirche ist eine stets zu reformierende- ist nicht weit. Reformare – das heißt doch, es muss eine „deformatio“, eine Deformation stattgefunden haben, damit in einem Akt der „reformatio“ die ursprüngliche Form, also die „formatio“, wieder hergestellt wird. Woher nimmt die Kirche die Kraft und die Ideen zu einer Reform? Doch aus dem lebendigen Strom der Tradition. Und hier kommt Kirchengeschichte ins Spiel. Sie muss nämlich dem Lehramt den ganzen Tisch der kirchlichen Tradition decken, damit man aus der ganzen Fülle der Möglichkeiten auswählen kann, wenn es um SWR2 Aula vom 25.12.2012 Den Aufbruch wagen – Die katholische Kirche und die Reformen (1/2) Von Professor Hubert Wolf

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eine Reform der Kirche geht. Kirchengeschichte, die das macht, bleibt dem empirischen Verfahren verpflichtet. Sie kann ihren Erkenntnisgewinn nur in innerweltlichen Verknüpfungen von Ereignissen, Bedingungen und Ursachen finden. Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Kirche in ihrer Geschichte. Die spirituelle Dimension der Kirche, die Erlösungsgemeinde Gottes ist aufgrund ihrer empirischen Methoden nicht zugänglich. Kirchengeschichte kann sich nur in der Geschichte bewegen und damit nur die Phänomene wahrnehmen, die die Kirche in der Geschichte produziert hat. Deshalb misst sich der Wert der Kirchengeschichte nicht an irgendwelchen Spekulationen, sondern an der Präzision ihrer historisch-kritischen Arbeit. Aber gerade mit dieser dezidiert historischen Methode ist sie ein theologisches Fach und hat theologisch äußerst Interessantes zu sagen. Die Kirchengeschichte ist, wie es Döllinger einmal treffend formulierte, neben der systematischen Theologie, der Philosophie und Dogmatik das zweite Auge der Theologie. Ohne Kirchengeschichte fehlt dem theologischen Blick zumindest die nötige Tiefenschärfe. Vielleicht wäre die Theologie ohne Geschichte auch halb blind. Ein möglicher Ansatzpunkt, um die theologische Aufgabe der historisch arbeitenden Kirchengeschichte wissenschaftstheoretisch zu fassen, lässt sich in Anlehnung an die Lehre von den „loci theologici“ – den theologischen Erkenntnisorten des Melchior Cano- finden. Wenn immer eine theologisch relevante Frage zu beantworten ist, dann müssen nach Cano zehn theologische Orte als Dokumentationsbereiche und Bezeugungsinstanzen befragt werden: die Heilige Schrift, die Tradition, die katholische Kirche, die Konzilien, die römische Kirche, die Kirchenväter, die Theologen, die menschliche Vernunft, die Philosophen und schließlich die Geschichte, die Geschichte als Ganzes, nicht nur die Kirchengeschichte. Wenn aber die Geschichte selber eine theologisch relevante Bezeugungsinstanz ist, dann muss sie doch in adäquater Weise befragt werden. Wie aber könnte man Geschichte sachgemäßer befragen als mit den eigens für sie entwickelten historischen Methoden und welches theologische Fach wäre dazu geeigneter als die Kirchengeschichte? Dasselbe gilt doch auch für die anderen theologischen Bezeugungsorte wie Konzilien, Kirchenväter und nicht zuletzt die Tradition der Kirche, die sich in unterschiedlichen Traditionen niederschlägt. Wie will man die denn anders befragen, wie ihnen nahe kommen als in einem historischen Zugriff? Kirchengeschichte befragt also die Loci Theologici, die theologischen Erkenntnisorte, zu denen sie aufgrund ihrer Methodik in einer besonderen Affinität steht. Und sie muss das Ergebnis ihrer Befragungen in den Diskurs mit den anderen Wissenschaften, aber auch in den Diskurs mit dem kirchlichen Lehramt einbringen. Denn wie sagte Johannes Paul II.: „Die Kirche fürchtet nicht die Wahrheit, die aus der Geschichte kommt.“ Wenn das ernst gemeint ist, dann muss das Lehramt der Kirche die historischen Wahrheiten, die die Kirchengeschichte aufdeckt, in möglichst präzisen Rekonstruktionen ernst nehmen. Denn die Kirchengeschichte deckt für Theologie und Lehramt den ganzen Tisch der Tradition, damit bei aktuellen Entscheidungen die ganze katholische Fülle auf dem Tisch liegt und nicht nur Teilwahrheiten. Dabei wird freilich nicht von postmoderner Beliebigkeit geredet. Vielmehr besteht die Verantwortung der Kirchengeschichte darin, diese Modelle zu präsentieren und die Verantwortung der Theologie und des Lehramts darin, diese historischen Modelle zu würdigen und zu entscheiden, inwieweit sie Anregungen geben können angesichts der derzeit dringend notwendigen Reform der Kirche an Haupt und Gliedern. SWR2 Aula vom 25.12.2012 Den Aufbruch wagen – Die katholische Kirche und die Reformen (1/2) Von Professor Hubert Wolf

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Denn die Kirche war in ihrer Geschichte nie ein monolithischer Block. Vielmehr rangen ganz unterschiedliche Katholizismen untereinander um den rechten Weg. Im Bild eines sich drehenden Rades ausgedrückt gab es eher zentrifugale und eher zentripetal wirkende Kräfte des Katholizismus. Auf wichtige Fragen wurden ganz unterschiedliche Antworten gegeben, ohne dass dabei automatisch die Einheit der Kirche in Frage gestellt worden wäre. Diese alternativen Modelle der Verwirklichung des Katholischen, diese vergessenen Optionen der Kirchengeschichte für heutige Diskussionen wieder zugänglich zu machen, gehört zu den wichtigsten und lange verdrängten Aufgaben unseres Faches. Zur Verantwortung eines Kirchenhistorikers gehört aber auch die Enttarnung ewiger Wahrheiten, wenn die Gefahr besteht, dass das Lehramt und die systematische Theologie einer ideologischen Blickverengung aufsitzen, die durch die historische Wirklichkeit nicht gedeckt ist. Denn der christliche Glaube beruht nicht auf einer Idee, nicht auf irgendeiner Spekulation, sondern er geht auf ein ganz einmaliges, konkretes, historisches Ereignis zurück. Das ist genau das, was wir an Weihnachten eigentlich feiern. Im Stall von Bethlehem wird – das ist der Grundgedanke des christlichen Glaubens – Gott selber Mensch. In dem Kind von Bethlehem erhält Gott ein Gesicht und tritt in die Geschichte ein. Aus diesem einmaligen Ereignis heraus entwickelt sich eine gewaltige Wirkungsgeschichte. Der Zugang zu Gott in Jesus Christus führt also nur über die Geschichte. Das ist der eigentlich springende Punkt von Weihachten. Die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen beruft sich auf dieses einmalige historische Ereignis, das wir Jahr für Jahr an Weihnachten feiern. Seine Wirkungsgeschichte ist von grundlegender Bedeutung. Die ganze Breite der kirchlichen Tradition führt sich letztlich auf diesen einen historischen Punkt zurück und ist deshalb nur historisch greifbar. Wer nicht nur von Geschichtlichkeit der Kirche redet, wem es um die Wahrheit geht, die aus der Geschichte kommt, der muss diesen Entwicklungsgedanken festhalten und sich klar machen, die Kirche in ihrer äußeren Gestalt war und ist einem ständigen Entwicklungsprozess unterworfen. Die Kirche war nicht so, wie sie heute ist. Ihre Ämter und Institutionen haben sich im Lauf der Zeit entwickelt und sind so, wie sie heute sind, nicht von Jesus Christus gestiftet worden. Manche kirchlichen Einrichtungen sind nach einer Blütezeit vergangen, andere erst sehr spät in der Geschichte der Kirche entstanden. Der Traditionsprozess, der seinen Ausgangspunkt an Weihnachten im Christusereignis hat, kommt nie zum Stillstand, weil sich Gott ganz auf die Geschichte eingelassen hat. Die Kirche als Institution ist Teil der Geschichte und sie wird vergehen wie die Geschichte selbst. Transformationsprozesse im Lauf der Tradition sind und waren stets an der Tagesordnung. Und der Traditionsstrom ist, wenn er wirklich katholisch sein will und dem Ganzen entsprechen will, immer pluriform. Wo, um nur ein Beispiel zu nennen, der Jesus der synoptischen Familien vom Reich Gottes redet als einer sozialen Wirklichkeit, da spricht Paulus von der Gnade, die eher individualistisch gedacht werden muss. Und was für die Heilige Schrift gilt, das gilt auch für die weitere Tradition und Geschichte der Kirche. Es kam zu immer neuen Inkulturations- und Transformationsprozessen. Die Formierung der Kirche war eben im Hellenismus keineswegs abgeschlossen, sondern hat sich immer wieder neu in der Geschichte weiter entwickelt. Besonderes Interesse verdient in diesem Zusammenhang das Thema einer einheitlichen, durch die Jahrhunderte hindurch SWR2 Aula vom 25.12.2012 Den Aufbruch wagen – Die katholische Kirche und die Reformen (1/2) Von Professor Hubert Wolf

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angeblich kontinuierlichen und widerspruchsfreien Lehrentwicklung der katholischen Kirche. Im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils ist besonders intensiv über diesen Punkt gestritten worden. Zwei Modelle ringen miteinander um die Vorherrschaft: das Kontinuitäts- und das Diskontinuitätsmodell. Das Diskontinuitätsmodell geht davon aus, das Zweite Vatikanische Konzil habe einen Bruch gebracht mit der vorhergehenden Geschichte der Kirche und habe die Kirche den Erfordernissen der neuen Zeit radikal angepasst. Die Anhänger des Kontinuitätsmodells bestreiten genau dies und sagen, im Grunde hat das Konzil gar nichts Neues gebracht. Diese letzte Position hat am nachdrücklichsten wahrscheinlich Joseph Kardinal Ratzinger vertreten, der 1985 in einem Interview sagte, einen solchen Schematismus eines Vor und eines Nach in der Geschichte der Kirche, der überhaupt nicht gedeckt ist durch die Dokumente, die nichts anderes tun als Kontinuität zu bekräftigen, heißt es entschieden entgegen zu treten. In dieser Geschichte gibt es keine Brüche und es gibt keine Unterbrechung der Kontinuität. Das stimmt, wenn man sich auf eine zentralistische, auf den Papst konzentrierte Ekklesiologie konzentriert. Hier haben die Vertreter der Kontinuitätsthese zweifellos recht. Aber gibt es nicht auch Diskontinuität, gibt es nicht auch den Bruch? Vielleicht kann man das ganz schön an dem Thema der Religions- und Gewissensfreiheit zeigen: Bereits 1791 haben wir eine ganz eindeutige Verurteilung der Gewissensfreiheit. Am deutlichsten wird dieses Urteil in der Enzyklika mirari vos von Gregor XVI., der die Gewissensfreiheit als „pestilentissimus error“ – als geradezu pesthaften Irrtum verurteilt. Und im berühmten „syllabus errorum“ – einer Liste mit 80 Zeitirrtümernverurteilte Pius IX. die Gewissens-, Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit als „diliramentum“ – als einen Wahnwitz. Diese Linie lässt sich weit ins 20. Jahrhundert hinein ziehen. Wie anders das Zweite Vatikanische Konzil! Dort wird es als die vornehmste Aufgabe der Kirche bezeichnet, „die personale Würde und die Freiheit des Menschen zu schützen“. Und die Gewissensfreiheit ist ein Teil der Freiheit, die durch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus garantiert wird. In „Dignitatis Humanae“ erklärt das Konzil: „Religionsfreiheit sei nicht nur irgendein individuelles Recht, vielmehr müsse die Freiheit als Freisein vom Zwang in allen religiösen Dingen, die dem Einzelnen zukommt, auch den Menschen zuerkannt werden, wenn sie in Gemeinschaft handeln. Gewissens- und Religionsfreiheit sind also Aufgaben der Kirche, für die sie sich mit Nachdruck einsetzen muss. Kann man den Widerspruch, den Bruch zwischen der Tradition der Kirche im 19. und 20. Jahrhundert und dem, was das Zweite Vatikanische Konzil definiert, deutlicher formulieren? Hier ein pesthafter Irrtum, da Konsequenz der Freiheit, die das Evangelium selbst proklamiert. Religionsfreiheit, hier in Bausch und Bogen verdammt, da in der von Gott garantierten Menschenwürde, die die katholische Kirche stets zu verkünden hat, ganz selbstverständlich enthalten. Wer hier von einer Kontinuität redet, der nimmt die Texte nicht zur Kenntnis. Die Lehre der Kirche hat sich entwickelt. Vielleicht hat sie sich sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Der in Frankfurt St. Georgen lehrende Jesuit Klaus Schatz bezeichnet deshalb das Dekret über die Religionsfreiheit nicht umsonst „als einen Einschnitt, der in seiner Bedeutung noch kaum voll erfasst ist“. Die durchgängige Linie des Antiliberalismus, SWR2 Aula vom 25.12.2012 Den Aufbruch wagen – Die katholische Kirche und die Reformen (1/2) Von Professor Hubert Wolf

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der das 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erfüllt, ist im entscheidenden Punkt korrigiert worden. Und auch Benedikt XVI. hat in einer Ansprache an die Mitglieder der Kurie am 22. Dezember 2006 im Nachgang zu den Irritationen, die seine Regensburger Vorlesung hervorgerufen hatte, festgestellt, dass „die islamische Welt heute mit großer Dringlichkeit sich vor einer ganz ähnlichen Aufgabe findet, wie sie den Christen seit der Aufklärung auferlegt ist und vom Zweiten Vatikanischen Konzil als Frucht eines langen Ringens zu konkreten Lösungen geführt wurde. Insbesondere sei die Errungenschaft der Aufklärung, wie die Menschenrechte mit der Meinungs-, Religions- und Gewissensfreiheit zu akzeptieren. Damit sprach der Papst zwar nicht von einem Bruch, er räumte jedoch ein, dass der Katholizismus, was sein Verhältnis zur Moderne angeht, eine grundlegende Entwicklung durchgemacht hat. Die Position der Kirche hat sich also entwickelt, der Weg von der Verwerfung der Gewissensfreiheit zu ihrer Bejahung als von Christus garantiertes Menschenrecht ist dafür ein schönes Beispiel. Der Rückgriff auf die vielfältige Tradition der Kirche hat diese Reform erst möglich gemacht. Jetzt werden die Würde des Menschen und die daraus resultierenden Menschenrechte wieder ganz weihnachtlich mit der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus begründet. Hier hat also Geschichte doch einen Nutzen für die Reform der Kirche gehabt. Im Weihnachtsgebet, das aus der Zeit Papst Leos des Großen stammt und rund 1.500 Jahre alt ist, heißt es ganz treffend: „Gott, Du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und in der Geburt Deines Sohnes noch wunderbarer wieder hergestellt. Lass uns teilhaben an der Gottheit Deines Sohnes, der unsere menschliche Natur angenommen hat.“ (Teil 2, 26.12.2012, 8.30 Uhr, SWR2 Aula)

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* Zum Autor: Prof. Hubert Wolf, geboren 1959, studierte katholische Theologie mit Schwerpunkt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, dann Exegese des Neuen und Alten Testaments; 1983 Diplom, ab 1983 Ausbildung im Priesterseminar, 1985 Ordination zum Priester. 1990 Promotion zum Dr. theol., 1991 Habilitation, ab 1999 ist Wolf C4Professor an der Katholischen Fakultät der Universität Münster. Seit 2002 ist er Leiter des DFG-Langzeitprojekts "Römische Inquisition und Indexkongregation". 2004 wurde er mit dem Communicatorpreis des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft ausgezeichnet. Bücher: - Die Affäre Sproll. Die Rottenburger Bischofswahl von 1926/27 und ihre Hintergründe. Verlag Thorbecke. - Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. Beck-Verlag. - Verbotene Bücher. Verlag Schöningh.

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