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2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Hautspuren Ein afrodeutsches Heimkind in den 50er Jahren AutorIn: Barbara Zillmann Redaktion: Nadja Odeh Regie: ...
Author: Franka Bader
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2 SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Hautspuren Ein afrodeutsches Heimkind in den 50er Jahren

AutorIn:

Barbara Zillmann

Redaktion:

Nadja Odeh

Regie:

Maria Ohmer

Sendung:

Montag, 02.04.12 um 10.05 Uhr in SWR2

Wiederholung am Montag, 24.06.2013 um 10.05 Uhr in SWR2 __________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte der Sendungen SWR2 Tandem auf CD können wir Ihnen zum größten Teil anbieten. In jedem Fall von den Vormittagssendungen. Bitte wenden Sie sich an den SWR Mitschnittdienst. Die CDs kosten derzeit 12,50 Euro pro Stück. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030. Einfacher und kostenlos können Sie die Sendungen im Internet nachhören und als Podcast abonnieren: SWR2 Tandem können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Kennen Sie schon das neue Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de

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MANUSKRIPT

Frau Hügel: Ich würde mich, glaub ich, eher umbringen als mich in irgendein Pflegeheim zu begeben. Und ich merk das schon, ja, alleine solche Institution zu betreten, ich zeig ganz schnell Fluchttendenzen, also da spielt sich ne Menge ab, ich fang an zu schwitzen, mein Herz fängt an zu rasen, und es dauert verdammt lange, bis man wieder zur Ruhe kommt - und ich will es einfach nicht! Ich will es nicht, dieses Gefühl - ich empfand es ja auch wie ein Gefängnis - möchte ich einfach nicht mehr haben. Und ich hab auch n Recht darauf, das nicht mehr zu haben, dieses Gefühl. Erzählerin: Ika Hügel-Marshall möchte zu Hause alt werden. Ein Pflegeheim kommt für sie nicht in Frage, nicht mit ihrer Geschichte. Sie war eines der 800.000 Kinder, die in der Nachkriegszeit im Heim lebten, oft gedemütigt und misshandelt. Wegen ihrer dunklen Hautfarbe wurde sie besonders diskriminiert. Heute erhält die 65-Jährige eine bescheidene Rente. Aus dem Fonds der Bundesregierung für ehemalige Heimkinder erhofft sie sich nun finanzielle Unterstützung. Geld, das sie einmal brauchen wird, um einen ambulanten Pflegedienst zu bezahlen. Atmo Beratungsstelle Erzählerin: Ika-Hügel Marshall besucht eine Beratungsstelle in Berlin-Schöneberg. Seit Januar können ehemalige Heimkinder sich bundesweit beraten lassen, welche Leistungen aus dem Fonds für sie infrage kommen. Es geht um Hilfen bei Folgeschäden des Heimaufenthalts oder einen Ausgleich für entgangene Rentenzahlungen. 120 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. Erzählerin: Manuel Koesters ist Sozialpädagoge und Mediator. Er führt die Besucherin zu einem Beratungsraum. Ika Hügel-Marshall hat nur wenige Unterlagen dabei. Sie möchte sich erst einmal ein Bild machen. Erzählerin: Eidesstattliche Erklärung, Plausibilität, Zeugen - Begriffe wie in einem Gerichtsverfahren. Die Verantwortlichen am sogenannten „Runden Tisch Heimerziehung“, Politiker und Kirchenleute, konnten sich nicht zu einer pauschalen Entschädigungszahlung durchringen. Sie verlangen ausgefüllte Anträge, Belege und Begründungen - nach mehr als 60 Jahren, für jeden einzelnen Fall. Für Ika HügelMarshall eine Zumutung. Frau Hügel: Es fällt mir eh schon schwer, immer wieder n Stück weit in meine Kindheit zurückzugehen, es ist ja ne belastende Situation, auch wenn das nach außen hin nicht so erscheinen mag.

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Erzählerin: Ika Hügel-Marshall, damals hieß sie Erika, kam 1947 zur Welt, in einer bayerischen Kleinstadt. Ihre Mutter hatte sich in einen amerikanischen Soldaten verliebt. Vor der Geburt des Kindes kehrte er in seine Heimat zurück. Automatisch übernahm das Jugendamt die Vormundschaft, wie bei allen unehelichen Kindern. Mit sechseinhalb Jahren kam Erika in ein christliches Kinderheim. Die zwei Jahre jüngere Schwester erinnert sich. Frau Würth: Ich hab net sehr viel Erinnerung an diese Jahre. Sie ist ja dann hier noch eingeschult worden, und dann kam sie weg? Erzählerin: Noch heute lebt Inge Würth in ihrer Heimatstadt. Ein schmucker Ort mit Fachwerkhäusern bei Nürnberg. Sie liebte ihre große Schwester und fand es normal, wie sie aussah. Es gab ja noch andere dunkelhäutige Kinder im Ort, den Hans, den Robert, die Gertie. Frau Würth: Ich hab da keine Erinnerung, dass mir das aufgefallen wär, später dann scho, weil die Leute oft mal „Negerle“ hinterhergerufen haben - aber schlimmer war eigentlich, dass die Erika wegkomme is. Also die Spannung daheim war für mich eigentlich unerträglich - also ich hab immer das Gfühl ghabt, irgend a Gefahr liegt in der Luft, ne - Pfarrer kam - dann hatten wir immer mit dem Jugendamt zu tun ghabt, und ich hab des immer so gspürt, also irgendwas ist da nicht in Ordnung. Frau Hügel: Damals ist man ja davon ausgegangen, dass man uns auch in dem ganz allgemeinen Stadtbild ja nicht sehen wollte, also wir verkörperten ja allein schon durch die Hautfarbe, dass Deutschland auch den Krieg verloren hat, ... man hat damals gerade so den weißen Müttern... nahegelegt, uns doch in Heime zu geben, so nach dem Motto, wir wären ja doch ziemlich vielen Diskriminierungen ausgesetzt, und eigentlich hätten wir nicht wirklich ne Chance, wenn wir da blieben in unseren Heimatstädten oder auch Dörfern, je nachdem, wo man halt, wenn man da verbliebe. Das war so das Argument. Es sei wirklich besser für die Kinder, wenn man sie ins Heim gäbe. Zitatorin (Erika als Kind): Jedes Mal, wenn Herr Siebert vom Jugendamt zu uns nach Hause kommt, verstecke ich mich, hocke mich in ein Kellerloch oder verkrieche mich unter dem Holzstapel hinter unserem Haus. Erzählerin: Ika Hügel-Marshall in ihrer Autobiographie „Daheim unterwegs“. Zitatorin (Erika als Kind) Als er mich das erste Mal begrüßt, tut er so, als kenne er mich schon lange, streichelt mir über den Kopf, schenkt mir Schokolade, fragt, ob ich Freunde habe, ob meine Mutter mich denn auch lieb habe. Ich ziehe meine Hand, die er festhält, weg. Ich will ihm nicht antworten. 3

Erzählerin: Es ist das Jahr 1952. Das Schicksal der „Besatzungskinder“, vor allem der farbigen, beschäftigt auch den deutschen Bundestag. Es geht um die Zahlungsmoral der Väter und um die Zukunft der Kinder in Deutschland. Die damalige CDU-Abgeordnete Luise Rehling: Zitatorin (für Luise Rehling): Eine besondere Gruppe … bilden die 3.093 Negermischlinge, die ein menschliches und rassisches Problem besonderer Art darstellen. … Die verantwortlichen Stellen der Jugendpflege … haben sich bereits seit Jahren Gedanken über das Schicksal dieser Mischlingskinder gemacht, denen schon allein die klimatischen Bedingungen in unserem Land nicht gemäß sind. Man hat erwogen, ob es nicht besser für sie sei, wenn man sie in das Heimatland ihrer Väter verbrächte. Erzählerin: In die USA also, als Adoptivkinder für schwarze kinderlose Ehepaare. Oder in ein afrikanisches Kinderdorf. Oder in ein deutsches Kinderheim, möglichst „unter Ihresgleichen“. Dazu brauchte man allerdings die Zustimmung der Mütter, die sich oft sträubten, aber nur wenig Chancen hatten, gegen einen Zeitgeist, der noch im NSRegime verhaftet war: Den Kindern wurde unterstellt, sie seien „rassisch bedingt“ von geringer Intelligenz, frühreif, labil und widerborstig. Zitator: Nach den Berichten unserer Landesverbände zeigen diese Kinder mit zunehmendem Alter besondere Charakter- und Temperamentseigenschaften, die ihre Erziehung schwierig machen. Je mehr die Eigenarten einer fremden Rasse hervortreten, umso brennender wird das Problem ihrer zweckmäßigen Unterbringung und Versorgung. Erzählerin: Aus der Stellungnahme eines leitenden Diakonie-Direktors, die dem Bundestag damals vorlag. Von der SPD-Abgeordneten Frieda Nadig kam nur eine der wenigen Gegenstimmen: Zitatorin (für Frieda Nadig): Bemühen wir uns in Deutschland, den Mischlingen nicht nur die gesetzliche, sondern auch die menschliche Gleichberechtigung zu gewähren. … Wir müssen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diese Frage lenken, da zu Ostern 1952 die 1946 geborenen Mischlinge eingeschult werden. ... Sie treten auch in einen neuen Lebensraum ein aus ihrer Abgeschlossenheit. Sie fallen auf durch ihre Farbigkeit. Erzählerin: Auffallen, das tut Erika schon längst, aber sie ist ein fröhliches Kind, geht gern in den Kindergarten, fühlt sich wohl bei Mutter, der Oma und der kleinen Schwester. Der neue deutsche Stiefvater bringt ihr Fahrradfahren bei. Im Frühjahr 1953 wird sie eingeschult. Sie bleibt nicht mehr lange zuhause. Der Druck auf die Mutter ist zu groß. Ihre Schwester erinnert sich:

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Frau Würth: Ich weiß nur, dass der Pfarrer und der Jugendamtsleiter, dass die immer da waren, und dass da immer so vorsichtig gesprochen worden ist, ich war ja immer da auch, konnten mich ja nicht einfach wegschicken - und das war immer so‘n ganz unangenehmes Gefühl für mich... Das spür ich heut noch, wenn ich dran denk, das spür ich noch. Ich weiß nicht, wie des gmacht worden ist, ob die da auf unsere Mutter zugekommen sind und gesagt haben so und so ... Erzählerin: Es sei für alle das Beste. Was die junge Frau noch zu hören bekommt, liegt auf der Hand: Als Negerliebchen könne sie froh sein, dass sie ein anständiger Deutscher überhaupt „genommen“ habe. Im Herbst 1953 fährt die Mutter mit Erika zur „Kinderheimat Gotteshütte“. Das christliche Erziehungsheim liegt weit fort im Bergischen Land. Es sei nur für sechs Wochen, erklärt sie der Tochter, sie könne jetzt mit vielen andern Kindern spielen. Nach der gemeinsamen Übernachtung sucht Erika ihre Mutter. Aber die ist fort. Dafür ist Schwester Hildegard da. Zitatorin (Erika als Kind) Als ich nicht aufhöre zu schreien, greift Schwester Hildegard zu einem schwarzen Turnschläppchen, zieht mir vor allen Kindern die Hose runter und schlägt mit dem Schuh auf mich ein. „Willst du sofort aufhören zu schreien, du Bastard, deine Mutter kann dich nicht mehr hören“. Frau Würth: Die war halt plötzlich nimmer da! Ich hab sie gesucht irgendwann, ist ja klar, - Ich kann mich nicht erinnern, dass des erklärt worden ist, Ich weiß dann bloß, dass zwischen Mama und Papa öfters Streit war und die Mama hat dann immer gesagt zu mir - zieh dich an, wir fahren zur Erika, haben wir dann aber doch nicht gemacht ... Zitatorin (Erika als Kind) Die Zeit vergeht, und ich weiß nicht genau, ob die sechs Wochen schon um sind. Die Angst vor Schlägen, wenn ich etwas Unbedachtes sage, ist so groß, dass ich lieber meinen Mund halte. Noch schlimmer: Ich ahne, dass ich nie mehr nachhause darf. Frau Hügel: Ich bin dann oft einfach geschlagen worden mit dem Argument, n Teufel steckt in mir. Ich hab einfach oft Prügel bekommen und wusste wirklich nicht, warum. Erzählerin: Vom 6. bis zum 15. Lebensjahr lebt Erika - sie wird später den Namen ihres leiblichen Vaters annehmen - im Heim einer streng religiösen evangelischen Gemeinde, als einziges schwarzes Kind. Frau Hügel: So mein extremstes Erlebnis war, dass die Erzieher denn auch mit der Wurzelbürste in meinem Gesicht gekratzt haben, um den Kindern zu demonstrieren, ich bin nicht aus Schokolade, sondern ich bin eben schwarz, also da entsteht dann zum ersten Mal auch n Bewusstsein des Andersseins. Das war schon anders als ich zuhause war. Das war ne Kleinstadt, man kannte sich doch, jeder wusste auch, wo ich 5

hingehöre, wer meine Mutter ist, das war schon anders. Und im Heim hat eigentlich für mich der Horror, kann man sagen, angefangen. Zitatorin (Erika als Kind): Für jeden Ungehorsam, für jedes Widerwort, jegliche Unordnung gibt es einen Strich, sauber eingetragen in ein Buch. Wer in einer Woche mehr als zehn Striche anhäuft, wird bestraft. Wenn Schläge anstehen, sitzen wir in einer Reihe auf Stühlen und müssen darauf warten, dran zu sein, um die verdienten Prügel zu erhalten. Frau Hügel: Ich sag’s jetzt mal so provokant, ich hätte lieber mal öfter ne Ohrfeige gekriegt oder gleich ne Strafe, als so diesen Abstand von zehn Tagen, dann praktisch wie im Gänsemarsch anzutreten, sich da aufzustellen, und dann die Hose runterzuziehen, sich zu bücken, und dann geschlagen zu werden, ja. Das fand ich - ich mein, auch jedes Kind hat n Recht auf ne Intimsphäre, und … diese Form von Strafen fand ich dermaßen was von sadistisch! Zitatorin (Erika als Kind): Als der letzte Schultag näherrückt und die ersten Sommerferien beginnen, seit ich von zuhause fort bin, weiß ich, nun werde ich endlich nach Hause dürfen, zu meiner Mutter, Großmutter und Schwester. Ich muss nicht mehr zurück ins Heim. Doch pünktlich zum Ende der Ferien packt Mama den Koffer. Mein Stiefvater wird mich ins Heim zurückbringen. Frau Würth: In den Ferien war sie ja immer da. Haben wir zusammen in meinem Zimmer geschlafen. Haben wir net soviel Platz gehabt, aber das war ja gut so, weil wir wollten ja uns richtig viel erzählen, und das haben wir auch gemacht - wir haben also Nächte geplaudert und uns ausgetauscht und … das war, glaub ich, für uns beide immer ganz angenehm - ja und die Beziehung ist ja auch nie abgerissen, wir haben ja auch immer Kontakt gehabt, die Erika und ich, wir haben dann Briefe geschrieben, des war schön. Erzählerin: Auch der Vater habe nie schlecht über Erika gesprochen, ihr große Päckchen gepackt und ins Heim geschickt. Als Kind versteht Inge Würth einfach nicht, warum ihre Schwester nicht mehr zuhause wohnen darf. Frau Würth: Und dann hat irgendwer mal gemeint, ja, vielleicht war des wegen mir! Dass ich mich gut entwickeln kann. Das ist ja - des hat mich getroffen - also das war ein Schlag ins Gesicht - weil ich hab gesagt, das will ich doch gar nicht, des hab ich doch nicht gewollt! … und wenn ich mir das jetzt vorstell, und ich wär jetzt schuld gewesen, dass die Erika wegkommt, ist des nicht furchtbar? Das ist doch furchtbar, oder? Erzählerin: Bis heute wirft sie sich das vor - und ist doch selber immer wieder gehänselt worden wegen ihrer „braunen Schwester“.

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Frau Würth: Ich hab da auch was abgekriegt. Eigentlich immer. Zieht sich schon durch mein ganzes Leben, ja. Erzählerin: Irgendwann wollen die christlichen Aufseherinnen im Heim Erika den Teufel austreiben. Unter Gebeten und Drohungen wird sie in einem dunklen Raum gequält, bis sie sich zitternd übergeben muss. Zitatorin (Erika als Kind): Schwester Hildegard nimmt mir die Augenbinde ab, wischt den Boden sauber, und öffnet die Fenster. Sie ruft mir zu: Nun hast du es geschafft, deine Teufel sind jetzt aus diesen Fenstern geflogen. Wenn du artig bist, keine Widerworte mehr gibst und tust was ich dir sage, kommen sie hoffentlich nicht wieder zu dir zurück. Erzählerin: Das Mädchen hat Albträume: Die kleinen schwarzen Teufel sind hinter der Kellertür, unterm Bett, im Schulranzen, wollen sie fangen und in eine Grube werfen. Darüber wird Erika der Mutter und Schwester später aber nichts erzählen. Zu kostbar ist die Zeit, wenn sie mit ihnen zusammen sein darf. Frau Würth: Wir haben sie ja auch mal in Hückeswagen besucht, meine Eltern und ich - und das war mir eigentlich auch angenehm in Erinnerung - ich muss allerdings sagen, wir haben zu dem Zeitpunkt nicht gewusst, dass es ihr so schlecht gegangen ist in dem Heim. Komischerweise war es nicht möglich, dass sie sich mitgeteilt hat. Weil ich hab oft zu ihr gesagt, Erika, du warst doch immer in den Ferien da, warum hast du nicht mal was mir gesagt, oder zu Mama gesagt? Da hätten wir doch, wir hätten ja irgendwas gemacht, ne?.Sie hat gesagt, das ist normal, was da passiert. So hat se des dann im Nachhinein mal erklärt. Zitatorin (Erika als Kind): Morgens, wenn ich in den Spiegel sehe, kann ich nichts Abstoßendes an mir entdecken. Ich habe langes, dunkelbraunes, gelocktes Haar, das zu einemPferdeschwanz gebunden ist, dunkelbraune Augen, lange Beine und gehöre zu den Größten in meiner Klasse. Erzählerin: Erika ist eine gute Schülerin, aber Lob dafür erhält sie nicht. Immerhin muss sie nicht, wie alle anderen Heimkinder, in die Hilfsschule gehen, sondern darf auf die Hauptschule. Hier wird eine Lehrerin auf ihre Talente aufmerksam: Frau Hügel: Ich weiß, dass einmal eine Lehrerin - früher hat man ja Gedichte geschrieben, und dann sollte man was drunter malen, und ich hab gemalt. Und die hat mein Heft genommen und gesagt: Guckt mal, wie schön die Erika, so wie ich damals mich genannt hab und heiße, wie schön die gemalt hat. Ich male heute noch. Und das hat mich wahnsinnig beflügelt. Damit will ich nur sagen, es gab immer Menschen, die trotzdem an mich geglaubt haben, das hat mich wirklich richtig gerettet!

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Erzählerin: Obwohl die Lehrerin den Vorschlag macht, darf Erika nicht aufs Gymnasium. „Aus dir wird nichts, deine Mutter ist eine Negerschlampe.“ So etwas hört sie oft. Nach dem Hauptschulabschluss muss sie noch ein Jahr im Heim arbeiten. Für ein paar Mark Taschengeld. Dann bildet man sie in einem Internat der Diakonie, wieder unter strengster Aufsicht, zu einer Kinderpflegerin aus. Frau Hügel: Das schlimmste ist, dass du durch solche Erlebnisse dich infrage stellst. Das zieht sich dann sehr lange durch dein ganzes Leben, das beeinträchtigt deine Schulausbildung, das beeinträchtigt ganz viel, wenn du alles wieder infrage stellen musst, bin ich gut genug, bin ich das wert, das ist n sehr langer schmerzhafter Prozess, das zu überwinden, was ich Gott sei dank getan habe. Erzählerin: Erst nachdem sie entlassen ist aus der sogenannten „Freiwilligen Erziehungshilfe“ des Jugendamtes, gelingt es Ika Hügel-Marshall, den Realschulabschluss nachzuholen und später sogar zu studieren. Gegen Ablehnungsschreiben, hochgezogene Augenbrauen und zweifelnde Blicke setzt sie sich durch. Mit anderen Afrodeutschen gründet sie die „Initiative Schwarzer Deutscher“, schreibt Bücher, findet ihren Vater in den USA. Zuletzt ist sie selbst Dozentin - für Sozialarbeit. Aber die Gewalt und Abwertung im Kinderheim haben dennoch tiefe Spuren hinterlassen: Atmo Beratungsstelle Erzählerin: Zum zweiten Mal In die Berliner Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder. Heute möchte Ika Hügel-Marshall es genau wissen. Was kann sie aus dem HeimkinderUnterstützungsfond erwarten? Vor allem: Wird sie für eine künftige Pflegesituation Hilfe bekommen und für nicht versicherte Arbeitszeiten eine Rentenaufstockung? Doch vieles ist noch unklar. Nicht nur für sie. Ständig klingelt das Telefon. Atmo Telefonklingeln Berater: Da sind einfach halt viele Fragen auch inhaltlicher Art … da gibt’s ja Leistungsrichtlinien, aber die müssen ja auch interpretiert werden, zum Beispiel wir hier in Berlin haben halt so‘nen Beirat, der auch über Einzelfragen mit entscheiden kann, … Erzählerin: Manuel Koesters versucht, Licht in den bürokratischen Dschungel zu bringen. Berater: Rentenersatzleistungen ist noch relativ einfach, da wird gefragt, welche Nachweise vorgelegt wurden, da geht’s um den Versicherungsverlauf, also welche Zeiträume gab es, in denen erzwungene rentenversicherungsrechtliche Arbeiten ausgeführt wurden, von wann bis wann, Nachweis liegt vor - ja oder nein -

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Erzählerin: Ika Hügel-Marshall hat zwei Schreiben dabei. Eines belegt, dass sie nach der Schule, mit 15, noch ein Jahr lang im Heim lebte, und Taschengeld in Höhe von 20 Euro bekam. Von der Arbeit, die sie verrichten musste, ist keine Rede, davon weiß nur sie. Das andere Papier bescheinigt, dass sie mit 18 im Rahmen der Diakonie ein praktisches Jahr absolvierte und dabei 426,-- DM monatlich verdiente. Falls die Diakonie dafür nichts in ihre Rentenversicherung eingezahlt hat, stünden ihr, sagt der Berater, allein für das praktische Jahr einmalig 3600,-- Euro Nachzahlung zu. Aber die beiden Bescheinigungen reichen noch nicht. Die Rentenübersicht der BFA muss nachgereicht werden. Was allerdings heute schon unterschrieben werden kann, ist eine sogenannte Verzichtserklärung. Zitator „Leistungen aus dem Fonds Heimerziehung … sollen dazu beitragen, Folgeschäden aufgrund der Heimerziehung abzumildern und einen dauerhaften Rechtsfrieden zu erzielen. „Die freiwilligen Leistungen werden an ehemalige Heimkinder gewährt, die erklären, dass sie unwiderruflich keinerlei weitere Forderungen aufgrund der Heimunterbringung gegen die in den Fonds einzahlenden Institutionen, namentlich die öffentliche Hand der Bundesrepublik Deutschland, und die evangelische und katholische Kirche in Deutschland sowie ihre Ordensgemeinschaften und Wohlfahrtsverbände einschließlich deren Mitglieder und Einrichtungen stellen werden. Frau Hügel: Naja, ich mein irgendwie ist es ja psychologisch ganz geschickt auch geschrieben, also wenn ich an mich selber denke, dann denk ich gut - ich hab eigentlich mein Leben darauf gewartet, dass der Staat sich in irgendeiner Form bei mir entschuldigt, sei es eben in diesen Leistungen oder meine Rente aufzustocken, so - und dann will man‘s eigentlich ganz schnell vom Tisch haben, und das macht man natürlich mit so ner Verzichtserklärung. Erzählerin: Eine Art Freikauf der verantwortlichen Institutionen, kritisieren Opferverbände. Auch Manuel Koesters findet die Verzichtserklärung unzumutbar für die Betroffenen.In anderen Beratungsstellen wird auf weitere Gefahren beim Antragstellen hingewiesen: Sozialämter könnten versuchen, die Zahlungen auf Hartz-IVLeistungen anzurechnen. Aber - was ist nun mit dem konkreten Wunsch, Geld für eine private Pflege im Alter zu bekommen, fragt Ika Hügel-Marshall. Frau Hügel: Ja also ich mein, ich möchte gern zuhause bleiben und in der Lage sein, die Leute, die mich dann pflegen, dass ich die bezahlen kann. Darum geht es mir eigentlich. Deshalb fänd ich’s natürlich für mich sinnvoll zu sagen dass der Staat einfach so und so viel Geld dafür zur Verfügung stellt Ich mein, es können ja auch mal einfach von jetzt auf gleich irgendwelche Dinge passieren … und dann ist es besser zu sagen, man hat das Geld und kann es dann für sich, wenn es denn vonnöten ist, auch einsetzen. … ich möchte nicht, wenn es denn soweit ist, neue Anträge stellen müssen. Ich will das jetzt! Dass das sicher ist für mich. 9

Erzählerin: Die Antwort ist enttäuschend. Geld auf die Hand gebe es - ausser bei der Rentennachzahlung - nicht. Immer wieder erklärt Manuel Koesters geduldig, dass der Fonds nur sogenannte „Sachleistungen“ finanziert. Das sind Zahlungen an Dritte, etwa für eine Therapie, orthopädische Hilfen oder eine Pflegezusatzversicherung die die Betroffenen dann allerdings mit den jeweiligen Versicherungen selbst aushandeln müssten. Sichtlich unglücklich blättert Manuel Koesters in einem Papierstapel, der komplizierte Definitionen von Folgeschäden der Heimunterbringung enthält. Und welche Leistungen aus welchem Grund mit welchen Nachweisen dafür in Frage kämen. Immer wieder soll „Beratung“ helfen. Aber die hat Frau Hügel-Marshall längst schon gesucht und vielfach aus eigener Tasche bezahlt. Frau Hügel: … Ich mein, wir sind alt, kann sein, dass manche noch den Bedarf von Beratung haben, ich hab ihn nicht mehr! Ich hab meine Therapie gemacht … das brauchen die mir nicht bezahlen, die soll‘n sich darum kümmern, wie sieht es aus, wenn ich alt bin und Pflege brauche, ja? Und dass ich eben ne wahnsinnig niedrige Rente hab. Weil ich eben solange meine Ausbildung nachholen musste, die man mir vorher nicht zugestanden hat! Also von daher sind das eigentlich meine Ansprüche Erzählerin: Wird der gute Wille des Beraters helfen können? Oder ist der Fonds doch nur ein Alibiprojekt, das an den Hürden der Sozialbürokratie scheitert? Frau Hügel: ..wenn ich schon den ganzen Haufen hier sehe, das ganze Papier - nee. Ich lass mich nicht erneut demütigen. ich mach das einfach nicht. Ich find das ne Demütigung. Und das lass ich nicht zu.… Also was soll das ganze Theater. Und wenn das Geld zur Verfügung gestellt wird, dann sollen sie den Leuten das Geld geben! Vielleicht braucht der eine etwas mehr, der andere etwas weniger, da hab ich überhaupt kein Problem damit! Erzählerin: Manuel Koesters bittet zu einem weiteren Termin: Im Mai. Dann soll Ika HügelMarshall für die Rentennachzahlung ihren Versicherungsverlauf mitbringen, die genauen Zeiten ihres Heimaufenthalts und möglichst einen Entwurf für eine Pflegezusatzversicherung. Dann sei bestimmt auch das endgültige Antragsformular fertig, und dann habe der sogenannte Lenkungsausschuss vielleicht auch ein Modell für die ambulante Pflegehilfe entwickelt ... Frau Hügel: Ich find das eigentlich fast sehr beschämend, uns nochmals so ne Art Bürde - also noch mal ne Bürde drauf, um noch mal irgendwas zu kriegen, find ich unglaublich.

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