Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-...
Author: Hinrich Böhme
0 downloads 1 Views 692KB Size
Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

Katarzyna Stokłosa

Polen und die deutsche Ostpolitik 1945–1990

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

Umschlagabbildung: Willy Brandt, Brigitte Seebacher-Brandt, Egon Bahr und Eugen Selbmann vor dem Nike-Denkmal der »Helden von Warschau« auf dem Theaterplatz, 07.12.1985 © Archiwum Dokumentacji Mechanicznej, Warszawa, Signatur 422770-11

Mit 29 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30000-8

Gedruckt mit Unterstützung der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Corinna Schwarzer, Danny Schäfer, Dresden Druck und Bindung:

Ê Hubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

Inhalt

Vorwort ..........................................................................................................

I.

Einleitung ............................................................................................. 1. Fragestellung .................................................................................. 2. Forschungsstand, Quellen- und Archivlage .............................. 3. Methodische Vorbemerkungen ...................................................

II.

Polen und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und (1945–1956) ................................................................................. 1. Die »Veröstlichung« Polens nach 1945 – Politik, Wirtschaft, Kultur .............................................................................................. 2. Das Erbe des Krieges .................................................................... 3. Das Görlitzer Abkommen 1950 .................................................. 4. Die Auswirkungen des »Tauwetters« ..........................................

III.

Vorgeschichte der Ostpolitik (1957–1969) ...................................... 1. Das mühsame Verhältnis zwischen Polen und der Bundesrepublik unter Konrad Adenauer ................................................ 2. Politik der »kleinen Schritte«: die Ostpolitik des westdeutschen Außenministers Gerhard Schröder .......................... 3. Carlo Schmids Einsatz für eine Aussöhnung mit Polen .......... 4. Vom Tübinger Memorandum (1961/62) zur EKDDenkschrift von 1965 ................................................................... 5. Der Briefwechsel zwischen dem polnischen und dem deutschen Episkopat zur Frage des deutsch-polnischen Verhältnisses (1965) und das Memorandum des »Bensberger Kreises« (1968) ........................................................ 6. »Verordnete Freundschaft« zwischen Polen und der DDR .....

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

9

11 11 14 25

35 35 56 76 80

95 95 111 116 122

132 142

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

6

Inhalt

7. Anfänge der »neuen Ostpolitik« der Bundesrepublik vor 1969 .......................................................................................... 8. Der Vorschlag Gomułkas vom Mai 1969 ...................................

IV.

V.

VI.

Die westdeutsch-polnischen Verhandlungen (1969–1970) ........... 1. Politische Entwicklung in Polen: März 1968 und Dezember 1970 ................................................................................................. 2. Deutsch-polnische Gespräche auf Nichtregierungsebene ....... 3. Intensivierung der Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik: sieben Treffen und deren Ergebnis ................ 4. Debatten über die deutsch-polnische Grenze ........................... 5. Polen sucht nach Unterstützung durch die USA ...................... 6. Deutsch-deutsche Vereinbarungen .............................................

Debatten über das Vertragswerk und seine Ratifizierung (1970–1972) ......................................................................................... 1. Die Ostpolitik Willy Brandts in der polnischen Wahrnehmung ............................................................................... 2. Alarmierte Reaktionen im Nachbarland DDR ......................... 3. Reaktionen in der Sowjetunion ................................................... 4. Reaktionen in anderen Ländern des Ostblocks ........................ 5. Ambivalente Reaktionen im Westen .......................................... 6. Kontroversen in der Bundesrepublik ......................................... 7. Reaktionen der westdeutschen Bevölkerung auf die Ostverträge ..................................................................................... 8. Reaktionen in Polen ...................................................................... 9. Diskussionen in der DDR ............................................................ 10. Moskau zur Ratifizierungsdebatte in der Bundesrepublik ...... 11. Ostdeutsch-polnisch-sowjetische Debatten .............................. 12. Einschätzungen der Westmächte ................................................ 13. Die Haltung des Vatikans .............................................................

Die deutsch-polnischen Beziehungen in den Siebzigerjahren ...... 1. Von Brandt zu Schmidt: Zur Kontinuität der westdeutschen Polenpolitik .................................................................................... 2. Der Einfluss der Ostpolitik auf die Beziehungen zwischen der DDR und der VRP – die unerwartete Grenzöffnung ............... 3. Polen unter Edward Gierek: Konsumptionssozialismus ..........

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

150 154

159 159 178 180 194 205 214

219 219 223 237 250 252 286 292 301 309 312 314 318 327

331 331 343 351

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Inhalt

4. Wirtschaftliche Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik .............................................................................. 5. Kultur als Bindemittel? – die westdeutsch-polnischen Kulturbeziehungen ........................................................................

VII. Die Europäisierung des deutsch-polnischen Normalisierungsprozesses durch Helsinki 1975 .......................................................... 1. Vorbereitungen und Verlauf der Helsinki-Konferenz .............. 2. Zufriedenheit über die KSZE-Ergebnisse in Polen ................... 3. Bewertung der Konferenz in der Bundesrepublik .................... 4. Enttäuschung über die KSZE in der Sowjetunion .................... 5. Zwischen Triumph und Ernüchterung: Die DDR .................... 6. Wahrnehmung der Konferenz in anderen Ländern ................. 7. Die polnischen Politiker Stefan Olszowski und Edward Gierek in der Bundesrepublik ..................................................... 8. Nach Helsinki: Die polnisch-westdeutsche Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Wirtschaft und Kultur ............................... 9. Politische Unruhen in Polen: »Der Juni 1976« und die Rolle der Opposition .............................................................................. 10. Willy Brandt und Helmut Schmidt in Polen – die Fortsetzung des Dialogs .....................................................................................

VIII. Die deutsch-polnischen Beziehungen in den Achtzigerjahren ..... 1. Solidarność und der Kriegszustand in Polen ............................ 2. Ambivalente Verhaltensweise der Bundesrepublik: Hilfe für Solidarność und politische Unterstützung für Jaruzelski ......... 3. Reaktionen in der DDR auf die polnische Freiheitsbewegung 4. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Stagnation in Polen ...... 5. »Runder Tisch« und Zusammenbruch des Kommunismus in Polen ............................................................................................... 6. Fortsetzung der Ostpolitik unter Bundeskanzler Helmut Kohl ................................................................................................. 7. Vorsicht und Misstrauen: Die Beziehungen zwischen Polen und der DDR ................................................................................. 8. »Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen« .............................................. 9. Polen zur Wiedervereinigung Deutschlands .............................

IX.

Schlussbetrachtung (Bilanz und Ausblick) ......................................

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

7

365 371

379 379 391 399 405 407 410 415 433 443 449

457 457 467 473 479 483 490 506 510 515

527

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

8

Inhalt

Abstract / Streszczenie ..................................................................................

535

Quellen- und Literaturverzeichnis .............................................................. 1. Ungedruckte Quellen .................................................................... 2. Internet-Quellen ............................................................................ 3. Gedruckte Quellen ........................................................................ 4. Memoiren und Tagebücher .......................................................... 5. Darstellungen ................................................................................. 6. Periodika ........................................................................................

541 541 543 543 548 551 591

Verzeichnis der Abbildungen ......................................................................

595

Abkürzungen .................................................................................................

597

Personenverzeichnis .....................................................................................

601

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

Vorwort

Hiermit lege ich der Öffentlichkeit die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift vor, die im Dezember 2010 von der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam als schriftliche Habilitationsleistung angenommen wurde. Gerne möchte ich mich bei allen bedanken, die mir bei der Planung und Realisierung dieses für mich so wichtigen wissenschaftlichen Projekts geholfen haben. An erster Stelle gilt mein Dank Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Gerhard Besier, ohne dessen monatelange Unterstützung dieses Buch nicht entstanden wäre. Eigentlich müssten auf dem Buchcover unsere beiden Namen erscheinen. An zweiter Stelle ist Prof. Dr. Manfred Görtemaker zu nennen. Er hat sich ohne Zögern bereit erklärt, das Habilitationsverfahren an der Universität Potsdam unterstützend zu begleiten. Außerdem hat er die Arbeit kritisch gelesen und zahlreiche Verbesserungsvorschläge angeregt, die dem Manuskript sehr zugute gekommen sind. Schließlich hat er sich der Mühe unterzogen, das Erstgutachten zu verfassen. Ferner möchte ich meiner »Doktormutter«, Prof. Dr. Helga Schultz, und Prof. Dr. Christoph Kleßmann danken, die so freundlich waren, die beiden anderen Gutachten zu verfassen. Ihre kritischen Bemerkungen wie ihre hilfreichen Kommentare habe ich für die gedruckte Fassung des Buches berücksichtigen können. Weiterhin danke ich Prof. Dr. Friedhelm Boll, Prof. Dr. Peter Brandt, Dorota Czajkowska, Wolfgang David, Dr. José M. Faraldo, Prof. Dr. Jerzy Myszor und Prof. Dr. Krzysztof Ruchniewicz für die sorgfältige Lektüre des Buches, zahlreiche hilfreiche Änderungsvorschläge, Literaturhinweise, kritische Kommentare, gutachtliche Stellungnahmen zur Beantragung von Druckkostenzuschüssen sowie für die Identifizierung der Persönlichkeiten, die auf den zeitgeschichtlichen Fotografien zu sehen sind. Ohne die Hilfe von Henrik Nitsche, der stets zügig und bereitwillig Bücher und Aufsätze aus verschiedenen Bibliotheken besorgt und in der späteren Phase die Fußnoten überprüft und bei der Anfertigung des Personenverzeichnisses geholfen hat, wäre ich weit weniger rasch vorangekommen. Zu danken habe ich schließlich allen Archivaren aus den im Quellenverzeichnis genannten Archiven in Berlin, Bonn, London, Moskau, Warschau, Washington D.C. und Wrocław. Für die sorgfältige Umwandlung des Manuskripts in eine druckfertige pdf-Vorlage, den entscheidenden Schritt zu einem ästhetisch aussehenden

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Vorwort

10

Buch mit Abbildungen, danke ich Corinna Schwarzer und Danny Schäfer ganz herzlich. Corinna Schwarzer hat erhebliche Mühe bei der Aufbereitung der Fotografien aufgewandt und sich damit große Verdienste im Blick auf die klare Erkennbarkeit der handelnden Persönlichkeiten erworben. Nicht zuletzt danke ich dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für Aufnahme des Buches in sein Programm und der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit für die großzügige Bewilligung eines Druckkostenzuschusses. Seit vielen Jahren schon haben mir meine Eltern, Krystyna und Edward Stokłosa, durch stille Hintergrundarbeit und die Betreuung meiner Tochter Kinga den Rücken freigehalten und mir dadurch die Zeit gegeben, zahlreiche Archiv- und Forschungsreisen zu unternehmen. Dafür schulde ich Ihnen großen Dank. Katarzyna Stokłosa

Potsdam, im Februar 2011

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

I. Einleitung

1. Fragestellung Das nationalsozialistische Deutschland hatte nur Trümmer hinterlassen. Das galt insbesondere auch für die diplomatischen Beziehungen zu den Nachbarstaaten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges begannen die Siegermächte mit einer territorialen Neuordnung Europas, die Grenzänderungen und Vertreibungen zur Konsequenz hatte. Die Westverschiebung Polens und die damit verbundene Verkleinerung des deutschen Territoriums verschärfte noch das schon seit zwei Jahrhunderten bestehende, wechselseitige Feindbild zwischen Deutschland und Polen. Mit der ideologischen Grenzziehung mitten durch Europa und der Gründung eines deutschen West- und eines Oststaates im Jahr 1949 besaß Polen zwei deutsche Nachbarn und entwickelte – entsprechend der politischen Doktrin – zwei unterschiedliche Deutschlandbilder: das des »sozialistischen Bruderstaates« direkt an der Oder-Neiße-Linie und das der »imperialistischen und revanchistischen Bundesrepublik«, die den Frieden in Europa bedrohte. Eingebettet in das jeweilige Bündnissystem und belastet durch die Folgen des Zweiten Weltkrieges, schien eine Annäherung zwischen der Bundesrepublik und der Volksrepublik Polen von daher nahezu unmöglich. Wie es dennoch zur Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen kam, ist Gegenstand der vorliegenden Studie. Da es sich bei der Bundesrepublik, der DDR und der VR Polen zwischen 1949 und 1989 nur um eingeschränkt souveräne Staaten handelte, untersucht die Arbeit nicht nur die Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, sondern auch die Deutschland-, Polen- und Europapolitik der Siegermächte in dem genannten Zeitraum. Ohne den gemeinsamen Willen dieser Mächte zu einer Détente und ohne das Einverständnis Moskaus zur Anknüpfung bilateraler Beziehungen hätte es zu keiner Annäherung zwischen der Bundesrepublik und Polen kommen können. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht die »neue Ostpolitik« der sozialliberalen Koalition zwanzig Jahre nach der Staatsgründung der Bundesrepublik Deutschland. Mit dieser Politik schlug der Weststaat ein neues Kapitel in den deutsch-polnischen Beziehungen auf und verabschiedete sich von überkommenen nationalstaatlichen Vorstellungen. Damit verbunden waren veränderte Haltungen aufseiten der Bevölkerung in beiden Ländern, eine andere Wahrnehmung der Deutschen und Polen voneinander.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

12

Einleitung

Die »neue Ostpolitik« Willy Brandts hat jedoch eine Vorgeschichte. Dazu gehört auf deutscher Seite das Handeln der Regierungen Adenauer, Erhard und Kiesinger sowie das Engagement einzelner Politiker wie Gerhard Schröder und Carlo Schmid – um nur diese zu nennen. Auf polnischer Seite fiel Władysław Gomułka, dem langjährigen Ersten Sekretär der PVAP, eine Schlüsselrolle zu. Ihm war es gelungen, die polnische politische Klasse, aber auch die polnische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Aufnahme engerer Beziehungen zur Bundesrepublik möglich, nützlich und geboten sei. Die Arbeit geht den Motiven und Beweggründen nach, die auf beiden Seiten für diese politische Weichenstellung den Ausschlag gaben. Neben der Bundesrepublik, der DDR, Polen und den Siegermächten war eine weitere Größe ausschlaggebend: die Kirchen. Sowohl die polnische katholische Kirche mit dem Vatikan und dem »polnischen« Papst im Rücken als auch die beiden Großkirchen in der Bundesrepublik leisteten einen wichtigen Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung. Die kirchlichen Initiativen sowie deren Rezeption in der Bundesrepublik und Polen werden in dieser Arbeit vergleichend analysiert. Die dreiseitigen Beziehungen zwischen Polen, der DDR und der Bundesrepublik sowie die innere Entwicklung der drei Länder verdeutlichen, dass die »neue Ostpolitik« auf hoch vermintem Feld stattfand. Während es sich bei dem Verhältnis zwischen der DDR und der VR Polen um eine »verordnete Freundschaft« zwischen weithin Fremden handelte, bestand zwischen der Bundesrepublik und Polen eine ebenso festgefügte Feindbeziehung, die durch die Grenz- und Vertriebenenfrage handfeste Anlässe besaß. Auch zwischen der DDR und Polen gestaltete sich das Verhältnis trotz der offiziell engen Zusammenarbeit und den wiederholten Freundschaftsbekundungen immer wieder frostig – nicht zuletzt weil die DDR während verschiedener polnischer Krisen eine Übertragung des »polnischen Bazillus« auf ihr Land fürchtete. Die Grenzöffnung zwischen der DDR und Polen 1972 erfolgte als eine Art »solidarische« Antwort auf die Sorge, dass die »neue Ostpolitik« der Bundesrepublik die innere Einheit des sozialistischen Lagers bedrohen könne. Allerdings erfüllte diese Maßnahme den intendierten Zweck nicht. Es kam nicht zum Abbau von Misstrauen und Vorurteilen, sondern im Gegenteil zu deren Stärkung und zur Ausbildung neuer Feindbilder – besonders in der deutsch-polnischen Grenzregion. Für die Bundesrepublik stellten die Aufnahme und Pflege von Kontakten zur VR Polen keine leichte Aufgabe dar. Die CDU/CSU wie die Vertriebenenverbände opponierten mit nahezu allen Mitteln – einschließlich Interventionen bei den Alliierten – gegen die »neue Ostpolitik« der sozialliberalen Koalition und waren zu keinerlei Zugeständnissen bereit. Die Tatsache, dass es in Polen in regelmäßigen Abständen zu Revolten, Krisen und ernsten Versorgungsschwierigkeiten kam, irritierte überdies die deutsche Bevölkerung und beeinflusste – ähnlich wie in der DDR – das Bild von Polen in eher ne-

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Einleitung

13

gativer Weise. Vor diesem Hintergrund wird die Frage gestellt, ob und welche Kursänderungen auf dem Gebiet der »neuen Ostpolitik« nötig schienen und wie unbeirrt die Hauptakteure der Versöhnungs- und Nachbarschaftspolitik ihre Ziele verfolgen konnten. Aber auch die polnische Regierung und die polnische Bevölkerung beurteilten die »neue Ostpolitik« in ihren verschiedenen Phasen unterschiedlich, zumindest ambivalent. In den emotionalen Wunsch nach Aussöhnung oder Distanz mischten sich rationales Kalkül nach ökonomischer Unterstützung vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit, aber auch tief sitzende Ängste im Zusammenhang mit der endgültigen Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Grenze. Während die Außenpolitik der Bundesrepublik zwischen 1969 und 1990 eine beachtliche Kontinuität in Bezug auf das Verhältnis zu Polen aufwies, fehlte es in Polen an dieser Beständigkeit. Ob und welche Auswirkungen diese Nachhaltigkeit in dem einen und die Diskontinuität in dem anderen Falle hatten, wird mit Blick auf den Abbau von Feindbildern und Vorurteilen in dem jeweiligen Land untersucht. Den Höhepunkt des deutsch-polnischen Normalisierungsprozesses bildete die KSZE-Konferenz in Helsinki 1975. In der Arbeit werden die Wahrnehmungen und Beurteilungen der KSZE-Ergebnisse, vor allem in Polen und der Bundesrepublik, aber auch in anderen Ländern analysiert. Dabei steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit der KSZE-Prozess den Erwartungen der an ihm teilnehmenden Staaten entsprochen hat. Inwiefern Helsinki den Gipfelpunkt in dem Versöhnungsprozess zwischen der Bundesrepublik und Polen darstellte, wird unter anderem anhand der Reaktionen auf diese Konferenz in den Medien und der öffentlichen Meinung untersucht. In den Achtzigerjahren stand die Regierung Kohl vor dem schwierigen Problem, trotz veränderter äußerer Bedingungen die Kontinuität der westdeutsch-polnischen Beziehungen zu wahren. Aufgrund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der Solidarność-Bewegung war Polen noch mehr als bei früheren Krisen mit sich selbst beschäftigt und erwartete von der Bundesrepublik vor allem wirtschaftliche Unterstützung. Allerdings hatten sich auch schon vorher die unterschiedlichen Interessen auf dem Gebiet der gegenseitigen Beziehungen immer wieder bemerkbar gemacht. Während die Bundesrepublik vor allem ideelle Ziele verfolgte – hier standen ein besonderes Interesse an kultureller Zusammenarbeit und Ausreisemöglichkeiten für Deutschstämmige im Vordergrund –, war Polen vor allem auf wirtschaftliche Unterstützung, Entschädigungszahlungen und eine Durchsetzung seiner Sicht der deutsch-polnischen Geschichte aus. Eine zentrale Weichenstellung für die deutsch-polnischen Beziehungen waren die Reaktionen der DDR und der Bundesrepublik auf die Solidarność-Bewegung. Aufgrund der revolutionären Entwicklung in Polen und der unterschiedlichen Wahrnehmung des Nachbarn in den beiden deutschen Staaten kam es zu deutlichen Verhaltensänderungen in der polnischen Bevölkerung. Gefühle von Dankbarkeit, aber

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

14

Einleitung

auch solche der Enttäuschung und neuer Feindseligkeit, bestimmten nunmehr das Bild von den Westdeutschen einerseits und den Ostdeutschen andererseits. Die Einrichtung des »runden Tisches« sowie der Zusammenbruch des Kommunismus in Polen erfolgten fast zeitgleich mit dem Niedergang der DDR, den »Zwei-Plus-Vier-Verhandlungen« und dem deutschen Wiedervereinigungsprozess. Abgesehen von der Sorge um eine sichere Westgrenze hatte die Aufrechterhaltung der Teilung Deutschlands zu den Grundkonstanten polnischer Außenpolitik seit 1945 gehört, zumal das eine durch das andere gewährleistet zu sein schien. Ähnlich wie in den meisten anderen europäischen Staaten rechnete man auch in Polen nicht mit einer derart schnellen Entwicklung hin zur deutschen Einheit. Die Arbeit untersucht die Rolle Polens in diesem Prozess, die Unsicherheit Warschaus wegen des Grenzvertrags, der mit dem wiedervereinigten Deutschland neu geschlossen werden musste und die Sorge vor einem wieder übermächtigen Nachbarn im Westen, der das Schicksal ganz Europas beeinflussen werde. Inwieweit ist es Helmut Kohl gelungen, die polnischen Ängste zu überwinden und die polnischen Politiker wie die Bevölkerung insgesamt für eine Unterstützung der deutschen Einheit zu gewinnen? Die deutsch-polnischen Beziehungen und die »neue Ostpolitik« werden in der Arbeit immer auch unter dem Gesichtspunkt untersucht, welche Wahrnehmungen, Vorurteile und Feindbilder die Verhandlungen begleiteten. Es wird nach den Bildern der beiden deutschen Staaten in Polen und nach der Perzeption Polens in der Bundesrepublik und in der DDR sowie nach der wechselseitigen Rezeption und den Einstellungen gefragt, und es wird versucht, Antworten auf diese Fragen zu geben. Die Bilder über den Nachbarn kommen in Stimmungs- und Medienberichten, Briefen sowie in Umfragen, manchmal direkt, häufiger jedoch indirekt, zum Ausdruck. Sie bleiben nicht stabil, sondern verändern sich ständig unter dem Einfluss bestimmter politischer Ereignisse.

2. Forschungsstand, Quellen- und Archivlage Forschungsstand Das Interesse an der Erforschung der Ostpolitik der Bundesrepublik besteht nicht erst seit den 1990er-Jahren. Bereits in den Siebzigerjahren erschienen Quellensammlungen und Darstellungen zu dem Komplex. Zu erwähnen ist die Dokumentation von Boris Meissner, die offizielle Äußerungen zur deutschen Ostpolitik, also Erklärungen der jeweiligen Bundesregierungen, Reden, Artikel und Interviews der verantwortlichen Staatsmänner und füh-

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Einleitung

15

renden Parteipolitiker der Bundesrepublik, enthält.1 1974 legte Gustavo Selva eine Darstellung über »Brandt e l’Ostpolitik« vor, die die Außenpolitik der Bundesrepublik in die deutsche Ostpolitik seit Bismarck einordnet.2 Ende der Siebzigerjahre erschienen dann die ersten wirklichen Analysen zur Ostpolitik. Benno Zündorf beschreibt die einzelnen Ostverträge, die Verhandlungen über diese und die Haltung der beteiligten Staaten zu ihnen.3 Auch USamerikanische Wissenschaftler haben erhebliches Interesse an der Ostpolitik gezeigt. William E. Griffith, der zu »den besten amerikanischen Kennern der Entwicklung der Bundesrepublik«4 gehört, stellt in seinem Werk die Ostpolitik von der Adenauer-Ära bis zu den Ostverträgen dar.5 In den Siebzigerjahren bewegte man sich freilich noch auf recht unsicherem Terrain: Der geringe Zeitabstand wie noch fehlende Kenntnisse über die Hintergründe erlaubten allenfalls aktuelle Analysen. Erst in den Neunzigerjahren erschienen Werke, die sich auf die Ergebnisse von Quellenarbeit stützen konnten. Als Erster hat Dieter Bingen die einzelnen Phasen der Ostpolitik mit Blick auf Polen genau dargestellt. Der Autor beginnt mit einer Beschreibung der Polenpolitik der Bundesrepublik seit 1949, also lange vor dem Beginn der »Ostpolitik« im engeren Sinne, und endet mit der Epoche nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und der Wiedervereinigung Deutschlands. Der Schwerpunkt seiner Untersuchung liegt auf dem politischen Handeln der Bundesregierungen gegenüber Polen. Es handelt sich um eine umfassende Darstellung der bundesrepublikanischen Polenpolitik für die gesamte Nachkriegsepoche von der Ära Adenauer bis zur Ära Kohl.6 Ein offensichtliches Problem der meisten deutschen Veröffentlichungen zum Thema Ostpolitik besteht darin, dass sie fast ausschließlich auf deutschen Archivmaterialien basieren und kaum oder gar nicht die Quellen aus den durch die Ostpolitik betroffenen Ländern heranziehen. In den Neunzigerjahren wäre das bereits möglich gewesen – auch und gerade weil der Zugang zum Archiv des Außenministeriums der Russischen Föderation von Anfang bis Mitte der Neunzigerjahre durchaus möglich und sogar viel ein-

1 Vgl. Boris Meissner (Hg.), Die deutsche Ostpolitik 1961–1970. Kontinuität und Wandel, Köln 1970. 2 Gustavo Selva, Brandt E L’Ostpolitik, Bologna 1974. 3 Vgl. Benno Zündorf, Die Ostverträge. Die Verträge von Moskau, Warschau, Prag, das Berlin-Abkommen und die Verträge mit der DDR, München 1979. 4 So Richard Löwenthal in der deutschen Ausgabe des Buches von William E. Griffith, Die Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1981, 12. 5 Vgl. William E. Griffith, The Ostpolitik of the Federal Republic of Germany, Cambridge, Ma./London 1978. 6 Vgl. Dieter Bingen, Die Polenpolitik der Bonner Republik von Adenauer bis Kohl 1949–1991, Baden-Baden 1998.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

16

Einleitung

facher war als heute.7 Auch Dieter Bingen benutzte überwiegend deutsche Quellen, vor allem das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes, und Darstellungen – mit der Begründung, dass die Schilderung der »Polenpolitik der Bonner Republik« ganz aus der Perspektive der in der Bundesrepublik Handelnden und deren Intentionen erfolge.8 Eine solche Vorgehensweise schließt jedoch den multiperspektivischen Zugriff bei der Erforschung der Geschichte der bilateralen Beziehungen aus.9 Polnische Autoren wiederum stützen sich in den meisten Fällen ausschließlich auf polnische Quellen. Diese mononationale Perspektive hat auch die polnische Historikerin Wanda Jarząbek für ihr Buch über die Einschätzung der KSZE-Konferenz in Polen gewählt.10 Nichtsdestoweniger besitzt diese Arbeit ihren Wert aufgrund der detaillierten Studien in allen einschlägigen polnischen Archiven und dem darauf fußenden Dokumentenanhang. Nur wenige Autoren, die sich mit einzelnen Aspekten der Ostpolitik beschäftigen, haben deutsche und polnische Quellen herangezogen. Das trifft etwa auf die Studie von Krzysztof Ruchniewicz zu, der sich mit dem Problem der Entschädigungen polnischer Bürger beschäftigte und dafür einschlägige Dokumente aus deutschen und polnischen Archiven nutzte.11 Aufmerksamkeit verdient auch das 2007 erschienene Buch der polnischen Autorin Katarzyna Gelles »Niemiecka polityka wschodnia« [Die deutsche Ostpolitik]12, die deutsches und polnisches Schrifttum verarbeitet. Gelles beschreibt die Beziehungen Westdeutschlands zu den ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten und arbeitet Unterschiede zwischen den angrenzenden und den nicht in direkter Nachbarschaft zu Deutschland liegenden Ländern heraus. Die Arbeit

7 Siehe dazu: Stefan Creuzberger/Rainer Lindner, Russische Archive und Geschichtswissenschaft. Rechtsgrundlagen – Arbeitsbedingungen – Forschungsperspektiven (Zeitgeschichte, Kommunismus, Stalinismus. Materialien und Forschungen 2), Frankfurt a. M. 2003. 8 Vgl. Bingen, Die Polenpolitik der Bonner Republik, 5. 9 Vgl. Kap. I.3 in dieser Arbeit. 10 Vgl. Wanda Jarząbek, Polska wobec Konferencji Bezpieczeństwa i Współpracy w Europe. Plany i rzeczywistość 1964–1975 [Polen und die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Pläne und Wirklichkeit 1964–1975], Warszawa 2008. Jarząbek behandelt das Thema der Ostpolitik insgesamt aus allein polnischer Perspektive. Vgl. Wanda Jarząbek, Deutsche (Neue) Ostpolitik aus polnischer Perspektive, 1966–1972, in: Friedhelm Boll/Krzysztof Ruchniewicz (Hg.), unter Mitarbeit von Peter Beule, »Nie mehr eine Politik über Polen hinweg.« Willy Brandt und Polen, Bonn 2010, 70–96. 11 Vgl. Krzysztof Ruchniewicz, Polskie zabiegi o odszkodowania niemieckie w latach 1944/45–1975 [Polnische Bemühungen um deutsche Entschädigungen in den Jahren 1944/45–1975], Wrocław 2007. 12 Wrocław 2007. Siehe außerdem ganz aktuell: Krzysztof Ruchniewicz, Deutschpolnische Beziehungen und das Problem der Entschädigung der polnischen NS-Opfer zur Zeit der Neuen Ostpolitik, in: Boll/Ruchniewicz (Hg.), »Nie mehr eine Politik über Polen hinweg.«, 97–137.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Einleitung

17

basiert freilich ausschließlich auf Literatur sowie einigen gedruckten Quellen und Internetquellen. Ungedrucktes Archivmaterial wurde nicht einbezogen. Unter dem Gesichtspunkt, dass nicht nur Deutschland und Polen behandelt werden, erscheint die Begrenzung auf ausschließlich deutsche und polnische Titel von einigem Nachteil; die einschlägige Literatur aus anderen Ländern, über die die Autorin ebenfalls schreibt, wurde nicht berücksichtigt. Fast keine Berücksichtigung hat in den bisherigen Veröffentlichungen die Rezeption der Ostpolitik durch jene Ländern gefunden, auf die sie gemünzt war. Das hängt nicht zuletzt mit dem oftmals mühsamen Quellen-Zugang in Ost- und Ostmitteleuropa zusammen. Eine Ausnahme von dieser durch die Umstände bedingten Abstinenz bildet die Sammelarbeit von Józef Fischer und Jerzy Holzer.13 Wenn man die inzwischen umfangreiche Literatur zum Thema der deutsch-polnischen Beziehungen analysiert, stellt man schnell fest, dass sie entweder die Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik oder die zwischen Polen und der DDR behandelt. Selten beschreiben die Autoren in vergleichender Perspektive die Kontakte beider deutschen Staaten zu Polen. Aus diesem Grund verdienen die Forschungen von Mieczysław Tomala besondere Erwähnung; der Verfasser analysiert sowohl die Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik als auch die zwischen Polen und der DDR.14 Tomala betrachtet allerdings die komplexe Beziehungsgeschichte zwischen den drei Ländern ganz aus einer nationalpolnischen Sicht und begibt sich damit der Chance, sein Thema unter verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Trotz des Interesses, das an den deutsch-polnischen Beziehungen besteht, so Andreas Wilkens 2007, steckt die historische Analyse der Ostpolitik somit immer noch in den Kinderschuhen.15 In der hier vorgelegten Studie wird deshalb der Versuch unternommen, eine multinationale Perspektive einzunehmen, um einen möglichen Erkenntnisfortschritt zu erzielen. Die westdeutsche Ostpolitik – »the whole package of […] Treaties and Agreements«16 13 Recepcja Ostpolitik w RFN i w krajach bloku komunistycznego. Polska, ZSRR, NRD, Czechosłowacja, Węgry [Die Rezeption der Ostpolitik in der BRD und in den Ländern des kommunistischen Blocks. Polen, UdSSR, DDR, Tschechoslowakei, Ungarn], Warszawa 2004. 14 Vgl. Mieczysław Tomala, Deutschland – von Polen gesehen. Zu den deutsch-polnischen Beziehungen 1945–1990, Marburg 2000. 15 Vgl. Andreas Wilkens, New Ostpolitik and European integration. Concept and policies in the Brandt era, in: N. Piers Ludlow (Hg.), European Integration and the Cold War. Ostpolitik – Westpolitik, 1965–1973, London-New York 2007, 67–80; hier: 67. Siehe auch: Carole Fink, Ostpolitik, 1969–1974: European and Global Responses, Cambridge 2009; Karl Cordell/Stefan Wolff, Germany’s Foreign Policy towards Poland and the Czech Republic: Ostpolitik Revisited, London 2005. 16 Zit. nach The National Archives of the United Kingdom (UK), FO 1042/434, Cristopher John Audland (Botschaftsrat an der britischen Botschaft in Bonn), Record of a

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

18

Einleitung

– wird vor allem im Spiegel der polnischen, ostdeutschen und sowjetischen, aber auch der britischen und amerikanischen Wahrnehmung dargestellt. Das »Paket« umfasste zu einem erheblichen Teil Vereinbarungen, die ohne die Kooperation mit den ehemaligen Kriegsalliierten, aber auch mit anderen europäischen Partnern nicht hätten realisiert werden können. Insofern kam der Bundesrepublik die Rolle desjenigen zu, der den Prozess anstieß und beharrlich weiterverfolgte, aber stets auf die anderen angewiesen blieb. Neben den eigentlichen Ostverträgen mit den Nachbarn und dem Berlinabkommen, bei dem die Bundesrepublik nicht am Verhandlungstisch saß17, gehörten die Frage der Mutual and Balanced Force Reductions (MBFR)18, die Aufnahme beider deutschen Staaten in die Vereinten Nationen19, der Beitritt Großbritanniens in die EWG20 und der KSZE-Prozess in den weiteren Verhandlungskomplex. Wenn man von der EWG einmal absieht, hatten auf den anderen genannten Politikfeldern die beiden Großmächte bzw. die Siegermächte das Sagen. Folgerichtig unterschied Willy Brandt zwischen den »bilateralen ostpolitischen Bemühungen« einer ersten Phase, die »im Zusammenhang mit KSZE und MBFR« in eine zweite »multilaterale Phase übergehen« sollte.21

Quellen- und Archivlage Die vorliegende Arbeit basiert zum größten Teil auf Quellen aus deutschen, polnischen, russischen, britischen und amerikanischen Archiven. Im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin (PA/AA) wurden Akten aus-

Conversation with Günther van Well (Vortragender Legationsrat I. Klasse und Leiter des Referats »Außenpolitische Fragen, die Berlin und Deutschland als Ganzes betreffen« im Auswärtigen Amt), 11.2.1972. 17 Vgl. The National Archives of the UK, FCO 33/1150, Guidelines (o.D.) und Protokoll der Bonn Group Study vom 3.7.1970. 18 Vgl. The National Archives of the UK, FCO 33/417, P. D. R. Davies, Conference in Bonn to assess Ostpolitik, 8.1.1971. 19 Vgl. The National Archives of the UK, FO 1042/434, Douglas-Home über die sowjetische Haltung zur Aufnahme der beiden Deutschland in die UN, 31.7.1972. 20 Vgl. David Childs, Britain Since 1939. Progress and Decline, Basingstoke 22002, 186–188. Das britische Europa-Gesetz wurde am 13. Juli 1972 in dritter Lesung verabschiedet, der offizielle Beitritt Britanniens zur EWG erfolgte am 1. Januar 1973. Bei einem Referendum im Juni 1975 entschied die Mehrheit der Wähler mit einem Ja für die EWGMitgliedschaft. Vgl. Sean Greenwood, Britain and the Cold War, 1945–1991, Basingstoke 2000; Brian White, Britain, détente and changing East-West relations, London 1992. 21 The National Archives of the UK, PREM 15/1492, Schreiben Brandts an Heath vom 16.1.1973. Bereits bei seinem Treffen mit Breschnew im Frühherbst 1971 hatte Brandt deutlich gemacht: »Only after the Berlin agreement had been completed could we enter into the stage of multilateral discussions.« The National Archives of the UK, FCO 33/1459, Call by the German Ambassador [von Hase] to Heath, 20.9.1971.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Einleitung

19

gewertet, die das Verhältnis der Bundesrepublik zu Polen und der UdSSR sowie der DDR zu Polen und der UdSSR wiedergeben. Analysiert wurden im Einzelnen Botschaftsberichte über die Innen- und Außenpolitik der Volksrepublik Polen, Jahresbeziehungsberichte der DDR und der VRP, Aktennotizen, Aktenvermerke und Aufzeichnungen über verschiedene Unterredungen, Schreiben der Botschaften der Bundesrepublik, der DDR und Polens, Korrespondenzen zwischen Politikern und Beamten, Konzeptionspapiere, Berichte über westdeutsch-polnische und ostdeutsch-polnische Beziehungen, Bemerkungen und Einschätzungen der polnisch-westdeutschen und polnisch-ostdeutschen Gespräche, Analysen des Standes der Beziehungen zwischen der DDR und der VRP, Berichte über Besuche der westdeutschen und der DDR-Politiker in Polen sowie die polnischer Politiker in der Bundesrepublik und in der DDR, ferner Berichte der sowjetischen Botschaften über Gespräche mit ostdeutschen, polnischen und westdeutschen Politikern, Botschafterberichte über die Situation in den betreffenden Ländern, Reiseberichte, Akten verschiedener Kultur-, Kirchen- und Wirtschaftsvereine, Unterlagen der Schulbuchkonferenzen, Berichte über Städtepartnerschaften zwischen der Bundesrepublik und Polen sowie solche über Tagungen bundesrepublikanischer politischer Stiftungen in Polen. Dieses Schrifttum steht gegenwärtig für den Zeitraum zwischen 1965 und 1978 zur Verfügung. Obwohl sich die Untersuchung vor allem auf die Siebzigerjahre konzentriert, war der Einblick in Bestände aus der davor liegenden Zeit für den Kontext oft wichtig. Die Nutzung von Beständen für die Zeit nach 1978 war wegen der im Bundesarchivgesetz festgelegten 30-jährigen Sperrfrist leider nicht möglich. Neben dem PA/AA wurden auch Dokumente aus dem Archiv der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit (MfS) der ehemaligen DDR (BStU) in Berlin ausgewertet. Aus den Beständen der BStU wurden vor allem Stimmungsberichte herangezogen, die das Ministerium für Staatssicherheit im Blick auf die Volksrepublik Polen angefertigt hatte. Von enormer Bedeutung erschienen die Akten über die Reaktion der ostdeutschen Behörden wie der Bevölkerung auf die Solidarność-Bewegung und den Kriegszustand in Polen. Als aufschlussreich erwiesen sich auch die Einschätzungen der polnisch-westdeutschen Beziehungen durch das Ministerium für Staatssicherheit, Informationen über aktuelle Aspekte der inneren Lage in der VR Polen und Informationen über die Einschätzung der aktuellen Entwicklungen in der Außenpolitik der VR Polen durch die Bundesrepublik. Interessante Aspekte lieferten auch MfS-Berichte mit Einschätzungen der Lage in der deutsch-polnischen Grenzregion. Außerdem wurden Berichte über die Haltung der polnischen Bevölkerung gegenüber der DDR und sowie die Kontakte von Polen zu Westdeutschen ausgewertet. Sehr ertragreich für die Fragestellung erwies sich das Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Nachlässe von Willy Brandt und Helmut Schmidt enthalten viele wichtige Informationen, die in den bishe-

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

20

Einleitung

rigen Veröffentlichungen (auch in der Berliner Brandt-Ausgabe) nicht zu finden waren. Aus dem Nachlass von Willy Brandt wurden die Bestände »Bundeskanzler, Bundesregierung«, »SPD Parteivorsitzender/Parteipräsidium/Parteivorstand«, »Willy Brandt Verbindungen mit Referaten, Abteilungen, Büros des Erich-Ollenhauer-Hauses« und »Kontakte zu ausländischen Regierungen, sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien sowie befreundeten und verwandten Bewegungen« ausgewertet. Aus dem Nachlass von Helmut Schmidt wurden Rede- und Vortragstexte, Korrespondenzen, Notizen, Aufzeichnungen sowie Reiseberichte herangezogen. In Polen wurden vor allem die Bestände aus dem (Staats-)Archiv Neuer Akten (Archiwum Akt Nowych, AAN) in Warschau ausgewertet. Die Akten gaben Auskunft über die Beziehungen Polens zur Bundesrepublik und der DDR. Im Einzelnen handelt es sich um Berichte, Korrespondenzen, Programme, Chiffretelegramme, Notizen über politische Treffen und Gespräche zwischen verschiedenen Politikern sowie um Berichte über die Zusammenarbeit der kommunistischen Parteien. Als äußerst instruktiv erwiesen sich die im AAN aufbewahrten Akten aus dem Bestand des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (ZK PVAP), weil sie Einblick in die Entwicklung nach 1976 gaben. Für die vorliegende Untersuchung haben sich die Akten der Auslandsabteilung des ZK PVAP am ertragreichsten erwiesen. Dank der ausführlichen Überlieferung über den Besuch des Parteivorsitzenden Edward Gierek in der Bundesrepublik im Juni 1976 konnte diese Reise in der Arbeit ausführlich dargestellt werden. Auch die Besuche der westdeutschen Politiker in Polen – besonders die Willy Brandts, Helmut Schmidts und Herbert Wehners – sind im AAN-Archiv gut dokumentiert. Aus der Propagandaabteilung des ZK der PVAP wurden Korrespondenzen, Pläne, Notizen, Berichte und Informationen über die Zusammenarbeit zwischen Polen und der Bundesrepublik sowie zwischen Polen und der DDR ausgewertet. Die im Institut für Nationales Gedächtnis (Instytut Pamięci Narodowej, IPN) – eine Art polnische BStU – aufgefundenen und ausgewerteten Dokumente bezogen sich überwiegend auf die Beziehungen zwischen Polen und der DDR. Besonders wichtig für die vorliegende Untersuchung waren Berichte über die Grenzöffnung zwischen der DDR und der VR Polen im Jahr 1972, Umfragen über die Meinung polnischer Bürger zum visafreien Grenzverkehr mit der DDR sowie Notizen über die Folgen des pass- und visafreien touristischen Verkehrs zwischen der VRP und der DDR. Ähnlich wie in Deutschland boten auch in Polen die Bestände aus dem Archiv des Außenministeriums (Archiwum Ministerstwa Spraw Zagranicznych, AMSZ) die meisten Informationen zu dem in Rede stehenden Themenkomplex. Im Archiv des polnischen Außenministeriums wurden Dokumente ausgewertet, die das Verhältnis zwischen Polen und der Bundesrepublik, Polen und der DDR sowie Polen und der Sowjetunion widerspiegeln. Diese Bestände, die meistens propagandistischen Charakter tragen, wurden für

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Einleitung

21

die Darstellung der Position der polnischen Regierung in dem betrachteten Zeitraum ausgewertet. Aus dem Department I (Abteilung Tschechoslowakei, DDR, Balkanländer und die Sowjetunion) wurden Notizen, Berichte und Einschätzungen der Kontakte zwischen der VR Polen und der DDR sowie zwischen der VR Polen und der Sowjetunion ausgewertet. Analysiert wurden Treffen und Gespräche zwischen Politikern der genannten Länder. Besonders interessante Informationen enthielten Chiffretelegramme und Notizen der Übersetzer (vor allem Mieczysław Tomala), die bei vielen wichtigen Spitzentreffen zugegen waren. Aus dem Department IV (Abteilung Mitteleuropa, Frankreich und Iberische Inseln, Großbritannien, Skandinavien, Südeuropa) wurden Akten (Chiffretelegramme, Notizen, Berichte) über die Kontakte zwischen der VR Polen und der Bundesrepublik ausgewertet. Die Besuche von Edward Gierek in der Bundesrepublik sowie die von Willy Brandt und Helmut Schmidt in Polen wurden durch das Department IV ausführlich beschrieben. In diesem Department sind auch alle Informationen über den Vertrag zwischen Polen und der Bundesrepublik vom Dezember 1970 und dessen Ratifizierung im Mai 1972 zu finden. Aus der Abteilung »Kabinett des Ministers« wurden Akten über die Grundlagen der Normalisierung mit der Bundesrepublik und Berichte sowjetischer Diplomaten über einige Aspekte aktueller Außenpolitik der Bundesrepublik herangezogen. Das Department für Studien und Programmierung (DSiP) enthält Bestände über Ost-WestBeziehungen, Europäische Sicherheit, Abrüstung und wirtschaftliche Probleme. Hier haben sich die Berichterstattung und Notizen aus der III. Phase des KSZE-Prozesses als besonders wichtig erwiesen. Aus dem Konsulardepartment (Abteilung zu Angelegenheiten der Polen im Ausland, Pass-VisaAbteilung) wurden überwiegend Dokumente über die Beziehungen zwischen der DDR und Polen ausgewertet. Das Department für Kulturelle und Wissenschaftliche Zusammenarbeit (DPWKN) enthielt wichtige Informationen über die kulturelle und wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen Polen und der Bundesrepublik, aber auch über Propagandapläne im Zusammenhang mit dem Besuch von Edward Gierek in der Bundesrepublik. Leider war die Nutzung der Bestände des Polnischen Außenministeriums nicht in dem gleichen Umfang möglich, wie das einigen polnischen Forschern an polnischen Wissenschaftseinrichtungen gestattet wurde. Wer – unabhängig von der Nationalität – in einer nichtpolnischen Institution arbeitet, wird als Ausländer behandelt und erhält somit keine Sonderkonditionen – etwa die Genehmigung zur Akteneinsicht für die Zeit nach 1978. Um diese Lücke zu schließen, wurde der Bestand des ZK PVAP (Auslandsabteilung, Propagandaabteilung und Politbüro) im Archiv Neuer Akten ausgewertet. Eine willkommene Ergänzung stellten die Akten aus dem Staatsarchiv in Wrocław (Archiwum Państwowe we Wrocławiu) dar. Hier wurden die Bestände des Wojewodschaftskomitees Wrocław und der Kommandantur der Bürgermiliz über die »Beseitigung des Deutschtums« und die »Polonisierungsaktion«

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Einleitung

22

in der deutsch-polnischen Grenzregion ausgewertet. Aufgrund dieser Akten konnte anhand konkreter Beispiele die schwierige deutsch-polnische Nachbarschaft in der Nachkriegszeit skizziert werden. Im Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation (AVPRF) wurden folgende Bestände ausgewertet: Referenz DDR (die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR), Referenz BRD (die Beziehungen zwischen der BRD und der UdSSR), Referenz Polen (die Beziehungen zwischen der UdSSR und Polen). Im Einzelnen wurden Niederschriften der Sitzungen und politischer Gespräche, Botschaftsberichte, Notizen aus Treffen zwischen verschiedenen Politikern, Tagebücher der Gesandten, Notizen des Außenministeriums der UdSSR an die Botschaften der VRP und der Bundesrepublik und Notizen der Botschaften in Moskau an das Außenministerium der UdSSR ausgewertet. Der mögliche Untersuchungszeitraum umfasste die Jahre von 1961 bis 1978. Im National Archives and Records Administration (NARA) in Washington D.C. (College Park, Maryland) wurden Bestände ausgewertet, die die Beziehungen der USA zur Sowjetunion, zur Bundesrepublik, zur DDR und zu Polen betreffen. Die für die vorliegende Arbeit relevantesten Informationen waren in den Beständen des »State Departments« (RG 59) zu finden. Es handelte sich im Einzelnen um Telegramme der Botschaften an das State Department und umgekehrt, um Niederschriften von Gesprächen zwischen verschiedenen Politkern, Briefing Memoranden, Strategiepapiere, Analysen, Observations, Intelligence Notes und Intelligence Briefs im Zusammenhang mit den Besuchen der US-Politiker in Ostblockländern. Als außerordentlich instruktiv erwiesen sich die Ergebnisse aus Umfragen amerikanischer Meinungsforschungsinstitute. Für die Bewertung der KSZE-Konferenz wurden mit Gewinn die auf der Website des NARA zugänglich gemachten OnlineQuellen (declassified telegrams) genutzt.22 In The National Archives of the United Kingdom in London wurden Bestände des Premierministers (Korrespondenzen mit den deutschen Bundeskanzlern und vorbereitende Dossiers), des Außenministeriums und alle Akten über den Helsinki-Komplex ausgewertet. Insgesamt ermöglichte die Nutzung von Archivquellen aus fünf Ländern eine vergleichende Perspektive. Allerdings war die Intention, Einsicht in parallele Sachakten zu nehmen, nicht immer zu erreichen. Die Zugangsmöglichkeiten zu den Archiven, die Systematik sowie die Art der Quellen waren in jedem Land anders.

Internetquellen und gedruckte Quellen Aus dem Bereich der Internetquellen waren die Ergebnisse von Befragungen aus verschiedenen Meinungsforschungsinstituten am relevantesten. Von den 22 http://aad.archives.gov/aad/.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Einleitung

23

gedruckten Quellen erwiesen sich die Tagebücher von Mieczysław Rakowski für die vorliegende Arbeit als am ergiebigsten. Die Aufzeichnungen dieser Schlüsselfigur bildeten eine gelungene Ergänzung zu den Archivquellen. Mieczysław Rakowski, Journalist, historischer Publizist und Politiker, war von 1957 bis 1982 Chefredakteur der Wochenzeitung Polityka, von 1972 bis 1989 Sejmabgeordneter, von 1981 bis 1985 Vizepremier in der Regierung von Wojciech Jaruzelski und von 1985 bis 1988 Vizemarschall des Sejms der Volksrepublik Polen. Rakowski war auch der letzte Premier der Volksrepublik Polen (1988 bis 1989) und der letzte Erste Sekretär des ZK PVAP (August 1989 bis Januar 1990). Von 1990 bis zu seinem Tod im Jahre 2008 leitete er als Chefredakteur die Monatszeitschrift Dziś. Przegląd Społeczny [Heute. Die Gesellschaftliche Rundschau]. Rakowski verfasste über 30 Bücher zu polnischen und internationalen Themen. Im Jahre 2006 erhielt er den Historikerpreis der Wochenzeitung Polityka. Die politischen Tagebücher von Mieczysław Rakowski umfassen die Jahre zwischen 1958 und 1990. Für die vorliegende Arbeit waren vor allem die Bände aus den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren von Bedeutung. Rakowski beschreibt in ihnen, oft Tag für Tag, die Ereignisse in Polen wie in anderen Ländern und gibt seine Einschätzungen dazu ab. Vor allem seine Mitteilungen über die Beziehungen Polens zur Bundesrepublik, zur DDR und zur Sowjetunion bildeten eine wichtige Informationsquelle für die vorliegende Arbeit. Rakowski stellt die Ereignisse aus publizistischer und politischer Perspektive dar. Insgesamt haben sich die Biografien der führenden Akteure der Ostpolitik als eine instruktive Quelle erwiesen – auch, weil sie die Möglichkeit eröffneten, Vergleiche über ein und dasselbe Ereignis aus durchaus unterschiedlicher deutscher und polnischer Erlebnisperspektive anzustellen.23 Für die Achtzigerjahre, für die der Zugang zu Archivquellen nicht möglich war, bildeten die Biografien eine nicht zu unterschätzende Informationsquelle. Außerdem waren für die Arbeit die sorgfältig edierten Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik (AAPD) von besonderer Bedeutung. Diese Edition enthält viele wichtige Dokumente aus dem Bereich der Ostpolitik.24 Für die Jahre zwischen 1969 und 1972 haben sich auch die von der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien herausgegebenen Sitzungsprotokolle des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages als äußerst hilfreich erwiesen.25 Auf polnischer Seite entsprechen den AAPD die Polskie Dokumenty Dyplomatyczne [Polnische Dip-

23 Siehe hierzu vor allem Kap. VIII. 6 (Tagebücher von Helmut Kohl und Mieczysław Rakowski im Vergleich). 24 Für die vorliegende Arbeit waren vor allem die Bände 1970–1977 von Interesse. 25 Vgl. Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (Hg.), Der Auswärtige Ausschuss des Deutschen Bundestages. Sitzungsprotokolle 1969–1972 (zwei Bände), Düsseldorf 2007.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990

24

Einleitung

lomatische Dokumente, PDD]. Für die Siebzigerjahre sind bisher drei Bände erschienen. Im Vergleich zu den AAPD sind die polnischen Dokumente sparsamer kommentiert, und die polnische Edition bietet eine weit geringere Dichte an Dokumenten als die deutsche. Allerdings liegt polnischerseits bereits seit 2005/06 die Quellensammlung von Mieczysław Tomala vor.26 Dieser hat die Dokumente aus dem Archiv des polnischen Außenministeriums und die Parteiakten aus dem Archiv Neuer Akten sehr genau ausgewertet, was vor allem damit zusammenhängt, dass er einen fast uneingeschränkten Zugang zu den Beständen erhalten hatte. In dem von ihm veröffentlichten Quellenband sind vor allem jene Dokumente aufschlussreich, die aus seinem Privatarchiv stammen. Tomala nahm in den Sechziger- und Siebzigerjahren als Chefdolmetscher an den wichtigsten Verhandlungen teil, die auf höchster Ebene zwischen Polen und der DDR sowie zwischen Polen und der Bundesrepublik stattfanden. Für die amerikanische Seite wurden die gedruckten Quellen Foreign Relations of the United States ausgewertet,27 für die Außenpolitik des Vereinigten Königreichs die Documents on British Policy Overseas des Foreign and Commonwealth Office.28 Für die sowjetische Seite sind ähnliche Quellen leider nicht vorhanden. Für bestimmte Knotenpunkte der Entwicklung wurde auch die öffentliche Berichterstattung in den Printmedien herangezogen. Hier bleibt freilich zu beachten, dass – anders als im Westen – die gelenkte Presse im Ostblock nur bedingt Rückschlüsse auf die »öffentliche Meinung« in den betreffenden Ländern zulässt. Dem Guardian zufolge zirkulierte im Herbst 1970 ein Witz in Polen, wonach »only a fool needs a free press to know what’s going on«29. Die Hintergründigkeit dieses Scherzes wurzelte in dem Sachverhalt, dass zu dieser Zeit Dutzende von Artikeln der Zensur zum Opfer fielen. Diese Beobachtung gilt allerdings nicht mehr seit 1989. Die in diesem Jahr entstehende freie Presse in Polen berichtete bereits weitgehend unabhängig von den kommunistischen Herrschaftseinrichtungen und erwies sich insofern als eine wichtige Informationsquelle für Kapitel VIII dieser Arbeit, das sich mit den Achtzigerjahren befasst. Für diesen Zeitabschnitt stehen wegen der Sperrfris-

26 Vgl. Mieczysław Tomala, Polityka i dyplomacja polska wobec Niemiec. Tom I: 1945–1970 i II: 1971–1990. [Die Politik und die polnische Diplomatie gegenüber Deutschland. Band I: 1945–1970 u. II: 1971–1990], Warszawa 2005/2006. 27 Vor kurzem erschienen: Foreign Relations of the United States, 1969–1976, Volume II: Organization and Management of U.S. Foreign Policy, 1969–1972, Washington D.C. 2006; Foreign Relations of the United States, 1969–1976, Volume XIV: Soviet Union October 1971–May 1972, Washington D.C. 2006. 28 Foreign & Commonwealth Office (ed.), Documents on British Policy Overseas, Series III, Volume III. Détente in Europe, 1972–76, London 2001; Series III, Volume VII German Unification 1989–1990, London 2009. 29 Dan Morgan, Letter from Warsaw. More freedom than meets Western eyes, in: The Guardian, 10.10.1970, 3.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Katarzyna Stoklosa, Polen und die deutsche Ostpolitik 1945-1990 Einleitung

25

ten ungedruckte Dokumente aus den Archiven noch nicht zur Verfügung.30 Aufgrund der freien Berichterstattung in dieser sich formierenden unabhängigen Presse war es möglich, den offiziellen »Arbeitsbesuch« des Außenministers Hans-Dietrich Genscher in Warschau vom 10. bis 13. Januar 1988, den inoffiziellen Besuch des polnischen Ministerpräsidenten Mieczysław Rakowski in der Bundesrepublik im Januar 1989, den Besuch des Bundeskanzlers Helmut Kohl in Polen im November 1989 und die Wahrnehmung des deutschen Wiedervereinigungsprozesses in Polen darzustellen. Die Zitate aus allen ungedruckten wie gedruckten Quellen und auch die aus der Literatur wurden – mit Ausnahme der englischsprachigen – ins Deutsche übersetzt.

3. Methodische Vorbemerkungen Die vorliegende Arbeit folgt methodisch dem seit den 1990er-Jahren neu entwickelten, in seinem Instrumentarium stark ausdifferenzierten Paradigma einer konsequent europäisierten und transatlantischen Geschichtsschreibung der internationalen Beziehungen und diskutiert nicht mehr die überwundenen historiografischen Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre.31 Es wird von einer selbstverständlichen Interdependenz von Außenpolitik- und Gesellschaftsgeschichte sowie von Innen-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte 30 Siehe zum Wert von Pressemitteilungen für die Diplomatiegeschichte auch Gordon A. Craig, Die Chequers-Affäre von 1990. Beobachtungen zum Thema Presse und internationale Beziehungen, in: VZG 39 (1991), 611–623. 31 Vgl. den Forschungsbericht von Reiner Marcowitz, Von der Diplomatiegeschichte zur Geschichte der Internationalen Beziehungen. Methoden, Themen, Perspektiven einer historischen Teildisziplin, in: Francia 32 (2005), 75–100. Siehe auch: Ulrich Lappenküper, Morgenlust für die Internationalen Beziehungen in der Geschichtswissenschaft, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), 368–373; Kiran Klaus Patel, Nach der Nationalfixiertheit. Perspektiven einer transnationalen Geschichte (Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität zu Berlin 128), Berlin 2004; Eckart Conze/Ulrich Lappenküper/ Guido Müller (Hg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln 2004; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28 (2002), 574–606; Frank Anderson/Amos Hershey, Handbook for the diplomatic history of Europe, Asia, and Africa 1870–1914, Buffalo 2008; Caroline Kennedy-Pipe, International history and international relations theory: A dialogue beyond the cold war, in: International Affairs: A Russian Journal of World Politics, Diplomacy & International Relations 76 (2000), 741–754; Jürgen Osterhammel, Transnationale Gesellschaftsgeschichte: Erweiterung oder Alternative?, in: GG 27 (2001), 464–480; Brenda Gayle Plummer, The changing face of diplomatic history, in: History Teacher 28 (2005), 385–400; David Reynolds, International history, the cultural turn and the diplomatic twitch, in: Cultural and Social History 3 (2006), 75–91; Karl Schweizer, The revitalization of diplomatic history: renewed reflections, in: diplomacy & statecraft 19 (2008), 149–187; Guido Thiemeyer, Internationalismus und Diplomatie, München 2009.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-30000-8

Suggest Documents