Kapitel 2 Was sind Mikroorganismen und wie sind sie entstanden

Kapitel 2 Was sind Mikroorganismen und wie sind sie entstanden Das Wort Mikroorganismen ist kein wissenschaftlicher Begriff, der eine bestimmte Grup...
Author: Hanna Arnold
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Kapitel 2

Was sind Mikroorganismen und wie sind sie entstanden

Das Wort Mikroorganismen ist kein wissenschaftlicher Begriff, der eine bestimmte Gruppe von Lebewesen definiert. Unter Mikroorganismen (wörtlich: kleine Lebewesen) fasst man einzellige Organismen zusammen, die nur mit dem Mikroskop sichtbar gemacht werden können (1–20 —m; 1 ȝm = 10í6 m = 1/1.000.000 m), also vor allem Bakterien und mikroskopisch kleine Pilze, Algen und Protozoen (tierische Einzeller). Bis weit in das 19. Jahrhundert gab es keine Zunft der Mikrobiologen, die sich diesen Organismen hauptamtlich widmete. Neugier und das Bedürfnis das klassische, überkommene Wissen der Antike zu hinterfragen, wirkten oft als Triebfeder des Suchens und Forschens. Technische Fortschritte, wie die Entdeckung von Fernrohr und Mikroskop erlaubten den Zugang zur Welt der Unsichtbaren. Sorgfältige Beobachtungen und scharfsinnige Überlegungen, die in kleinen Schritten die Basis für unser heutiges Wissen vorbereiteten, wurden von Handwerkern, Geistlichen, Ärzten, Apothekern, Chemikern, Naturforschern und vielen an der Natur interessierten Laien zusammengetragen und seit der Entwicklung der Buchdruckkunst in gedruckter Form oder in Briefen einem breiteren Publikum vermittelt. Spät im 19. Jahrhundert wurden die Bakteriologie und die Mykologie (Pilzkunde) eine Domäne der Botaniker und Mediziner, während die Protozoen von den Zoologen und Ärzten untersucht wurden. Viren wurden erst am Ende des 19. Jahrhunderts als infektiöse, filtrierbare Agenzien entdeckt. Es sind hoch organisierte Nukleoprotein-Komplexe, denen wichtige Eigenschaften von Lebewesen fehlen und die als Erreger von Krankheiten bekannt wurden. Die Anlässe und die Triebfeder, sich mit den Mikroorganismen zu beschäftigen, waren ganz unterschiedlich. Seit der Entwicklung des Mikroskops haben Form und Bewegungsverhalten der Mikroben immer wieder die Betrachter fasziniert und – je nach Wissensstand und Ausbildung – unterschiedliche Fragestellungen ausgelöst. Manchmal waren es zufällige Beobachtungen, die zu genaueren Untersuchungen Anlass boten, wie das Entstehen eines roten Überzugs auf den Hostien („blutende Hostie“), das Aufsteigen von Gasblasen aus morastigen Gewässern, die seuchenartige Ausbreitung von Krankheiten oder die Frage nach der Entstehung des Lebens auf der Erde. Nach heutigen Erkenntnissen waren die Vorfahren der heute lebenden Mikroorganismen schon sehr früh in der Erdgeschichte präsent. Geologische Funde in sehr alten Gesteinsformationen sowie Schlussfolgerungen aus molekulargenetischen und

G. Drews, Mikrobiologie, DOI 10.1007/978-3-642-10757-3_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

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chemischen Untersuchungen weisen darauf hin, dass Urformen des Lebens schon vor etwa 3.700 Mio. Jahren (Ma) auf der Erde entstanden und, unter Nutzung der vorhandenen Ressourcen, sich vermehrten und die Erde veränderten. Im Laufe langer Zeiträume haben sich die Archaebakterien und die Eubakterien an viele natürliche Standorte angepasst: an heiße Quellen in der Tiefsee, an kalte Gewässer in der Antarktis, an hyperthermophile Quellen, an sehr saure oder alkalische Gewässer; an ein Leben ohne Sauerstoff und an lebensfeindliche Stoffe wie Schwefelwasserstoff, Schwefelsäure, Schwermetalle; und an toxische Stoffe wie Phenole oder chlorierte Kohlenwasserstoffe sowie an komplexe organische Stoffe wie Cellulose, Lignin, Eiweiße, Fette oder Chitin, die sie als Nahrungsstoffe zu verwerten lernten. Es brauchte die riesige Zeitspanne von mehr als 3.000 Ma bis in der Periode der „Kambrischen Explosion“ vor etwa 500 Ma sich in einer relativ kurzen Zeitspanne die höheren, vielzelligen Lebewesen aus den Mikroorganismen entwickelten. Mikroorganismen blieben Einzeller, aber sie haben sich an neue Umweltbedingungen angepasst, indem sie Sensoren ausbildeten, um Reize der Umwelt wie Stoffkonzentrationen, Strahlungsintensität, Temperaturgefälle und Säuregrad wahrzunehmen und mit Hilfe entsprechender Mechanismen darauf zu reagieren. Mikroorganismen haben die Fähigkeit erworben, Sonnenenergie durch die Photosynthese oder chemische Energie, die als elektrisches Potential zwischen reduzierten und oxidierten anorganischen Stoffen besteht, zur Gewinnung von Stoffwechselenergie auszunutzen. Einige Mikroorganismen haben gelernt, sich als Parasiten Vorteil zu verschaffen, indem sie in andere Organismen eindringen und sich auf deren Kosten ernähren und vermehren. Andere leben in enger räumlicher und stoffwechselphysiologischer Wechselbeziehung als Symbionten mit ihresgleichen oder höheren Organismen in einer Lebensgemeinschaft, beispielsweise die stickstoffbindenden Knöllchenbakterien in den Wurzeln von Schmetterlingsblütlern. Mikroorganismen werden von der modernen Forschung als Modellorganismen benutzt, um bei ihnen die Mechanismen des Stoffwechsels und seiner Regulation sowie der Signalübertragung zu studieren, die in modifizierter Form auch bei höheren Organismen anzutreffen sind. Moderne molekulargenetische Untersuchungen führten zu der Erkenntnis, dass die Entstehung und Entwicklung aller Lebewesen auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt werden kann. Der aus dieser Erkenntnis entwickelte Stammbaum führte zu der Einteilung der Organismen in drei Reiche: die Archaea, die Bacteria und die Eukarya (Kap. 11). Die Vertreter dieser drei Reiche, die Archaebakterien, die Eubakterien und die Eukaryoten, besitzen spezifische, aber auch gemeinsame Merkmale, die zu der Annahme führten, dass sich sehr früh in der Evolution die Entwicklungslinien dieser drei Reiche ausbildeten, und dass durch Genaustausch zwischen Vertretern dieser Reiche gemeinsame Merkmale erhalten blieben und sich in Anpassung an spezielle Umweltbedingungen neue Eigenschaften entwickelt haben.

Kapitel 3

Anfänge naturwissenschaftlichen Denkens

Unser heutiges Wissen über Mikroorganismen beruht auf unzähligen Einzelbeobachtungen, ausgeklügelten Experimenten und scharfsinnigen Schlussfolgerungen, die vor allem durch die Entwicklung wissenschaftlichen Denkens und Arbeitens im Laufe der kulturellen Evolution gefördert wurden. Sie haben es ermöglicht, gesichertes, das heißt, nachprüfbares Wissen zu erzeugen. Die reflektierende Beobachtung der Natur und das Bemühen, ihre Gesetzlichkeiten und Zusammenhänge zu erkunden, sind sicher sehr alte Verhaltensweisen in der Menschheitsgeschichte. Sie begegnen uns schon in den frühesten uns überlieferten Aufzeichnungen. Beginnen wir unseren Spaziergang durch die Geschichte mit einem Vertreter der Medizin aus der griechisch-römischen Antike, der für viele Jahrhunderte die Lehrmeinung in der Medizin prägte (Shapin 1996).

3.1

Galenos von Pergamon (129–199), ein bedeutender Mediziner in der Antike

Der Name Galen (lateinisch: Claudius Galenus) ist uns nicht nur durch die mit ihm verbundenen Lehren bekannt, sondern auch in dem Begriff der Galenik enthalten, also der Technik, Arzneimittel herzustellen. Galen (Abb. 3.1) wurde um 129 nach Christus (n. Chr.) in Pergamon, einer der vielen griechischen Pflanzstädte in Kleinasien, geboren und verbrachte dort seine Jugend. Sein Vater Nikon, ein Mathematiker und Architekt, unterrichtete ihn in der aristotelischen Philosophie, der Mathematik und Naturlehre. Schon früh interessierte sich Galen für die Medizin. Er studierte dieses Fach in Smyrna (heute Izmir) und Alexandria. Alexandria war in dieser Zeit ein Zentrum der Gelehrsamkeit und der Heilkunst. Die Stadt besaß eine der größten Bibliotheken in der damaligen Welt und war ein Ort, an dem schon Sektionen am Menschen durchgeführt wurden. Heilung und Pflege von Erkrankten erfolgte im Asklepieyon, wo Priester und Ärzte Kuren leiteten. Geprägt vom Wissen seiner Zeit, kehrte Galen im Jahr 158 nach Pergamon zurück und eröffnete eine eigene Praxis, in der er als Sport- und Wundarzt der Gladiatoren tätig war. So sammelte er Erfahrungen in der Wundbehandlung, aber auch als Chiropraktiker G. Drews, Mikrobiologie, DOI 10.1007/978-3-642-10757-3_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010

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Abb. 3.1 Galenos von Pergamon (129–199). (Quelle: Wikipedia)

und Internist. 161 zog es ihn nach Rom, wo er bald Anerkennung und Ruhm erlangte, so durch Heilung des Philosophen Eudemos und als Arzt der Aristokratie. Nach Ausbruch der Pest kehrte Galen um 166 nach Pergamon zurück. Aber schon 168 reiste er erneut nach Rom, um der Bitte des römischen Kaisers Mark Aurel zu entsprechen, in Aquileia die unter den römischen Soldaten ausgebrochene Pest zu untersuchen. Seine präzise Beschreibung der Krankheitssymptome lässt vermuten, dass es sich um eine Pockenepidemie gehandelt hat. Er behandelte Mark Aurel, Commodus und den Kaiser Septimus Severus. Galen blieb in Rom und verfasste dort auch seine zahlreichen Schriften. Die Lehren von Galen blieben bis ins 17. Jahrhundert und darüber hinaus eine Grundlage des medizinischen Wissens. Diese „marktbeherrschende“ Stellung der Galen’schen Medizin ist wohl darauf zurückzuführen, dass er zwei über Jahrhunderte im Widerstreit stehende medizinische Vorgehens- und Betrachtungsweisen zusammenfasste und zu einem Lehrgebäude ausbaute. In der „empirischen“ Tradition, begründet von Hippokrates (5. bis 4. Jahrhundert v. Chr.), wurde im Corpus Hippocraticum zum ersten Mal das Wissen der Zeit in schriftlicher Form zusammengefasst. Die hippokratische Medizin legte Wert auf eine genaue, differenzierende Beobachtung des Kranken, unter Berücksichtigung der Krankengeschichte, der Lebensumstände und der sie beeinflussenden Umwelt. Die Ursache der Krankheit wurde nicht mehr in mystischen und übersinnlichen Zusammenhängen gesucht, sondern durch rationale Analyse der Symptome bestimmt. Krankheiten sollen auf einer Störung der Harmonie im Gleichgewicht der Körpersäfte Blut, gelbe und schwarze Galle sowie Schleim beruhen. Die Behandlung bestand in einer Diätetik, also einer den Lebensumständen angepassten Ernährung, und einer Anleitung zu einer ausgewogenen Lebensführung, in die die Eigenschaften der vier Elemente Luft (trocken), Wasser (feucht), Feuer (warm) und Erde (kalt) und die ihnen zugeordneten Jahreszeiten einzubeziehen waren. Die „dogmatische“ Tradition geht auf die alexandrinische Medizin aus dem 3.–2. vorchristlichen Jahrhundert zurück. Ihre Hauptvertreter Herophilos von Chalkedon und Erastratos von Julis auf Keos befassten sich mit der Anatomie des menschlichen

3.1 Galenos von Pergamon (129–199), ein bedeutender Mediziner in der Antike

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Körpers – Herophilos hat als einer der ersten Menschen seziert – und begründeten eine darauf fußende Physiologie. Das Herz galt als Zentrum der Flüssigkeits- und Pneumabewegung. Galen hat die hippokratischen Vorstellungen ergänzt und schematisiert. Neben dem humoralpathologischen Konzept wurde die Pneumalehre aufgenommen. Er unterschied das Lebenspneuma vom Seelenpneuma. Die Luft gelangt über die Lunge und die Arteria venosa ins Herz und wird dort unter Vermittlung des inneren Feuers in das Lebenspneuma umgewandelt, welches im Gehirn den Grundstoff für das pneuma psychikon liefert. Die Digestionslehre befasst sich mit der Verdauung und dem Stoffwechsel. Galens Lehre enthält auch Vorstellungen über Entstehung und Bewegung des Blutes im Organismus. Galen erwarb durch seine Tätigkeit als Gladiatorenarzt und auf der Basis der alexandrinischen Überlieferung Kenntnisse über die Bewegungsanatomie des Körpers. Sein Wissen über Muskelverläufe, Faszieneinhüllungen, Gefäßstrukturen und Gelenkanatomie war für die damalige Zeit recht genau. Die Anatomie der inneren Organe studierte Galen an Tieren, die er selber sezierte. So blieben Kenntnisse von der menschlichen Anatomie der inneren Organe lückenhaft. Galen hat auf der Basis der ihm verfügbaren anatomischen Kenntnisse, seinen Erfahrungen aus den Tierversuchen und der Verarbeitung des hippokratischen Wissens und älterer antiker Konzepte, die alte Humoralpathologie bewahrt und ergänzt, und das Gesamtwissen in einer medizinischen Leittheorie zusammengefasst, die mehr als 1.500 Jahre überdauern konnte. Auf dem Corpus Hippocraticum aufbauend hat Galen ein großes anatomisches Werk in 15 Büchern, die Ars Medica, eine Krisen- und Fieberlehre, ein Werk über die Heilkunst, sowie Schriften über Diätetik und Epidemien verfasst. Der Schwerpunkt seiner Schriften liegt auf den Gebieten der Physiologie, Pathologie, Diätetik und Pharmakologie, weniger auf den Gebieten der Chirurgie und Gynäkologie. Dieses beeindruckende Lebenswerk aus erfolgreicher ärztlicher und schriftstellerischer Tätigkeit wurde durch ein langes und offenbar gesundes Leben, öffentliche Anerkennung und Förderung, sowie die Möglichkeit im römischen Reich zu reisen und Erfahrungen auszutauschen, begünstigt. Es wurde auch durch das hoch entwickelte Gesundheitswesen im römischen Reich gefördert. Die Versorgung mit Trink- und Nutzwasser war vorbildlich. Es bestand eine hoch differenzierte Badekultur. Die ärztliche Kunst war angesehen und konnte sich frei entfalten. Die antike Medizin wurde in der byzantinischen Welt bewahrt und durch Berücksichtigung der Erfahrungen aus dem arabischen, persischen und indischen Raum ausgebaut. Galen starb um 216 in Rom. Nach Zerfall des römischen Weltreiches erfolgte die Rezeption und Bewahrung der antiken Medizin in der arabischen Welt, die sich im 7.–8. Jahrhundert rasch nach Nordindien, den mittleren Osten, Nordafrika und Spanien ausbreitete und die antiken Schriften ins Arabische übersetzte. Später wurden die antike Medizin und die Lehren Galens in den Klöstern rezipiert und von der christlichen Kirche anerkannt und gefördert. Es entstanden erste medizinische Ausbildungszentren an den neu gegründeten Universitäten in Bologna, Montpellier, Padua, Paris und Salerno. Die Chirurgie wurde unter dem Einfluss der Kirche von dem akademischen Beruf des Arztes abgetrennt. Eine der großen Herausforderungen an die Medizin entstand im Mittelalter durch den Ausbruch und Seuchenzug von Epidemien durch

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ganz Europa. Vor allem waren es die Pocken und die Pest („der schwarze Tod“), aber auch Lepra, Masern, Grippe, Tuberkulose und Syphilis, die Millionen Verluste unter der Bevölkerung hervorriefen. Die Erforschung dieser Seuchen, die wir heute bei den Infektionskrankheiten eingruppieren, führte auf einem langen Irrweg mit zur Entdeckung der Mikroorganismen.

3.2

Hieronymus Fracastoro und das infektiöse Agens

Einer von vielen Ärzten, der sich dem Thema der Infektionskrankheiten widmete, war Hieronymus Fracastoro (1483–1553). Das Zeitalter der Renaissance, in dem er lebte, war geprägt durch den langsamen Übergang vom mittelalterlichen Denken, das durch die klassisch-antiken Schriften und den kirchlichen Dogmatismus bestimmt war, zur Neuzeit, mit der Tendenz durch Beobachtung und Experiment zu neuen, überprüfbaren Theorien zu gelangen. In der Baukunst wird in Anlehnung an die Antike ein eigener Stil entwickelt. Dichtung und Malerei befassen sich mit dem einzelnen Menschen und seiner Persönlichkeit. Im Humanismus entsteht ein neues Menschenbild. 1543 veröffentlichte Kopernikus sein heliozentrisches System, das die Bewegung der Planeten um die Sonne beschrieb und die Kugelgestalt der Erde und deren Umdrehung um die eigene Achse erkannte. Mit der Erfindung der Buchdruckerkunst und der Vervielfältigung von Stichen konnte Wissen leichter verbreitet werden. Durch die Sezierung von Leichen wurde die Kenntnis von der Anatomie des menschlichen Körpers wesentlich verbessert. Die Medizin basierte auch in dieser Zeit auf der antiken Heilkunst. Das Wissen wurde aber zunehmend kritisch hinterfragt, und man löste sich von dem Druck der galenischen Unfehlbarkeit. Italien wurde zur Wiege des neu erwachten Geisteslebens. In Italien entstehen mächtige Stadtstaaten wie Florenz, Pisa, Lucca, Venedig und Mailand, die durch eine rationale Finanz- und Handelswirtschaft geprägt sind. Durch eine Loslösung aus der mittelalterlichen Gebundenheit in kirchlicher und feudaler Ordnung wird die Gesellschaft umstrukturiert.

3.2.1

Fracastoro als Arzt und Dichter

Girolamo Fracastoro wurde 1483 als Sohn einer alten Patrizierfamilie in Verona geboren, einer Stadt an der Etsch, die durch Bauten aus der Römerzeit, wie dem großen Amphitheater, und durch Paläste und Kirchen aus verschiedenen Bauperioden geprägt war. Verona war eine durch Handel belebte, wohlhabende Stadt, die in der wechselvollen Geschichte oberitalienischer Städte unterschiedliche Herrschaftsstrukturen erlebte. Fracastoro verbrachte seine Kindheit im väterlichen Landgut am Fuße des Monte Incaffi, das zwischen dem Gardasee und der Etsch lag, und erhielt dort auch seine erste Ausbildung. Schon früh begann er mit dem Studium der Mathematik, Philosophie, den freien Künsten und später auch der Medizin an der hoch angesehenen Universität in Padua. Dieses Studium auf so vielen Gebieten war in dieser Zeit üblich und ist als ein Propädeutikum vor dem eigentlichen Studium

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zu verstehen. Die jungen Leute im Alter unserer Gymnasiasten lernten dort das Allgemeinwissen ihrer Zeit. Schon als Zwanzigjähriger bestand Fracastoro das medizinische Abschlussexamen. Kriegerische Verwicklungen der Republik Venedig mit Kaiser Maximilian I. veranlassten Fracastoro an die neu gegründete Akademie in Pordenone, das in der heutigen Provinz Undini liegt, zu gehen, um dort den Doktortitel zu erwerben. Seine Laufbahn begann Fracastoro als Lektor für Logik in Padua. Obwohl sich sein Ruhm vor allem auf seine ärztliche Tätigkeit gründet, gehörte seine eigentliche Liebe der Poesie und der Philosophie (Hoffmann 2003). Nach dem Tod des Vaters kehrte er nach Verona zurück. Dort und in seiner Villa in Incaffi (heute Affi) am Gardasee, wo Catullus mehrere Jahrhunderte früher seine Stanzen verfasst hatte, blieb er den größten Teil seines Lebens und begründete seinen Weltruhm als Arzt, Humanist, Astronom und Dichter (Abb. 3.2). Papst Paul III. (Pontifex 1534–1549) ernannte ihn zum Medicus ordinarius des Tridentinischen Konzils. 1547 empfahl Fracastoro die Verlegung des Konzils von Trient wegen des Ausbruchs einer drohenden Fleckfieber Epidemie. Dieser Rat war Papst Paul III. willkommen, da eine Verlegung nach Bologna, das auf dem Gebiet des Kirchenstaates lag, den kaiserlichen Einfluss minderte. Das Konzil wurde aber durch die Verlegung beschlussunfähig, weil die kaiserlich gesinnten Bischöfe in Triest blieben. Italienische Fürsten überhäuften Fracastoro mit Ehren. Er war an den Höfen Kaiser Karls V. und König Franz I. von Frankreich als Arzt tätig. Margarete von Navarra versuchte, ihn für den französischen Hof zu gewinnen. Befreundet war Fracastoro mit dem Kurienkardinal Pietro Bembo (1470–1547). Schon während seiner Studien in Padua begann Fracastoro sein Lehrgedicht über die Syphilis ( Syphilis sive morbus gallici, libri tres) in Hexametern zu verfassen. Nach unserer heutigen Kenntnis ist die Syphilis (Lues) eine durch Geschlechtsverkehr übertragene Infektionskrankheit. Sie wird durch den von Richard Schaudinn und Erich Hoffmann gegen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten Erreger Treponema pallidum, eine Spirochaete (dünnes Schraubenbakterium), übertragen und ausgelöst. Den Namen Syphilis gab Fracastoro der Krankheit nach dem in den Metamorphosen von Ovid erwähnten Hirten Syphilos, den Sohn der Niobe, der sich

Abb. 3.2 Girolamo (Hieronymus) Fracastoro (1483–1553). (Quelle: Wikipedia)

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gegen den Sonnengott empörte und dem Kult des Königs Alcithous huldigte. Er wurde deshalb von den Göttern mit der Krankheit bestraft. Der Name Syphilis wird erst nach Erscheinen von Daniel Turners Syphilis 1717 gebräuchlich und ab 1800 allgemein in medizinischen Kreisen verwendet. Die Krankheit beunruhigte die Gesellschaft, da sie seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in ganz Europa offenbar neu auftrat und sich rasch ausbreitete. Von den antiken Autoren wurde sie noch nicht beschrieben. Als Verursacher wurden ungünstige Konstellationen der Sterne, schlechte Bodenverhältnisse oder Dämpfe (Miasmen), sowie ethnische oder religiöse Randgruppen verantwortlich gemacht. Fracastoro griff also mit seinem Gedicht ein aktuelles Thema auf. 1526 waren zwei Bücher fertig gestellt, die er seinem Gönner, dem Kardinal Bembo, übersandte. Dieser war begeistert und empfahl nur geringe Änderungen, vor allem bei der Behandlung der Krankheit mit Guaiac. Fracastoro schildert in dem Syphilis-Gedicht das Auftreten einer neuen Krankheit als einem Ereignis, das die Menschheit in sprachloses Erstaunen versetzt, bis durch Sammeln von Erfahrungen Abhilfe geschaffen werden kann. Während der nächsten Jahre wurde das Manuskript überarbeitet und durch ein drittes Buch über die Behandlung erweitert. Die erste Ausgabe erschien 1530 in Verona, gedruckt von Stefano Nicolini (Baumgartner u. Fulton 1935). Die 2. Ausgabe wurde durch zwei Verse erweitert (römische Ausgabe). Während des Lebens von Fracastoro erschienen 7 weitere Auflagen, gedruckt bei Giovanni Antonio & Fratelli da Sabbio in Venedig. Der vollständige Text wurde auch in die gesammelten Schriften, die Opera omnia (Fracastoro 1555), aufgenommen. Seit dieser Zeit erschienen hundert Ausgaben von Fracastoros Poem Syphilis, einschließlich von Übersetzungen in sechs Sprachen. Eine freie Übersetzung von Fracastoros Lehrgedicht im Versmaß des Originals ins Deutsche durch W. Ch. Chenneville erschien 1858 und im Versmaß des lateinischen Urtextes 1902 durch H. Oppenheimer. Die ersten Verse des 1. Buches in der Übersetzung von E. A. Seckendorf (Fracastoro 1960) seien als Einführung verkürzt wiedergegeben: Singen will ich heut und sagen, Wie einst durch des Schicksals Mächte Jener Same ward gesäet Einer Krankheit, die – gar seltsam – Ferne Zeiten nie gesehen, Aber heute ganz Europa, Asien, das ferne Libyen Hat durchwütet; wie die Seuche Ihren Namen hat empfangen Durch die Gallier, die damals – Schreckensvollen Krieges Folge – Latium damit beglückten; Wie des Menschen Geist und Wille, Dieser Seuche Qual zu mindern Aus der Zeiten Not geboren, Mittel suchte, Wege fand. Suchen will ich nach den Quellen, Wo das Übel steckt verborgen,

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Ob im Wind, im Zug der Lüfte Oder in der Sterne Zonen.

Die weite Verbreitung und Akzeptanz des Gedichtes in der damaligen Zeit und den folgenden Jahrhunderten ist wohl mehr auf die Form und dichterische Gestaltung als auf den medizinischen Inhalt zurückzuführen. Im ersten Buch spekuliert Fracastoro über Ursprung und Verbreitung der Seuche: Aber glaub’ ich, was ich sehe, Nimmer ist dann diese Seuche Übers Meer zu uns gekommen, Eines fremden Landes Sproß! … Nimmer kann das Gift so rasch Sich von Ort zu Ort verbreiten Um gleich wie mit einem Schlage Allenthalben zu erscheinen. … Nein, die Quelle dieses Übels Kann die Luft nur sein, die ständig Alle Länder rings umfließet, In des Menschen Körper dringt.

Die Konstellation der Gestirne und die Macht der antiken Götter werden dichterisch in die Suche nach den Ursachen einbezogen. Die Verse wurden im Stil Vergils verfasst. Sie enthalten aber auch realistische Beobachtungen, wie die Feststellung, dass Krankheitskeime immer nur bestimmte Organismen befallen (Bald zerstört es keimend’ Samen, Am Getreide nagt’s als Brand). So erscheinen alle Seuchen – Jede einzeln – immer anders, Darum lasst uns nach der jüngsten Ursprung noch genauer forschen.

Verlauf und Symptome der Krankheit werden in epischer Breite und anschaulich dargestellt: Daß der spätgebor’ne Enkel Dieser Seuche Eigenheiten, Ihre Zeichen, ihre Schmerzen Immer wieder mag erkennen, … Ist es nämlich eingedrungen, Dann durchsetzt es erst den Körper, Muß noch eine Weile brüten Und so seine Kräfte sammeln. … Garstiges Geschwür erscheinet, Das im Schoße ist gewachsen, Frißt die Scham und frisst die Weichen Unbesiegbar hier wie dort. …

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3 Anfänge naturwissenschaftlichen Denkens Mancher hat schon so betrauert Seiner Jugend Lebensfrühling, Denn entstellt sah er sein Antlitz Und verkrüppelt seine Glieder. … Grausam hatten so beschlossen Mars im Bunde mit Saturnus, Welt in Trauer zu versetzen, Und verbreiteten die Seuche Grausam über alle Länder; Aber alles dieses Grauen Hatten vorher schon verkündet Uns der Eumeniden Schar.

Ein Ausblick auf Schicksalsschläge in Italien beschließt das erste Buch. Das zweite Buch beginnt in freier dichterischer Umschreibung auf die Heilung einzugehen: Mühsam war’s und lang das Forschen, Krankheitsschrecken lind zu mildern, Aber endlich ist’s gelungen Im Triumph den Feind zu schlagen. … Ganz verschieden bei den Menschen Fließt der Blutstrom in den Adern; Wie das Blutbild ist beschaffen, So bestimmt’s der Krankheit Lauf. Wo es ganz gesund und rein ist, Da ist Heilung rasch zu hoffen; Trägt es aber schwarze Galle, Sind dadurch verdickt die Venen, Hängt sich länger ein die Seuche, Schwerer ist sie zu bekämpfen, Und heroisch sei das Mittel Und energisch sei die Kur!

Die Behandlungsvorschläge entstammen der hippokratischen Lehre. Wähle eine günstige Wohnung, bewege Dich, suche eine optimistische Grundstimmung, sorge für eine geeignete Ernährung: Meide Wachteln, auch die Gänse Laß das Kapitol bewachen! Nimmer dürfen dir erscheinen Speck und Schinken auf der Tafel! Meide mir des Schweins Gedärme Wie die Keule auch des Ebers, Magst du noch so schönes Wildschwein Glücklich auf der Jagd erlegen! Gurken, Trüffel, Artischocken, Zwiebel darf dich nicht verführen,

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Deinen Hunger dran zu stillen – Milch und Honig sind verboten. Trinke nicht des Korsen Weine, Die im Glase perlend funkeln, Meid’ Falerno, meid’ Prosecco Und die kleine rät’schen Rebe! Ist der Most jedoch gekeltert Aus der Traube der Sabiner, Wo auf feuchtem Grund die Rebe Wächst, dann labe dich an ihm! Aber willst du Pflanzen kosten, Wie die Götter selbst sie lieben, Lab dich nach Lust und Laune Der Gemüse Wohlgeschmack! Sieh, was gibt es da nicht alles: Kresse, Kohl und Endivie, Weißkraut selbst in Winters Strenge, Ackerminz und Thymian.

Aderlass und abführende Mittel werden empfohlen: Doch vor dieser Reinigung Mußt das Feste du zur Lösung, Das was träg, zur Eile bringen – Laß dir sagen, was geboten! … Nimm vom Thymian aus Kreta, Engelsüß auch, dessen Blätter Gleich Polypenarmen ranken, Jungfrauhaar und keusches Milzkraut. Dieser Pflanzen Absud trinke Eine Reihe nun von Tagen, Um in Wallung dir zu bringen Der verdorbnen Säfte Last.

Für die Bekämpfung einzelner Symptome werden Medikamente und Behandlung beschrieben: Ist dir Mund und Hals zerfressen Von den schmutzigen Geschwüren, Mußt mit Höllenstein du pinseln Gurgeln auch mit Kupferlösung.

Überlieferte Erfahrung mit Heilkräutern wird gemischt mit Berichten aus der griechischen Mythologie, die eine heilige, silberhaltige Quelle beschreiben: Und des lebend’ Silber Perlen Mischte man mit Fett vom Schweine, Terpentin und Lärchenharz Fügte man hinzu der Salbe.

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Im dritten Buch wird die Behandlung mit Guajak eingeführt. Der Guajakbaum gehört zu den in den Tropen und Subtropen verbreiteten Jochblattgewächsen (Zygophyllaceae) und ist auf den Antillen und Bahamas, in Guayana, Kolumbien, Panama und Venezuela heimisch. Das grünlich bis dunkelbraune getrocknete Kernholz und das gelblich-weiße Splintholz von Guajacum officinale L. und Guajacum sanctum L. wurden bei den Indios in Mittel- und Südamerika in der Heilkunde verwendet. Es gelangte Anfang des 16. Jahrhunderts durch die Spanier nach Europa und wurde als Lignum sanctum gegen die Syphilis („Franzosenkrankheit“) eingesetzt. Im Laufe der Zeit wurde es als Allheilmittel bei Rheumatismus, Gelenkentzündungen, Asthma, Tuberkulose und Malaria angewandt. Der Hauptwirkstoff ist das Guajakharz, das aus Guajaretsäure, Lignanen, Saphoninen und ätherischen Ölen zusammengesetzt ist (Braun u. Frohne 1994; Hänsel et al. 1999). Gegen die Syphilis blieb Guajak wirkungslos. Es hat aber in der naturheilkundlichen Anwendung bei der Rheumatherapie auch heute noch Bedeutung (Leibold 2000). Fracastoro beschreibt in epischer Breite und mythologisch erzählend, wie die Spanier in der neuen Welt die Syphilis leidvoll erfahren und von den Eingeborenen Guajak erhalten. Mit dem Buch Syphilis führt Fracastoro den Begriff „semina“ ein, den er später zu „semina contagionum“ weiterentwickelt, also Partikeln, die Krankheiten übertragen. Fracastoro hat in seinen Schriften die schon damals angestellten Vermutungen über den Ursprung der Syphilis genannt, aber eingeräumt, dass keine sichere Kenntnis über die Entstehung dieser Infektionskrankheit besteht. Das gilt auch noch für den heutigen Stand der Wissenschaft. Auch nach molekulargenetischen Analysen der heute verfügbaren Stämme des Erregers gibt es nur kontroverse Theorien. „Treponema pallidum“ könnte also zuerst in der alten Welt in der nicht-venerischen Form aufgetreten sein, und sich mit den Menschen in den nahen Osten und Osteuropa als endemische Syphilis, und nach Amerika in der Form der Guyana-Frambösie verbreitet haben. Frambösie ist eine chronische Infektionskrankheit, die vor allem in den feuchtwarmen Gebieten von Afrika, Südamerika und Asien verbreitet ist (Erreger: Treponema pertenue) und von Primärläsionen, durch Schmierinfektion ausgelöst, zu Keratosen der Haut, Ulzerationen bis zur Knorpelund Knochenzerstörung führen kann. Einer dieser Erreger-Stämme könnte aus der Neuen Welt wieder zurück nach Europa gelangt sein. Dieser Stamm käme als Vorläufer der modernen Syphilis-Stämme in Frage, der sich anschließend mit einem neuen Übertragungsweg von Europa aus über die ganze Welt verbreitete (Schmitt 2008). Fracastoro folgte in seinem Leben wiederholt seinen poetischen und philosophischen Neigungen und hat auch nichtmedizinische Themen bearbeitet. So hat er das 1555 postum in unvollendeter Form veröffentlichte Werk „Joseph“ verfasst. Die alttestamentliche Joseph-Geschichte hat in dieser Zeit häufig eine literarischpoetische Rezeption erfahren. Fracastoro hält sich in seiner Fassung des Joseph an die Elemente der Genesis-Darstellung, nutzt aber die latente Analogie zur Aeneis: Joseph ist, wie Aeneas, Begründer eines auserwählten Volkes, muss wie dieser seine Heimat verlassen und erfüllt nach Überwindung verschiedener Hindernisse die ihm gestellten Aufgaben. Fracastoro behandelt die überlieferten Erzählungen durchaus unorthodox, aber natürlich unter den Kautelen der Gegenreformation und

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des Tridentinischen Konzils (Kempkens 1972). Die Darstellung biblischer Stoffe in Form des klassisch-vergilischen Epos war in der Zeit von Fracastoro sehr aktuell. Da die Haltung der Kirche im Zuge der Gegenreform bei der Beurteilung von Schriften, ob Häresie oder Rechtgläubigkeit vorlag, oft unsicher war, haben sich viele Autoren vor der Veröffentlichung durch Vorlage bei einem Kirchenvertreter der „Unbedenklichkeit“ versichert. Bei Fracastoros Darstellung werden heidnische und christliche Vorstellungen der Allgewalt im „Joseph“ zu einer Synthese unter einer monotheistischen Macht zusammengefügt. Die antiken Gottheiten erscheinen nur als poetisch-stilisiertes Beiwerk. Die Kritik an dieser Dichtung war zunächst zurückhaltend positiv, später auch ablehnend, dem Geschmack der Zeit folgend. Als Dichter stand Fracastoro in seiner Zeit im Schatten berühmter Veroneser wie Scipione Maffei, Giuseppe Tarelli oder Stefano da Verona. Das Lebenswerk von Fracastoro, das seinen Ruhm begründete, veranlasste die Stadt Verona, ihm 1555 ein Denkmal zu setzen (Abb. 3.3). Fracastoro, als Vertreter des säkularen Aristotelismus der Schule von Padua, gehört zu den Gründervätern der neuen naturphilosophischen Richtung des 16. Jahrhunderts in Italien (Hoffmann 2003). Er hat sich eingehend mit dem Entstehen der Erkenntnis beschäftigt. Der Erkenntnisfortschritt bestehe nicht nur in einer quantitativen Steigerung vorhandenen Wissens, sondern auch in der Einbeziehung qualitativer neuer Phänomene. Sein wichtigster Beitrag zur Philosophie ist eine zwischen 1540 und 1553 entstandene und postum veröffentlichte Dialogtrilogie zur Poetik, zur Erkenntnis und zur Psychologie. Von aktueller Thematik ist Fracastoros Beitrag zur Astronomie. Er postuliert drei Fixsternsphären, deren Achsen senkrecht aufeinander stehen. Die Funktion der beiden inneren Himmelssphären ist es, die Geschwindigkeitsänderungen in den Umläufen zu ermöglichen, aus der eine Absenkung der Ekliptik abgeleitet wird. Diese hätte zur Folge, dass die Klimazonen auf der Erde keine fixen Größen sind, sondern wandern, so dass Eiszeiten und wärmere Zeiten sich abwechseln und neue Tierarten entstehen. Die Variabilität der Himmelsphänomene hätte Rückwirkungen

Abb. 3.3 Denkmal von Fracastoro in Verona. (mit freundlicher Genehmigung von Stockxpert Bild #41179271)

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3 Anfänge naturwissenschaftlichen Denkens

auf biologische Prozesse auf der Erde. Im großen Zusammenhang der Natur, dem „abditum naturae“, liegen Phänomene, die uns verborgen sind, aber in der Zukunft gelöst werden können. Die Variabilität der Natur erfordert eine Induzibilität neuer Grundbegriffe, neue Wege und Sprachen, um die neuen Phänomene zu verstehen. Diese Auffassung steht im Gegensatz zu der im Mittelalter, besonders von der Kirche vertretenen Meinung, alles sei bekannt und schon in den Schriften festgelegt. Für Fracastoro gilt, dass nach dem aristotelischen Grundsatz für das Denken der natürlichen Natur mathematische Prinzipien nur eine sehr eingeschränkte Bedeutung haben, und dass die „antiqua theologia“ oder die „prima philosophia“ nur zu ganz ungewissen Kenntnissen führe. Über Gott können wir nur eine über die Sinne induzierte Vorstellung erwerben und nur in abgeleiteter Form über ihn denken. Die Seele führt uns zu übernatürlichen, nicht sinnlich-induzierten Erkenntnissen. Das Wissen beruhe auf einem Zusammenspiel der drei Faktoren, der Seele, den aus den Sinneswahrnehmungen entstehenden Abbildungen des Gegenstandes und der „species intelligibilis“. Zwischen die Ebenen der Wahrnehmung und der Erkenntnis schaltet Fracastoro die „subnotio“ ein. Das ist eine Zwischenstation, auf der Wahrgenommenes und vieles andere in verworrener Ordnung Dargebotene sich mischt, und zu dem die Seele sich hinbewegt, um die einzelnen Eindrücke zu inspizieren, also einer Verarbeitung des sinnlich Erfahrenen mit dem im Gedächtnis Gespeicherten. Im „Turrius“ (Fracastoro 1555) wird das logische Denken im Erkenntnisprozess analysiert. Die Rolle des Philosophen formuliert der Spätaristoteliker Fracastoro so: „Von Natur sind Philosophen diejenigen, die auf die rechte Weise Universalien zu bilden und wahrzunehmen vermögen, nicht jedoch nur die gebräuchlichen, sondern auch die verborgenen, und die sich an ihnen auf höchste erfreuen“(Turrius, Fracastoro 1555). In der Kunst erkennt Fracastoro eine Autonomisierung des Ästhetischen. Das bedeutet für ihn keine Willkürproduktion der Einbildungskraft, da der Künstler der ästhetischen Wahrheit, der Realisierung des im absoluten Sinne Schönes zu produzieren, verpflichtet ist. Kunst sei weder nützlich noch unterhaltend. Sie versetzt in ein freies Staunen angesichts des schön und vollkommen Dargestellten (Fracastoro 1924; Hoffmann 2003). Der Leser möge diese Abschweifungen in den literarischen Bereich entschuldigen. Themen der Wissenschaft wurden in dieser Zeit sehr häufig mit religiös-mythologischem und philosophischem Gedankengut verbunden. Das rationale Denken, das bestrebt war, Zusammenhänge zu erkennen und bei der Suche nach Ursache und Wirkung mythische und religiöse Ideen auszuschließen, hat sich erst im Laufe der folgenden Jahrhunderte durchsetzten können. Es gab noch keine Trennung von rationalem, naturwissenschaftlichem und philosophisch-dichterischem Denken.

3.2.2

Die Lehre von den Kontagien der Infektion

1546 erschienen die drei Bücher von den Kontagien, den kontagiösen Krankheiten und deren Behandlung ( De contagionibus et contagiis morbis et eorum curatione,

3.2 Hieronymus Fracastoro und das infektiöse Agens

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libri tres). Sicher wurde die Frage nach den Ursachen von Seuchen, und generell das Problem übertragbarer, infektiöser Krankheiten schon in der Antike, und verstärkt nach dem Auftreten von Seuchen, im Mittelalter diskutiert. Fracastoro war aber einer der Ersten, der diese Problematik erkannte und systematisch abhandelte, aber natürlich noch nicht lösen konnte. Im ersten Buch wird die Theorie der Infektion behandelt. Ein Kontagium ist eine Infektion, die von einem Menschen auf den anderen übertragen wird. Bei Tod durch Gift sagt man, er sei infiziert worden, aber nicht einem Kontagium erlegen, weil der Vergiftete für andere nicht ansteckend ist. Die Übertragung kann erstens durch direkte Berührung erfolgen – beispielsweise von einer Traube auf die andere. „Die warmen und feuchten Teilchen, die aus der ersten Frucht ausdünsten, sind das Prinzip und der Keim der Fäulnis, die sich in der zweiten bildet“. Das zweite Prinzip ist das Kontagium, das durch „Zunder“ wirkt. Zunder ist ein Gegenstand – beispielsweise Kleidung, Stoffe, Holz – der durch Berührung eines Pestkranken infektiös geworden ist und diese Eigenschaft über längere Zeit, unter Umständen über Jahre, bewahren kann. Bei der dritten Form des Kontagiums geschieht die Infektion über eine Entfernung, also zum Beispiel durch die Luft. Diese Form der Infektion kann auch durch Berührung oder Zunder erfolgen. Die Infektiosität dieses Kontagiums ist lang anhaltend. Das Kontagium, das über Entfernungen übertragen wird, unterscheidet sich von dem, durch direkten Kontakt wirkenden, dadurch, dass es aus einer kräftigen und zähen Mischung besteht. Als Beispiel werden die Phthisis (Tuberkulose) und die Variola (Pocken) genannt. Die durch Zunder übertragenen Krankheiten werden auch durch Berührung übertragen. Fracastoro erkennt auch, dass die Kontagien spezifisch sind und nur auf bestimmte Organismen übertragen und in definierten Organen wirksam werden. Die Keime allein reichen aus, um auch einen gesunden Menschen zu befallen. Krankheiten, die unter dem Volke über viele Gegenden verbreitet werden, sind Epidemien. Alle Krankheiten „deren Fäulnis schmutzig und abgeschlossen erscheint, sind imstande infektionstüchtige Keime zu erzeugen“. In den folgenden Kapiteln werden verschiedene Infektionskrankheiten besprochen, und die Krankheitssymptome bei Variola (Pocken), Morbilli (Masern), Pest, Hundswut (Tollwut, Rabies) und Syphilis beschrieben. Die detaillierte Kenntnis, so zum Beispiel der Phthisis (Schwindsucht, Auszehrung, Tuberkulose) zeigt, dass Fracastoro sein Wissen auch durch eigene Erfahrungen und Untersuchungen als Arzt erworben hat. „Denn wir haben bei vorgenommenen Sektionen eine gewissen Partie der Lunge normal und keineswegs fehlerhaft gesehen, eine Partie noch nicht vollständig putrid, noch nicht geschwürig, aber doch schon erschlafft, erweicht und zur Verwelkung geneigt“. „Die Keime … sind nur für die Lunge ansteckend“. „Es kann geschehen, dass jemand … also von jeglicher Krankheit verschont geblieben, vielmehr vollständig gesund ist, trotzdem durch den gewohnten Umgang und das Zusammenleben mit einem Phthisiker oder durch einen Zunder diese Krankheit sich zuziehen konnte“. Kleider, die von Phthisikern getragen wurden, hätten noch nach zwei Jahren das Kontagium übermittelt. Die Beschreibung der Kontagien zeigt, dass Fracastoro das Prinzip übertragbarer Krankheiten erkannt hat und auch die richtigen Fragen stellt. Bei der Deutung

http://www.springer.com/978-3-642-10756-6