John F. Kennedy ( )

05 John F. Kennedy (1917 – 1963) ir wollen keine Verlierer unter uns haben. In dieser Familie wollen wir nur Gewinner.“ Joseph Patrick Kennedy hatte...
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John F. Kennedy (1917 – 1963) ir wollen keine Verlierer unter uns haben. In dieser Familie wollen wir nur Gewinner.“ Joseph Patrick Kennedy hatte ehrgeizige Ziele für sich und seine Familie. Als er 1914 Rose Fitzgerald heiratete wurde die jahrelange Rivalität von zwei der einflussreichsten Familien Bostons zu einer mächtigen Allianz. Beide Clans hatten irische Wurzeln und beide Clans hatten politische Ambitionen.

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Der Vater von John Fitzgerald Kennedy, „J.P.“, wurde in den 20er-Jahren durch Insiderinformationen im Finanzsektor und Anteile an Filmstudios in Hollywood zum Millionär. Seine Weste soll nicht ganz weiß gewesen sein. Alkoholhandel in der Zeit der Prohibition und Mafiaverbindungen werden kolportiert. Affären mit Filmschauspielerinnen gehörten zur Tagesordnung. Die streng gläubige Mutter Rose rächte sich an ihrem Mann durch exzessives Shopping. Für sie war Sex ausschließlich Mittel zum Zweck um Kinder zu kriegen. Die neun Kinder des Paares wurden von den Eltern zu einem starken Siegeswillen erzogen. Schwäche zeigen war nicht erlaubt. Tochter Rosemary war geistig behindert und wurde in einem Frauenkloster versorgt. Und auch der zweitälteste Sohn John litt ständig an Schmerzen und Krankheiten. Asthma, starke Rückenbeschwerden, Allergien – er verbrachte viel Zeit im Bett und eignete sich durch das Lesen historischer und politischer Lektüre ein breites Allgemeinwissen an. Um nicht ganz hinter seinem älteren Bruder Joe in der väterlichen Gunst abzuschlagen übte er sich in unbändiger Willensstärke. Er lernte seine Schmerzen still zu ertragen. So streng Vater Joseph auch war, er erzog seine Kinder zu selbstständig denkenden Machern. Rebellion erfüllte ihn mit

geheimem Stolz. John Kennedy wandte sich schleichend gegen den politischen Standpunkt seines Vaters und beendete sein Harvardstudium 1940 mit einer Abschlussarbeit über die Appeasementpolitik in München. Der Vater sorgte durch Beziehungen und den Kauf Tausender Eigenexemplare dafür, dass die Publikation in den Bestsellerlisten erschien. 1944 starb im Zweiten Weltkrieg der älteste Sohn Joe Kennedy als Marineflieger bei einem Einsatz – damit starb auch der Hoffnungsträger der Familie. Alle Augen waren jetzt auf John F. Kennedy gerichtet.

Die Macht des Wortes INTEGRITÄT è Witz und Charme – der belesene John F. Kennedy kompensierte sein kränkliches Wesen mit Rhetorik. Er war besessen davon, seine Wirkung auf andere zu testen. Durch die Anteile des Vaters an den Hollywoodstudios kam die Familie ganz nah an die Stars heran. Der junge Mann mit dem Spitznamen „Jack“ schaute sich viel von den Schauspielern ab und übte Charismakompetenz. Er war kein Musterbeispiel für Integrität, sondern vielmehr ein Beispiel für gnadenlosen Pragmatismus. Seine Mutter äußerte rückblickend: „Ich glaube, es gehört zu den legendären Vorstellungen, die man sich von einem Präsidenten macht, dass man glaubt, er besäße außergewöhnliche Qualitäten und habe sich als Kind durch unfehlbare Tugendhaftigkeit ausgezeichnet. Ich kann bestätigen, dass dies bei Jack nicht so war, und auch nicht bei [...] irgendeinem der anderen Kinder.“ John F. Kennedy tat, was für das große Ganze getan werden musste. Der politisch interessierte Mann peilte nach dem Krieg und einem Zwischenstopp als Journalist 1946 den Kongress an und kandidierte. Er nutzte seine Stärken: sein Aussehen und seine rhetorische Gewandtheit. Er hielt hunderte Reden um gesehen und

gehört zu werden. Er schüttelte unzählige Hände und ließ sich von Dutzenden Fremden umarmen, obwohl ihm das zuwider war. Bei Teepartys hatten Tausende Frauen die Möglichkeit, dem begehrten Junggesellen näherzukommen. Vielleicht war das dem kranken, mit Testosteron vollgepumpten Politiker gar nicht so unangenehm. Kennedy gewann mit überwältigender Mehrheit den Kongresssitz, wurde zwei weitere Male im Amt bestätigt und wurde 1952 ebenso erfolgreicher Gewinner bei der Wahl zum Senator. Bei der Senatswahl stimmten 71.000 Menschen für ihn. 75.000 Frauen waren zu seinen Teepartys gekommen. Interessant ist rückblickend, dass Kennedy sowohl als Repräsentant des Kongresses als auch als Senator weit mehr Worte als Taten sprechen ließ. Sein Abstimmungsverhalten war gemäßigt konservativ, durch seine Rhetorik galt er als liberal. Durch seine Krankheiten und mehrere Operationen bekam er den Spitznamen „Der abwesende Senator“ – und trotzdem liebten ihn die Wähler. John F. Kennedy war ein Genie darin, sich als Heilsbringer eines jungen, neuen Amerikas zu vermarkten. Schlitzohrig schaffte er es mit Beratern wie Theodore Sorensen, seine Reden zumindest meistens wahrheitsgemäß zu formulieren. Strenggenommen blieb er sich während seiner Karriere in Denken, Fühlen und Handeln damit treu. Dem langfristig und strategisch denkenden Politiker fiel es aber oft schwer, Stellung zu beziehen – zu sehr hätte ihm die eine oder andere Entscheidung für lange Zeit Steine in den Weg gelegt. Er war ein Macher sofern priorisierte Ziele nicht von seinem Machen behindert wurden. So stimmte er als Senator beispielsweise für die Bürgerrechtsgesetze der Afroamerikaner, aber nicht für die extremste Variante, um die Wählerschaft im Süden nicht zu verprellen. Um nicht lügen zu müssen konterte Kennedy je nach Thema mit Witz und Charme oder er ignorierte Sachverhalte so lange wie möglich. Mut bewies er erst, wenn der öffentliche Druck zu groß wurde und ihm oft keine andere Wahl mehr blieb.

Wie wahrscheinlich jeder Politiker lügte auch er, wenn er der Überzeugung war, es für die nationale Sicherheit tun zu müssen. Mit dem „Missile Gap“ beschrieb er den angeblichen Rückstand der USA bei Interkontinentalraketen gegenüber der UdSSR. Faktisch waren die Vereinigten Staaten aber wesentlich „besser“ bestückt. 1961 garantierte er, dass es keine militärische USIntervention im kommunistischen Kuba geben werde – schon wenige Tage später wurde die fehlgeschlagene Invasion in der Schweinebucht in Südkuba publik. Immerhin übernahm JFK die volle Verantwortung sowohl für die Lüge als auch für das Debakel: „Es gibt ein altes Sprichwort, dass der Sieg hundert Väter hat und die Niederlage ein Waisenkind ist.“

Liebe auf den ersten Blick EMOTIONALITÄT ì Als Pragmatiker war John F. Kennedy kein Mensch, der sich schnell von seinen Emotionen überrumpeln ließ. Gefühle zeigte er wohldosiert und kontrolliert in seinen brillanten Ansprachen. Als er 1960 offiziell für das Amt des US-Präsidenten kandidierte bewies er wieder einmal Ausdauer und Leidensfähigkeit. Er wusste, wie er beim Wahlkampf die Adressaten seiner Reden begeistern konnte. Er scheute keine abweisenden Bauern oder aggressive Gewerkschafter. Er traf potenzielle Wähler im Morgengrauen frierend vor Werkstoren und sprach in Scheunen zwischen Kuhmisthaufen. Höflich präsentierte sich Kennedy in Cafés und sprach mit Tausenden Einzelpersonen bei einer Tasse Kaffee. Nicht nur die „Normalbürger“ konnte er für sich gewinnen, sondern auch einflussreiche Multiplikatoren wie Franklin D. Roosevelt Junior oder Harry Truman. Kennedy gab Menschen in Gesprächen das Gefühl, der wichtigste Mensch der Welt zu sein. Vielleicht kannte er das Hormon Phenylethylamin? Bei intensivem Blickkontakt wird

dieses Hormon ausgeschüttet – es heißt umgangssprachlich auch „Liebe auf den ersten Blick“. Seine Fähigkeit zu ungeteilter Aufmerksamkeit und Präsenz demonstrierte Wertschätzung für die individuellen Bedürfnisse. Vielleicht kam er auch deswegen so gut bei dem weiblichen Geschlecht an. Kennedy sprach in seinen Wahlkämpfen wortwörtlich mit Tausenden Menschen – einzeln und jederzeit wertschätzend. Vielen Führungskräften ist es heute leider nicht einmal mehr möglich, sich nur auf einen einzigen Mitarbeiter für wenige Minuten am Tag einzulassen. Eine Harvard-Studie stellte fest, dass Menschen fast die Hälfte eines Gesprächs mit ihren Gedanken abschweifen. Präsenz und Aufmerksamkeit können geübt werden, Nicken und verbales Zustimmen sind nur der Anfang von aktivem Zuhören. Achtsamkeit wirkt nachhaltig. Mit diesem Wissen wurde Kennedy flexibel in seinem Kommunikationsstil und der jüngste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Seine Emotionen gingen nur selten mit dem Pragmatiker durch – es gab nur wenige rote Tücher. Bei seinem Berlin-Besuch 1963 war er aufgewühlt von den Zwischenstopps an Brandenburger Tor und Checkpoint Charlie. Seine Berater waren nicht erfreut als er in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus vor 200.000 Menschen wetterte, die Mauer sei die „abscheulichste und stärkste Demonstration für das Versagen des kommunistischen Systems“ – eigentlich entspannte sich zu diesem Zeitpunkt das Verhältnis zwischen UdSSR und USA gerade. Insgesamt bewies John F. Kennedy bei seiner Wortwahl und seinen Entscheidungen ein wenig impulsives und dafür umso besonneneres Vorgehen. Dieser Eigenschaft war es mitunter zu verdanken, dass die Kubakrise 1962 nicht zu einem Atomkrieg ausartete.

1.000 Tage EXTRAVERSION ì „Es ist nicht so, dass ich besser aussehen will, aber ich fühle mich dann besser.“ Er studierte schon als Kind das Charisma der großen Hollywoodstars. Dabei entging ihm mit Sicherheit nicht, dass das Äußere ein entscheidender Faktor für Erfolg ist. JFK haushaltete mit seiner Energie und hielt mehrere Powernaps am Tag. Andere würden es Schönheitsschlaf nennen. Er duschte sich auch mehrmals täglich und wechselte mehrmals die Kleidung. Obwohl er ein kranker Mann war zeigte er sich auf diese Weise nie abgekämpft oder ungepflegt in der Öffentlichkeit, er sah immer wie aus dem Ei gepellt aus. Im Wahlkampf um die Präsidentschaft ließ er den erfahreneren Richard Nixon wortwörtlich „alt“ aussehen – obwohl Nixon nur vier Jahre älter als er war. Kennedys Wahlkampfteam stärkte die Stärken ihres Kandidaten und ließ ihn bei jeder nur erdenklichen Möglichkeit auf den Bildschirmen strahlen. Beim entscheidenden Duell zwischen Nixon und Kennedy konnte Nixon bei den Radiohörern punkten. Das Fernsehen war aber mittlerweile erheblich einflussreicher. Rund 60 Millionen Zuschauer sahen das Duell zwischen den Präsidentschaftskandidaten. Zu Kennedys Markenzeichen gehörte neben einem gepflegten Äußeren auch lässiges und selbstsicheres Auftreten. Ebenfalls Eigenheiten, die er sich von Schauspielern abgeschaut hatte. Auch sein Vater hatte ihm beigebracht, dass er sich so selbst manipulieren konnte. Nicht nur der Geist beeinflusst den Körper, auch der Körper beeinflusst den Geist. Der Blick in den Spiegel offenbarte Kennedy den erfolgreichen Macher – und er wurde zu genau diesem Macher. Er war gerade einmal über 1.000 Tage im Amt des Präsidenten, da hatte JFK doch erhebliche Veränderungen angestoßen.

Idealist ohne Illusionen EMPATHIE ì „Frage nicht, was dein Land für dich tun kann – frage, was du für dein Land tun kannst!“ John F. Kennedy verbalisierte das Verlangen der Amerikaner in den 60er-Jahren, wieder eine entscheidende Rolle im Weltgeschehen zu spielen. Gleichzeitig sagte er von sich, ein Idealist ohne Illusionen zu sein. Erfindungsgeist und die Entscheidungskraft von Pionieren wurden in seinem „New Frontier“-Programm hochgehalten. Er formulierte das Ziel, dass die USA noch in den 60er-Jahren den ersten Menschen auf den Mond schicken würden. Mit seiner aufwühlenden Rhetorik lieferte er die Steilvorlagen für afroamerikanische Studenten zum Aufstand gegen die Segregation und Tausende talentierte Studenten, die weltweit ehrenamtlich loszogen, um als „Peace Corps“ zu helfen. In seinen 1.000 Tagen an der Macht brachte er viele Themen auf die Agenda, vor denen sich seine Vorgänger in acht Jahren gedrückt hatten. Schockiert über die Lebensbedingungen in dem armen Bundesstaat West Virgina beantragte er beispielsweise kurze Zeit nach einem Besuch die Erhöhung des Mindestlohns. Für eine bessere Versorgung Bedürftiger lieferte er sich erbitterte Debatten mit mächtigen Lobbyisten. Er unterstützte den Kampf der Afroamerikaner, auch wenn er anfangs zögerte. Manchmal verkörperte er anstelle eines Idealisten ohne Illusionen eher einen strategischen Opportunisten.

Eine Medizingeschichte GEWISSENHAFTIGKEIT è Ein Kommilitone von JFK scherzte zu Studentenzeiten, die Biografie seines Freundes müsse eines Tages „John F. Kennedy: Eine Medizingeschichte“ heißen. Der gutaussehende Mann

verkörperte die erfolgreiche und glamouröse Sportskanone – nach außen. Dabei nahm er schon in jungen Jahren rund zwölf Medikamente am Tag um überhaupt im Alltag zu funktionieren. Kortison, Antihistaminika, Antidepressiva, Amphetamine, Antibiotika, Schlafmittel und Aufputschmittel wie Testosteron gehörten täglich dazu. Wegen seiner Rückenbeschwerden wurde er mehrmals operiert und vor Pressekonferenzen bekam er oft rund fünf Novokain-Spritzen. Bevor er strahlend die Bühne betrat drückte er einem Mitarbeiter die Krücken in die Hand, mit denen er meistens unterwegs war. Fotos davon wurden ab 1960 konsequent vermieden. Schwäche und Krankheit? Das war im Kennedy-Regiment kein Grund um nicht erfolgreich zu sein. Er wurde zu einem starken Willen erzogen und nutzte seine Beziehungen um beim Zweiten Weltkrieg nicht ausgemustert zu werden. Eine „ruhige Kugel“ beim Nachrichtendienst ödete Kennedy an. Durch seine Hartnäckigkeit und Vitamin B wurde er zum Führer eines Patrouillen-Torpedobootes. Als das Boot durch den Zusammenstoß mit einem japanischen Zerstörer sank rettete er die Überlebenden schwimmend auf ein mehrere Kilometer entferntes Eiland im Pazifik. Einen Verletzten hatte er dabei im Schlepptau. Einheimische Inselbewohner vermittelten für ihn eine SOSBotschaft, eingeritzt auf einer Kokosnuss. Immer wieder wurden in der Vergangenheit Zweifel laut, inwiefern John F. Kennedy wegen seines schlechten Gesundheitszustandes tatsächlich sein Amt als mächtigster Mann der Welt ausführen konnte – sicherlich zurecht. Aber Kennedy hatte schon früher bewiesen, dass sein Wille größer war als er selbst. Ein fader Beigeschmack bleibt: Oft war es weniger seine moralische Unfehlbarkeit, die ihn die richtigen Entscheidungen treffen ließ, als vielmehr sein Opportunismus. Nicht zuletzt gab es da auch eine Menge Affären mit anderen Frauen. Und als seine

Frau Jacqueline eine Fehlgeburt erlitt, zögerte er gleichgültig damit, überhaupt nach Hause zu kommen.

Epilog John F. Kennedy war kein Heiliger. Die Menschen haben ein natürliches Bedürfnis nach Helden und so behaupteten nach Kennedys Ermordung 65 Prozent aller Amerikaner, bei der Wahl 1960 für ihn gestimmt zu haben – tatsächlich hatte er aber nur knapp 50 Prozent der Stimmen für sich ausgemacht. Seine Frau Jacqueline Kennedy sagte nach seinem Tod: „Geschichte wird nur von verbitterten alten Männern geschrieben. Jacks Leben hatte mehr mit Mythen, Magie, Legenden und Sagen zu tun“. Sie und JFK verglichen sich gerne mit König Arthur und den Rittern der Tafelrunde.

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Helmut Schmidt (1918 – 2015) elmut Heinrich Waldemar Schmidt war der erstgeborene Sohn eines Lehrerehepaares in Hamburg. 1936 wurde er wegen „zu flotter Sprüche“ aus der Marine-Hitlerjugend ausgeschlossen. Er beendete 1937 die Schule mit dem Abitur. Nach dem Reichsarbeitsdienst wurde er bei der Wehrmacht eingezogen. Als er aus dem Militärdienst hätte entlassen werden sollen brach der Zweite Weltkrieg aus und Schmidt wurde ohne Offiziersschule zum Offizier.

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Sein Vater war adoptiert und „offiziell“ reiner Deutscher. Der leibliche Vater war jedoch Jude und so musste Gustav Ludwig Schmidt während der Nazizeit ständig in Angst vor Entdeckung leben. Sein Sohn Helmut meldete sich indes an der Ostfront, um nicht als Feigling zu gelten. Als ihm befohlen wurde, an den Schauprozessen gegen die Attentäter um Graf von Stauffenberg teilzunehmen, war er von dem jähzornigen und erniedrigenden Verhalten des Nazi-Richters Roland Freisler so angewidert, dass er seine Vorgesetzten beredete, ihn als Zuschauer „freizusprechen“. Anfang 1945 äußerte Schmidt öffentlich Kritik an Reichsmarschall Hermann Göring und anderen Nazi-Entscheidern. Er wurde denunziert und sollte vor ein Kriegsgericht kommen. Zwei Vorgesetzte von Schmidt versetzten ihn zum Schutz in den kommenden Wochen so oft, dass die Vorladung ihn immer wieder verpasste. Im April 1945 geriet er in britische Kriegsgefangenschaft und kurz darauf war der Krieg beendet. Nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft trat er der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei. 1949 beendete er sein Studium als Diplom-Volkswirt. 1953 wurde er Mitglied des Bundestages, 1961 Senator der Polizeibehörde in Hamburg. Kurz nach Amtsantritt hatte er sich als Krisenmanager in der Sturmflut

von 1962 behauptet. Es folgten Ämter als Fraktionsvorsitzender im Bundestag, Bundesministerämter unter Kanzler Willy Brandt und schließlich die Kanzlerschaft ab 1974.

Unanständig anständig INTEGRITÄT è Gegen Ende seines Lebens war Schmidt froh, „dass ich mir keine Vorwürfe machen muss wegen unanständigen Verhaltens“. Er räumte jedoch ein, dass das Wort „,unanständig‘ ein freundliches, relativ harmloses Wort ist“. Kurz vor Kriegsausbruch war Schmidt mit den Geschwistern Tim und Cato Bontjes van Beek befreundet. Die Kinder wurden liberal erzogen. Gemeinsam mit ihrem Vater wurde Tochter Cato zur aktiven Widerstandskämpferin gegen das Nazi-Regime. Sie verteilte illegale Flugblätter und versteckte Verfolgte. 1942 wurden sie und ihr Vater von der Gestapo verhaftet. 1943 wurde sie mit dem Fallbeil hingerichtet. Schmidt versuchte damals frühzeitig als junger Offizier, sie und ihren Vater für die Folgen ihres Widerstands zu sensibilisieren und nannte das Verhalten der Freunde in einer Dokumentation „leichtfertig“ – aber Menschen wie sie konnten viele Tausende vor dem Nazi-Regime retten. Das Wort „leichtfertig“ mag in diesem Fall von dem rhetorisch begabten Politiker nicht ganz richtig gewählt worden sein. Willy Brandt hielt Schmidt für einen „Scheißdemokraten“ der nicht führen konnte. Er selbst entstammte als Offizier einer militärischen Tradition, die ihn zum Feindbild der Achtundsechziger machte. Seine Prinzipien waren „Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit“. Oskar Lafontaine warf ihm im Jahr seines Sturzes vor man könne mit diesen Tugenden auch ein Konzentrationslager betreiben. Die SPDPolitiker wurden keine Freunde mehr.

Nordish by Nature EMOTIONALITÄT ì Gefühlsausbrüche gab es in seinem Leben kaum – davon hielt er nicht viel. Es gab immer ein gewisses Maß an Selbstdisziplin. Der weise Greis wurde Schmidt aber erst auf seine alten Tage. Als Bundeskanzler zwischen 1974 und 1982 wirkte er häufig so distanziert und kühl, dass er nicht nur Befürworter hatte. Einen der wenigen emotionalen Momente erlebte er, als er von der Befreiung der RAF-Geiseln hörte. Keiner der Lufthansa-Passagiere starb. Schmidt hatte mit vielen Toten gerechnet, die Erleichterung über die Nachricht trieb ihm die Tränen in die Augen. Die Freude darüber wurde schnell getrübt: Die separat entführte Geisel Hanns Schleyer wurde von der RAF erschossen. Die Verantwortung dafür hatte der Bundeskanzler zu tragen. Wäre er kein eiskaltes Nordlicht gewesen hätte er die Last wahrscheinlich nicht tragen können. Schleyers Angehörige hatten die Haltung der Bundesregierung – und damit Schmidts Haltung – nachvollziehbarerweise nicht unterstützt. Die Familie hatte Lösegeld in Höhe von 15 Millionen Mark bereitgestellt, aber die Bundesrepublik Deutschland verhinderte die Übergabe. Auch das Ersuchen der Familie beim Bundesverfassungsgericht, die RAF-Forderungen zu erfüllen, wurde abgelehnt. Schleyer starb durch drei Kopfschüsse. Seine Leiche wurde in dem Kofferraum eines Autos gefunden. Bei seiner Beerdigung bekundete Schmidt der Witwe sein Beileid. Schmidt äußerte 2013, dass die Ereignisse rund um Schleyers Entführung ihn in seinen Grundfesten erschüttert hätten. Er sagte das, als er mit dem Hanns-Martin-Schleyer-Preis ausgezeichnet wurde. Die im Jahr der Entführung und Ermordung gegründete Stiftung zeichnet Menschen aus, die öffentlich für die Demokratie und den Rechtsstaat Verantwortung übernehmen. Die Geste der Familie Schleyer, ihm diesen Preis zu übergeben, rührte Schmidt