Jetzt erst recht Die DDR feiert ihren 40. Jahrestag

Aufbegehren – Wege zur Wiedervereinigung Aufbegehren – Wege zur Wiedervereinigung Jetzt erst recht Die DDR feiert ihren 40. Jahrestag 40 Jahre DDR ...
Author: Elsa Amsel
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Aufbegehren – Wege zur Wiedervereinigung

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Jetzt erst recht Die DDR feiert ihren 40. Jahrestag

40 Jahre DDR Jaruzelski, Jakes, Gorbatschow, Honecker bei der Ehrenparade der NVA zu den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Staatsgründung. Foto vom 7. Oktober 1989

Obgleich die anhaltenden Flüchtlingswellen und Demonstrationen die Grundfesten des Staates erschütterten, versuchte die DDR, anlässlich ihres 40. Jahrestages noch einmal Stärke zu zeigen. Von der geplanten Großinszenierung nahm Erich Honecker aufgrund der sich zuspitzenden Situation allerdings Abstand. Dennoch sollte der Schein gewahrt bleiben: Am Abend des 6. Oktober fand der obligatorische Fackelumzug der FDJ statt, bei dem 100 000 Jugendliche an Regierungsmitgliedern und Ehrengästen vorbeizogen, um „ihre Liebe und Treue zur Partei der Arbeiterklasse zu bekunden“. Am 7. Oktober fanden dann die Militärparade und die üblichen Volksfeste statt. Fünf Sondermarken wurden ausgegeben mit Motiven, die der Realität nicht mehr entsprachen.

Ein Staat in Gefechtsbereitschaft Bereits in den Tagen vor den Feierlichkeiten erreichten die öffentlichen Demonstrationen und Aktivitäten der Oppositionsgruppen einen neuen Höhepunkt. Am Abend des 4. Oktober stürmten Ausreisewillige den Dresdner Hauptbahnhof in der verzweifelten Absicht, auf Züge aufzuspringen, mit denen Prager Botschaftsflüchtlinge durch die DDR in die Bundesrepublik gebracht wurden. Nachdem die DDR-Regierung am 3. Oktober den visa­ freien Reiseverkehr in die ČSSR ausgesetzt hatte, schien dies vielen die letzte Fluchtmöglichkeit zu sein. Einheiten der Volkspolizei und der NVA gingen gegen die Bürger vor. Es kam zu schweren Aus­einandersetzungen. Die Proteste breiteten sich aus. Aus Magdeburg wurde am

Philatelistischer Schwanengesang

5. Oktober eine Aktion mit 800 Demonstranten gemeldet, von denen nicht weniger als 250 durch Polizei und Staatssicherheitsdienst verhaftet wurden. Aber auch aus vielen anderen Orten der DDR trafen Berichte über Demonstrationen und Protestaktionen ein, die kaum noch beherrschbar schienen.

Gorbatschow mahnt Reformen an Mit mehr als 4 000 Gästen und über 70 ausländischen Delegationen beging die DDR-Regierung den Jahrestag, darunter auch eine sowjetische Abordnung mit Michail Gorbatschow. Doch statt den erhofften engen Schulterschluss zu demonstrieren, mahnte der russische Staatschef sowohl in seiner Grußansprache als auch in Randgesprächen mit Mitgliedern des Politbüros eindringlich weitreichende Entschlüsse und kühne Entscheidungen an: „Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.“

Die größte Protestaktion seit dem 17. Juni 1953

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Zum 40. Jahrestag der DDR erschienen am 3. Oktober 1989 vier Sondermarken und ein Briefmarkenblock, der mit üppigen 113 x 96 Millimetern noch einmal die Größe des Systems demon­ strieren sollte. Über zwei Millio­ nen Stück, mit durchlaufenden Nummern. Die 40 000 Ersttagsbriefe werden bis heute immerhin zweistellig gehandelt. Doch die Gestaltung offenbarte das tragische Festhalten des Regimes am bisherigen Weg.

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Die Feierlichkeiten klangen mit einem festlichen Empfang im Palast der Republik aus. Zur selben Zeit kam es in den größeren Städten der DDR zu Protesten und Demonstrationen. In Berlin versammelten sich rund 20 000 Menschen auf dem Alexanderplatz und skandierten „Gorbi, hilf uns!“ und „Wir sind das Volk!“. Noch wurden die staatlichen Einsatzkräfte weitgehend zurückgehalten. Erst am späten Abend, nach der Abreise Gorbatschows, gab der Chef der Staatssicherheit Erich Mielke die Losung aus: „Jetzt ist Schluss mit der

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Auch die Einzelmarken der Ausgabe vom 3. Oktober 1989 präsentierten Klassiker des sozialistischen Selbstverständnisses.

Humanität.“ Mit bisher ungekannter Gewalt gingen Einheiten des MfS, der NVA und der Volkspolizei gegen die sich bereits zerstreuenden Demonstranten vor. Allein in Berlin wurden mehr als 1 000 Personen verhaftet. Wagenkolonne mit Michail Gorbatschow und Erich Honecker bei der Fahrt durch Berlin. Foto vom 6. Oktober 1989

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„Wir sind das Volk“

Bereits seit 1982 fanden unter dem Eindruck der atomaren Hochrüstung beiderseits des Eisernen Vorhangs und der Friedensbewegung an jedem Montag in der Leipziger Nikolaikirche die sogenannten Friedensgebete statt. Der Kreis der Teilnehmer war zunächst nur klein. Seit Ende 1988 nahm die Besucherzahl jedoch erheblich zu, die Friedensgebete bekamen eine politische Relevanz. Die staatlichen Behörden der DDR verstärkten ihren Druck, die Friedensgebete abzusetzen oder wenigstens von der Nikolaikirche weg an den Stadtrand zu verlegen. Doch alle Versuche des Staates, auf die Veranstaltungen reglementierend Einfluss zu nehmen, führten lediglich dazu, dass im Anschluss an die Gebete immer öfter auch öffentliche Aktionen vor der Kirche stattfanden.

Montagsdemonstration für Reformen in der DDR auf dem Karl-Marx-Platz in Leipzig am 30. Oktober 1989

Erste Montagsdemonstration in Leipzig für Reise- und Versammlungsfreiheit. Foto vom 4. September 1989

Protest vor der Leipziger Nikolaikirche

schen Verhältnisse, forderten eine friedliche, demokratische Neuordnung. Ende September versammelten sich schon 5 000, einen Monat später bereits um die 20 000 Demonstranten. Längst war die Leipziger Nikolaikirche zu klein geworden, Ausweichplätze mussten gefunden werden. Die am 28. Februar 1990 ausgegebene Briefmarke MiNr. 3315 aus dem letzten Briefmarkenjahrgang der DDR dokumentiert diese einzigartige Entwicklung motivisch (siehe S. 124).

Am 4. September 1989 versammelten sich nach dem Friedensgebet etwa 1 200 Menschen auf dem Vorplatz der Nikolaikirche. Unter dem Eindruck der Massenflucht vieler DDR-Bürger forderten sie auf Transparenten „ein offenes Land mit freien Menschen“. Einsatzkräfte der Staatssicherheit rissen die Plakate herunter – vor den Augen westdeutscher Journalisten, die anlässlich der Leipziger Messe in der Stadt waren. Die Demonstranten quittierten diesen Übergriff mit „Stasi raus!“-Rufen. Von da an trafen sich jeden Montag immer mehr Menschen vor der Leipziger Friedenskirche zu den Montagsdemonstrationen und protestierten mit Rufen wie „Wir sind das Volk“ gegen die unerträglichen politi-

Internationale Briefmarkenausstellung

Keine Chance mehr für den SED-Machtapparat Mehrfach versuchte der Staat, mit Gewalt gegen die Demonstranten vorzugehen. Es kam zum Teil zu brutalen

Begehrt trotz Aufpreises

Auffällig ist der auf dem Blockrand dokumentierte Verkaufspreis, der über der Summe der Werte lag. 25 Pfennig zahlte der Sammler also drauf, gemessen am Frankaturwert. 1967 waren es 25 Pfennig für einen Block „50 Jahre Roter Oktober“, wohingegen 1969 die Blocks zu „20 Jahren DDR“ wieder zum Preis der Frankatur verkauft wurden.

In Leipzig trafen sich 1965 Sammler aus über 33 Nationen zur internationalen Briefmarkenmesse. Zwei Blocks vom 4. September verliehen dem Ereignis auch philatelistische Größe. Mit dem Format 137 x 99 Millimeter waren sie nur bedingt für den alltäglichen Briefwechsel geeignet. DDR Block 23

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Ausschreitungen. Doch vergeblich. Die SED-Regierung hatte das Protestpotenzial ihrer Bevölkerung unterschätzt. Im Gegenteil: In immer mehr Städten gingen die Menschen auf die Straßen. Am 9. Oktober zogen über 70 000 Menschen nach Friedensgebeten in vier Leipziger Kirchen über den gesamten Innenstadtring und forderten Meinungsfreiheit und politische Reformen. Obgleich Vorbereitungen für einen gewaltsamen Einsatz gegen die Demonstranten getroffen worden waren, griffen die Einsatzkräfte angesichts der Menschenmassen nicht ein. Eine Woche später nahmen bereits 120 000 Menschen aus der gesamten DDR an den Montagsdemonstrationen teil. Auch hier hielt sich das massive Aufgebot an Sicherheitskräften zurück.

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Das Ende der Ära Honecker

Befreiung von totalitären Systemen

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Am Morgen nach dem 9. Oktober herrschte im Politbüro düstere Stimmung. Der Lagebericht des Ministeriums für Staatssicherheit zeichnete ein bedenkliches Bild: Die Stimmung in der Bevölkerung sei bedrohlich schlecht, das Vertrauen der Werktätigen in die Wirtschaft verloren, es herrschten Zweifel an der Zukunft des Sozialismus. Über das weitere Vorgehen brach ein Machtkampf aus. Honecker mahnte Entschlossenheit im Kampf gegen die Oppositionellen an. Der stellvertretende Staatsratsvorsitzende Egon Krenz plädierte für eine von ihm und einigen Vertrauten vorbereitete öffentliche Erklärung des Politbüros, die friedlichere Töne anschlug, was Honecker als „Kapitulations-Erklärung“ zurückwies. In völliger Verkennung der Situation war der Generalsekretär zu geringen Zugeständnissen, jedoch nicht zu einem grundsätzlichen Politikwandel bereit.

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Ein Bild Erich Honeckers liegt auf der Straße. Foto: November 1989

cker von seiner Funktion zu entbinden. Egon Krenz bot sich als Nachfolger an. Honecker wehrte sich mit einer verbitterten Rede, stimmte schließlich aber seiner Ablösung zu. Abberufen wurden auch sein engster Vertrauter und nahezu Alleinverantwortlicher für die Planwirtschaft Günter Mittag sowie Joachim Herrmann, dem das Pressewesen unterstand. In seiner ersten öffentlichen Erklärung am Abend des 18. Oktober kündigte Krenz zwar keinen umfassenden Systemwechsel, immerhin aber die Einleitung einer „Wende“ an und gebrauchte damit zum ersten Mal den Begriff, der sich schließlich für die dramatischen Veränderungen des Jahres 1989 durchsetzte.

Schlüsselübergabe

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Die Sondermarken „20. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus“ aus dem Jahr 1965 präsentierten die Geschichte der europäischen Linken. Erste Propaganda­ aktionen in Leipzig und Brüssel, Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, Widerstand und Befreiung vom Nationalsozialis­ mus zeigten den „siegreichen Sozialismus“ bis zur Gründung der SED. Dass mit dem Ruf und der am 28. Februar 1990 erschienenen Sondermarke „Wir sind das Volk“ nun wiederum die Befreiung von einem totalitären Regime gefordert und gefeiert wurde, stellte eine unglaubliche Ironie der Geschichte dar.

Erich Honecker bei einem seiner letzten Auftritte kurz vor Beginn der Parade zur 40-Jahr-Feier. Foto vom 6. Oktober 1989

„Erich, es geht nicht mehr. Du musst gehen“ In den folgenden Tagen sondierte Krenz die Möglichkeit einer Absetzung Honeckers. Am 17. Oktober, in einer Sitzung des Politbüros, war es dann so weit: Ministerpräsident Willi Stoph stellte den Antrag, Erich Hone-

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Der Schlüssel auf dem Block zum SED-Parteitag von 1986 wurde nur drei Jahre später zurückgefordert.

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Der Ruf nach Selbstbestimmung

Die Mauer fällt

Die Sondermarke zum 20. Jahrestag der friedlichen Revolution zeigt das Bild der Leipziger Nikolaikirche. Ein wesentlicher Meilenstein auf dem Weg in die Freiheit fand auf dem Berliner Alexanderplatz statt. Dort kam es am 4. November 1989 zur ersten offiziell genehmigten Massenkundgebung in der DDR, die nicht von der Regierung, sondern vom Volk ausgerichtet wurde. Die Initiative ging von Schauspielern und Mitarbeitern an Ostberliner Theatern aus. Unter den Eindrücken der gewaltsamen Übergriffe von Volkspolizei und Stasi nach den Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR organisierten sie eine Demonstration für Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit.

Nachdem die DDR-Regierung einer Ausreise über die Tschechoslowakei zugestimmt hatte, setzte sich der Massenexodus mit neuen Rekordzahlen fort. Allein in der ersten Novemberwoche machten über 48 000 DDR-Bürger von der Möglichkeit Gebrauch. Mit solchen Ausmaßen hatte niemand gerechnet. Im Ausland wuchs die Sorge vor einer Eskalation. Die tschechische Regierung ließ verlauten, die DDR-Regierung müsse das Problem unverzüglich lösen, andernfalls werde man die Grenzen schließen. Auch die Bundesrepublik geriet allmählich in Schwierigkeiten: Angesichts des kaum noch zu verkraftenden Zustroms an Übersiedlern bot Helmut Kohl an, im Falle ernst zu nehmender Reformen werde die Bundesrepublik „eine neue Dimension wirtschaftlicher Unterstützung“ in Erwägung ziehen. Zur Stabilisierung der DDR musste ein neues Reisegesetz umgehend entschieden werden. Aber die SED-Regierung tat sich schwer, hatte bislang nur halbherzige Versuche unternommen. Die Bekanntmachung der neuen Reiseregelung kam schließlich völlig überraschend.

Demonstranten mit Transparent vor dem Palast der Republik. Foto vom 4. November 1989

„Kein Artenschutz für Wendehälse“ Drei Stunden dauerte die anschließende Abschlusskundgebung. Unter den mehr als 20 Rednern waren der Theologe Friedrich Schorlemmer, Rechtsanwalt Gregor Gysi, Hochschuldirektor Lothar Bisky und Künstler wie Stefan Heym, Christa Wolf oder Heiner Müller. Wolf Biermann war die Einreise am Grenzübergang Friedrichstraße verweigert worden. Auch Vertreter des bestehenden Regimes traten auf, unter ihnen Günter Schabowski, wurden aber von Sprechchören und Pfeifkonzerten unterbrochen.

Orte des Wandels

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Zahllose deutsche Briefmarkenausgaben zeigten das Brandenburger Tor, während es noch geschlossen war. 1995 gedachte eine Sondermarke den Opfern der Teilung. DDR 1854

„SED allein – das darf nicht sein“ Bereits seit den frühen Morgenstunden waren Menschen unterwegs, ruhte in der gesamten Berliner Innenstadt der Verkehr. Schauspieler mit grün-gelben Schärpen und der Aufschrift „Keine Gewalt“ fungierten als Ordner. Die Volkspolizei hielt sich im Hintergrund, auch als der Zug der Demonstranten an Volkskammer und Staatsratsgebäude vorbeizog. Wie viele Personen teilgenommen haben, ist unklar. Die Organisatoren sprachen von bis zu einer Million.

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Pressekonferenz mit unerwarteter Wendung Am späten Nachmittag des 9. November drückte Egon Krenz dem Sekretär für Informationen des Zentralkomitees Günter Schabowski eine von Regierungsmit-

Demonstration gegen das SED-Regime auf dem Alexanderplatz. Foto vom 4. November 1989

Das Tor steht offen

1973 wurde der Berliner Alexanderplatz noch für den „Aufbau in der DDR“ abgebildet. Nun begann hier der Abbau, ebenso wie vor der Leipziger Nikolaikirche, die 2009 eine Jubiläumsmarke erhielt: „20 Jahre Fried­ liche Revolution“. Bund 2762

gliedern und Staatssicherheit erarbeitete Vorlage zu neuen Reisebestimmungen in die Hand, die ab dem 10. November in Kraft treten sollten. Schabowski war auf dem Weg zur Pressekonferenz anlässlich einer Tagung des SED-Zentralkomitees. Um 18.55 Uhr, gegen Ende der von Fernsehen und Hörfunk live übertragenen Günter Schabowski gibt am 9. November auf einer Pressekonferenz die Öffnung der Grenzübergänge nach Westberlin und zur Bundesrepublik bekannt.

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Friedlicher Aufbruch zur deutschen Einheit

Am 6. November 1990 feierte ein Briefmarken­ block den ersten Jah­restag der Grenzöffnung. Die Freiheitsglocke des Schöneberger Rathauses klingt seither für Ost und West. Dieses Geschenk amerikanischer Bürger zur Befreiung vom Nationalsozialismus erschien seit 1951 wiederholt auf Berliner Briefmarken.

In der Nacht des 9. November 1989 klettern Menschen auf die Mauer am Brandenburger Tor.

Konferenz, verkündete er die vom Ministerrat zu diesem Zeitpunkt noch nicht genehmigten neuen Bestimmungen: „Und deshalb haben wir uns dazu entschlossen, heute eine Regelung zu treffen, die es jedem Bürger der DDR möglich macht, über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen.“ Auf die Frage, ab wann dies in Kraft trete, zitierte Schabowski, offenbar selbst unsicher bezüglich der Auslegung des Inhalts, aus dem Text: „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen […] sind angewiesen, Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen.“ Erneut wurde nachgefragt, wann die Regelung in Kraft trete. Schabowskis Antwort war unmissverständlich: „[…] nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“

„Wir fluten jetzt! Wir machen alles auf!“ Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Sofort machten sich die ersten Ostberliner auf den Weg zu den Grenzübergangsstellen und trafen auf ahnungslose, irritierte Grenzbeamte, die nichts anderes wussten, als zu vertrösten. Doch immer mehr Menschen kamen beiderseits der Grenzstellen an. Am Übergang Bornholmer Straße fanden sich bis zum späten Abend etwa 1 000 128

Menschen ein. Wartende Autos stauten sich über einen Kilometer zurück. Als dann Hanns Joachim Friedrichs in den Tages­ themen den 9. November einen „historischen Tag“ nannte und berichtete, die DDR habe mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet seien, setzte von beiden Seiten ein Massenansturm auf die Übergangsstellen ein. Unter dem Druck der immer größer werdenden Menschenmenge, die in Sprechchören „Tor auf, Tor auf!“ und „Wir kommen wieder!“ riefen, schoben die Grenzposten die Drahtgitterzäune beiseite. Tausende durchliefen die Grenzanlage, überrannten die Kontrolleinrichtungen, wurden auf Westberliner Seite mit Jubelstürmen in Empfang genommen.

Die Fesseln sind gesprengt Bis Mitternacht waren alle Übergänge in Berlin geöffnet. Ostberliner drängten in den Westen, Westberliner in den Osten. Grenzsoldaten und Passkontrolleure standen der Menschenmenge hilflos gegenüber. Die Westberliner Polizei wagte nicht, regulierend einzugreifen. Der Platz rund um das Brandenburger Tor war schwarz vor Menschen. Mit Wasserschläuchen und Räuberleitern halfen sie einander, die Mauer zu erklimmen, spazierten über den Pariser Platz, strömten zum Kurfürstendamm. Mehr als 28 Jahre war die Stadt durch Mauer und Stacheldraht geteilt. Jetzt herrschte grenzenloses

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Glücksgefühl: Wildfremde Menschen umarmten einander, jubelten, weinten Freudentränen, ließen Sektflaschen kreisen. In unbeschreiblicher Hochstimmung feierten die Berliner den Fall der Mauer bis in die frühen Morgenstunden. Dann kehrten sie wieder zurück, friedlich, jeder auf seine Seite. Noch in der Nacht wurde mit der Demontage der Befestigungsanlagen begonnen. Mit Spitzhacke und Vorschlaghammer versuchten die ersten „Mauerspechte“, Brocken aus dem Bollwerk herauszuschlagen. Bereits am Freitag hatte die Mauer erste Löcher. Am 9. November 1989 begrüßen Westberliner die ankommenden Autos am Grenzübergang Sonnenallee.

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Die größte Party der Welt Die Welt stand kopf Die Öffnung der Grenze löste einen unbeschreiblichen Rausch der Freude und Begeisterung aus. Seit den frühen Morgenstunden berichteten die Medien unaufhörlich von diesen unglaublichen Vorgängen. Und überall ereigneten sich die gleichen ergreifenden Szenen. Das 28 Jahre lang durch Mauer, Selbstschussanlagen, Minen und Stacheldraht voneinander getrennte Volk lag sich nun jubelnd in den Armen. Ein ungeheurer Massenansturm von DDR-Bürgern setzte ein, die die neu gewonnene Freiheit ausprobierten. Am ersten Wochenende nach dem Mauerfall machten sich etwa drei Millionen Ostdeutsche auf den Weg in den Westen. Sonderzüge wurden eingesetzt, um den Ansturm zu bewältigen. Trabbis, Wartburgs und Ladas stauten sich kilometerlang. Westlich des „Todesstreifens“ wurden sie mit Begeisterungsstürmen, Sekt und Blumen, Freudentränen und ungläubigem Staunen empfangen.

Leere Kassen in Banken und Rathäusern

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Einreisende DDR-Bürger werden am 11. November 1989 am Grenzübergang Helmstedt-Marienborn begrüßt.

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Eine Woche vor der offiziellen Wiedervereinigung erschienen neue Wohlfahrtsmarken. Einige Ersttagsbriefe tragen jedoch einen Stempel vom 11. Oktober. Eine Folge der Feierlichkeiten?

DDR-Grenzsoldaten bei Abbruch der Mauer. Foto vom 11. November 1989

„Ich bin nur mal eben schnell losgefahren“ Am Grenzübergang Helmstedt standen die Autos seit den frühen Morgenstunden Stoßstange an Stoßstange. Hunderte hatten sich am Kontrollpunkt versammelt, Menschenmassen standen Spalier. Im Schritttempo fuhren die Pkw aus der DDR an der jubelnden Menge vorbei. Durch geöffnete Wagenfenster wurden Süßigkeiten, Getränke, Sekt in Pappbechern, Autoaufkleber, Geld gereicht und unzählige Hände gedrückt. Der niedersächsische Ministerpräsident und Regionalpolitiker begrüßten die Besucher von der anderen Seite. Immer wieder hieß es: „Wir sind so glücklich, dass wir das erleben dürfen“ und „Wir sind einfach nur mit Ausweis ohne Papiere gekommen. Das gibt es doch gar nicht“. Im westlichen Teil Berlins herrschte Ausnahmezustand. Es war nicht mehr möglich, die Zahl der Einreisenden überhaupt zu zählen. Schätzungen gehen von bis zu einer Million Besucher aus. Der Innenstadtverkehr brach zusammen, ebenso mehrere U-Bahnlinien. Auf dem Kurfürstendamm und Tauentzien war kein Durchkommen mehr. In den grenznahen Städten sah es nicht anders aus. Sämtliche Kräfte der Polizei waren im Einsatz, um dem Verkehrschaos Herr zu werden.

Überall standen die Menschen Schlange, um ihr Begrüßungsgeld abzuholen. Wenn den auszahlenden Stellen das Bargeld ausging, halfen Unternehmen und Einzelhändler aus. Banken und Sparkassen blieben rund um die Uhr geöffnet. Innerhalb von zwei Tagen wurden etwa 70 Millionen D-Mark ausgezahlt. Insgesamt sollen es im November und Dezember 1989 drei bis vier Milliarden D-Mark gewesen sein. Wohlfahrtsverbände hielten Essen und Getränke für die Besucher bereit, der Ladenschluss wurde außer Kraft gesetzt. Innerhalb weniger Stunden waren viele Geschäfte nahezu ausverkauft. Und ob Kneipen oder Privathaushalte – überall wurde bis in die Nacht hinein gefeiert. Obgleich man in der Bundesrepublik mit einer steigenden Zahl von Übersiedlern rechnete, kehrten die allermeisten nach wenigen Stunden oder Tagen wieder in ihre Heimat zurück. Etwa 20 000 DDR-Bürger blieben dauerhaft im Westen. DDR-Bürger stehen bei der Sparkasse Schlange, um das Begrüßungsgeld abzuholen. Foto: 12. November 1989

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DDR-Bürger erleben den Westen

Zeitungen veröffentlichten Hinweisspalten für Besucher aus der DDR mit wichtigen Adressen und Anlaufstellen. Trabbi-Pannendienste und Pendelverkehr, Leitsysteme und Parkflächen wurden eingerichtet, um ein erneutes Verkehrschaos zu verhindern. Und dennoch bildeten sich wieder kilometerlange Rückstaus an den Grenz­ übergängen. Erneut organisierten Wohlfahrtsverbände warmes Essen und Getränke. Kirchen wurden geöffnet, damit die Besucher sich an den kalten Novembertagen aufwärmen konnten. Und Hotels stellten kostenfreie Unterkünfte zur Verfügung, um Übernachtungsmöglichkeiten zu schaffen.

Südfrüchte, Stereoanlagen und Klamotten

DDR-Bürger beim Einkaufen in Hamburg nach der Maueröffnung. Foto vom 18. November 1989

Auf der Briefmarke, die von der Deutschen Bundespost am 9. November 1994 anlässlich des 5. Jahrestages der Öffnung der Grenze ausgegeben wurde, ist die Szene, die sich an allen deutsch-deutschen Grenzübergängen nach dem Fall der Mauer gleichermaßen ereignete, bildlich festgehalten worden: Trabbis fahren durch ein Spalier winkender und jubelnder Menschen und werden auf westdeutscher Seite mit Begeisterung empfangen.

Die neu gewonnene Freiheit bedeutete für die DDR-Bürger auch, am Wohlstand des Westens teilhaben zu können. Endlich das kaufen zu können, was lange Zeit für die meisten außer Reichweite gewesen war. Und auf die Konsumfreude der DDR-Bürger richtete man sich im Westen sehr schnell ein: Um den Ansturm auf das Begrüßungsgeld bewältigen zu können, wurden zusätzliche Auszahlungsschalter eingerichtet. Auf den Besucher­ andrang am ersten Wochenende nach dem Mauerfall hatten viele Geschäftsleute nicht schnell genug reagiert. Etliche Läden, Cafés, Einkaufscenter waren geschlossen geblieben. Diesen Fehler machte der

Unvergessliche Momente

Reger Andrang vor einem Kaffeeausschank auf dem Kurfürstendamm. Foto: 1989

westdeutsche Einzelhandel kein zweites Mal. Alle hatten geöffnet. Technische Geräte, Kleidung und Lebensmittel fanden reißenden Absatz. Der westdeutsche Einzelhandel profitierte in diesen Wochen enorm von der Kauffreude der DDR-Bürger.

In den ersten zehn Tagen nach Maueröffnung kamen – Mehrfachbesuche mitgerechnet – insgesamt etwa acht Millionen DDR-Bürger besuchsweise in den Westen, das entsprach fast der Hälfte der ostdeutschen Gesamtbevölkerung. Nach dem zweiten Wochenende ebbte der Massenansturm ab. Am Buß- und Bettag, der 1989 auf den 22. November fiel, herrschte an den Grenzübergängen wieder weitgehend Ruhe. Die bewegenden Ton- und Bilddokumente der jubelnden Menschenmassen an den Grenzübergängen und auf der Berliner Mauer unmittelbar nach der Grenzöffnung haben sich bis heute ebenso tief in das Bewusstsein des wiedervereinigten Deutschlands eingebrannt wie die Bilder von dem enormen Besucher­ ansturm in den ersten Tagen der neu gewonnenen Freiheit.

Erschöpfte Berliner DDR-Bürger im Europa-Center am Breitscheidplatz. Foto vom 10. November 1989

Von Berlin bis Obersuhl

Erneute Besucherrekorde Und auch am zweiten Wochenende nach der Grenzöffnung riss der Besucherstrom nicht ab. Wieder machten sich etwa drei Millionen DDR-Bürger zu einer Stippvisite in den Westen auf. Der Besucheransturm in den ersten Tagen nach dem 9. November hatte ungeheure logistische Probleme mit sich gebracht. Nach diesen Erfahrungen waren die Bundesbürger diesmal besser vorbereitet: Informationsblätter wurden gedruckt, die 132

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Die Begrüßungsbilder sind im nationalen Gedächtnis verankert. Am 9. November 1994 zeigte eine Sonder– marke den Grenzübergang Obersuhl.

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