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Intention oder Zufall? Die Zahlensymbolik in der Musik Johann Sebastian Bachs alexander j. cvetko

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Arbeitsblätter ▲ ▲ ▲ ▲

Verschlüsselung von Namen und Wörtern – S. 53 Zahlensymbole – S. 54 Bachs Porträt – S. 55 Vorsehung oder Zufall? – S. 55

Hörbeispiele – CD ▲ ▲ ▲

Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion HB 13: Nr. 1 Eingangschor HB 14: Nr. 15 „Herr, bin ich’s?“ HB 15: Nr. 36 „Ach, nun ist mein Jesus hin!“ HB 16: Nr. 42 „Er hat Gott gelästert“ HB 17: Nr. 49 „Des Morgens aber hielten alle Hohenpriester“ HB 18: Nr. 59 „Da gab er ihnen Barabbam los“ HB 19: Nr. 64 „Und da sie ihn verspottet hatten“ HB 20: Vorsehung oder Zufall? ▲ ▲ ▲ ▲



Dateien – DVD ▲ ▲ ▲ ▲ ▲

Der verschlüsselte Name des Komponisten in der „Matthäuspassion“? + Lösung Zahlensymbolik in Johann Sebastian Bachs „Matthäuspassion“? + Lösung Der kleine Katechismus von Luther Bachs Porträt – Lösung Literaturhinweise

schott-musikpädagogik.de ▲

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Der Musikwissenschaftler Hans Heinrich Eggebrecht monierte ergebnisorientierte Curricula der 1970er-Jahre, da sie im Prinzip anti-wissenschaftlich seien und der Offenheit der Gegenstandsbereiche entgegenwirkten. Daher forderte er eine „Wissenschaft als Schule“, denn Wissenschaft ist für ihn ein stetiger Prozess und fragwürdig immer dann, wenn der Lehrer vorgibt, was richtig und falsch ist.1 Wenn im Folgenden gerade dieses Richtig oder Falsch auf dem Prüfstand steht und Teil des Musikunterrichts wird, dann wird „historisches Denken“ realisiert. Es fußt auf einem Kompetenz-Strukturmodell, das derzeit in der Geschichtsdidaktik Furore macht und auch für die Musikdidaktik fruchtbar sein kann. Ihm liegt eine Geschichtstheorie zugrunde, bei der es weniger um historische „Wahrheiten“ als vielmehr um (gemeinsame) Rekonstruktionen von Geschichte(n) geht. Das Modell beinhaltet die Frage-, Methoden- und Orientierungskompetenz. Am Ende steht die Sachkompetenz, die nicht ausschließlich aus Daten- und Faktenwissen besteht, sondern das Resultat (narrativistischer) Konstruktionen ist und die Diskurse über sie einbezieht.2 Der folgende Unterrichtsvorschlag, mit dem ich in der Oberstufe ausgesprochen gute Erfahrungen gemacht habe, will also nicht Zahlensymbolik „lehren“. Vielmehr bestreiten LehrerInnen und SchülerInnen gemeinsam einen forschenden Weg.

faszination numerologie Ein Einstieg könnte so aussehen: Der Unterricht beginnt mit einer erzählten Geschichte, nämlich der von der Auseinandersetzung der Juden mit Jesus, den Pilatus richten soll. Nach seinem Vorschlag, die Juden selbst mögen doch Jesus richten, folgt in Johann Sebastian Bachs Johannespassion ein Turbachor (Nr. 25) mit den Worten „Wir dürfen niemand töten“. Beim Wort „töten“ steigt die Melodielinie chromatisch in fünf Schritten (s. Notenbeispiel unten). Was sich nun mit der Zahl 5 verbinden lässt, zeigt Der kleine Katechismus Dr. Martin Luthers (enthalten im Evangelischen Gesangbuch, s. „Der kleine Katechismus von Luther“ auf der Heft-DVD) dessen fünftes Gebot lautet: „Du sollst nicht töten.“ Ist das nun Zufall? Die meisten SchülerInnen glauben das, einige aber auch nicht (hier könnte auch die Lehrkraft die Rolle des Advocatus Diaboli einnehmen). Wie auch immer, eine echte und spannende Stundenfrage ist damit geboren: Sind dieserart Zahlen als eine Form der musikalischen Sprache Zufall oder nicht? Überhaupt sind SchülerInnen fasziniert von der Mystik in der Numerologie. Sie interessieren sich für Bücher wie Umberto Ecos Das Foucaultsche

Johann Sebastian Bach: Chor „Wir dürfen niemand töten“ (Nr. 25) aus der Johannespassion, z. B. T. 4 f.

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3. ung bild

Pendel, Dan Browns Illuminati oder Philippe Delelis Kriminalroman Die letzte Kantate sowie für Filme wie 23 – Nichts ist so wie es scheint von Hans-Christian Schmid (1998) oder der Kinofilm des Sommers 2006 The Da Vinci Code – Sakrileg. Neben Computerspielen mit Zahlensymbolen wie Deus Ex ist das Internet überfrachtet mit dieserart Zahlenspielen. Auch Zahlen in musikalischen Werken wecken Neugier und Begeisterung der SchülerInnen.

forschungsstrategien Zusammen mit den SchülerInnen wäre nun zu überlegen, wie ein begründetes Urteil entstehen könnte. Die möglichen Argumentationen sind zugleich auch Impulse für die nächsten Arbeitsschritte: Gegen den Zufall sprechen würde, wenn Zahlen als Form der Sprache in Bachs Werken häufiger vorkämen. Die Suche nach Zahlen geht dann über eine einfache Analyse hinaus, denn sie hat nunmehr eine übergeordnete Fragestellung, die zu Kritikfähigkeit bildet. Es geht hier nicht um ein richtig oder falsch, sondern um die Güte der Begründungen. Die Analyse wird daher hier unentbehrlicher Gegenstand für das eigene begründete Urteil. Ein weiteres Argument wäre die Überlieferung der kompositorischen Intention vonseiten des Komponisten; einzubeziehen wäre hier auch der historische Kontext. Im Umkehrschluss könnte man sagen: Wenn etwa die oben genannte Zahl 5 Ausnahmecharakter hat und eine Komponistenäußerung nicht auffindbar ist, dann wäre es doch mehr Zufall und ein Argu-

ment für den Verdacht, es würde zu viel spekuliert und hineininterpretiert. Auch wenn die Lehrerin nun auf geeignete didaktische Fährten führen muss: Diese Forschungsstrategien sind echte Wissenschaftspropädeutik und fördern eine nachhaltige Methodenkompetenz, besonders in der Oberstufe.

zahlen: eine fundgrube Es gibt eine Vielzahl an musikwissenschaftlicher Literatur zur Zahlensymbolik bei Johann Sebastian Bach, in der z. T. auch die Zufallsfrage diskutiert wird.3 Es würde die SchülerInnen heillos überfordern, diese Literatur zu sichten. Zudem würde ein gewisser Reiz verloren gehen, die Zahlen selbst in der Partitur zu finden. Dennoch wird der Unterrichtende gut daran tun, einen ausgewählten Pool an Fundstellen zur Verfügung zu stellen. Dabei soll aber die nötige didaktische Reduktion dem forschenden Lernen nicht entgegenstehen. Die Arbeitsblätter „Verschlüsselung von Namen und Wörtern“ und „Zahlensymbole“ sowie „Der verschlüsselte Name des Komponisten in der ,Matthäuspassion’?“ und „Zahlensymbolik in Bachs ,Matthäuspassion’?“ auf der Heft-DVD vermeiden daher einengende (W-) Fragen und bieten Impulse zum eigenen Nachdenken. Es ist didaktisch sinnvoll, die SchülerInnen erst auf einige Zahlen stoßen und sie diese dann in einer Partitur (hier in der Matthäuspassion) entdecken zu lassen (die Zahlen lassen sich am besten in den Noten entdecken; danach bietet es sich an, die dazugehörigen Hörbeispiele 13-19 vorzustel-

len). Ist nun eine Zahl entdeckt, sollte überlegt werden, für welches Symbol in der Wort-TonBeziehung diese oder jene Zahl steht. Besonders in Gruppenarbeit finden die SchülerInnen gemeinsam viele Zahlen und Bedeutungen (manchmal mehr als die Lehrkraft). So ist etwa das Zahlenalphabet eine sehr interessante Möglichkeit, Zahlen zu entdecken. Den 26 Buchstaben des Alphabets werden die Zahlen 1 bis 24 zugeordnet (I + J = 9 und U + V = 20). So kann ein Wort durch eine Zahl verschlüsselt werden, indem die einzelnen Zahlen der jeweiligen Buchstaben addiert werden (= Quersumme) (s. Arbeitsblatt „Verschlüsselung von Namen und Wörtern“). Während die SchülerInnen hier tendenziell eher skeptisch sind, ob Bach tatsächlich intendiert haben mag, seinen eigenen Namen zu verewigen (die Zahl 14 steht für BACH, die Zahl 41 für J. S. BACH), haben sie andererseits auch Spaß an diesen Namenszahlen. Eine solche Geheimschrift kennen sie vielleicht noch aus den selbst verschlüsselten Geheimbriefen und Namen in ihrer Kindheit (heute ist es eher das Geburtsdatum in der E-Mail-Adresse oder auf dem Kfz-Kennzeichen). Die Zahl Elf: Circulus vitiosus Auf Zahlen stößt man in der Matthäuspassion häufig durch das Abzählen gleicher oder verschiedener Töne eines bestimmten Abschnitts oder durch die Addition besonderer Wort- oder Satzwiederholungen sowie der Gesamttaktzahlen. In Bachs Matthäuspassion spielt die Zahl 11

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eine besondere Rolle. Auch unseren Alltag durchdringt sie als Symbol häufig, beispielsweise als närrisches Datum 11. 11., 11.11 Uhr, als kleinste Schnapszahl oder auch beim Fußball (FußballElf, Elfmeter). Im Christentum codiert sie numerologisch die Sünde, die Gefahr, die Übertretung. Die Zehn gilt als die vollkommene Zahl, sie ist das Gesetz. Die Elf hingegen symbolisiert dessen Überschreitung. Da sie auffällig oft in Bachs Matthäuspassion zu finden ist – sie steht häufig für die 11 Jünger (die 12 Apostel ohne den Verräter) –, sind die SchülerInnen nach einiger Zeit überzeugt, dass die in der Komposition versteckte Zahl 11 kein Zufall, sondern von Bach intendiert ist. So könnte die Stunde enden. Besser im Hinblick auf die zu erwerbende Kompetenz wäre es allerdings, die inzwischen überzeugten SchülerInnen erneut zu irritieren (die Konstruktivisten würden sagen „zu perturbieren“), indem ihnen wieder als stummer Impuls ein Auszug aus dem Buch Alles Zufall (2004) des Zufallsforschers Stefan Klein zur Gehör gebracht wird (der Audio-Impuls hat an dieser Stelle einen höheren Effekt als das Lesen des Auszugs, s. HB 20 und Arbeitsblatt „Vorsehung oder Zufall?“). Das Hören des Beitrags kann das vorläufige Ergebnis (= kein Zufall) erneut ins Wanken bringen und erinnert an den hochbegabten MathematikProfessor John Forbes Nash im US-amerikanischen Kinofilm A Beautiful Mind (2001), dessen Schizophrenie sich in der wahnhaften Wahrnehmung vermeintlicher Zahlen- und Buchstabenkombinationen äußert. Die Gefahr der Sinnsucht müsste ebenfalls in das begründete Urteil einfließen.

historischer kontext Zu eruieren wäre noch, ob sich Johann Sebastian Bach selbst zu dieserart Zahlensymbolik geäußert hat. Obgleich einige wenige Quellen vorliegen, die zeigen, wie wenig Bach bei seinen Kompositionen etwas dem Zufall überließ und seine Komposition durch ihre (kosmische) Ordnung zugleich immer auch Ausdruck von tief empfundener Religiosität war, äußerte er sich zu den Zahlen selbst nicht. Allerdings wissen wir von seiner Mitgliedschaft in der Leipziger Correspondierenden Societät der musikalischen Wissenschaften, in welcher die Mitglieder den Zahlen frönten (s. Arbeitsblatt „Bachs Porträt“, auch auf der Heft-DVD). Auch Bach lieferte bei seinem Beitritt – er war das 14. Mitglied! – eine wissenschaftliche Arbeit sowie ein Porträt ab, das bekannte Porträt Elias Gottlieb Hausmanns. Auf ihm hält Bach seinen sechsstimmigen Rätselkanon (!) in der Hand und trägt eine Weste, die mit 14 (!) Knöpfen besetzt ist (ältere Darstellungen zeigen häufig noch ein beschnittenes Porträt, bei dem nicht alle 14 Knöpfe zu sehen sind). Die Platzierung der Knöpfe ist links so gestaltet, dass die Buchstaben J und S zu erkennen sind. Dieser Kontext spricht nun sehr gegen den Zufall von Zahlensymbolik in den Passionen Bachs und lässt vermuten, dass Bach auch einen gewissen Spaß daran gehabt haben könnte, die Zahlen geschickt zu verstecken, ohne den Sozietätsmitgliedern und seiner Nachwelt die geheimen Symbole direkt zu verraten.

lernziele und kompetenzen Die SchülerInnen lernen also nicht nur zahlreiche Zahlensymbole in Johann Sebastian Bachs Werken durch die musikalische Analyse kennen. Vielmehr ist dieses Lernziel Nebenprodukt der übergeordneten Fragestellung. Die Zahlen sind sicherlich kein Zufall in den Werken Bachs – das alles ist wahr! Gleichzeitig wird der Rezipient auf der Hut sein müssen, nicht überzuinterpretieren und an den Zahlen irre zu werden. Die nachhaltige Kompetenz besteht in einer allgemeinen kritischen Haltung, die mit dem Einerseits und dem Andererseits zu einem differenzierten Urteil führt. Wer so fragen und sich orientieren lernt und sich dabei Methoden- und Sachwissen aneignet, der erwirbt die Kompetenz „historischen Denkens“. 1 Hans Heinrich Eggebrecht: „Wissenschaft als Schule“, in: Rudolf Stephan (Hg.): Schulfach Musik. Elf Beiträge zum Thema Ausbildung von Musiklehrern (= Veröffentlichungen des Instituts für Musik und Musikerziehung Darmstadt, Bd. 16), Mainz 1976, S. 27 ff. 2 Für die theoretische Grundlegung s. Alexander J. Cvetko und Andreas Lehmann-Wermser: „Historisches Denken im Musikunterricht. Zum Potenzial eines geschichtsdidaktischen Modells für die Musikdidaktik“ (in Vorbereitung); Waltraud Schreiber et al.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell (= Kompetenzen: Grundlagen, Entwicklung, Förderung, Bd. 1), Neuried 2006; Andreas Körber et al.: Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik (= Kompetenzen: Grundlagen, Entwicklung, Förderung, Bd. 2), Neuried 2007. 3 Für weiterführende Literatur, speziell zur Zahlensymbolik in der Matthäus-Passion s. Literaturhinweise auf der Heft-DVD.

Notenbeispiele aus: J. S. Bach: Matthäus-Passion BWV 244, Studienpartitur, Edition Eulenburg 953, London und Mainz 2011

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Verschlüsselung von Namen und Wörtern Mit dem lateinischen Zahlenalphabet können Namen und Wörter ausgedrückt und verschlüsselt werden: Jedem Buchstaben des Alphabets wird eine Zahl zugeordnet (die Buchstaben I und J sowie U und V werden dabei zusammengefasst). Zur Verschlüsselung eines Worts werden nun die Zahlen der jeweiligen Buchstaben addiert.

das zahlenalphabet A

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Welche Zahlen stehen für:

BACH = J. S. BACH =

verschlüsselte namen in kompositionen? Hat Johann Sebastian Bach seinen eigenen Namen als Zahl verschlüsselt und in seinen Werken verarbeitet? Beispiele für Vertonungstechniken, mit denen das möglich wäre: In der Anzahl direkt aufeinanderfolgender gleicher Töne einer Stimme in einem besonderen Abschnitt verbirgt sich ein Zahlensymbol. In der Anzahl der Töne (oder Silben bei syllabischer Vertonung [= pro Ton eine Silbe]) einer oder zweier Stimmen in einem besonderen Abschnitt verbirgt sich ein Zahlensymbol.

der verschlüsselte name des komponisten in der „matthäuspassion“? Ausgewählte Stellen in Bachs Matthäuspassion (1729), in denen Zahlen gedeutet werden könnten:

Nr. 1 Nr. 52 Nr. 59 Nr. 64 Nr. 73

„Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen“ (Eulenburg Studienpartitur Nr. 953, S. 1-3: Der Chor beginnt mit einer eintönigen Repetition der Basso-Continuo-Stimme [Orgelpunkt].) „Sie hielten aber einen Rat, und kauften einen Töpfers-Acker“ (ebd., S. 208-210: Basso-Continuo-Stimme) „Sie schrieen aber noch mehr, und sprachen“, T. 36 ff. (ebd., S. 236: s. Notenbeispiel) „Und da sie ihn verspottet hatten“ (ebd., S. 247: Basso-Continuo-Stimme bis zum Wort „kreuzigten“ [einschließlich 1. Zählzeit des nächsten Takts]) „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß“ (ebd., S. 285: Chor I.II ab Takt 19 ff. beim [verspätet einsetzenden!] Bass bis zum Wort „gewesen“)

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Nr. 59

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Zahlensymbole Folgende Bibelstellen geben Hinweise auf symbolische Zahlen. Welche Zahlen sind gemeint? „Darum gehet hin und lehret alle Völker und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.“ (Matthäus 28, 19) „Da ging hin der Zwölf einer, mit Namen Judas Ischariot, zu den Hohenpriestern und sprach: […] Ich will ihn euch verraten.“ (Matthäus 26,14 f.) Hinweis: Das dem 10. Gebot folgende steht symbolisch für die Überschreitung der Gebote. „Und Jesus war, da er anfing [für Gott zu wirken], ungefähr dreißig Jahre alt.“ (Lukas 3, 23) Hinweis: Bis zu seinem Tod blieben ihm noch drei Jahre.

zahlensymbole in kompositionen? Hat Johann Sebastian Bach in seinen Kompositionen symbolische Zahlen verwendet, um damit bestimmte Bedeutungen auszudrücken? Beispiele für Vertonungstechniken, mit denen Bach symbolische Zahlen in der Komposition verarbeitet haben könnte: In der Anzahl der Töne (oder Silben bei syllabischer Vertonung [= pro Ton eine Silbe]) einer Stimme in einem besonderen Abschnitt verbirgt sich ein Zahlensymbol. In der Anzahl der Takte eines musikalischen Satzes verbirgt sich ein Zahlensymbol. In der Anzahl besonderer Wort- oder Satzwiederholungen verbirgt sich ein Zahlensymbol.

zahlensymbolik in bachs „matthäuspassion“? Ausgewählte Stellen in Bachs Matthäuspassion (1729), in denen Zahlen gedeutet werden könnten:

Nr. 7 Nr. 15 Nr. 35 Nr. 36

„Wozu dienet dieser Unrat“ (Eulenburg Studienpartitur Nr. 953, S. 40 f.: Chor) „Gehet in die Stadt zu Einem“ (ebd., S. 58: s. Notenbeispiel) „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ (ebd., S. 127-155: Choral) „Ach, nun ist mein Jesu hin“ (ebd., S. 156: Aria: BassoContinuo-Stimme [Organo e Continuo] bis zum Alt-Einsatz)

Nr. 42 Nr. 49 Nr. 55 Nr. 59

„Und der Hohepriester antwortete, und sprach zu ihm“ (ebd., S. 174: Der Hohepriester [Pontifex] ab Takt 15 ff.) „Des Morgens aber hielten alle Hohepriester“ (ebd., S. 193: Der Evangelist bis zu „töteten“) „Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe“ (ebd., S. 218: Choral) „Sie schrieen aber noch mehr, und sprachen“ (ebd., S. 236: Evangelist ab Takt 36 ff.)

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Nr. 15

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Bachs Porträt aus einer musikgeschichte der stadt leipzig:

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Wo große schaffende Künstler wirken, pflegt gern sich auch die Kunsttheorie niederzulassen. Neben [vielen] steht im Leipzig des Johann Sebastian Bach als […] theoretischer Kopf Lorenz Christoph Mizler (1711-1778). […] Und da nach der Ansicht seiner Zeit nur die Mathematik die sicherste, untrüglichste Wahrheit lieferte, so verfocht Mizler zeitlebens die These, daß Musik nur dann völlig zu begreifen sei, wenn sie mit den Mitteln der Mathematik begründet [… ] wird. […] Mizler aber dehnte die Befugnisse der Mathematik auch auf das Künstlerische aus. […] Es müsse möglich sein, eine geniale Leistung […] rechnerisch zu beweisen. […] Er erneuerte damit älteres [antikes] und neueres [barockes] Gedankengut.* […] So scheint Mizler vor allem durch Leibniz’ berühmtes Wort von der Musik als „unbewußter Rechenübung der Seele“ zu seinen Theorien bestimmt worden zu sein.** […] Mizler selbst war nach Hannover gefahren und hatte dort Leibnizsche Manuskripte studiert […] Er gründete eine wissenschaftliche Gesellschaft, […] die „Societät der musikalischen Wissenschaften“ mit dem Sitz in Leipzig.

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Neben namhaften anderen Komponisten der Zeit wurde Johann Sebastian Bach 1746 Mitglied dieser (altmodischen) Gesellschaft, wofür er als besonderen Beweis seiner theoretischen Geschicklichkeit einen Beitrag im Sinne musikalischer Mathematik sowie ein Porträt abgeben musste. Bach kombinierte beides, indem er auf dem Bild einen Rätselkanon in der Hand hält. Aus: Arnold Schering: Musikgeschichte Leipzigs, Bd. 3: Johann Sebastian Bach und das Musikleben Leipzigs im 18. Jahrhundert. Der Musikgeschichte Leipzigs Dritter Band von 1723 bis 1800 (= Geschichte des geistigen Lebens in Leipzig), Neudruck der Originalausgabe Leipzig 1941: Leipzig [DDR] 1974, S. 193 ff.

Elias Gottlob Haußmann: Porträt von Johann Sebastian Bach, 1746

* Mizler, Bach und andere Zeitgenossen kannten z. B. die „Paradoxal-Discoursen“ von Andreas Werckmeister (1645-1706), der als Organist und Musiktheoretiker die Anwendung biblischer Zahlensymbolik in der Musik, besonders für das Stimmen von Instrumenten, gelehrt hat. ** Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) schrieb nämlich in einem Brief am 27. April 1712: „Musica est exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi“ („Musik ist eine verborgene Übung der Arithmetik des unbewusst zählenden Geistes“).

Vorsehung oder Zufall?

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Nehmen wir zum Beispiel das wiederholte Auftauchen der Zahl 11 im Umkreis der Anschläge des 11. September 2001: 11 ist die Quersumme des Datums 11. 9. (9 plus 1 plus 1 [= 11]), des 254. Tages im Jahr (2 plus 5 plus 4 [= 11]). Der Flug American Airline 11 traf die Türme des World Trade Center als erster, 92 Passagiere waren an Bord (9 plus 2 [= 11]); in der zweiten Maschine, die in die Hochhäuser raste, saßen 65 Menschen (6 plus 5 [= 11]). Die Begriffe „New York City“ und „Afghanistan“, wo Osama bin Laden sich versteckte, haben jeweils 11 Buchstaben – „George W. Buch“ übrigens auch. Und hatten die Twin Towers nicht die Silhouette einer 11? Das alles ist wahr, doch beweist es allenfalls, dass wir genug Daten haben, um damit zu jonglieren. Über je mehr Informationen wir

verfügen, desto mehr Möglichkeiten haben wir, sonderbare Koinzidenzen zu entdecken. […] Heute überschütten uns Fernsehen und Internet mit einer solchen Fülle von Meldungen, dass wir zwischen ihnen fast nach Belieben Verbindungen heraustellen können. […] Verschwörungstheorien [erfreuen sich] besonderer Beliebtheit, wenn sie sich um Ereignisse drehen, die viele Menschen aufgewühlt haben […] Wie bei den Zahlen um den 11. September ist jede einzelne Information richtig, aber nicht geeignet, um Schlüsse daraus zu ziehen.

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Aus: Stefan Klein: Alles Zufall. Die Kraft, die unser Leben bestimmt, Reinbek bei Hamburg 2004, S. 210 f.