Inklusive Bildung erfordert inklusives Denken!

Inklusive Bildung erfordert inklusives Denken! Beitrag der ICF ICF-Tagung 2016 - 9. Juni 2016 Prof. Dr. Judith Hollenweger Lagerstrasse 2 8090 Züric...
Author: Nadine Günther
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Inklusive Bildung erfordert inklusives Denken! Beitrag der ICF

ICF-Tagung 2016 - 9. Juni 2016 Prof. Dr. Judith Hollenweger

Lagerstrasse 2 8090 Zürich phzh.ch

Bildung und die ICF

Was ist «Bildung» in der ICF? Bildung als bedeutender Lebensbereich 1. Kapitel Aktivitäten und Partizipation: «Lernen und Wissensanwendung» 8. Kapitel Aktivitäten und Partizipation: «Erziehung/Bildung» Bildung als Umweltfaktor 5. Kapitel Umweltfaktoren: «Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze des Bildungs- und Ausbildungswesens» Bildung als personbezogener Faktor «Spezieller Hintergrund des Lebens und der Lebensführung, (…) Erziehung, (…) sozialer Hintergrund, Bildung und Ausbildung» 3

9. Juni 2016 | Inklusive Bildung erfordert inklusives Denken | Judith Hollenweger

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Was ist wichtig für Inklusive Bildung? Bildung nicht bloss Partizipation, sondern vor allem Transformation «Bildung ist ein offener, lebenslanger und aktiv gestalteter Entwicklungsprozess des Menschen» (Lehrplan 21) Bildungssystem ist nicht bloss Umwelt, sondern strukturiert Bildung Ökosystem – Strukturierung sozialer Räume (Mikro-, Meso- und Makroebene) Chronosystem – Strukturierung der Abfolge und Veränderung sozialer Räume Bildung ist nicht bloss Eigenschaft der Person, sondern auch Befähigung «Functionings» – Fähigkeiten oder was eine Person erreicht hat «Capabilities» – Verwirklichungschancen oder Handlungsmöglichkeiten einer Person 4

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«Marshmallow-Test Revisted» (Kidd, Palmeri & Aslin 2012) Was ist «Impulsivität» bei Kindern?

Zeichnungssituation wird vor dem eigentlichen Marshmallow-Test durchgeführt: Dem Kind wird gesagt, dass die Testleiterin noch viel schönere Stifte hat und sie diese nun holen geht.

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Zwei Experimentalgruppen: «verlässlich» – «unverlässlich»

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Ergebnisse und Folgerungen Die Kinder in Gruppe «verlässlich» warteten durchschnittlich 12 Minuten, bis sie das Marshmallow assen, im Vergleich zu 4 Minuten in Gruppe «unverlässlich» Das Warteverhalten im Marshmallow-Test wird beeinflusst durch die Erfahrungen im Vorexperiment Das Erleben von Unverlässlichkeit der Interaktionspartner interagiert mit Fähigkeit zu Selbstkontrolle 7

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Was die ICF kartographiert – und was nicht Lebenswelt und Lebenszeit Umweltfaktoren und Partizipation zur Erfassung von Lebenswelten und Lebenssituationen Stabilität der Funktionsfähigkeit wird fokussiert, nicht Veränderung Person und System Einheiten der Klassifikation in der ICF sind keine Personen, sondern Situationen Funktionsfähigkeit und Behinderung von Personen wird fokussiert, nicht von Systemen Handlung und Subjekt ICF orientiert sich an Aufgaben und Handlungen in Lebensbereichen, nicht am Subjekt Funktionsfähigkeit ist auf «Können» fokussiert, nicht auf «Wissen» oder «Wollen» 8

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Was braucht es zur Kartographierung von «Inklusiver Bildung»? Fokus auf Veränderungen der Lebenswelten und der Partizipation Ohne das, können wir die Bildungsprozesse von Personen nicht erfassen  Entwicklungsperspektive Fokus auf Wechselwirkungen zwischen Personen und Systemen Ohne das, können wir die Wirkung von Interaktionen auf Personen nicht erfassen  Beziehungsperspektive Fokus auf Subjekt als Erkenntnisperson beim Handeln Ohne das, können wir die Aktivierung und Nutzung von Fähigkeiten nicht erfassen  Kompetenzperspektive 9

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Die Landkarte ist nicht die Landschaft Genuesische Weltkarte 1457

Londoner Psalter um 1260 10

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ICF im Kontext von Entwicklung

Fokus auf Funktionsfähigkeit Inklusive Bildung holt die Kinder dort ab, wo sie sind Kennen der Voraussetzungen von Partizipation und Lernen Verstehen von Veränderungsprozessen und wie sie unterstützt werden können Wie die ICF dabei helfen kann  Bio-psycho-soziales Verständnis von Funktionsfähigkeit und Behinderung  Funktionsfähigkeit in Abhängigkeit von Umweltbedingungen darstellbar  Zusammenwirken der Funktionsfähigkeit in Abhängigkeit vom Lebensalter / Entwicklungsstand erfassbar – auch quer durch Funktionsbereiche Herausforderung: «Gesundheitsproblem»

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ICF-Modell als Grundlage

Gesundheitsproblem

Körperfunktionen und -strukturen

Aktivitäten

Umweltfaktoren 13

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Partizipation

personbezogene Faktoren phzh.ch

Gesundheitsproblem - wenig hilfreiche Orientierung Funktionseinschränkungen stehen am Anfang, nicht Krankheiten! – Diagnosen basieren auf medizinischem «Verstehen» und «Beurteilen» – Kategoriale Verdichtungen blenden wichtige Informationen aus – Beim «Verstehen» von Problemen im Kontext «Bildung» sollte man anders vorgehen können (Orientierung an Partizipation) Funktionseinschränkungen verändern sich während Entwicklung – Einschränkungen zeigen sich entlang der Entwicklungsaufgaben – Ungewissheit, was Eigenschaft (Trait) und was Zustand (State) ist – Umwelt hat einen strukturierenden Einfluss auf spätere Funktionsfähigkeit – Bildung setzt an, bevor Funktionseinschränkungen als «Behinderungen» gelten 14

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Offenes Erkunden von Funktionsfähigkeit und Behinderung über ganzen Verlauf der Kindheit Erforschen von Funktionsfähigkeit in Entwicklung Kleinkinder mit Autismus interessieren sich weniger für die menschliche Stimme, weil ihr Gehirn dabei kein Dopamin ausschüttet. Die Sprachregionen im Gehirn sind schlecht verbunden mit Regionen, die der Regulation von Emotionen dienen. Gehörlose Kinder im Primarschulalter haben grössere Schwierigkeiten als andere Kinder, zwischen Traurigkeit und Wut zu unterscheiden sowie ihre eigenen Gefühle zu regulieren. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sie bei hörenden Eltern und Geschwister aufwachsen. Kinder mit Dyslexie können komplexe räumliche Informationen gut gleichzeitig verarbeiten, haben aber Mühe mit seriellem Lernen / Reihenfolgen / Sequenzen

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ICF im Kontext von Beziehungen

Fokus auf Situation Inklusive Bildung will alle Kinder beteiligen Verstehen von Lebenssituationen zur Entfernung von Barrieren für Partizipation und Lernen Das Kind und Umfeld stärken und fördern zur besseren Bewältigung von Lebenssituationen Wie die ICF dabei helfen kann:  Eingebundensein in Lebenssituationen kann erfasst und beschrieben werden  Konzept «Partizipation» bringt Person und System zusammen – wenigstens theoretisch – Funktionsfähigkeit und Behinderung können kontextualisiert und situiert werden, aber dazu muss noch etwas geleistet werden

Herausforderung: «Personbezogene Faktoren» 17

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Modell zur Kontextualisierung von Funktionsfähigkeit

Wer? Subjekt der Handlung Was? Gegenstand der Handlung Wozu? Ergebnis und Folgen Wie? Werkzeuge, Hilfsmittel, Strategien Wo? Sozialer und physischer Kontext

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Erweiterte Definition von «Partizipation» im Sinne von «Beteiligung» Involviert sein …  Verhaltensmässig (positives Benehmen, Lösen von Aufgaben, Ausüben schulischer Aktivitäten) «Erfahren von Kompetenz»  Emotional (affektive Reaktionen wie Interesse, Freude; Identifikation mit Lehrperson und Mitschüler/innen) «Erfahren von sozialer Eingebundenheit»  Kognitiv (Selbstregulierung, Flexibilität beim Problemlösen, Coping Strategien) «Erfahren von Autonomie» … in typische Routinen in typischen Settings… (Abfolgen verschiedener Aktivitäten, die eine Lebenssituation ausmachen) … die ausgerichtet sind auf persönlich oder sozial bedeutsame Ziele. (Was muss ein Mensch können, um am Leben zu partizipieren?) 19

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Partizipation respektive Beteiligung situativ verstehen in typische Routinen

Involviert sein

bedeutsame Ziele

in typischen Settings 20

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Situatives Verständnis von Funktionsfähigkeit und Behinderung Was «Intelligenz» in der ICF?

Körperfunktion? Aktivität? Partizipation? Personbezogener Faktor? Antwort ist abhängig vom «Was» und «Wozu»

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Beispiel «Schreiben» - Zweck und Funktion bestimmen Struktur der Aktivität Lernen und Wissensanwendung? Kommunikation? Schreiben

Beziehung? Häusliches Leben? Arbeit und Beschäftigung?

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Warum Funktionsprofile in Bildungskontexten nicht genügen Zusammenspiel der Funktionsfähigkeit situativ – Je nach Situation sind unterschiedliche Aspekte der Funktionsfähigkeit relevant – Je nach Situation spielen diese unterschiedlich zusammen Mitberücksichtigung der Bedingungen zur Ausführung von Handlungen – Innere Bedingungen: Welche werden aktiviert? – Äussere Bedingungen: Welche werden wirksam? Perspektivität von Situationen – Problem der personbezogenen Faktoren lässt sich nur situativ auflösen (z.B. Funktionen des Temperaments vs. allgemeine Verhaltensmuster und Charakter) – Subjektivität muss im Sinne einer Perspektivität akzeptiert werden 23

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ICF im Kontext von Kompetenzen

Fokus auf Kompetenzen Inklusive Bildung will Kinder befähigen Hindernisse des Lernens aus dem Weg räumen Unsere eigene Perspektiven und Erwartungen kritisch hinterfragen Wie die ICF dabei helfen kann:  Passung zwischen Voraussetzung, gegenwärtigen Bedingungen und Zielen  Situation des Kindes verstehen in Bezug auf unterschiedliche Lebensaufgaben  Erwartungen aller beteiligten Personen sichtbar machen  Interventionen auf verschiedenen Ebenen planen und koordinieren

Herausforderung: «Aktivitäten – Partizipation» vs. «Leistungsfähigkeit – Leistung» 25

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Partizipation und Aktivität

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Modell zu einem Ordnungsvorschlag

Tätigkeiten  Motive oder Zweck Aktivitäten  Ziele oder Funktionen

Lebenssituationen, in denen kompetent gehandelt wird Aktivitäten und Aufgaben, die ausgeführt werden

Operationen  Bedingungen 27

Lebensräume, in denen ein gutes Leben geführt wird

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Zeit

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Verständigungsprobleme durch unterschiedliche Orientierung an diesen Ebenen Leben als das Erleben einer kohärenten und erfüllenden Gesamtheit der verschiedenen Tätigkeiten  Sorgen der Eltern oft auf dieser Ebene Tätigkeiten: an Motive geknüpftes Verhalten, das auf einen bestimmbaren Zweck gerichtet ist  Kinder müssen Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeiten erfahren Aktivitäten: an Ziele geknüpftes Verhalten, das deshalb relevant ist  Fokus häufig von Lehrpersonen und Ergotherapeutinnen, die darauf achten wie Kinder Aufgaben lösen oder Handlungen ausführen können Operationen: an Bedingungen geknüpfte, reflexartig oder automatisch ausgeführt; „Verhalten“ im Sinne des instrumentellen Konditionierens  Fokus von Fachpersonen mit klinischem Hintergrund (Verhaltenstherapeuten, Physiotherapeutinnen, Reha-Mediziner) 28

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Operationen Werkzeuge, Hilfsmittel

Relevante Aspekte der Funktionsfähigkeit

Analyse auf Ebene von Operationen • Stimm- und Sprechfunktionen • Motorische Koordination • Auf sozialen Stimulus reagieren

Operation beschreiben

Kind

Ergebnis beschreiben

Schwerpunkt auf konkreten Hilfsmitteln und Umweltanpassungen Umweltbedingungen beschreiben

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Optimierung der Ausübung durch gezielte Therapie phzh.ch

Aktivitäten Art und Mittel der Ausführung beschreiben

Relevante Aspekte der Funktionsfähigkeit

Aktivität beschreiben

Kind

Kontext der Aktivität beschreiben

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Analyse auf Ebene einzelner Handlungen: • Sich ankleiden • Schreiben im Unterricht • Eine fremde Person begrüssen

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Ergebnis beschreiben

Schwerpunkt auf Ausführung von Handlungen unter Anwendung von Strategien oder Verwendung von Hilfsmitteln in erleichternder respektive erschwerenden Umwelt phzh.ch

Tätigkeiten Strategien und Hilfsmittel

Relevante Aspekte der Funktionsfähigkeit

Lebensbereich aus der ICF

Kind

Unterstützung und Umweltanpassungen 31

Analyse auf Ebene von Handlungsabfolgen, Routinen: • Interpersonelle Interaktion und Beziehungen • Kommunikation • Lernen und Wissensanwendung

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Kompetenzerwartung

Schwerpunkt auf situativ variable Kompetenzen beim Problemlösen in bestimmten Lebenssituationen

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Inklusives Denken entwickeln

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Denk- und Planungshorizonte definieren und miteinander verbinden Bildung SAV Kompetenz SSG

Leistung FP

Lebenssituationen, in denen kompetent gehandelt wird

Lebensräume, in denen ein gutes Leben geführt wird

Aktivitäten und Aufgaben, die ausgeführt werden Zeit 33

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Kompatible Instrumente «Fit for Purpose» entwickeln SAV

Fragestellung, Problem messen, sammeln

kontrollieren, evaluieren

analysieren, verstehen

SSG planen, entscheiden

handeln, implementieren

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FP

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Systematisches Wissen zur Navigation zwischen den vier Perspektiven aufbauen Gesundheit

Kompetenzen Beobachtung

Partizipation Testergebnis

Interviewdaten

Beobachtung

Beziehungen Entwicklung 35

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Emergenz ermöglichen Modelle für gemeinsames Problemlösen entwickeln

Fragestellung, Situation messen, sammeln

Wahrnehmungs-, Verstehens-. und Planungsmuster auf ihre situative Angemessenheit prüfen Bei der Konstruktion intersubjektiver Realität die von den handelnden Personen wahrgenommene Wirklichkeit berücksichtigen 36

9. Juni 2016 | Inklusive Bildung erfordert inklusives Denken | Judith Hollenweger

kontrollieren, evaluieren

handeln, implementieren

analysieren, verstehen

planen, entscheiden

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Danke fürs Zuhören und Mitdenken!