Inklusion und Behinderung

Inklusion und Behinderung  Inklusion ist ein neuer gesellschaftlicher Ansatz, dem sich Deutschland seit Unterzeichnung der UN‐ Behindertenrechtskonven...
Author: Hella Falk
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Inklusion und Behinderung  Inklusion ist ein neuer gesellschaftlicher Ansatz, dem sich Deutschland seit Unterzeichnung der UN‐ Behindertenrechtskonvention (UN‐BRK) 2006 unterworfen hat. Es geht dabei um die Umsetzung von  gesellschaftlicher Teilhabe, um die Sicherung von Rechten und um ein Verständnis von Mensch‐Sein,  wie es im Grundgesetz Art. 2 (1) ausgedrückt ist „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner  Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige  Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“.   Es geht also um jeden Einzelnen und gleichzeitig um alle, um die Gesellschaft.   Die UN‐BRK Konvention ist eine unter anderen Konventionen, welche die UN formuliert hat.  Konventionen sind Vereinbarungen zwischen verschiedenen Parteien, die aufgrund eines Konsenses  über eine bestimmte Angelegenheit geschlossen werden. Die UN‐BRK wurde bislang von 153 Ländern  unterzeichnet; sie alle bezeugen durch ihre Unterschrift ihren Willen, bislang bestehende  Ungerechtigkeiten in der Umsetzung von Teilhabe behinderter Menschen an allen Belangen der  Gesellschaft abzubauen und eine Gesellschaft für alle aufzubauen.  Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten leben mit Beeinträchtigungen  verschiedenster Art. Sie müssen oft viel Phantasie und Kreativität aufbringen,  um trotz dieser  erschwerenden Umstände ein erfülltes Leben führen zu können. Vor Inkrafttreten der UN‐BRK (und  teilweise auch noch heute) galt das System des versorgenden Staates und des empfangenden  Hilfesuchenden. Der beeinträchtigte Mensch musste eine Diagnose haben und seine Behinderung  amtlich machen, indem er einen Grad der Behinderung offiziell feststellen ließ. Somit hatte er  Anspruch auf Hilfen, die ihm gewährt wurden (oder auch nicht). Anträge auf Versorgung,  Heilmittelgewährung oder auch Heimunterbringung wurden gestellt und je nach Gesetzeslage  wurden diese genehmigt oder nicht. Immer jedoch handelte es sich nicht um die Anfrage eines  Bittstellers und die Gewährung einer Zuwendung.   Die UN‐BRK lässt diese ungleiche Beziehung verschwinden. Beeinträchtigte Menschen sind keine  Bittsteller mehr, sondern ihnen wird alles das, was ihnen zur gleichberechtigten Teilhabe in der  Gesellschaft fehlt, zur Verfügung gestellt. Damit ändert sich das Beziehungsniveau. Der Begriff  „verfügen“ hat seine Wurzeln im Mittelhochdeutschen „vervüegen“ und im Mittelniederdeutschen  „vervögen“, was sowohl  „passen, anstehen“, als auch „veranlassen“, bzw. „einrichten“ bedeutet.  Derjenige, der etwas verfügt, veranlasst etwas, er sucht etwas, das ihm ansteht, das zu ihm passt. Er  ist der Agierende, der Machende, nicht mehr der Staat. Dieser muss nun re‐agieren, hat  bereitzustellen, was dem Verfügendem fehlt.     Natürlich geht das nicht von heute auf morgen. Grundlegende Änderungen müssen auf allen Ebenen  in Angriff genommen werden. Es geht um einen gesamtgesellschaftlichen Richtungswechsel in der  Einstellung und Wahrnehmung der Menschen, um neue privat‐ und städtebauliche Überlegungen  und Umsetzungen, um Abbau von Barrieren jeglicher Art. Teilhabe eines jeden Menschen an allen  Belangen von Freizeit, Bildung, Arbeit und Wohnen sollen ermöglicht werden. Inklusion soll  entstehen.  Eltern sind mehrheitlich am Bildungsaspekt  der UN‐BRK interessiert. In Artikel 24 (2) heißt es 

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„Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass a)

Menschen mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und dass Kinder mit Behinderungen nicht aufgrund von Behinderung vom unentgeltlichen und obligatorischen Grundschulunterricht oder vom Besuch weiterführender Schulen ausgeschlossen werden;“

b)

Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen [inklusiven], hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben;

Niemand wird diesen Forderungen widersprechen. Dennoch scheiden sich an ihrer Deutung und  Realisierung die Geister. Ist mit dem „allgemeinen Bildungssystem“ eine Schule für alle gemeint, d. h.  sollen alle Kinder, egal mit welcher Beeinträchtigung sie zu kämpfen haben, in den ihnen  altersgerecht zustehenden Klassen unterrichtet werden, unabhängig vom Grad und der Art der  Behinderung? Oder beinhaltet der Begriff „Bildungssystem“ eine Vielzahl nebeneinander  bestehender Schulformen, in denen Bildung vermittelt wird, allerdings unter besonderer  Berücksichtigung der jeweiligen Beeinträchtigung? Bedeutet „Zugang zu einem inklusiven …  Unterricht …“ dass allen Kindern, ihren Fähig‐ und Möglichkeiten angepasst, Bildung erhalten sollen  und diese so hochwertig wie möglich oder bedeutet es, dass es nur einen Zugang zur Bildung für alle  geben soll?  In der UN BRK heißt es weiter:  („Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass) c)

angemessene Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen getroffen werden;

Was bedeutet hier „angemessen“? Und was sind die Bedürfnisse des Einzelnen? Bedürfnisse von  Kindern und Eltern müssen nicht unbedingt deckungsgleich sein. Das Grundgesetz bestätigt in § 6 (2)  das natürliche Recht der Eltern auf Pflege und Erziehung der Kinder. In Artikel 5 der  Kinderrechtskonvention, einer weiteren UN‐Konvention, die 1992 für Deutschland in Kraft getreten  ist, wird betont, dass die Rechte und Pflichten der Eltern die Leitung und Führung kindlichen   Entwicklung beinhaltet. Aber werden beeinträchtigte Kinder besser in einer Spezialeinrichtung  gefördert oder in einer Regelschule? Und sind die Bedürfnisse der Eltern nach bestmöglicher Bildung  der Kinder deckungsgleich mit den eventuell bestehenden Bedürfnissen der Kinder nach der  Teilnahme an der Peergruppe? Ist das Bedürfnis der Eltern, ein lernbehindertes Kind in einer  speziellen Schule unterzubringen mit dem Wunsch des Kindes vereinbar, dahin zu gehen, wo alle  anderen Spielkamraden hingehen, nämlich in die Regelschule? Oder ist der Wunsch der Eltern ihr  beeinträchtigtes Kind in eine Regelschule zu schicken mit dem Wunsch des Kindes nach  Unauffälligkeit, nach Gleicher unter Gleichen sein, vereinbar?  Der nächste Punkt der UN BRK macht die Sache noch komplizierter:  („Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass)

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d) Menschen mit Behinderungen innerhalb des allgemeinen Bildungssystems die notwendige Unterstützung geleistet wird, um ihre erfolgreiche Bildung zu erleichtern;

Der Begriff „System“ geht auf das griechische „sýstema“ zurück und bedeutet „das aus mehreren  Teilen zusammengesetzte und gegliederte Ganze“.  Das Bildungssystem ist demnach ein aus  mehreren Bildungseinheiten zusammengesetztes und gegliedertes Ganzes. In allen seinen Einheiten  wird Bildung vermittelt, die allen Kindern, allerdings nach Alter und Fähigkeiten gegliedert,  offenstehen. Sie stehen folgerichtig auch allen beeinträchtigten Kindern offen, allerdings auch  gegliedert nach deren Fähig‐ und Möglichkeiten. Laut oben stehendem Satz soll jedem  beeinträchtigten Menschen die notwendige Unterstützung innerhalb des Systems gegeben werden,  um eine erfolgreiche Bildung zu erleichtern.   Was bedeutet „erfolgreich“ für den Einzelnen? Erfolg stellt sich mit der Erreichung eines Zieles ein.  Das Ziel des Einen mag ein anderes sein als das des Nächsten. Das Ziel eines von AD(H)S betroffenen  Menschen – mit Ruhe und Konzentration eine Aufgabe zu Ende führen zu können –  mag ein anderes  sein als das eines von Asperger Betroffenen – nämlich das Verständnis von Mimik und Gestik des  Gegenübers. Ein körperlich schwerstbehinderter Mensch wählt vielleicht die Erreichung des Abiturs  als Ziel während ein Mensch, der von einer Lernbehinderung betroffen ist, eventuell nichts  sehnlicher wünscht als die Schule zu verlassen und endlich in einem eher handwerklich  ausgerichteten Beruf anzukommen.   Es kommt auf den Einzelnen an; individuelle Lösungen scheinen die richtigen zu sein. So heißt es  auch in der UN BRK weiter:  („Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass) d)

in Übereinstimmung mit dem Ziel der vollständigen Integration [Inklusion] wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen in einem Umfeld, das die bestmögliche schulische und soziale Entwicklung gestattet, angeboten werden.

Vollständige Inklusion soll durch individuelle angepasste Unterstützungsmaßnahmen erreicht  werden. Alle Menschen und besonders Kinder sollen an allen Möglichkeiten von Bildung teilhaben  können und dabei so gefördert werden, dass sie sich individuell bestmöglich entwickeln können.  Es  wird nicht der Besuch einer bestimmten Schulart vorgegeben noch wird davon gesprochen, dass alle  Kinder in einer Schule unterrichtet werden soll. Es geht nicht darum, den bisherigen Zwang der  Einordnung von Kindern in bestimmte Bildungsgänge gegen den Zwang zur Vereinheitlichung zu  tauschen. Inklusion bedeutet Möglichkeit, bedeutet Grenzenlosigkeit und Barrierefreiheit für jeden,  der etwas versuchen und erreichen möchte.   Bislang kann beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen in Schule und Universität ein  Nachteilsausgleich gewährt werden. Dieser muss bei der Schule, bzw. bei der Bezirksregierung  beantragt und begründet werden und wird unter bestimmten Bedingungen gewährt. Alle  Beeinträchtigungen, die von medizinischer Seite als begründet angesehen werden, können einen  Nachteilsausgleich begründen.  

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Die einzelnen Bundesländer regeln die Gewährung des Nachteilsausgleich verschieden. Links zu  entsprechenden Seiten der Bundesländer:  Bayern http://www.schulberatung.bayern.de/imperia/md/content/schulberatung/pdf/nachteilgym.pdf Berlin http://gesetze.berlin.de/default.aspx?vpath=bibdata%2fges%2fBlnSopVO%2fcont%2fBlnSopVO.G8.htm Brandenburg http://www.mbjs.brandenburg.de/sixcms/detail.php?template=suche_global_d&_layout=mbjs&_rc_suche=suche& _query=Nachteilsausgleich Bremen http://712.joomla.schule.bremen.de/gesetze/html/241_02.htm BW http://www.schule-bw.de/schularten/sonderschulen/autismus/fbasperger/nachteil.html Hamburg http://www.hamburg.de/contentblob/3897226/data/nachteil-dl.pdf Hessen http://verwaltung.hessen.de/irj/HKM_Internet?rid=HKM_15/HKM_Internet/sub/50f/50f208d0-5024-a611-f3efef91921321b2,,22222222-2222-2222-2222-222222222222.htm Mecklenburg-Vorpommern http://www.landesrecht-mv.de/jportal/portal/page/bsmvprod.psml?showdoccase=1&doc.id=jlrSoF%C3%B6VMV2009pAnlage9&st=lr Niedersachsen http://nibis.ni.schule.de/~infosos/nachteilsausgleich.htm NRW http://www.brd.nrw.de/schule/grundschule_foerderschule/Nachteilsausgleich_an_Schulen_fuer_Schuelerinnen_u nd_Schueler_mit_sonderpaedagogischem_Foerderbedarf_oder_mit_Behinderungen_ohne_sonderpaedagogisch en_Foerderbedarf.html RLP http://foerderung.bildung-rp.de/behinderung/nachteilsausgleich.html Saarland

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http://www.behindertenbeauftragter.de/SharedDocs/Publikationen/GemeinsamerunterrichtSaarland.pdf?__blob=p ublicationFile Sachsen http://www.landeselternrat-sachsen.de/452.0.html Sachsen-Anhalt http://www.bildung-lsa.de/index.php?KAT_ID=2805 Schleswig-Holstein http://www.schleswig-holstein.de/Bildung/DE/Service/Schulrecht/Data/L_P/nachteilsausgleich.html Thüringen http://www.thueringen.de/th2/tmbwk/bildung/gemeinsamer_unterricht/informationen/nachteilsausgleich/

Inklusion als Gesamtpaket wird in den einzelnen Ländern ebenfalls unterschiedlich umgesetzt. Und  nicht nur dort. Bislang findet Inklusion diverse Interpretationsmöglichkeiten, die sich von Landstrich  zu Landstrich unterscheiden. Rahmenbedingungen geben die Landesregierungen.  Im Versuch, Inklusion und Bildung umzusetzen, werden verschiedene Wege gegangen. So gibt es  Schwerpunktschulen und Förderschulen neben Regelschulen, sich für alle Schüler öffnende  Förderschulen, Angebotsschulen ohne Schüler, Außenklassen, integrative Stunden in Regelklassen,  Kooperationsstunden von zwei verschiedenen Schulen, gut ausgebaute Regelschulen, …  Das Recht der Eltern, einen Schulplatz durch Klage zu sichern, gilt in den einzelnen Bundesländern ab  2014/15/16/17 … .    

 

                                                                                                                                                                                                                   

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