IDEOLOGISIERTE ZEIT Eine Einführung

I D E O L O G I S I E RT E Z E I T Eine Einführung WOLFGANG HAMETER – M E TA N I E D E R K O R N - B R U C K – M A RT I N S C H E U T Z Der radikale...
Author: Sabine Kraus
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I D E O L O G I S I E RT E Z E I T Eine Einführung

WOLFGANG HAMETER – M E TA N I E D E R K O R N - B R U C K – M A RT I N S C H E U T Z

Der radikale Gutsbesitzer und Politiker Georg Ritter von Schönerer (1842–1921), „Führer“ der Deutschnationalen (der Alldeutschen) und Gegner jeglichen österreichischen Patriotismus, ließ 1887 von seinen „Jüngern“ eine „Zweitausendjahr-Feier germanischer Geschichte“ ausrichten. Anlass zu seinem politisch motivierten Fest bot ihm das Gedenken an die 113 vor Christus geschlagene Schlacht bei Noreia, in der die Kimbern und Teutonen – pars pro toto für die „Germanen“ – erstmals die Römer besiegt hatten. Das Jubiläum beging man mit einem „Germanenfest“ zur Sonnenwende am 24. Juni 1888 in der Wachau. Anlässlich dieser Feier schuf Schönerer auch gleich den christlichen Kalender ab und führte eine neue Zeitrechnung ein. Seine Anhänger zählten also in Hinkunft nicht mehr nach Christi Geburt, sondern wählten die Schlacht als neuen Epochentag. Das Jahr 1888 nach Christus wandelte sich zum Jahr 2001 nach Noreia, die Monatsnamen wurden in altgermanische Bezeichnungen umgewandelt: Hartung, Hornung, Lenzmond, Ostermond, Maien, Brachmond … (Hamann 2004: 350). Der Kalender als eine dingliche Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart diente vielfach dazu, propagandistisch im Sinne von Herrschaftsrepräsentation zu wirken. Dies lässt sich schon in der Antike gut belegen. So benannte man 44 vor Christus, kurz nach der Ermordung von Julius Cäsar, den römischen Monat „Quintilis“ in „Julius“ um, Kaiser Augustus ließ 8 vor Christus dann auch noch den Monat „Sextilis“ durch die Monatsbezeichnung „Augustus“ ersetzen. Kalender verbinden Zukunft (etwa ein neues, planbares Jahr) mit der zyklischen Wiederkehr von bestimmten Ereignissen, etwa dem Wiedereintritt einer bestimmten Sternenkonstellation nach einem Jahr. Inno-

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vation und Stabilität haben deshalb in einem Kalender Platz. Vor allem Feier- und Festtage, kirchliche wie auch „staatliche“ Feiern, werden im Kalender vermerkt. Die Statik des christlich geprägten Kalenders verleitete aber auch dazu, diese Tradition bewusst zu brechen. Viele vom Systembruch gekennzeichnete Regime – etwa die französischen Revolutionäre, die Sowjets oder die italienischen Faschisten – sahen mit ihrem Machtantritt eine neue „Epoche“ verwirklicht, markante Ereignisse der eigenen „revolutionären“ Bewegung wurden als Bruchstelle zur alten und als Beginn einer neuen Zeit interpretiert. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten bahnte sich zwar keine neue Zeitrechnung an, doch trachteten die neuen Machthaber eine eigene NS-Liturgie, oft in Umdeutung bestehender religiöser Feiertage, durchzusetzen. Festveranstaltungen zu Führers Geburtstag oder der zum „Tag der Arbeit“ hochstilisierte 1. Mai boten Anlass, das neue Regime propagandistisch in Szene zu setzen (Freitag 1997; Kratzer 1998). So erlebte auch der aus dem angelsächsischen Bereich kommende und in Österreich (seit 1924) durch Marianne Hainisch (1839–1936) propagierte Brauch des „Muttertages“ erst im Dritten Reich einen Höhepunkt, indem das Regime die „deutsche Mutter“ als Gebärerin an diesem Tag feierte und in den Mittelpunkt des Festgeschehens stellte (Boesch 2001). Als der nordkoreanische Führer – „unser geliebter Führer“ – Kim Il Sung 1997 starb, ging zwar seine Regierungszeit auf Erden zu Ende, dennoch blieb eine wesentliche „Errungenschaft“ seiner diktatorischen Herrschaft weiter bestehen: Die „Juche“-Zeit (mit dem Beginn der Zeitrechnung 1912, dem Geburtsjahr des „Führers“) machte den verstorbenen Diktator unsterblich, seine Zeitrechnung blieb auch nach „Juche 86“ (1997) weiter bestehen und bestimmt noch heute das alltägliche Leben der Bewohner Nordkoreas. Das Thema der in diesem Band versammelten Beiträge bildet eine Kulturgeschichte des Kalenders, wobei es der Herausgeberin und den Herausgebern wichtig war, einerseits das Phänomen Kalender in den Kontext der Zeit einzubetten und zum anderen einen interdisziplinären Blick auf Zeitordnungsvorstellungen zu werfen. Nach einem einleitenden Kurzbeitrag zu den astronomischen Grundlagen von Wolfgang Hameter verdeutlicht der von Meta Niederkorn-Bruck verfasste Beitrag die enge, seit der Antike bestehende Verflechtung von Religion und Zeit und die Schwierigkeit der Herausbildung der heute dominierenden christlichen Zeitordnung. Die Bedeutung des ägyptischen und griechischen Kalenders als unmittelbare Voraussetzung zum später so erfolgreichen julianischen Kalender streicht Hans Taeuber in seinem Beitrag heraus. Der durch das ganze Mittelalter gültige julianische

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Kalender brachte einen bedeutenden Fortschritt, orientierte sich sowohl am Sonnen- wie auch am Mondjahr, und bestimmt noch heute unseren Kalender deutlich, wie Wolfgang Hameters Beitrag zeigt. Die Schwierigkeiten bei der Einbettung von realer Zeit in die „Heilsgeschichte“ und vor allem die langandauernde Reformdiskussion um die Änderung des fehlerhaften julianischen Kalenders streicht Meta Niederkorn-Bruck in ihrem Beitrag „Zeit in der Liturgie – Zeit für die Liturgie“ heraus. Die von Dionysius Exiguus eingeführte Rechnung mit Christi Geburt als Beginn der christlichen Zeitrechnung zeigt aber auch bereits die großen, kaum lösbaren Probleme, die sich bei der Synchronisierung von Erdrotation, Umlauf der Erde um die Sonne und der „Heilsgeschichte“ für die Komputisten der Spätantike bis zur Neuzeit ergaben. Mit Datierungsformen von mittelalterlichen Urkunden beschäftigt sich der Beitrag von Paul Herold, wobei es ihm gelingt zu zeigen, dass gerade auch Ort und Umfeld einer Datierung wesentliche Aussagen über die Bedeutung der Urkunde liefern. Zeit und Ort werden im Sinne von Herrschaftsrepräsentation instrumentalisiert. Die Neuzeit brachte eine konfessionelle Zweiteilung des westlichen Europa und diese Bikonfessionalität hatte negative Auswirkungen auf die bereits seit Jahrhunderten angestrebte Reform des julianischen Kalenders, wie der Beitrag von Martin Scheutz zeigt. Trotz der allgemeinen Überzeugung von der Reformbedürftigkeit maßen Protestanten und Katholiken nach der 1582 vorgenommenen gregorianischen (katholischen) Kalenderreform lange Zeit mit zweierlei Kalendermaßen, erst um 1700 herrschte im Alten Reich wieder Einklang, der Streit um die „zehn“ Tage war vergessen. Durch die auf dem Reichstag vorgenommene Einigung konnten vielfach in unmittelbarer Nachbarschaft wohnende Personen wieder ein gemeinsames und vor allem ungestörtes Alltagsleben führen. Einen Versuch den christlichen Kalender zu „brechen“, stellte der Französische Revolutionskalender dar, wie Marianne Klemun in ihrem Beitrag veranschaulicht. Ein neuer Kalender sollte auch die Wahrnehmung der Zeit verändern, eine dechristianisierte Verschmelzung von Natur und Gesellschaft wurde durch eine neue Zeitordnung angestrebt, ein neuer, nationsbewusster Mensch mit republikanischer Anschauung auf agrikultureller Basis sollte durch den neuen Kalender mit geschaffen werden. Das Bemühen den in nahezu jedem Haushalt der Vormoderne vorrätigen Kalender als Propagandamittel der Aufklärung zu verwenden, zeigt Alfred Stefan Weiß. Gleichsam in „homöopathischen“ Dosen sollten die Leser zum Gebrauch ihrer Kritikfähigkeit angeregt und ihnen in belehrenden Geschichten aufklärerische Inhalte (etwa der Kampf gegen „Aberglauben“, neue landwirtschaftliche Be-

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bauungsmethoden oder die neue Feiertagsordnung des späten 18. Jahrhunderts) „verkauft“ werden. Die Streitpunkte bzw. Berührungspunkte von Kirche und Staat bei der Feiertagsregelung von der Vergangenheit bis zur Gegenwart mit regionalem Schwerpunkt auf Österreich stellt Stefan Schima in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Der Schreibkalender als das populärste Handbuch des „Gemeinen Mannes“ war für den Menschen der Frühen Neuzeit ein wichtiger Impuls zum Abfassen von Selbstzeugnissen. Bemerkungen zum Wetter wurden dort ebenso wie Feiertage oder etwa Stimmungsschwankungen des Diaristen eingetragen. Entlang der Zeitachse, die durch den Kalender vorgegeben wurde, entwickelten und erlernten die Menschen der Vormoderne langsam das Schreiben über ihr „Ich“ und ihr Innenleben, wie Harald Tersch in seinem Beitrag aufzeigen kann. Die ursprünglich den Kalendern als integraler Bestandteil beigegebenen Geschichten (die so genannten „Kalendergeschichten“), anfangs durch bürgerlich-volkstümlichen Inhalt gekennzeichnet, entwickelten sich langsam zu einer eigenen, vom Kalender losgelösten Gattung, wie Ursula Klingenböck darlegt. Während die Arbeiter- und Parteikalendergeschichten des 19. Jahrhunderts noch in Kalendern erschienen, löste sich die „Kalendergeschichte“ im 20. Jahrhundert vom Publikationskontext „Kalender“ und emanzipierte sich als selbstständige Form. Der Gegenwart und Vergangenheit des Kalenders in seiner dinglichen Ausgestaltung (also der Entwicklung vom Kerbholz über den spätmittelalterlichen St. Lambrechter „Holzkalender“ bis zum „organizer“) widmet sich Kathrin Pallestrang in ihrem Beitrag. Dabei kommen auch neue Formen von Kalendern, wie Internetkalender oder neue Inhalte bzw. Zielrichtungen von Kalendern (als Werbeträger) zur Sprache. Der abschließende Beitrag von Verena Winiwarter führt einen weiteren, höchst bedeutsamen Aspekt von Kalendern vor Augen: Der Kalender als ortsgebundene Handlungsmaxime für eine agrarisch geprägte Gesellschaft und als konservativer Speicher für die von Erfahrung geleitete Interaktion zwischen Natur und Mensch. Kalender spiegeln die Zeit, die Herrschaftsverhältnisse und den Raum, in dem sie entstanden sind, wider. Viele, oft schon antiquierte Elemente werden bei Abschriften von Kalendern, mitunter sogar sinnentstellend, weitertradiert, wobei diese Relikte häufig Traditionslinien verraten oder überhaupt erst aufzeigen. Die Definitionshoheit über die Zeit hat sich stark gewandelt: Während die Beachtung der Zeiteinheiten in der Antike und im Mittelalter großteils Sache der Priester war – die Zeit bestimmte die Abhaltung der Gottesdienste –, begann sich die Zeitberechnung im Lauf der Neuzeit immer mehr zu laisieren. Auf die

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kirchlich geprägte gregorianische Kalenderreform folgte der revolutionäre Kalender der Französischen Revolution oder der ebenso radikale, von der Planwirtschaft bestimmte „Rote Kalender“ des bolschewistischen Russland. Der Kalender veränderte sich aber auch in seiner dinglichen Ausgestaltung entscheidend, vom Holzkalender zum virtuell vorhandenen „Terminplaner“ am Computer, der die Flut an Terminvereinbarungen bewältigen soll. Es war Ziel dieses Bandes wenigstens ansatzweise die Vielschichtigkeit des Kalenders, aber auch unsere Faszination an diesem „Ding“ in den Mittelpunkt zu stellen. Die Leserin und der Leser dieses Sammelbandes mögen entscheiden, ob dies gelungen ist … L I T E R AT U R Boesch, Alexander (2001): Produkt Muttertag: Zur rituellen Inszenierung eines Festtages. Begleitbuch zur Ausstellung im Österreichischen Museum für Volkskunde. Wien Freitag, Werner (1997): Das Dritte Reiche im Fest. Führermythos, Feierlaune und Verweigerung in Westfalen 1933–1945. Bielefeld Geerlings, Wilhelm, Hg. (2002): Der Kalender. Aspekte einer Geschichte. Paderborn u.a. Hamann, Brigitte (1996/2004): Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators. München/ Zürich Herzog, Markwart, Hg. (2002): Der Streit um die Zeit. Zeitmessung – Kalenderreform – Gegenzeit – Endzeit. Stuttgart Kratzer, Wolfgang (1998): Feiern und Feste der Nationalsozialisten: Aneignung und Umgestaltung christlicher Kalender, Riten und Symbole. München

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