Kanton St.Gallen Staatsanwaltschaft

Häusliche Gewalt Rechtlicher Umgang mit Tatpersonen Dr. Thomas Hansjakob Erster Staatsanwalt St. Gallen

Inhalt

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Nationale Konferenz Täter und Täterinnen häuslicher Gewalt 22. November 2016, Bern

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1. Übersicht: Interventionsmöglichkeiten

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1. Übersicht Interventionsmöglichkeit von Behörden Behörde

Mögliche Massnahmen

Rechtsquelle

Staatsanwaltschaft

- Ersatzmassnahmen für Haft mit Weisung in Beratung oder Lernprogramm - Strafbefehl mit Weisung in Beratung oder Lernprogramm (bei bed. Strafen) - Anordnung Pflichtberatung - Verfahrenseinstellung unter Berücksichtigung Besuch Beratung oder Lernprogramm

Art. 237 Abs. 2 StPO

Polizei

- Wegweisung, Kontakt- & Rayonverbot - Weiterleitung Daten Tatperson für proaktive Ansprache durch Beratungsstelle

kant. PolG kant. PolG (BL, BS, GR) od. andere kant. Gesetze (GE, LU, NW, OW, ZH)

KESB

- Im Rahmen von Kindesschutzmassnahmen Weisung in Beratung oder Lernprogramm

Art. 307 Abs. 3 ZGB Art. 273 Abs. 2 ZGB

Migrationsamt

- formelle Verwarnung mit Androhung Massnahme - Integrationsvereinbarung mit vereinbarten Massnahmen wie Beratung oder Lernprogramm

Art. 96 AuG Art. 5 Verordnung über die Integration von Ausländern (SR 142.205)

Sozialhilfe

-Im Rahmen von Auflagen oder Zielvereinbarungen vereinbarte Massnahmen wie Beratung oder Lernprogramm

kant. Gesetzgebung vgl. auch Kap. D SKOS-Richtlinien 2016

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Art. 44 Abs. 2 StGB kant. Gesetzgebung (z.B. LU) Art. 316 Abs. 3 StPO (im Rahmen des Vergleichs)

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2. Grundsatz: Wir nehmen Droher beim Wort

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2. Grundsatz: Wir nehmen Droher beim Wort Elementar: Wir nehmen Droher ernst: Wer seiner Partnerin sagt, er bringe sie um, dem glauben wir das. Die Verhältnismässigkeit von Sofortmassnahmen richtet sich nach dem Wortlaut der Drohungen, nicht nach dem, was allenfalls dahinter zu vermuten ist.

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2. Grundsatz Der Umfang des Problems

Kanton St. Gallen: knapp 500’000 Einwohner/innen 17.11.2016 Seite 7

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3. Das Drei-Stufen-Programm der Untersuchung

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3. Das Drei-Stufen-Programm: Stufe 1: relativ geringfügiger Fall Definition relativ geringfügiger Fälle: • Nur Antragsdelikte; geringfügige physische Gewaltanwendung im Tätlichkeitsbereich oder Drohung (emotional gesteuerte Äusserungen), • ohne psychische Gewaltanwendung, • keine besonderen erschwerenden Tat- oder Täterumstände, • Täter einsichtig und geständig • keine Opfermehrheit, i.d.R. keine Kinder betroffen 17.11.2016 9

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3. Das Drei-Stufen-Programm: Stufe 1: Massnahmen • Polizei: Befragung der Beteiligten, Verzeigung an Untersuchungsamt • StA: allenfalls Befragung, wenn sinnvoll; fehlende Strafanträge einholen. Dann Strafbefehl, allenfalls Einstellung (bei Fehlen des Strafantrags)

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3. Das Drei-Stufen-Programm: Stufe 2: mittelschwerer Fall Definition mittelschwerer Fälle: • Offizialdelikt max. einfache Körperverletzung als Folge physischer Gewaltanwendung, oder • mindestens ein besonderes Tat- oder Täterelement tritt hinzu, welches die Tat schwerer macht (z.B. nichtiger Anlass, schwere verbale Attacke), oder • Täter uneinsichtig oder einschlägig vorbestraft

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3. Das Drei-Stufen-Programm: Stufe 2: Massnahmen • Polizei: sofortige Information des PikettStaatsanwaltes • Staatsanwaltschaft: • Vorführung, Festnahme, Hausdurchsuchung, erkennungsdienstliche Behandlung • Bei fehlender Einsicht oder unklarer Gefährdungslage Haftantrag • Allenfalls Ersatzmassnahmen (Wegweisung, Kontaktverbot) • Information des Opfers • Abschluss Strafbefehl oder Anklage 17.11.2016 12

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3. Das Drei-Stufen-Programm: Stufe 3: schwerer Fall Definition schwerer Fälle: • Offizialdelikt, erhebliche physische Gewaltanwendung, schwere Drohung, oder • auch Kinder als Opfer, oder • Verwendung einer Waffe oder eines gefährlichen Gegenstandes als Mittel der Gewalt oder Drohung (d.h.: wer mit einer Waffe droht, fällt unter die schweren Fälle

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3. Das Drei-Stufen-Programm: Stufe 3: Massnahmen • Polizei: sofortige Information des PikettStaatsanwaltes • Staatsanwalt: • Vorführung, Festnahme, Hausdurchsuchung, erkennungsdienstliche Behandlung • Haftantrag, Gefährlichkeitsbeurteilung • ev. Ersatzmassnahmen, • sofortige Information des Opfers, • ev. Medieninformation • Abschluss durch Anklage, Vertretung der Anklage an Schranken 17.11.2016 14

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4. Wie weiter im Verfahren?

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4. Wie weiter im Verfahren? Ruhepause für das Opfer • Wichtig scheint uns, dass das Opfer bei häuslicher Gewalt zunächst eine Ruhepause hat, um zu überlegen, wie es weiter gehen könnte. • Das Opfer wird gefragt, ob es der Information der Opferhilfestelle zustimmt (nicht es muss selbst mit der Stelle Kontakt aufnehmen) • Falls möglich, stellen wir die Ruhepause durch Festnahme des Täters und Haftantrag sicher. • Falls dies nicht möglich ist, kommt eine Wegweisung nach Polizeigesetz in Frage: 17.11.2016 16

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4. Wie weiter im Verfahren? Wegweisung und Rückkehrverbot für den Täter Art. 43 PolG: Wegweisung und Rückkehrverbot Die Polizei kann eine Person, die andere Personen ernsthaft gefährdet, aus deren Wohnung und ihrer unmittelbaren Umgebung wegweisen sowie die Rückkehr für zehn Tage verbieten. Art. 43ter PolG: Vollzug 1 Die Polizei nimmt der weggewiesenen Person alle Schlüssel zur Wohnung ab. 2 Die weggewiesene Person erhält Gelegenheit, die nötigen Gegenstände des persönlichen Bedarfs mitzunehmen. Sie bezeichnet eine Zustelladresse. 3 Die Polizei kann die Einhaltung des Rückkehrverbots von sich aus kontrollieren. Art. 43quater PolG: Genehmigung 1 Die Polizei reicht dem Zwangsmassnahmengericht innert 24 Stunden eine Abschrift der Verfügung zur Genehmigung ein, es sei denn, die weggewiesene Person verzichte schriftlich darauf. Das Zwangsmassnahmengericht prüft die Verfügung aufgrund der Akten. Es kann eine mündliche Verhandlung anordnen.

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4. Wie weiter im Verfahren? Die Richtlinien in St. Gallen zu Art. 55a StGB • Keine aktive Information über die Möglichkeit der Sistierung durch die StA! • Verlangt das Opfer die Sistierung, wird die rechtliche Situation in einem Standardbrief erläutert. Weiterführung des Falles, falls sich das Opfer nicht persönlich beim StA meldet. • Kann-Vorschrift beachten und Ersuchen um Sistierung hinterfragen (steht Opfer unter Druck?) • Eine weitere Einvernahme vor der Einstellung ist allerdings auch in SG nicht zwingend vorgesehen. 17.11.2016 18

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4. Wie weiter im Verfahren? Die Richtlinien in St. Gallen zum Täterprogramm • Der fallbearbeitende StA prüft die Eignung des Beschuldigten für eine Teilnahme am Täterprogramm; er klärt den Beschuldigten über die mögliche Auswirkung der Teilnahme auf die Strafe/Massnahme auf (kann bei der Strafzumessung berücksichtigt werden). • Der fallbearbeitende StA/SmsB motiviert den alkoholsüchtigen Beschuldigten, die Suchtberatung aufzusuchen (kann bei der Strafe berücksichtigt werden). • Täterprogramm werden als Weisung im Strafbefehl aufgenommen oder beim Gericht beantragt 17.11.2016 19

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4. Wie weiter im Verfahren? Einstieg ins Täterprogramm • Im Strafverfahren: • Ersatzmassnahme für Untersuchungshaft • Voraussetzung für die definitive Einstellung nach Art. 55a Abs. 3 StGB, entsprechender Hinweis in der Sistierungsverfügung nach Art. 55a Abs. 1 StGB • Weisung im Strafbefehl oder Urteil (in Verbindung mit einer bedingten Strafe) • Voraussetzung für einen Vergleich nach Art. 316 StPO 17.11.2016 20

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4. Wie weiter im Verfahren? Einstieg ins Täterprogramm • Ausserhalb des Strafverfahrens: • Die Polizei hat (in SG) keine Möglichkeit, ein Täterprogramm zu verfügen. • Allenfalls Gefährdungsmeldung an die KESB, die dann Massnahmen treffen könnte. • Migrationsbehörden können im Rahmen von Integrationsvereinbarungen allenfalls Täterprogramme verfügen. • Sozialbehörden können das Gleiche über Zielvereinbarungen tun. 17.11.2016 21

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4. Wie weiter im Verfahren? Einstieg ins Täterprogramm nach ZGB Art. 307 ZGB 1 Ist das Wohl des Kindes gefährdet und sorgen die Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind sie dazu ausserstande, so trifft die Kindesschutzbehörde die geeigneten Massnahmen zum Schutz des Kindes. 3 Sie kann insbesondere die Eltern, die Pflegeeltern oder das Kind ermahnen, ihnen bestimmte Weisungen für die Pflege, Erziehung oder Ausbildung erteilen und eine geeignete Person oder Stelle bestimmen, der Einblick und Auskunft zu geben ist. 17.11.2016 22

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4. Wie weiter im Verfahren? Die Probleme mit dem Täterprogramm Die Krux des Täterprogramms: Es ist nur sinnvoll durchzuführen, wenn • der Täter die Straftat im Wesentlichen zugibt, und • der Täter genügend deutsch spricht, und • der Täter regelmässige Kurse am Abend besuchen kann (keine Schichtarbeit, keine unregelmässige Arbeitszeit) Diese Voraussetzungen sind in SG nur sehr selten erfüllt. 17.11.2016 23

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4. Wie weiter im Verfahren? Was passiert tatsächlich (in SG)?

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5. Wie weiter in der Gesetzgebung?

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5. Wie weiter in der Gesetzgebung? Die geplante Änderung zu Art. 55a StGB • Die Motion 12.4025 Keller-Sutter «Opfer häuslicher Gewalt besser schützen» verlangt, dass die Staatsanwaltschaften die Opfer vor der Einstellung des Verfahrens nach Artikel 55a StGB zur Frage der Einstellung (noch einmal) anhören, um den Willen des Opfers in Bezug auf die Einstellung oder die Fortführung des Verfahrens zu ergründen. • Blosses Stillschweigen während der sechsmonatigen Sistierung des Verfahrens soll nicht mehr genügen, um das Verfahren einzustellen. 17.11.2016 Seite 26

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5. Wie weiter in der Gesetzgebung? Vorentwurf des Bundesrates zu Art. 55a StGB 2

Die Sistierung setzt voraus, dass das Interesse des Opfers das Interesse des Staates an der Strafverfolgung überwiegt. Die Staatsanwaltschaft oder das Gericht berücksichtigt beim Entscheid namentlich: a. wer Anzeige erstattet hat; b. warum das Opfer um die Sistierung ersucht oder dieser zustimmt; c. ob die beschuldigte Person einsichtig ist; d. ob die beschuldigte Person ein Lernprogramm gegen Gewalt besucht oder andere Schritte zur Änderung ihres Verhaltens unternommen hat; e. ob sich das Opfer und die beschuldigte Person auf eine Lösung des Konflikts verständigt haben; f. ob die Risiken eines erneuten Übergriffs grösser oder geringer geworden sind, g. ob Kinder betroffen sind; h. wie schwer die Tat wiegt.

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5. Wie weiter in der Gesetzgebung? Vorentwurf des Bundesrates zu Art. 55a StGB 4

Die Staatsanwaltschaft oder das Gericht nimmt das Verfahren innerhalb von sechs Monaten seit der Sistierung wieder an die Hand, wenn: a. das Opfer oder, falls dieses nicht handlungsfähig ist, sein gesetzlicher Vertreter seine Zustimmung schriftlich oder mündlich widerruft; oder b. sich die Situation geändert hat und das Interesse an der Strafverfolgung überwiegt. 5 Wird die Zustimmung nicht widerrufen und überwiegt das Interesse des Opfers an der Einstellung des Verfahrens, so verfügt die Staatsanwaltschaft oder das Gericht nach Ablauf von sechs Monaten die Einstellung. Vor dem Entscheid ist das Opfer anzuhören. 17.11.2016 Seite 28

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5. Wie weiter in der Gesetzgebung? Der neue Art. 55a StGB aus meiner Sicht • Wenn sich die Partner getrennt haben, ist der Entscheid über Sistierung oder Weiterführung unproblematisch. • Besteht die Beziehung weiter, wird das Opfer sie nicht durch die Weiterführung des Strafverfahrens belasten wollen. Es fragt sich, was von einer Anhörung dann zu erwarten ist. • Die Weiterführung gegen den Willen des Opfers wird auch künftig die Ausnahme bleiben. 17.11.2016 Seite 29

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Insgesamt:

• Wichtig scheint uns konsequentes Vorgehen unmittelbar nach dem Gewaltvorfall. • Der Täter muss sich an seinen eigenen Äusserungen messen lassen. Er trägt das Risiko, nicht das Opfer. • Das Opfer muss genug Zeit haben, sich das weitere Vorgehen zu überlegen und sich beraten zu lassen.

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