Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg PETER WALTER Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit Erasmus und sein Umkre...
9 downloads 1 Views 2MB Size
Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

PETER WALTER

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit Erasmus und sein Umkreis

Originalbeitrag erschienen in: Heinz Schilling (Hrsg.): Der Augsburger Religionsfrieden 1555: Wissenschaftliches Symposium aus Anlaß des 450. Jahrestages des Friedensschlusses, Augsburg 21. bis 25. September 2005. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus, 2007, S. [105]-126

Peter Walter Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit. Erasmus und sein Umkreis

Die Position des Erasmus von Rotterdam Erasmus von Rotterdam s war keineswegs — auch wenn man bisweilen Gegenteiliges lesen kann — ein Vordenker oder -kämpfer eines modernen Toleranzideals.2 „Tolerare" und „tolerantia" bezeichnen für ihn Langmut und Nachsicht mit gewissen Unvollkommenheiten um der Wahrung der Eintracht willen.' Sein Ideal war nicht das friedliche Nebeneinander unterschiedlicher Positionen in Glaubensfragen, sondern die Einheit. Für deren Erhaltung bzw. Wiederherstellung hat er sich eingesetzt, freilich auch mit Argumenten, die der spätere Toleranzdiskurs aufgreifen konnte. Am wichtigsten scheint dabei sein Eintreten für eine gewisse theologische Vielfalt zu sein, das bei aller Festigkeit im Grundsätzlichen eine Bandbreite unterschiedlicher theologischer Meinungen für möglich hielt. Diese Haltung — und nicht, wie auch immer wieder behauptet4, ein dogmatischer Relativismus und Skeptizismus — erlaubt für ihn ein gegenseitiges Entgegenkommen der miteinander streitenden Parteien, um sich schließlich zu versöhnen. Ein weiteres Element ist die Ablehnung gewaltsamer Ketzerbekämpfung oder gar der Ahndung von Häresie mittels der Todesstrafe. In Glaubensdingen soll keine an1.

2.

3. 4.

Die Werke des Erasmus werden folgendermaßen zitiert: Allen: Percy S. Allen u. a. (Hgg.), Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, 12 Bde., Oxford 1906-1958; ASD: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, Amsterdam u. a. 1969ff.; LB: Joannes Clericus (Hg.), Desiderii Erasmi Roterodami Opera omnia, 10 Bde., Lugduni Batavorum 1703-1706, Nachdruck: Hildesheim 1961-1962. Zum Toleranzverständnis des Erasmus vgl. Joseph Leckr, Geschichte der Religionsfreiheit im Zeitalter der Reformation, 2 Bde., Stuttgart 1965; Bd. 1, S. 190-213; Karl Heinz Oelrich, Zum Toleranzbegriff des späten Erasmus von Rotterdam, in: Horst Rabe, Hansgeorg Molitor, Hans-Christoph Rublack (Hgg.), Festgabe für Ernst Walter Zeeden, Münster 1976, S. 248-259; Manfred Hoffmann, Erasmus and Religious Toleration, in: Erasmus of Rotterdam Society Yearbook 2 (1982), S. 80-106; Mario Turchetti, Une Bestion mal posee: Erasme et la tolerance. Eidee de sygkatabasis, in: Bibliotheque d'Humanisme et Renaissance 53 (1991), S. 379-395; Jean Claude Margolin, La tolerance et ses limites d'apres Erasme, in: Homo religiosus. Autour de Jean Delumeau, Paris 1997, S. 627-636; Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003, S. 136-143. Vgl. Turchetti, Question (wie Anm. 2), S. 382. Vgl. die von Margolin, Tolerance (wie Anm. 2), S. 628 Anm. 14 genannten Beispiele.

106

Peter Walter

dere Waffe eingesetzt werden als das Wort. Da das letzte Urteil in diesen Dingen ohnehin Gott zusteht, sind Abweichler zu ertragen, wenn sie sich nicht anderer Vergehen schuldig machen.' Nicht berücksichtigt wird im folgenden die Frage nach dem Umgang von Christen mit Nichtchristen, d. h. vor allem Juden und Muslimen, in der Sicht des Erasmus.6 1. Übereinstimmung im Grundsätzlichen, Duldsamkeit im Sekundären. Die Auffassung, daß innerhalb der einen Kirche unterschiedliche theologische Meinungen und Stile nebeneinander bestehen können, hat Erasmus nicht erst in der Auseinandersetzung mit den verschiedenen Zweigen der Reformation vertreten, sondern bereits im Hinblick auf die Situation in Böhmen, die ihm sein Briefpartner Jan Slechta (1466-1525) 7 im Jahre 1519 schilderte, als noch nicht abzusehen war, daß die „causa Lutheri" zu einer Glaubensspaltung führen werde. Slechta berichtete von drei Parteiungen in seiner Heimat: dort gebe es Katholiken, Utraquisten und Böhmische Brüder.' In seinem Antwortschreiben vom 1. November 5. 6.

7.

8.

Dies gilt etwa für die Täufer in Münster oder die aufständischen Bauern, denen gegenüber er ein hartes Vorgehen durchaus für gerechtfertigt hält. Vgl. ebd., S. 629. Ein differenziertes Bild der erasmischen Einschätzung des Judentums zeichnet Cornelis Augustijn: „Die Juden bilden für Erasmus eine religiös definierte Gruppierung. Toleranz im eigentlichen Sinne des Wortes ist gegenüber dieser Gruppe eine Selbstverständlichkeit. Als religiöse Gruppe stellen sie seit dem Auftreten Christi eine veraltete Formen-Religion dar. Da diese Einstellung auch innerhalb des Christentums gefunden wird, ist die Verbreitung jüdischen Gedankenguts eine Gefahr für die Christenheit. Die Identifizierung von Gesellschaft und Christentum, die wir bei Erasmus finden, bringt die Juden in eine Ausnahmesituation, die sie mit anderen Gruppen teilen. Die genannte Identifikation stellt allerdings eine latente Gefährdung der Toleranz dar" (Cornelis Augustijn, Erasmus und die Juden [1980], in: ders., Erasmus. Der Humanist als Theologe und Kirchenreformer, Leiden, New York, Köln 1996, S. 94-111; S. 110f.). Vgl. auch Margolin, Tolerance (wie Anm. 2), S. 630f. Für die Sicht der nichtchristlichen Religionen insgesamt durch Erasmus vgl. George Hunston Williams, Erasmus and the Reformers an Non-Christian Religions and Salus extra ecclesiam, in: Theodore K Rabb, Jerrold E. Seigel (Hgg.), Action and Conviction in Early Modern Europe. Essays in Memory of E. H. Harrison, Princeton, New Jersey 1969, S. 319-370; S. 324-337. Zu ihm und seiner Beziehung zu Erasmus vgl. Jarold Knox Zeman, Art. Jan Slechta, in: Peter G. Bietenholz, Thomas B. Deutscher (Hgg.), Contemporaries of Erasmus. A Biographical Register of the Renaissance and the Reformation, 3 Bde., Toronto, Buffalo, London 1985-1987, Bd. 3, S. 259f. Für die Situation in Böhmen, das nach erbitterten Kriegen und vergeblichen Verhandlungen auf dem Kuttenberger Landtag von 1485 durch eine, die Minderheit der Böhmischen Brüder nicht berücksichtigende, „erzwungene Toleranz" zwischen Katholiken und Utraquisten, d. h. Hussiten, befriedet wurde, vgl. Frantilek ,gmahel, Pax externa et interna. Vom Heiligen Krieg zur Erzwungenen Toleranz im hussitischen Böhmen (1419-1485), in: Alexander Patschovsky, Harald Zimmermann (Hgg.), Toleranz im Mittelalter, Sigmaringen 1998, S. 221-273; S. 271f.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

107

desselben Jahres9 brachte Erasmus zunächst seine Hoffnung zum Ausdruck, es möge sich jemand finden, der aus dieser Trias eine Monas mache. 1° Dabei sollen vor allem die Böhmischen Brüder, deren Verhalten Erasmus im Lichte der kirchlichen Frühzeit keineswegs so verwerflich findet wie sein Briefpartner, durchaus gebändigt werden, wenn sie über die Stränge schlagen, aber dies habe durch die rechtmäßigen Autoritäten und ohne Gewaltanwendung zu geschehen." Aus der Formulierung ergibt sich, daß die Böhmischen Brüder, wenn sie nicht auffällig werden, in Ruhe gelassen werden sollen. Eine Glaubensabweichung allein rechtfertigt demnach für Erasmus kein obrigkeitliches Eingreifen gegen eine Gruppe von Dissidenten. Seine Hoffnung setzt er auf den jungen Kaiser, Karl V. (1500-1558), der am 28. Juni 1519 gewählt worden war, und auf Papst Leo X. (1475-1521). 12 Als Methode nicht der Tolerierung, sondern zur Wiederherstellung der Einheit empfiehlt er, was er dann mit etwas anderen Worten auch in seinen letzten Lebensjahren wiederholt: grundsätzlich ein gewisses Entgegenkommen der Parteien, um die Einheit um so leichter erreichen zu können.13 Dieses kann sich nicht auf die Sakramente, sondern nur auf nachgeordnete Riten erstrecken, obwohl Erasmus hier eine gewisse Einheitlichkeit innerhalb der Kirche für angebracht hält. Einen Spielraum sieht er hingegen bei jüngeren lehramtlichen Definitionen2 4 Nach seiner Auffassung sollten ohnehin nur solche 9. Allen, epist. 1039, Bd. 4, S. 113-119. Dieser Brief wurde 1531 in einer von Martin Bucer überarbeiteten deutschen Übersetzung in Straßburg veröffentlicht, wobei der Bezug zur aktuellen Situation im Untertitel hergestellt wurde: Ain Epistel deß hochgelerten Erasmi Roterodami / an den edlen Herren Johann Schlechten / von Costeletz / inn welcher gar schoen die eynigen waren mittel werden für geschrieben / durch welche gegenwertige zweyung / in vnserm heiligen Glauben moechten fruchtbarlich hingelegt werden, Straßburg: Johannes Schweintzer 1531 (Nachdruck Nürnberg: Simon Tunckel 1531). Vgl. dazu Heinz Holeczek, Erasmus deutsch, Bd. 1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 251-259. 10. „Vtinam, mi Slechta, pius aliquis artifex ex ista triade monadem faceret!" (Allen, ebd., S. 115, Z. 83f.). 11. „Quod si illi refractis omnis pudoris repagulis pergant palam esse scelerosi, vt aliqua ratione coercendi sunt, ita neque cuiuslibet est illos incessere; nec armis rem geri placet, ne semel admissum exemplum violentiae saeuiat et in innoxios" (ebd., S. 116, Z. 142-146). Zur Haltung des Erasmus gegenüber den Böhmischen Brüdern, die ihn für ihre Sache zu gewinnen suchten, vgl. Jarold Knox Zeman, Art. Mikuläg Klaudyän, in Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 261-263 (mit reicher Lit. zum Thema). 12. Vgl. Allen, ebd., S. 117, Z. 198—S. 118, Z. 212. Mit beiden hatte Erasmus schon vor ihrem jeweiligen Amtsantritt engere Beziehungen. Vgl. David S. Chambers, Art. Pope Leo X, in: Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 319-322; Alfred Kohler, Peter G. Bietenholz, Art. Emperor Charles V, ebd., Bd. 1, S. 295-299. 13. „Pulchre coibit concordia, si pars vtraque nonnihil concesserit alteri" (Allen, ebd., S. 117, Z. 202f.). 14. Vgl. ebd., S. 118, Z. 213-218.

1 0 8

Peter Walter

Sachverhalte definiert werden, die sich eindeutig in der Heiligen Schrift finden bzw. die heilsnotwendig zu glauben sind. Das sind nach seiner Auffassung wenige Grundsätze, und, so fügt er sentenzenartig hinzu, weniges überzeuge eine Vielzahl rascher. 15 Als Kurzformel der „philosophia Christiana" hält er fest: Gott, der den Menschen durch seinen Sohn Jesus Christus alles aus Gnade schenkt, ist Grund jeglicher Hoffnung. Durch Christi Tod sind sie erlöst, in seinen Leib sind sie durch die Taufe eingefügt, damit sie als den Begierden dieser Welt Abgestorbene nach seiner Lehre und seinem Beispiel so leben, daß sie nicht nur nichts Böses tun, sondern sich um alle verdient machen, daß sie Widrigkeiten in der Hoffnung auf künftigen Lohn tapfer ertragen. Hierfür verwendet er das Verb „tolerare". Abschließend betont Erasmus nochmals, daß das Gute, das die Menschen tun, von Gott kommt.16 Während die Aussagen der genannten Kurzformel heilsnotwendig sind, dürfen andere nicht für alle verpflichtend gemacht werden, wozu Erasmus, ohne dies hier näher darzulegen, bestimmte trinitätstheologische und christologische Aussagen rechnet. Hinsichtlich der Eucharistie soll jeder Christ sie rein empfangen als Zeichen und Unterpfand der Liebe Gottes zu den Menschen und der Eintracht der Christen untereinander und sich entsprechend prüfen. Die Einzelheiten der Transsubstantiationslehre hingegen sind als solche nicht förderlich für die Frömmigkeit. Ähnliches gilt für die mit dem Glauben an die Auferstehung der Toten in Zusammenhang stehenden theologischen Probleme, die der einzelne Gläubige nicht lösen können muß. 17 Abschließend betont Erasmus, daß auch Machtmißbrauch und Ausbeutung durch die weltlichen Fürsten, besonders aber durch den Papst, die Eintracht nicht befördern. Die Menschen weichen zurück, wenn sie den Eindruck haben, nicht zum Glauben eingeladen, sondern zur Beu15. » • • • sed ea duntaxat (sc. definiantur) quae euidenter expressa sunt in sacris literis, auf sine quibus non constat ratio salutis nostrae. Ad haec pauca sufficiunt, et pauca citius persuadentur pluribus" (ebd., S. 118, Z. 222-224). Vgl. auch die Ausführungen des Erasmus zur Wirkung der knappen Rede in Adagium 1949 „Laconismus" (edd. Felix Heinimann, Emanuel Kienzle, in: ASD, Bd. 2/4, S. 306-308). 16. „Porro philosophiae Christianae summa in hoc sita est, vt intelligamus omnem spem nostram in Deo positam esse, qui gratis nobis largitur omnia per Filium suum Iesum. Huius morse nos esse redemptos, in huius corpus nos insitos esse per baptismum, vt mortui cupiditatibus huius mundi ad illius doctrinam et exemplum sic vivamus, vt non solum nihil admittamus mali verumetiam de omnibus bene mereamur; et, si quid inciderit aduersi, fortiter toleremus, spe futuri praemii quod omnes pios haud dubie manet in aduentu Christi: vt ita semper progrediamus a virtute in virtutem, vt nihil tarnen nobis arrogemus, sed quicquid est boni Deo transscribamus" (Allen, epist. 1039, Bd. 4, S. 118, Z. 228-237). Zu solchen und ähnlichen „Kurzformeln" vgl. Hoffmann, Toleration (wie Anm. 2), 102f. (Lit.). Zur „philosophia Christiana" vgl. Peter Walter, Art. Philosophia Christi, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 8 (1999), Sp. 247f. 17. Vgl. Allen, ebd., S. 118, Z. 239–S. 119, Z. 260.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

109

te zu werden. Und umgekehrt lassen sie sich umso leichter auf den Glauben ein, wenn sie bei den Katholiken keine Hintergedanken, sondern Wohlwollen erkennen. 18 Diese Darlegungen sind auch insofern interessant, als sie zeigen, daß Erasmus das in Böhmen den status quo bestimmende „Kuttenberger Modell" des Nebeneinander zweier Konfessionen, das 1512 ausdrücklich bestätigt worden war19, nicht zur Dauereinrichtung machen wollte. Sein Ziel war eben kein Nebeneinander, sondern die Eintracht.20 In der Vorrede zu der von ihm herausgegebenen Edition der Werke des Hilarius von Poitiers von 1523 bekräftigt Erasmus diese Position: Eine Theologie, welche über die in der Heiligen Schrift grundgelegten Aussagen hinausgeht, führt zu unnötigen Streitereien. Deshalb, so seine idealisierende Schlußfolgerung, hätten die Kirchenväter sich an diese Grenze gehalten. 21 Diese soll für ihn aber auch in der Gegenwart gelten, womit er sich vor allem gegen die scholastische Theologie wendet, die vieles zu bestimmen sucht, was man, ohne des Heiles verlustig zu gehen, nicht wissen muß. 22 Als Beispiel nennt er hier allein die Trinitätslehre, was sich vom Zusammenhang mit dem entsprechenden Werk des Hilarius her nahe legt.23 Der Glaube an den dreieinen Gott ist für ihn durchaus heilsnotwendig, aber er bedarf weder eines Beweises noch kann er andemonstriert werden.24 Theologische Diskussionen sind letztlich unfruchtbar und halten vom gelebten Glauben ab, der zum Heil führt: „Non damnaberis si nescias vtrum Spiritus a Patre et Filio proficiscentis vnicum sit principium an duo; sed non effugies exi-

18. Vgl. ebd., S. 119, Z. 262-267. Das negative Beispiel eines Kirchenmannes, der Machtpolitik betreibt, war für Erasmus zeitlebens Papst Julius II., dessen militärische Aktionen zur Arrondierung des Kirchenstaates er bei der Eroberung von Bologna aus der Nähe miterlebt hat. Vgl. David S. Chambers, Art. Pope Julius II, in: Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 250-252. 19. Vgl. ,mahel, Pax (wie Anm. 8), S. 271 Anm. 216. 20. Vgl. auch seine kurz vor dem Brief an Slechta, am 19. Oktober 1519, an Kardinal Albrecht von Brandenburg gerichteten Ratschläge in der Luther- und Reuchlin-Sache: Allen, epist. 1033, Bd. 4, S. 99-107. Dazu vgl. Peter Walter, Albrecht von Brandenburg und Erasmus von Rotterdam, in: Friedhelm Jürgensmeier (Hg.), Erzbischof Albrecht von Brandenburg (1490-1545). Ein Kirchen- und Reichsfürst der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1991, S. 102-116, bes. S. 109-111. 21. „Veteres autem parcissime de rebus diuinis philosophabantur; neque quicquam audebant de his pronunciare, quod non esset aperte proditum his literis quorum autoritas nobis est sacrosancta" (Allen, epist. 1334, Bd. 5, S. 176, Z. 142-145). tam multa definimus, quae citra salutis dispendium vel ignorari poterant vel in 22. „ ambiguo relinqui?" (ebd., S. 176, Z. 165f.). 23. Vgl. ebd., Z. 166-171. 24. „Si credo quod traditum est, esse tres vnius naturae, quid opus est operosa disputatione? Si non credo, nullis humanis rationibus persuadebitur" (ebd., Z. 170-172). Vgl. auch ebd., S. 177, Z. 190-194.

11 0

Peter Walter

tium, nisi curaris interim habere fructus Spiritus . 225 Vor diesem Hintergrund wird auch der Kernsatz dieses Textes deutlich: „Summa nostrae religionis pax est et vnanimitas." 26 Erasmus geht es keineswegs um ein dogmenfreies Christentum. Aber er möchte die dogmatischen Definitionen auf ein Minimum beschränkt sehen, da nur so die Einheit bewahrt werden könne.27 In einem im Herbst 1530, nach dem Augsburger Reichstag desselben Jahres, geschriebenen Brief an Kardinal Lorenzo Campeggi (1474-1 539), 28 der eine harte Gangart gegen die Lutheraner befürwortete, erinnert Erasmus an die Situation der Kirche in der Spätantike, in der unterschiedliche christliche Gruppierungen miteinander stritten und in der der Kaiser ohne Blutvergießen durch ein Lockern der Zügel allmählich den Häresien Einhalt geboten habe. Eine Duldung der Häretiker sei, wie das böhmische Beispiel zeige, besser als Gewaltanwendung. Die Zeit heile zuweilen für unheilbar gehaltene Wunden." 2. Der Weg zur Wiedergewinnung der „concordia": synkatabasis. Erasmus hat diese Position auf die Wiedergewinnung der Einheit mit den reformatorischen Gruppen übertragen, wie sich an den entscheidenden Passagen in seinem „Liber de sarcienda ecclesiae concordia" 3° aus dem Jahre 1533 ablesen läßt, der zum Ma25. Ebd., Z. 206-209. Erasmus folgt in der Aufzählung der Frucht des Geistes Gal 5,22f. 26. Ebd., Z. 217. 27. „Ea (sc. nostra religio) vix constare poterit, nisi de quarr potest paucissimis definiamus, et in multis liberum relinquamus suum cuique iudicium" (ebd., Z. 217-219). Zu dieser Grundauffassung des Erasmus vgl. Craig R. Thompson (Hg.), Inquisitio de Eide. A Colloquy by Desiderius Erasmus Roterodamus 1524,2. Aufl., Hamden, Connecticut 1975, S. 34-49. 28. Vgl. John E DAmico, Art. Lorenzo Campeggi, in: Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 253-255. Zum zeitgeschichtlichen Rahmen des im folgenden betrachteten Briefes an Campeggi und zu dessen deutschen Übersetzungen vgl. Holeczek, Erasmus deutsch (wie Anm. 9), S. 235-251. 29. „Qualis turn fuit orbis status! Eadem ciuitas habebat Arianos, paganos, et orthodoxos. In Africa furebant Donatistae et Circumcelliones. Multis in locis vigebat adhuc Manichaeorum insania et Marcionis virus, praeter incursiones barbararum gentium. Et tarnen in tantis dissidiis Imperator citra sanguinis effusionem habenas moderabatur et paulatim haeresium monstra resecabat. Ipsum tempus interdum affert remedium immedicabilibus maus. Si certis conditionibus sectae sinerentur (vt dissimulantur Bohemi) graue quidem, fateor, malum esset, sed bello, et tali bello, leuius" (Allen, epist. 2366, Bd. 9, S. 15, Z. 42-55). Unter dem Sprichwort „Dies adimit aegritudinem" sammelt Erasmus antike Zeugnisse für die Einsicht, daß die Zeit Wunden heile (Adagium 1405; ed. M Szymariski, in: ASD, Bd. 2/3, S. 408). 30. Liber de sarcienda ecclesiae concordia, ed. Robert Stupperich, in: ASD, Bd. 5/3, S. 245-313. Vgl. dazu Peter Walter, Art. Liber de sarcienda ecclesiae concordia ..., in: Michael Eckert, Eilert Herms, Bernd Jochen Hilberath, Eberhard Jüngel (Hgg.), Lexikon der theologischen Werke, Stuttgart 2003, S. 470f.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

111

nifest der „Vermittlungstheologie" 31 des 16. Jahrhunderts wurde, was sich nicht zuletzt an zwei rasch erschienenen deutschen Übersetzungen – einer des Straßburger Reformators Wolfgang Fabricius Capito (um 1478-1541) 32 sowie einer des zeitweiligen Lutheranhängers Georg Witzel (1501-1573) 33 – ablesen läßt. Diese Schrift, die formal als Kommentar zum 83. Psalm in der Vulgatazählung auftritt, kreist um den Gedanken der „concordia", der für Erasmus den „Inbegriff der christlichen Religion" darstellt. 34 Die Krankheit der Spaltung ist noch nicht zur Unheilbarkeit fortgeschritten. Erasmus fordert Reformen, die v. a. den geistlichen Charakter des kirchlichen Amtes wieder deutlich werden lassen, und plädiert dafür, Gebräuche, wie das Gebet für die Verstorbenen, die Anrufung der Heiligen, die Bilder- und Reliquienverehrung, die Beichte usw., die von den Lutheranern als Mißbräuche gebrandmarkt werden, als Zeugnisse echter Frömmigkeit zu tolerieren. Seine Hoffnung für eine Einigung setzt er auf ein allgemeines Konzil. Die zentrale Aussage lautet: „In der Zwischenzeit soll das Buhlen, um die Gunst (des Volkes) und das halsstarrige Eifern um Überlegenheit aufgegeben werden, aufhören sollen Begünstigungen samt persönlichen Haßbekundungen, es schweige das taub(machende) Geschrei des wahnsinnigen Zankes, 31. Vgl. Heribert Smolinsky, Art. Vermittlungstheologie I., in: Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 10 (2001), Sp. 697. 32. Von der kirchen lieblichen vereinigung / vnd von hinlegu(n)g dieser zeit haltender spaltung in der glauben leer / geschriben durch den hochgelerten und weitberiempten herren Des. Eras. von Roterdam. In welchem büchlin wiirt vff den einigen heiland vnseren herren Jesum Christum gewisen / alle notwendige ordinantzen sampt der gewalt vff zu bawn / gemeiner kirchen vertädiget / auch trewlich geraten / das man der beschuldigten partey glauben / frey und vnuerfolget lasse / vnd deßhalb fruchtbare mittel des fridens angezeigt / fast güt vnd besserlich zu allen parteyen / die friden mit Gott lieb haben. Von befridu(n)g der kirchen an den hochwürdigsten sc. Ertzbischoff vnd Churfursten zu Mentz und Magdenburg sc. Doctor Wolfgang Capito, Straßburg: Mathias Apiarius 1533 (Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des XVI. Jahrhunderts C 843, E 3631). Capito hat das Werk des Erasmus nicht nur übersetzt, sondern ihm auch einen umfangreichen Widmungsbrief an den Mainzer Erzbischof Kardinal Albrecht von Brandenburg beigegeben. Zu Capito vgl. James M Kittelson, Art. Wolfgang Faber Capito, in: Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 261-264. 33. Von der einigkeyt der kirchen / Durch Erasmum von Roterodam / ytzt new ausgangen. Psalm. 83. Wie lieblich sind deine Tabernackel / Du Herr Zabaoth!, Erfurt: Matthes Maler 1534 (Verzeichnis [wie Anm. 32] E 3632). Zu dieser anonym erschienenen, von Georg Witzel angefertigten, Übersetzung des letzten Teils von „De sarcienda ecclesiae concordia" vgl. Holeczek, Erasmus deutsch (wie Anm. 9), S. 266-269. Vgl. auch einige Beobachtungen zu den unterschiedlichen Akzentsetzungen der beiden Übersetzungen Capitos und Witzels ebd., S. 269-272. Zu Witzel vgl. Barbara Henze, Aus Liebe zur Kirche Reform. Die Bemühungen Georg Witzels (1501-1573) um die Kircheneinheit, Münster 1995. 34. Stupperich, Einleitung zur Edition (wie Anm. 30), S. 247.

112

Peter Walter

so daß schließlich jene friedfertige Wahrheit aufleuchtet. Es komme hinzu jenes Anpassungsvermögen (synkatabasis), damit jede Seite sich ein wenig der anderen annähert, ohne das keine Eintracht bestehen kann. Aber man komme sich so weit entgegen, daß die unbeweglichen Dinge (ta akineta) nicht bewegt werden, und so weit soll die Schwachheit der Menschen ertragen werden, daß sie allmählich zu Vollkommenerem eingeladen werden. Jenes aber muß allen tief eingeprägt sein, daß es weder gefahrlos noch zur Förderung der Eintracht nützlich ist, blindlings von den Dingen abzulassen, die durch die Autorität der Vorfahren überliefert und durch lange Übung und Konsens der Jahrhunderte bestätigt sind. Und es darf auch nichts gänzlich verändert werden, wenn dies nicht entweder eine Notwendigkeit erzwingt oder ein erkennbarer Nutzen dazu einlädt."" Es fällt auf, daß Erasmus hier zwei Ausdrücke auf Griechisch zitiert, ohne daß ihn, wie an anderen Stellen des Psalmenkommentars, der griechische Wortlaut, den es zu erklären gilt, dazu anhielte. Der erste Ausdruck, synkatabasis, begegnet gegen Ende des Werkes nochmals: „Wenn ein geregeltes Aufeinanderzugehen den Höhepunkt der Auseinandersetzungen abmildert, wird es geschehen, daß die Medizin der Synode glücklicher auf die Eintracht hinwirkt. Auf ähnliche Weise nämlich bereiten die Ärzte, bevor sie eine kräftige Arznei verabreichen, die Körper durch leichte und angenehme Getränke, die sie Sirup nennen, vor."36 Das Substantiv synkatabasis leitet sich von dem Verb synkatabaino ab, das neben der wörtlichen Bedeutung (zusammen hinuntersteigen) auch Übereinstimmung, Herablassung u. ä. zum Ausdruck bringt. Es begegnet sowohl in der Rhetorik als auch in der Mythologie wie schließlich in der christlichen Theologie der Antike. In der Rhetorik bezeichnet es die Anpassung des Redners an sein Publikum, in der Mythologie die Herablassung eines Gottes." Im Neuen Testament begegnet allein das Verb synkatabaino in seiner ursprünglichen Bedeutung (Apg 25,5), im christlichen Sprachgebrauch wird das Substantiv zur Bezeichnung der In-

35. „Accedat illa synkatabasis, vt vtraque pars alteri sese nonnihil accommodet, sine qua nulla constat concordia. Sed hactenus obsecundetur, vt ne moueantur ta akineta, et hactenus feratur hominum infirmitas, vt paulatim inuitentur ad perfectiora. Illud autem omnibus penitus infixum esse oportet, nec tutum esse, nec ad fouendam concordiam vtile, temere desciscere ab iis quae maiorum autoritate tradita sunt, quaeque longo seculorum vsu consensuque confirmata. Nec quicquam omnino nouandum est, nisi huc aut cogat necessitas, aut insignis inuitet vtilitas" (ASD, Bd. 5/3, S. 304, Z. 617-624). 36. „ ... si moderata synkatabasis praemolliat dissidiorum paroxysmum, fiet, vt synodi medicina felicius operetur ad concordiam. Sie enim medici priusquam porrigant validum pharmacum, leuibus quibusdam ac blandis potiunculis, sirupos illi vocant, praeparant corpora" (ASD, Bd. 5/3, S. 311, Z. 884-888). 37. Vgl. Henry George Liddell, Robert Scott, Henry Stuart Jones, Roderick McKenzie, A Greek-English Lexicon. A New Edition, Oxford 1953, S. 1662.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

113

karnation. 38 Erasmus verwendet den Begriff hier nicht im inkarnationstheologischen, sondern im elddesiologischen und im ethischen Sinn, in dem er auch bei den Kirchenvätern begegnet, etwa um eine zeitweilige Duldung abweichenden Verhaltens oder ein Entgegenkommen gegenüber Schismatikern zu bezeichnen, um diese in die kirchliche Gemeinschaft zurückzuholen." Bei Johannes Chrysostomus (1- 407), den man deswegen „le docteur de la condescendance" 4° genannt hat, begegnet der Begriff der synkatabasis besonders häufig. Erasmus hat einige seiner Werke ediert und übersetzt. 41 Dazu gehört der Kommentar zum Galaterbrief, in dem Chrysostomus gleich zu Beginn das entgegenkommende Verhalten der Apostel gegenüber Juden mit dem Verb synkatabainein charakterisiert, was Erasmus mit „morem gerere" (willfahren) übersetzt. 42 Zu Beginn der gleichfalls von Erasmus übersetzten ersten Homilie des Chrysostomus zur Apostelgeschichte, preist dieser die Herablassung der Apostel gegenüber ihren, Adressaten bei der Ausspendung (oikonomia) des Wortes Gottes unter Verwendung des Begriffs synkatabasis, was jener hier mit „demittere" wiedergibt» Die gleiche Wortverbindung begegnet auch im Galaterbriefkommentar, wo Chrysostomus die Aussage des Paulus auslegt, er habe sich den falschen Brüdern nicht unterworfen. Er kommentiert sie im Rahmen des unterschiedlichen Verhaltens der Apostel jüdischen Gebräuchen wie der Beschneidung gegenüber. Paulus habe seinen Gegnern die wahren Gründe ihres Handelns verschleiert. Sie hätten nur so gehandelt, um den Juden zu willfahren, nicht aus eigenem Entschluß, sondern aus seelsorgerischen Überlegungen» Nicht nur für den Begriff der syn38. Vgl. Geoffiey W H Lampe, A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961, S. 1267f.; K Duchatelez, La „condescendance" divine et l'histoire du salut, in: Nouvelle Revue Theologique 95 (1973), S. 593-621. 39. Vgl. Turchetti, Question (wie Anm. 2), S. 391f.; Duchatelez, Condescendance (wie Anm. 38), S. 616. 40. Vgl. Duchatelez, ebd., S. 601, Anm. 44, der hier eine Aussage von H. Pinard zitiert. Während der Sprachgebrauch des Chrysostomus im allgemeinen schon vielfach untersucht wurde (vgl. die von Turchetti, Question [wie Anm. 2], S. 390, Anm. 28, genannte Literatur), scheint die von Erasmus hier aufgegriffene spezielle Verwendung bislang nicht die Aufmerksamkeit der Forschung gefunden zu haben. 41. Vgl. Jacques Chomarat, Grammaire et rhetorique chez Erasme, 2 Bde., Paris 1981, Bd. 1, S. 461ff. 42. „Caeterum id faciebant (sc. Apostoli), non quod ita faciendum esse decernerent, sed ut eorum qui ex Judaeis crediderant imbecillitati morem gererent" (LB, Bd. 8, Sp. 269D; Patrologia Graeca, Bd. 61, Sp. 613). 43. „Itaque quum omnia sint admiratu digna, quaecunque hoc libro continentur, tarnen illud potissimum admirandum in Apostolis, quomodo sese ad infirmorum ac rudium captum demiserint (synkatabasis), atque hoc ipsum eis Spiritus sanctus suggessit, in hoc illos praeparans, ut in dispensando (tes oikonomias) verbo Dei versarentur" (LB, Bd. 8, Sp. 191D; Patrologia Graeca, Bd. 60, Sp. 15). 44. „Non enim explicat veram causam (sc. Paulus), videlicet quod facerent Apostoli, quo morem gererent Judaeis: non hoc fuisse judicii illorum, sed dispensationis (syn-

1 14

Peter Walter

katabasis konnte Erasmus auf Chrysostomus zurückgreifen, sondern auch für die damit bezeichnete Sache. Er hat im Frühjahr 1533 mehrere Homilien des Bischofs von Konstantinopel in lateinischer Übersetzung veröffentlicht, darunter drei, in denen dieser die Erzählung von der Eifersucht Sauls auf David und von dessen Großmut (vgl. 1 Sam 18-24) ausgelegt und die Wende Sauls als Folge der anexikakia des letzteren gedeutet hat, was Erasmus mit „tolerantia" im Sinne von „Aushalten/Erdulden" übersetzte. Dadurch, daß David sich nicht an Saul gerächt, sondern sich diesem gegenüber langmütig gezeigt hat, konnte er dessen Verhalten ändern.45 Auch wenn im griechischen Text der Begriff synkatabasis nicht gebraucht wird, beschreibt Chrysostomus doch ein Verhalten, das dem, entspricht. Erasmus greift in „De sarcienda ecclesiae condordia" zwar nicht ausdrücklich auf diesen Text zurück, scheint das dort empfohlene Handeln jedoch auf die gespaltene Christenheit zu übertragen. Das Verb „accommodare", mit dem Erasmus im ersten Zitat aus „De sarcienda ecclesiae concordia" den griechischen Ausdruck synkatabasis näher bestimmt, kommt diesem in seiner Bedeutung sehr nahe. Erasmus verwendet das lateinische Wort mit Vorliebe zur Charakterisierung der rhetorischen Grundregel, anlaßbezogen zu sprechen, und der daraus resultierenden Auslegungsregel, diese Anlaßbezogenheit bei der Interpretation zu berücksichtigen." Die beiden zeitgenössischen deutschen Übersetzungen des Werkes geben den Begriff synkatabasis unterschiedlich wieder: Georg Witzel wählt dafür das deutsche Wort „verzichtung" 47, das er beim zweiten Vorkommen in einer Marginalie ausdrücklich erklärt: „verzichtung Syncatabasis ist / wenn zwen widdersacher nach verzicht / einen gutlichen vertrag miteinander eingehen" 48 . Witzel interpretiert die Terminologie demnach juristisch als Verzicht auf Anklage gegen den jeweils

45.

46.

47.

48.

katabaseos kai oikonomias heneken)" (LB, Bd. 8, 286A; Patrologia Graeca, Bd. 61, Sp. 636). Aliquot Homiliae Diui Ioannis Chrysostomi ad pietatem summopere conducibiles, nunc primum et versae et editae, per Erasmum Roterodamum, Basel: Frohen 1533. Die erasmische Übersetzung der drei Homilien zu David und Saul ist leicht zugänglich in: LB, Bd. 8, Sp. 137-162: D. Joannis Chrysostomi episcopi Constantinopolitani de David et Saule, deque tolerantia, et quod oportet inimicis parcere, nec de absentibus male loqui. Für den griechischen Text vgl. nach wie vor PG Bd. 54, Sp. 675-708, wo als lateinische Übersetzung eine modifizierte Fassung derjenigen des Erasmus beigegeben ist. Zum rhetorischen Begriff der „accommodatio" und dessen theologischer Verwendung bei Erasmus vgl. Peter Walter, Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus von Rotterdam, Mainz 1991, S. 33-53. „Es müs ein semptliche verzichtung do seyn, das sich ein teil dem andern etwas ergebe, an ditz wirdt kein einigkeit. Aber also fern sol nachgeben werden, do mit doch was vnbeweglich ist, nicht bewegt werde" (Von der einigkeyt [wie Anm. 33], fol. Aivv). „So ein messige verzichtung den groll der zwitracht auffweychet, so geschee es, das des Concilij ertzney deste glücklicher zur Eynigkeit wurcken wurde" (ebd., fol. Diir). Ebd.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

115

anderen, der eine gütliche Einigung ermöglicht. Capito übersetzt beide Male mit „nachgeben"". Der zweite Ausdruck ta akineta kann unterschiedliches Bewegungsloses bezeichnen 50 . In der spezifischen Verwendung „Unbewegliches bewegen" (kinein ta akineta), wie sie auch bei Erasmus begegnet (movere ta akineta), wird er zum einen im sakralrechtlichen Zusammenhang gebraucht. Von Miltiades, dem Sieger von Marathon, heißt es bei Herodot, er sei bei seinem vergeblichen Versuch, Paros zu erobern, in den dortigen Tempel der Demeter eingedrungen und habe möglicherweise versucht, „etwas von den unbeweglichen Dingen zu bewegen"51, d.h., er habe versucht, etwas aus dem Allerheiligsten zu entfernen. Zum andern begegnet eine ähnlichlautende Formulierung auch in Platons Theaitetos, in dem über das Wissen diskutiert wird und die heralditische Erkenntnislehre, nach der alles im Fluß ist, der parmenideischen, die auf dem Unbeweglichen aufbaut, gegenübergestellt wird. Die Anhänger der heraklitischen Position werden beschrieben als diejenigen, „die auch das Unbewegliche bewegen" (ton ta akineta kinounton) 52. Man könnte vor diesem Hintergrund geneigt sein, Erasmus zu unterstellen, er setze die reformatorische Position mit der der Anhänger Heraklits und die altgläubige mit der der Anhänger des Parmenides in eins, aber dem ist, wie der Gesamtzusammenhang ergibt, nicht so. Denn er spricht sich durchaus nicht absolut gegen Veränderungen aus. Allerdings befürwortet er solche nur unter bestimmten Bedingungen, auf die noch einzugehen ist. Auch die Bedeutung von zusammengeschriebenem takineta als Unsagbares 53 scheint bei ihm nicht zugrunde zu liegen. Bei aller Ehrfurcht vor dem göttlichen Geheimnis war Erasmus eine Auffassung, die den christlichen Glauben als eine Art Geheimwissenschaft interpretiert, völlig fremd. 49. „Daby soll sein zu beide(n) teile(n) ein nachgebe(n), dz jedes teil des anderen weiß warneme, sunst mag kein einigkeit beston. Aber so ferr sollen sie einander willfare(n), dz nichts vnmöglichs vunderstanden werde, und so ferr trage man der menschen blödigkeit, dz sie doch immer zur besserung gefördert werde" (Von der kirchen lieblichen vereinigung [wie Anm. 32], fol. liv r). „Wa ein gebürlich nachgeben vndereinander, die der zertrennung scherpffe milterte, würde folgen, das des Concili artzeney dester würcklicher, zu erlangen die vereinigung sein möchte" (ebd., fol. nir). 50. Vgl. Liddel, Scott u.a., Lexicon (wie Anm. 37), S. 50. Im patristischen Sprachgebrauch wird akinetos vorwiegend personal gebraucht, um die Unveränderlichkeit Gottes bzw. der göttlichen Personen und die Standhaftigkeit der Seele Christi gegenüber dem Bösen zu bezeichnen. Vgl. Lampe, Lexicon (wie Anm. 38), S. 63. Chrysostomus spricht in „De David et Saule" gleichwohl vom akineto(s) ... nomo(s) (Patrologia Graeca, Bd. 54, Sp. 684), was Erasmus einfach mit „lex" wiedergibt (LB, Bd. 8, Sp. 144C). 51. Herodot, Historiae 6,134 (ed. Haiim B. Rosen, Bd. 2, Stuttgart, Leipzig, S. 156). 52. Platon, Theaitetos 181a (Opera, ed. E. A. Duke u. a., 3. Aufl., Bd. 1, Oxford 1995, S. 336). 53. Vgl. Sophokles, Antigone 1060; Oedipus Coloneus 624 (Tragoediae, ed. Roger D. Dawe, Bd. 2, Leipzig 1979, S. 98 und 201).

116

Peter Walter

Nach Erasmus ist das Bestehende in iure possessionis, und man soll sich nicht leichtfertig darüber hinwegsetzen. Diese Einstellung hatte er schon in seiner Auseinandersetzung mit Luther über den freien Willen mit dem griechischen Begriff akineta bezeichnet. 54 Veränderungen, nicht das Festhalten am Bestehenden bedürfen der Rechtfertigung. Dies entspricht seiner bei aller immer wieder geäußerten Kritik am Bestehenden doch erkennbaren konservativen Grundhaltung, die ihn mit seinen Anhängern im altgläubigen Lager verbindet, etwa mit Georg Witzel, der nach einem zeitweiligen Anschluß an Luther zur alten Kirche zurückgekehrt ist, und der in seiner Teilübersetzung von „De sarcienda ecclesiae concordia" die von Erasmus genannten akineta mit der alten rechten Lehre identifiziert." Ansonsten übersetzt er den erasmischen Text wortgetreu ins Deutsche. Anders Capito, ehemaliger Anhänger des Erasmus und nun lutherischer Pfarrer in Straßburg. Er versteht die erasmische Aussage von den akineta anders, wenn er übersetzt: „Aber so ferr sollen sie einander willfare(n) / dz nichts unmöglichs understanden werde / und so ferr trage man der menschen blödigkeit / dz sie doch immer zur besserung gefürdert werde(n)." 56 Allerdings hält er sich bei der Wiedergabe der folgenden Aussage wieder stärker an das erasmische Original: „Das soll jm aber ein jederselbs wol einbilde(n) / dz nit ongeferlicheit ist / noch zur einigkeit dienstliche(n) on vrsach zuweiche(n) von den ordinantze(n) vnd leren so durch der alten ansehen auffbracht / vnd lange jar der einhellige brauch befestiget hatt. Auch soll gar nicht news werden fürgenom(m)en / es zwinge dann dazu die notturft / oder ein schinbarer nutz.""

3. Ablehnung der Todesstrafe für Häresie. In seiner Paraphrase zum Matthäusevangelium, die Erasmus 1522 Kaiser Karl V. widmete," interpretierte er das Gleich54. Erasmus, Hyperaspistes Diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri liber primus: „Oportet enim aliquem esse disputandi einem: nam quod nunc veluti de re integra disputatur, tu (sc. Luther) nos cogis, qui tot jam seculis comprobata, fixa, & akineta, revocas in dubitationem, imo convellis ac demoliris" (LB, Bd. 10, Sp. 1259D/E). 55. In einer Marginalie erklärt er „unbeweglich Das ist / die alte rechte lere" (Von der einigkeyt [wie Anm. 33], fol. BO. 56. Von der kirchen lieblichen vereinigung (wie Anm. 32), fol. livr. 57. Ebd., livr-v. 58. Erasmus hat die Paraphrasen zu den vier Evangelien und zur Apostelgeschichte den bedeutendsten Herrschern seiner Zeit gewidmet: Mt: Kaiser Karl V. (Allen, epist. 1255, Bd. 5, S. 5-7), Mk: König Franz I. (ebd., epist. 1400, Bd. 5, S. 352-361), Lk: König Heinrich VIII. (ebd., epist. 1381, Bd. 5, S. 313-322); Joh: König Ferdinand (ebd., epist. 1333, Bd. 5, S. 164-172), Apg: Papst Klemens VII. (ebd., epist. 1414, Bd. 5, S. 390f.). Zu den erasmischen Paraphrasen des Alten und Neuen Testaments vgl. Hilmar M. Fabel, Mark Vessey (Hgg.), Holy Scripture Speaks. The Production and Reception of Erasmus' Paraphrases on the New Testament, Toronto, Buffalo, London 2002; Veronique Ferrer, Anne Mantero (Hgg.), Les paraphrases bibliques aux XVI' et XVIP siecles. Actes du Colloque de Bordeaux de 22,23, et 24 septembre 2004, Geneve 2006.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

117

nis vom Unkraut im Weizen und dessen Auslegung (Mt 13,24-30.36-43), das in der Geschichte des Toleranzdenkens eine bedeutende Rolle spielt, folgendermaßen: Der Weizen sind „ii, qui ex institutione Euangelica sese dignos praebent regno coelorum, professioni suae vita factisque respondentes." 59 Das Unkraut hingegen sind „improbi, qui non sincere profitentur Euangelicam doctrinam", bzw., wie er kurz darauf präzisiert: „Pseudapostol(i) & Haeresiarcha(e)" 60. Die Sklaven, die das Unkraut vor der Zeit ausreißen möchten, sind diejenigen, die letztere mit Schwert und todbringenden Geschossen vernichten wollen, während der Hausvater diese nicht ausgelöscht, sondern geduldet sehen möchte, um abzuwarten, ob sie sich vielleicht bekehren, damit aus Unkraut Weizen werde. Wenn sie sich aber nicht bekehren, sollen sie für ihren Richter aufgehoben werden, der sie einmal bestrafen wird. In der Zwischenzeit sollen die mit den Guten vermischten Bösen ertragen werden, solange sie mit geringerem Schaden geduldet als ausgemerzt werden.6' Nod Beda (um 1470-1537) 62 , langjähriger Syndikus der Theologischen Fakultät der Universität Paris und einer der erbittertsten Gegner des Erasmus, und spanische Ordensleute, die Material für ein Inquisitionsverfahren gegen Erasmus zusammenstellten,63 warfen diesem vor, durch diese Passage im Gegensatz zum Kirchenrecht die Todesstrafe für Häretiker zu verwerfen und dadurch die Lutheraner zu unterstützen. Erasmus stellte in seinen Verteidigungsschriften gegen

59. LB, Bd. 7, Sp. 80D. 60. Ebd., Sp. 80E. 61. „Servi qui volunt ante tempus colligere zizania, sunt ii, qui Pseudapostolos & Haeresiarchas gladiis auf mortibus existimant e medio tollendos, cum paterfamilias nolit eos exstingui, sed tolerari, si forte resipiscant, & e zizania vertantur in triticum. Quod si non resipiscant, serventur suo Judici, cui poenas dabunt aliquando. ... Interim igitur mali bonis admixti ferendi sunt, quando minore pernicie tolerantur, quam tollerentur" (ebd., Sp. 80E). 62. Vgl. James K Farge, Art. Nod Beda, in: Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 116-118; Erika Rummel, Erasmus and his Catholic Critics, 2 Bde., Nieuwkoop 1989; Bd. 2, S. 29-51. Vgl. auch dies., Why Nod Beda Did Not Like Erasmus' Paraphrases, in: Fabel, Vessey, Holy Scripture (wie Anm. 58), S. 265-278; Noelle Balley, Paraphrastes perversus depravator: Les censures de Nod Beda contre les paraphrases d'Erasme sur les quatre evangiles, in: Ferrer, Mantero, Paraphrases (wie Anm. 58), S. 93-111, bes. S. 109f., wo der Vorwurf Bedas zitiert wird, Erasmus stehe seinen Gegnern keineswegs tolerant gegenüber, sondern sei ein „impatientissimus scriptor". Zum Wandel in den Kontroversen des Erasmus von der freundschaftlichen Diskussion in den Auseinandersetzungen bis 1519 zum erbitterten Disput in den späteren Jahren vgl. Myron-l? Gilmore, Les limites de la tolerance dans rceuvre polemique d'Erasme, in: Colloquia Erasmiana Turonensia. Douzieme stage international d'Etudes humanistes, Tours 1969,2 Bde., Paris 1972; Bd. 2, S. 713-736. 63. Vgl. dazu Rummel, Critics (wie Anm. 62), S. 81-105.

1 1 8

Peter Walter

diese Anwürfe64 richtig, daß nicht er so argumentiere, sondern Christus selber. Es gehe ihm keineswegs darum, weltliche und geistliche Autoritäten gegenüber religiösen Abweichlern handlungsunfähig zu machen, sondern lediglich um eine Ablehnung der Todesstrafe. In der Zeit der Alten Kirche habe sich die Kirche mit der Exkommunikation begnügt und, wie das Beispiel Augustins zeige, gegen die für Häresie staatlich verhängte Todesstrafe ausgesprochen. 65 Wenn Häretiker sich nicht auch anderer Vergehen schuldig machten, genüge dies vollauf. Erasmus kritisiert Inquisitionsverfahren als formal ungenügend. Auch möchte er sein Eintreten gegen die Todesstrafe für Häretiker nicht als Eintreten für diese mißverstanden wissen, die er verabscheue. Die von Beda zur Unterstützung seiner Position herangezogenen Bibel- und Augustinuszitate vermögen diese nicht zu beweisen: Sie sprechen zwar für eine Bestrafung, aber nicht für eine Tötung von Häretikern. Dennoch möchte sich Erasmus, wie er in einer einschränkenden Bemerkung zu erkennen gibt, nicht gänzlich gegen die Hinrichtung von Ketzern durch die staatliche Autorität aussprechen, wenn sie den öffentlichen Frieden stören. Aber dies zu betreiben, sei nicht die Aufgabe der Kirche. 66 Erasmus faßt am Schluß die biblische Aussage zusammen, indem er formuliert, was Beda zu Recht hätte sagen können: „ ... eam parabolam proprie pertinere ad viros Apostolicos, hoc est, Ecclesiarum administratores, quorum officium est omnium curare salutem, nulli vitam eripere, deinde parabolam eam peculiarius pertinere ad illa prima tempora, quibus Ecclesia, sub Ethnicis Principibus agens, nullum adhuc habebat jus sanguinis, sed ita dispensante Deo persequutionibus, afflictionibus, mortibus, Principum & haereticorum insectationibus erat exercenda corroborandaque."67 In der Apologie gegen die gegnerischen spanischen Ordensleute gerät die Verteidigung seiner Aussage in der Matthäusparaphrase zur Anklage gegen die Institution der Inquisition, die gerade von denjenigen betrieben werde, denen daran gelegen sein müßte, die Irrenden zu heilen, statt sie zu vernichten. Was die historische Entwicklung der Häretikerbekämpfung angeht, legt Erasmus Wert auf die Feststellung, daß es Häretiker wie die Donatisten und Circumcel64. Vgl. die entsprechenden Abschnitte in: Supputatio errorum in censuris Beddae (1526): LB, Bd. 9, Sp. 580C-583F; Apologia adversus monachos quosdam Hispanos (1527): ebd., Sp. 1054A-1060A. Vgl. dazu Oelrich, Toleranzbegriff (wie Anm. 2). 65. In der Schrift gegen Beda bezieht Erasmus sich hauptsächlich auf die Briefe Augustins an Bonifacius (epist. 185,6,22-23; Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Bd. 57, S. 20-22) und an Marcellinus (epist. 139,2; ebd.,

Bd. 44, S. 150-152), in denen dieser sich für eine Duldung der Donatisten ausspricht, trotz deren Gewalttätigkeit. Vgl. auch Serge Lancel, James S. Alexander, Art. Donatistae, in: Augustinus-Lexikon, Bd. 2 (1996-2002), Sp. 606-638 sowie Emilien Lamirande, Tolerer les pecheurs, in: Bibliotheque Augustinienne, Bd. 32, Bruges 1965, S. 694-696. 66. „ ... et tarnen ego Principes ad trucidandos haereticos, nec hortor, nec dehortor. Quid Sacerdotalis sit officii demonstro" (LB, Bd. 9, Sp. 581F). 67. Ebd., Sp. 583E.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

11 9

lionen gewesen seien, die mit ihren gewaltsamen Übergriffen gegen die Orthodoxen deren Appell an die staatliche Gewalt und schließlich das Eingreifen der letzteren hervorgerufen hätten." Über Augustinus hinaus führt er hier zahlreiche weitere Kirchenväter als Gegner der Todesstrafe für Häretiker an. 69 Dem gegenüber streicht er das veränderte Verhalten in der Gegenwart heraus, wo Menschen wegen geringerer Abweichungen als Häresien von der Inquisition verfolgt, verurteilt und von staatlichen Organen getötet werden.7°

Das Fortwirken der erasmischen Gedanken Erasmus hat ohne Zweifel mit seinen Überlegungen die weitere Entwicklung des Toleranzgedankens beeinflußt!' Hier müssen einige wenige Hinweise genügen, die diesen Einfluß vor allem an literarisch greifbaren Zeugnissen des 16. Jahrhunderts zu zeigen versuchen. 1. Erasmus und die Straßburger Reformatoren. Der mit Erasmus befreundete niederländische Humanist Gerard Geldenhouwer (1482-1542), der bei einem Besuch in Wittenberg 1524 zum Anhänger der Reformation geworden war, hat 1527/28 von Antwerpen aus einen offenen Brief an Karl V. gerichtet, in dem er sich gegen eine blutige Ketzerverfolgung wandte und dabei, wie Cornelis Augustijn nachgewiesen hat, auf Argumente des Erasmus aus dessen Gegenschrift gegen Nod Beda zurückgriff.72 1529 setzte er, nun in Straßburg, seinen Kampf für 68. „Tanta erat rabies, ut nec ab Ethnicis Principibus tolerari debuerint, nec a Christianis, etiamsi nulla fuisset haeresis, auf schismatis crimen" (LB, Bd. 9, Sp. 1054F1055A). 69. Vgl. ebd., Sp. 1057E-1059A, wo Erasmus der Reihe nach die Positionen von Johannes Chrysostomus, Theophylakt, Hieronymus und Augustinus abhandelt. 70. Vgl. ebd., Sp. 1055D-1057E. Bis zu den Zeiten Berengars von Tours (t 1088) war die schwerste selbst gegen rückfällige Häretiker verhängte Strafe die mit dem Anathem verbundene Exkommunikation. Vgl. ebd., Sp. 1057D. Bereits in dem o. Anm. 20 angeführten Brief an Albrecht von Brandenburg hatte er die Haltung des Augustinus als vorbildlich hingestellt, der die Donatisten, obwohl sie nicht nur Häretiker, sondern Verbrecher gewesen seien, nicht getötet, sondern belehrt und bekehrt sehen wollte. Vgl. Allen, epist. 1033, Bd. 4, S. 102, Z. 104-106; vgl. auch längere Passagen in Erasmus, Apologia rejiciens quorundam suspiciones ac rumores, natos ex dialogo figurato, qui Jacobo Latomo inscribitur" von Ende März 1519 (LB, Bd. 9, Sp. 105A–B) und in dem Brief an Lorenzo Campeggi vom 6. Dezember 1520 (Allen, epist. 1167, Bd. 4, S. 407, Z. 309-317). 71. Vgl. Leckr, Religionsfreiheit (wie Anm. 2) Bd. 1, S. 324-345.369-388. Vgl. auch insgesamt das wichtige Werk von Mario Turchetti, Concordia o tolleranza? Frarwois Bauduin (1520-1673) e i „moyenneurs", Geneve 1984. 72. Cornelis Augustijn, Erasmus, Gerard Geldenhouwer und die religiöse Toleranz (1978), in: ders., Erasmus (wie Anm. 6), S. 112-137, bes. S. 118-122. Vgl. auch

120

Peter Walter

die Toleranz fort, dieses Mal unter Heranziehung der Apologie des Erasmus gegen die spanischen Ordensleute." In beiden Fällen reproduzierte Geldenhouwer die Aussagen des Erasmus jedoch nicht einfach, sondern radikalisierte sie. Hatte Erasmus in bestimmten, eng umgrenzten Fällen das Töten von Häretikern nach einem gerechten Verfahren durch die dazu befugten Autoritäten durchaus für möglich gehalten, so lehnt Geldenhouwer dies in jedem Fall ab. Erasmus bezieht sich wohl auf ihn, wenn er in seiner „Epistola contra pseudeuangelicos" Vertretern der gewaltsamen Ketzerverfolgung um jeden Preis eine Position gegenüberstellt, die ein solches Vorgehen unbedingt ablehnt: „Ebensosehr wie diejenigen sündigen, die um welchen Irrtum(s) willen auch immer Menschen zum Scheiterhaufen schleppen, ebensosehr sündigen diejenigen, die meinen, die staatliche Behörde habe in keinem einzigen Fall der Ketzerei das Recht zum Töten."74 Der zur gleichen Zeit in Straßburg lebende Spiritualist Sebastian Franck (1499-1542) 75 lehnte mit Berufung auf dieselben bzw. ähnliche Erasmusstellen in seiner „Chronica, Zeytbuch und Geschichtbybell" (Straßburg: Balthasar Beck 1531) jegliche Ketzerbekämpfung ab und forderte gleiches Recht für alle Religionen. 76 Daß er in diesem Zusammenhang Erasmus in die Schar der gegen Irrtum und Ignoranz streitenden Ketzer aufnahm, brachte ihm keineswegs den Dank des im nahen Freiburg lebenden und um seinen Ruf besorgten Humanisten ein. Dieser beschwerte sich beim Straßburger Rat, der den unruhigen Geist wegen seines radikalen Standpunkts 1531 auswies. 77 Ähnlich erging es ihm sukzessive aber auch an allen anderen Orten, bis er schließlich in Basel eine Bleibe fand, wo ihn der Tod bald dahinraffte.

73.

74.

75.

76.

77.

Gilbert Tournoy, Art. Gerard Geldenhouwer, in: Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 82-84. Es handelt sich um LB, Bd. 9, Sp. 1057A–E. In einer deutschen Fassung wird ebd., Sp. 1054C-1057F übersetzt wiedergegeben. C. Augustijn hat die komplizierte Geschichte der in diesem Zusammenhang erschienenen Schriften Geldenhouwers aufgehellt und den Umfang der Übernahmen aus Erasmus bestimmt. Vgl. Augustijn, Geldenhouwer (wie Anm. 72), S. 127-137, bes. S. 132f. Vgl. auch Holeczek, Erasmus deutsch (wie Anm. 9), S. 209-235. Erasmus, Epistola contra pseudeuangelicos, ed. Cornelis Augustijn, in: ASD, Bd. 9/1, S. 288, Z. 139-141; Übersetzung: Augustijn, Geldenhouwer (wie Anm. 72), S. 130. Vgl. Hans R. Guggisberg, Art. Sebastian Franck, in: Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 53f. Vgl. auch Jan-Dirk Müller (Hg.), Sebastian Franck (1499-1542), Wiesbaden 1993; Siegfried Wollgast, Beiträge zum 500. Geburtstag von Sebastian Franck (1499-1542), Berlin 1999. Vgl. Rudolf Kommoß, Sebastian Franck und Erasmus von Rotterdam (Germanische Studien 153), Berlin 1934, S. 82-84 (Zitate aus den einschlägigen Werken Francks mit Angabe der erasmischen Quellen). Unzugänglich blieb mir Meinulf Barbers, Toleranz bei Sebastian Franck, Bonn 1964. Vgl. Kommoß, ebd., S. 19f.; Klaus Deppermann, Sebastian Francks Straßburger Aufenthalt, in: Müller, Franck (wie Anm. 75), S. 103-118, bes. S. 112-115.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

121

Die Auseinandersetzung mit Geldenhouwer führte zu einer zeitweiligen Entfremdung zwischen Erasmus und dem führenden Straßburger Reformator, Martin Bucer (1491-1551), wobei es beiden allerdings gelang, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. 78 Das Erscheinen von „De sarcienda ecclesiae concordia" hatte für Bucer „eine Signalwirkung" 79 . Er hat den erasmischen Gedanken des Aufeinanderzugehens aufgegriffen, das Gemeinte allerdings nicht mit dem von Erasmus gebrauchten Begriff der synkatabasis, sondern dem der Epikie bzw. der „aequitas" bezeichnet." Ein anderer Straßburger Reformator, Wolfgang Capito, hat, wie wir bereits sahen, wohl nicht ohne Bucers Einverständnis „De sarcienda ecclesiae concordia" mit einer umfangreichen Einleitung versehen ins Deutsche übersetzt. Das Schwergewicht dieser Ausgabe war allerdings, wie Heinz Holeczek herausgearbeitet hat, „deutlich auf die Forderung nach Duldung des reformatorischen Glaubensverständnisses gelegt und nicht auf die Wiedervereinigung der zerrissenen Christenheit." 81 Damit distanzierte sich Capito in gewisser Weise vom irenischen Ziel des Erasmus. 82 Seine Übersetzung ordnet sich in die von Straßburg ausgehenden Versuche ein, aus den im vorliegenden Beitrag behandelten erasmischen Schriften jene Passagen herauszuarbeiten, „welche die gewaltfreie Duldung insbesondere des Glaubensverständnisses der Reformation zu fördern schienen" 83 und dieser mit Berufung auf Erasmus einen Freiraum zu verschaffen. 2. Katholische Vermittlungstheologen. Ganz im Sinne des Erasmus waren Versuche, durch Einigung auf das Wesentliche und Verzicht auf das starre Festhalten an Unwesentlichem die Spaltung zu überwinden, wie sie von Georg Witzel, der ebenfalls als Übersetzer zumindest des „ökumenisch" relevanten Teils von „De sarcienda ecclesiae concordia" hervorgetreten ist, und Georg Cassander (1513—

78. Vgl. Marijn de Kroon, Studien zu Martin Bucers Obrigkeitsverständnis. Evangelisches Ethos und politisches Engagement, Gütersloh 1984, S. 40-42. Für die Jahre bis 1530 vgl. Friedhelm Krüger, Bucer und Erasmus. Eine Untersuchung zum Einfluß des Erasmus auf die Theologie Martin Bucers, Wiesbaden 1970. Vgl. auch Miriam U. Chrisman, Art. Martin Bucer, in: Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 209-212. 79. Vgl. Kroon, ebd., S. 37. 80. Vgl. Ebd., S. 43-56. Vgl. auch ders., Martin Bucer and the Problem of Tolerance, in: Sixteenth Century Journal 29 (1988), S. 157-168; Volkmar Ortmann, Reformation und Einheit der Kirche. Martin Bucers Einigungsbemühungen

bei den Religionsgesprächen in Leipzig, Hagenau, Worms und Regensburg 1539-1541, Mainz 2001, S. 36 40. 81. Holeczek, Erasmus deutsch (wie Anm. 9), S. 265; vgl. auch ebd., S. 262-266. 82. Vgl. James M Kittelson, Wolfgang Capito. From Humanist to Reformer, Leiden 1975, S. 237. 83. Holeczek, Erasmus deutsch (wie Anm. 9), S. 266.

122

Peter Walter

1566) vorgelegt wurden." Obwohl letzterer Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung mit Abweichlern ablehnte und auf Belehrung setzte, hielt er, etwa im Fall der Täufer, einen maßvollen Zwang für hilfreich, um diese zum Umdenken zu bewegen." Unter den katholischen Vermittlungstheologen, die sich im 16. Jahrhundert auf Erasmus beriefen, soll als letzter der Franzose Theologe Claude d'Espence (1511-1571) 86 genannt werden, der an dem Religionsgespräch von Poissy (1561) beteiligt war. Erasmus, den er „le cinquieme docteur de l'Eglise" genannt haben soll87, war für ihn die große Leitgestalt. In seinen exegetisch-philologischen wie in seinen theologischen Werken hat er sich an ihm orientiert. Er verteidigte ihn u. a. gegen Kritik an der Schrift „De sarcienda ecclesiae concordia", wie sie Ambrosius Catharinus (1484-1553) und Jacobus Latomus (um 1475-1544) äußerten. Ersterer hatte in seiner Schrift „De certa sanctorum gloria" Erasmus vorgeworfen, in dem genannten Kommentar zu Psalm 83 die eucharistische Anbetung in Zweifel gezogen und dadurch die einfachen Gläubigen in ihrem Glauben erschüttert zu haben." Auch die Kritik des Letztgenannten an dieser Schrift des Erasmus" ver-

84. Vgl. Barbara Henze, Erasmianisch: Die ‚Methode', Konflikte zu lösen? Das Wirken Witzels und Cassanders, in: M E. H. N Mout, Heribert Smolinsky, Jan Trapman (Hgg.), Erasmianism: Idea and Reality, Amsterdam u. a. 1997, S. 155-168; dies., Georg Cassander (1513-1566), in: Heribert Smolinsky, Peter Walter (Hgg.), Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 6, Münster 2004, S. 50-68. Zu Witzel vgl. Henze, Reform (wie Anm. 33). 85. Vgl. Henze, Cassander (wie Anm. 84), S. 62f. 86. Vgl. Peter Walter, Schriftauslegung und Väterrezeption im Erasmianismus am Beispiel von Claude d'Espence, in: Mout, Smolinsky, Trapman, Erasmianism (wie Anm. 84), S. 139-153; ders., Claude d'Espence (1511-1571), in: Smolinsky, Walter, Theologen (wie Anm. 84), S. 33-49. 87. Vgl. Walter, Schriftauslegung (wie Anm. 86), S. 150 Anm. 68. 88. „De certa gloria, invocatione ac veneratione sanctorum disputationes atque assertiones catholicae adversus impios", mit eigener Titelei und Paginierung in: Ambrosius Catharinus Politus, Opuscula, Lyon: Matthias Bonhomme 1542. Die von d'Espence zitierte Kritik findet sich S. 42-44. Der Dominikaner Ambrosius Catharinus gehörte zu den ersten literarischen Gegnern Luthers in Italien. Vgl. Ilse Guenther, Art. Lancellotto de' Politi, in: Contemporaries (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 105f.; Rummel, Critics (wie Anm. 62), Bd. 2, S. 128-134, bes. S. 131. 89. Es handelt sich um die aus dem Nachlaß des Löwener Theologen Jacobus Latomus kompilierte Schrift „Aduersus Erasmi librum de sarcienda ecclesiae concordia", in: Jacobus Latomus, Opera omnia, Lovanii: Bartholomaeus Grauius 1550, fol. 172r182r. Vgl. Jacques Etienne, Spiritualisme erasmien et theologiens louvanistes. Un changement de problematique au debut du XVI' siede, Louvain, Gembloux 1956, S. 167 Anm. 5, S. 168 Anm. 6. Etienne geht auf diese Kritik des Latomus an Erasmus ebensowenig ein wie Rummel in ihrem Kapitel über Jacobus Latomus. Vgl. Rummel, Critics (wie Anm. 62), Bd. 1, S. 63-93.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

123

suchte d'Espence zu entkräften." Aber er verteidigte die erasmische Position nicht nur gegen aus seiner Perspektive ungerechtfertigte Angriffe, sondern machte sie sich auch explizit zu eigen. So griff er 1561 in einer an den einflußreichen Politiker Michel de L'H6pital (um 1505-1573) gerichteten Widmungsvorrede, freilich ohne dies ausdrücklich zu machen, auf Erasmus zurück: „Laßt uns in den Fragen, in denen die Wahrheit wankt und schwankt, zu den Ursprüngen bei Christus und dem Evangelium sowie zur apostolischen Tradition zurückkehren, damit von dort die Begründung unseres Handelns herkommt, von wo auch dessen Ordnung und Ursprung stammt. Solange diese althergebrachte Wahrheit und dieses wahre Herkommen nicht allen in gleicher Weise einleuchtet, sehe ich mit meinen geringen Kräften nicht, was man, um die schwierige Krise der gegenwärtigen Spaltungen zu beruhigen, anderes wünschen und raten könnte, als eine gewisse maßvolle Anpassung (moderata aliqua synkatabasis), mit der jeder Teil sich dem anderen ein wenig zuneigt und dennoch gewährleistet, daß die unverrückbaren Dinge (ta akineta), die durch die öffentliche und allgemeine Autorität der Vorfahren vom Beginn der Kirche an eingeführt wurden, nur durch dieselbe, d.h. öffentliche (Autorität) verändert werden und nicht durch persönliche Vorlieben, um nicht zu sagen Willkür, in Bewegung gebracht werden. Ohne diese Anpassung (condescensio) kann Eintracht nicht erhalten werden und bestehen."' Dieses Programm ist, wie der Vergleich mit der entsprechenden, oben wiedergegebenen Passage von „De sarcienda ecclesiae concordia" zeigt, durch und durch erasmisch. 3. Sebastian Castellio (1515-1563). Auch dieser stützte sich für seine Auffassung auf die genannten Erasmus-Schriften. Nach anfänglichen Sympathien für Calvin hatte er, der eine Zeitlang das Genfer Gymnasium leitete, sich von diesem abgewandt und in Basel Aufnahme und Arbeit gefunden. Nach der Verurteilung des spanischen Arztes und Laientheologen Miguel Servet (1509/11-1553) durch Claudius Espencaeus, De Eucharistia eiusque adoratione libri quinque, Paris: Gulielmus Chaudiere 1573, wiederabgedruckt in: ders., Opera omnia, Paris: Claude Morel 1619, S. 1065-1231, hier S. 1087-1088 („Erasmica super hoc examinata"). Vgl. Walter, Schriftauslegung (wie Anm. 86), S. 150f. 91. „ ... ut in quibus nutat atque vacillat veritas, ad originem Dominicam et Euangelicam, et Apostolicam traditionem revertamur, et inde surgat actus nostri ratio, ende et ordo et origo surrexit. Quae dum antiqua veritas, et vera antiquitas, non adeo omnibus allucet, equidem pro mea mediocritate non video quid aliud praemolliendo ita vehementi nostratium dissidiorum paroxysmo, vel optare, vel consulere possim, quam moderatam aliquam synkatabasin, qua utraque pars alteri sese nonnihil accommodet, et hactenus tarnen obsecundet, ut ta akineta et publica et universali superiorum ab ineunte iam Ecclesia, authoritate inducta, nisi per eandem, hoc est, etiam publicam, immota sint: privata certe cuiusque affectione, ne dicam libidine, ne moveantur. Sine hac, inquam, condescensione, nulla neque restat neque constat concordia ..." (Espencaeus, Opera [wie Anm. 90], S. 628). Vgl. Walter, Schriftauslegung (wie Anm. 86), S. 151f.

90.

124

Peter Walter

den Genfer Rat als Häretiker und dessen Hinrichtung kritisierte Castellio dieses Vorgehen in der 1554 unter dem Pseudonym „Martinus Bellius" veröffentlichten Schrift „De haereticis an sint persequendi"92, welche sich hauptsächlich als eine Sammlung von Texten patristischer und zeitgenössischer Autoren präsentiert, die sich gegen die Verfolgung und Tötung von Ketzern aussprachen. Von Erasmus zitiert Castellio die einschlägigen Abschnitte aus der Matthäusparaphrase und aus den Verteidigungsschriften gegen die Angriffe Bedas und der spanischen Ordensleute, wobei er relativierende Aussagen wegläßt und dadurch die Aussageintention des Erasmus zuspitzt." In der an Herzog Christoph von Württemberg (1515-1568) gerichteten Vorrede macht er sich die erasmische Kritik an der theologischen Disputationssucht und an der mangelnden Bereitschaft, aufeinander zuzugehen zu eigen. Er spricht sich vor allem aus zwei Gründen gegen die Tötung von Häretikern, die er, wie Erasmus, zu verabscheuen behauptet, aus: 1. weil nicht leicht auszumachen ist, wer wirklich ein Häretiker ist, 2. weil die Todesstrafe nach den Kriterien der „Christiana disciplina" grundsätzlich unangemessen erscheint. Von Häresie im eigentlichen Sinne kann überhaupt nur bei einem hartnäckigen Beharren auf einer falschen Lehre gesprochen werden, die Anwendung des Häresiebegriffs auf moralisches Fehlverhalten lehnt Castellio ab.94 Der unter christlichen Denominationen herrschende Streit über Probleme wie Taufe, Abendmahl, Heiligenverehrung, Rechtfertigung, Willensfreiheit u. v. a. entspringt aus der Unkenntnis der Wahrheit (ignorantia veritatis). Aber gerade diejenigen, welche die Wahrheit kennen, versuchen, wie das Beispiel Christi und der Apostel zeigt, die anderen dafür zu gewinnen, statt sie zu verurteilen. Wer unter Berufung auf Christus Häretiker verfolgt oder gar tötet, macht sich der schlimmsten Gotteslästerung schuldig. Castellio vertritt nach Guggisberg wie Erasmus „die humanistische Toleranzkonzeption", die folgendermaßen charakterisiert wird: „Duldung abweichender religiöser Meinungen, praktische ,Imitatio Christi' in der Konzentration auf die Grundlehren der Heiligen Schrift und Belehrung der Andersgläubigen – alles in der Hoffnung auf die schliessliche Herstellung bzw. Wiederherstellung des Konsenses, als dessen Basis man sich

92. De haereticis an sint persequendi ... 1554. Faksimile-Edition, ed. Sape van derWoude, Geneve 1954. Zu den einzelnen Bestandteilen dieser Schrift und den Umständen ihrer Veröffentlichung sowie zur zeitgenössischen deutschen und französischen Übersetzung vgl. Hans R. Guggisberg, Sebastian Castellio. Humanist und Verteidiger der religiösen Toleranz im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1997, S. 89-106. 93. Vgl. nähere Angaben bei Guggisberg, ebd., S. 91-93, zu Erasmus ebd., S. 92 Anm. 45. 94. Diese Auffassung befindet sich durchaus in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen katholischen Schultheologie, deren Häresiebegriff nicht einfach ein Abweichen vom katholischen Glauben, sondern ein hartnäckiges Beharren auf die abweichende Meinung implizierte. Vgl. Peter Walter, Art. Häresie 1. Begriff 2. katholische Kirche, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 5 (2007), Sp. 186-189.

Humanismus, Toleranz und individuelle Religionsfreiheit

125

aber doch eine essentiell christliche Ethik vorstellt." Dazu gehört auch „die Überzeugung, dass die menschliche Verurteilung von Häretikern dem Jüngsten Gericht nicht vorgreifen dürfe, und dass nur Gott endgültig darüber urteilen werde, wer ein Häretiker sei und wer nicht." 96 Auf die anschließende Kontroverse mit Calvin und 'Theodore de Beze (1519-1605) braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. 97 Nur ein Satz aus Castellios erst im 17. Jahrhundert veröffentlichter Antwort auf Calvins Verteidigungsversuch sei zitiert: „Hominem occidere, non est doctrinam tueri, sed hominem occidere."98 Ein Jahr vor seinem Tod nahm Castellio zur religiösen Situation in Frankreich, das er als seine Heimat betrachtete, Stellung in der Schrift „Conseil ä. la France desolee"99. Wie der Untertitel zum Ausdruck bringt, wandte sich Castellio hier gegen jeden Gewissenszwang (forcement des consciences), den er als Grund allen Übels betrachtet. Beide Seiten des konfessionellen Lagers stehen für ihn einander in nichts nach: „Die katholische Kirche hat schon immer Verfolgung praktiziert, nun tun es auch die Anhänger der Reformation." 10° Gewaltsames Vorgehen gegen Andersdenkende führt jedoch zwangsläufig zu einem Mißerfolg. Auch wenn Castellio in dieser Schrift nach wie vor von der Einzigkeit der göttlichen Wahrheit ausgeht, tritt doch die „humanistische Hoffnung auf den wiederherstellbaren Konsensus zwischen den auseinanderstrebenden religiösen Meinungen ... hier nicht mehr beherrschend in den Vordergrund. ... Die einzige Möglichkeit, die übrigbleibt, besteht in der offiziellen Abschaffung des Glaubens- und Gewissenszwanges und in der Verwirklichung einer friedlichen Koexistenz der beiden Konfessionen. ... Das Ziel ist nicht die Wiederherstellung der religiösen Einheit, sondern die Erhaltung der nationalen Existenz Frankreichs." 1°1 Castellio gibt selber an, daß er sich in seiner Argumentation der 1561 veröffentlichten „Exhortation aux Princes et Seigneurs du conseil prive du Roy" des katholischen Juristen und Geschichtsschreibers Etienne Pasquier (1529-1615) anschließt, der damit auf die Situation nach dem Scheitern des Religionsgesprächs von Poissy reagierte. Die Schrift Pasquiers „markiert den Übergang von der humanistischen Konsensus-Argumentation zur vorwiegend politisch ausgerichteten Toleranzver95. Guggisberg, Castellio (wie Anm. 92), S. 96. 96. Ebd., S. 98. 97. Vgl. dazu ebd., S. 107-150. 98. Contra libellum Calvini, in quo ostendere conatur haereticos jure gladii coercendos esse, o. 0. 1612, fol. Er, zit. Guggisberg, Castellio (wie Anm. 92), S. 121. Zu diesem Werk vgl. ebd., S. 116-122. 99. Conseil ä la France desolee, auquel est monstre la cause de la guerre presente, et le remede qui y pourroit estre mis; et principalement est avise si an doit forcer des consciences, o. 0. (Basel: Johannes Oporinus [1) 1562, ed. Marius E Valkhoff Geneve 1967. Vgl. die Darstellung bei Guggisberg, Castellio (wie Anm. 92), S. 208-219. 100. Guggisberg, Castellio (wie Anm. 92) S. 214. 101. Ebd., S. 217.

126

Peter Walter

teidigung. ... Die religiöse Toleranz erscheint als die einzig mögliche Voraussetzung für die Rettung der Nation. Die religiöse Einheit muss der politischen Einheit geopfert werden."102 Damit ist die Position des Erasmus aufgegeben. Diese wirkt freilich in der späteren Irenik noch nach, etwa in dem durchaus unter Berufung auf Erasmus formulierten Aufruf des lutherischen Pädagogen Petrus Meuderlinus (1582-1651), der zu einem viel zitierten Motto wurde: „Si nos servaremus in necessariis Unitatem, in non necessariis Libertatem, in utrisque Charitatem, optimo certe loco essent res nostrae. "103 Zusammenfassung Erasmus hielt die Spaltung der Christenheit für ein Übel, das überwunden werden muß und kann. Letzteres setzt für ihn voraus, daß beide Seiten nicht auf Maximalforderungen beharren, sondern sich auf der Basis von Kernaussagen des christlichen Glaubens einigen. Die Tendenz, die theologische und kirchliche Lehre immer stärker auszudifferenzieren, wie er sie mit der zeitgenössischen Scholastik gegeben sah, sowie das Bestreben, die kirchlichen Gebräuche bis ins einzelne regeln zu wollen, gefährden und zerstören die Einheit. Diese kann, nachdem sie zerbrochen ist, nur wieder gewonnen werden, wenn bei der Einigung im Grundsätzlichen in sekundären Bereichen Freiräume zugestanden werden. Versuche, die Einheit gewaltsam wiederherzustellen, lehnt Erasmus entschieden ab. Solange die Einheit nicht wiederhergestellt ist, sind die Abweichler zu dulden, wenn sie sich an die allgemeinen Gesetze halten. Nur wenn sie dagegen verstoßen, darf die staatliche Gewalt mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mittel, auch mit der Todesstrafe, eingreifen. Die Gedanken des Erasmus scheinen bei seinen Sympathisanten unterschiedlich ausgelegt worden zu sein: Diejenigen, die sich der reformatorischen Bewegung anschlossen, beriefen sich auf ihn, um Freiräume zu fordern, die eine Konsolidierung ihrer neu entstehenden Gemeinschaften ermöglichten, während diejenigen, die in der alten Kirche bleiben wollten, meinten, durch Verständigung mit den zu duldenden Neugläubigen in einer insgesamt erneuerten Kirche zu einer Einheit zu kommen. Wieder andere gelangten auf der Grundlage der erasmischen Gedanken zur Forderung einer grundsätzlichen Toleranz in Religionsdingen. 102. Ebd., S. 218. 103. Die Geschichte des bis in die Gegenwart immer wieder gebrauchten Mottos „In necessariis unitas, in non necessariis libertas, in utrisque caritas", das sich in der zitierten Form erstmals in der von Meuderlinus unter dem Pseudonym Rupertus Meldenius verfaßten „Paraenesis votiva pro pace ecclesiae ad theologos Augustanae Confessionis" (o. 0. u. J. [Rothenburg ob der Tauber 1626]) findet, wurde rekonstruiert von Theodor Mahlmann, Art. Meldenius, Rupertus, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 5 (1993), Sp. 1202-1209.