Daniel Djurin – Markovich

Wurdulac Band 1 Fantasy / Horror

© 2013 AAVAA Verlag Alle Rechte vorbehalten 1. Auflage 2013 Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag, Berlin Coverbild: D. Markowich Printed in Germany ISBN 978-3-8459-0637-9 AAVAA Verlag www.aavaa-verlag.com eBooks sind nicht übertragbar! Es verstößt gegen das Urheberrecht, dieses Werk weiterzuverkaufen oder zu verschenken! Alle Personen und Namen innerhalb dieses Romans sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt .

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Sibirien - 1935

Er sah das Fleisch. Frostige Winde jagten über die gerodete Waldebene des Gebirgsplateaus, streiften die ungeschützten Stellen in seinem Gesicht wie scharfe Rasierklingen. Dr. Vasili Rjaskov beobachtete die abgemagerten Silhouetten, die sich aus der Nebelbank herausschälten und den schweren Fang zu acht auf Holzstäben mit sich trugen. Der leitende Arzt der Garnisonsstadt verließ den vom Wind ungeschützten Anstiegspunkt des Durchlasses und schritt zum Kontrollposten der Pforte. Eisige Luftströme zerrten an seinem abgetragenen Parka. Vasili zog an seiner Tabakpfeife, behielt den Rauch im Mund und genoss den herben Geschmack des letzten Brennheus, solange er noch konnte. Er blieb unter dem Torbogen stehen und drehte sich um. Der Tabakvorrat neigte sich dem Ende zu. Beklommen tastete Vasili nach dem dünnen Beutel 3

in seiner Manteltasche, um sich zu vergewissern, dass er noch genügend Tabak für die kommende Nacht enthielt. Rauchen minderte sein Verlangen nach fester Nahrung. Die letzte Mahlzeit lag über eine Woche zurück. Wie auch bei den restlichen Verweigerern. Ein starker Hustenanfall folgte, als er den Rauch ausstieß. Er wischte sich die eingerissenen Mundwinkel mit dem Taschentuch ab und besah flüchtig die frischen, dunkelroten Flecken darin. Vasili steckte den schmutzigen Lappen zurück in die Manteltasche und zog die ausgefransten Kragenaufschläge mit der freien Hand enger zu, widmete seine Aufmerksamkeit wieder den Ankömmlingen. Die Soldaten marschierten durch die aufgewirbelten Schneeverwehungen auf die Holzbrücke zu, überquerten in kraftlosem Gang den zugeschneiten Übergang zur Garnisonsstadt, die von gewaltigen Felshängen umzingelt war. Vasili spähte zum graubewölkten Himmel. Er betrachtete den verblassenden und glanzlosen Lichtschein, der durch den dichten Wolken4

schleier herabsickerte und die entvölkerten Gebäude, Kasernen und Baracken nur spärlich erhellte. Die Abenddämmerung brach an, würde sich bald in Finsternis verwandeln und sich auf das endlose Weiß wälzen, ehe der ungleiche Kampf und das Blutvergießen auf ein Neues begannen. Denn der schwarze Feind kam nur in der Nacht. Vasili hustete, spuckte den blutigen Auswurf beiläufig aus. Sein Zahnfleisch war bereits stark entzündet. Überall wunde Stellen im Mund. Offene Geschwüre am Körper. Skorbut. Die Krankheit hatte ihn fest im Würgegriff. Die restlichen Soldaten und Offiziere, die ihre Menschenwürde behalten und sich nicht diesem aufwieglerischen Abschaum angeschlossen hatten, waren ebenso daran erkrankt. Die Mannschaft schleppte den erlegten Bärenkadaver das kurze Wegstück zur Torpassage hinauf. Er vernahm die erregten Schreie der abtrünnigen Kompaniegesellen im Hintergrund, nachdem die ersten Rückkehrer an ihm vorbei den Durchlass der Schutzmauer passierten und 5

ihre Gewehre in die Luft streckten. Vasili bemerkte die bleichen Hautverfärbungen unter den schwarzgeränderten Augenhöhlen des vorüberschreitenden Befehlshabers; er wirkte erholter und gestärkter als der Rest seines Gefolges. Im Gegensatz zu den nachrückenden Meuterern, die den Blick des Arztes teils reuevoll entgegneten oder stumm zu Boden starrten, lagen die dunklen Augenpaare des grobschlächtigen Anführers, Hauptmann Boris Slanski, herausfordernd auf ihm. Vasili erfasste den glutroten Fleck in seiner veränderten Iris und schaute - gezwungen langsam, um keine Schwäche erkennen zu lassen - zu den aufschließenden Nachzüglern der Mannschaft. Er trat zur Seite, wollte keinen überflüssigen Konflikt auslösen. Der Schädel des Braunbären hing schlaff nach unten, Blut tropfte aus den Einschusslöchern im Halsbereich. Vasili war nicht entgangen, dass von den zwanzig Soldaten lediglich neunzehn Mann zurückgekehrt waren. Er stellte keine Fragen. Die blutbefleckten Mäntel der Soldaten und ihre rot gefärbten Handschuhe waren nicht zu übersehen, sie waren Antwort genug. Slanskis Männer hat6

ten auch den letzten Funken menschlichen Anstands abgelegt und machten sich nicht einmal mehr die Mühe, ihre schändlichen Taten am eigenen Geschlecht zu verschleiern. Kannibalen. Er wandte sich um, nickte den Torwachen zu. Vasili ging durch den Einlass. Zurück in die Bastion, dem Schlachtfeld. Er schritt um das ausgebrannte Wrack des Kettenfahrzeugs, der den verbliebenen Soldatentruppen im nächtlichen Gefecht als Schutzwall innerhalb der Mauern diente; sie hatten auch die übrigen Fahrzeugwracks, von Flammen aufgezehrte und zu bizarren Eisengebilden deformierte Militärlaster und Geländewagen, nicht mehr aus der Kampfzone herausgeschafft. Major Wladimir Ivanow hatte wegen der Verknappung des Treibstoffs, der ebenfalls für die Stromaggregate benötigt wurde, den Einsatz von Zugmaschinen und Schlepper untersagt. Zumindest hielten sich die aufständischen Soldaten an diesen einen, lebenswichtigen Befehl. Vasili durchquerte die in Schwerstarbeit im Permafrostboden ausgehobenen Gefechtsgräben für die Schützen, ihre zweite 7

Verteidigungsfront. Er steuerte die Offizierskaserne an, die hundert Meter weiter an der Mauerumfriedung lag. Er klopfte an die Eingangstür. Vasili hörte noch, wie die Pforte hinter ihm verschlossen wurde. Er blickte über die Schulter und verfolgte das Abladen des Tieres im Schnee. Das laute Gebrüll der Soldaten widerte ihn an. Herbeigeströmte Kameraden, allesamt ruchlose Deserteure, versammelten sich um die gerade eingetroffenen Verschwörer. Sie reihten sich in begieriger Erwartung nach frischem Fleisch um das erbeutete Aas. Einige der Drahtzieher grinsten ihm unverhohlen zu. Forderten ihn geradezu auf, sich auf einen unüberlegten Disput einzulassen: Mach schon. Los doch. Halt uns auf. Auch sie machten auf ihn einen besorgniserregend ausgeruhten Eindruck. Die Tür öffnete sich. Er nickte dem ausgezehrten Wachhabenden zu. Der blutjunge Soldat sah zum Bärenkadaver, blickte ihn dann an und salutierte. Vasili erfasste das kurze Zögern. 8

Ein Verlorener; die Verlockung war zu stark für ihn. Er trat ein, sah letztmalig zum schneebedeckten Areal. Abgemagerte Soldaten, die aus beschädigten Kasernen und teileweise eingestürzten Barackenruinen herausströmten, kämpften sich durch die vorbeiwehenden weißen Schleier. Die abgestumpften, hageren Gestalten schritten müde und entkräftet zum abtrünnigen Haufen, folgten der Witterung des Fleisches. Die Schar der Aufrührer war seit der gestrigen, verlustreichen Auseinandersetzung rapide angewachsen. Bald schon würden Ivanows Truppen in der Minderheit sein. Ein Aufstand unumgänglich. Tagsüber der Konflikt untereinander. Und dennoch nächtens vereint. Seite an Seite gegen die schwarzen Ungeheuer. Vasilis Augen schweiften zum steinernen Verteidigungswall der Stadt. Die pflichttreuen Soldateneinheiten blieben auf ihren von Major Ivanow verordneten Turm- und Mauerposten, hielten sich von der Rebellenhorde fern. Die Schutzvorkehrungen der Arbeiter gingen am Grenzwall 9

zügig voran. Niemand sprach. Jedermann wusste, dass die Zeit drängte. Wie lange sie noch standhielten, hing einzig und allein vom Erfolg des stellvertretenden Stadthalters und der Soldatentruppe ab, die seinen Fluchtversuch unterstützten. Er schritt durch den Mittelgang des behelfsmäßigen Truppenquartiers zum hintersten Raum, deutete dem postierten Mann ein knappes Nicken an. Der vollbärtige, untersetzte Wachposten klopfte an die Stahltür der Zentrale des stellvertretenden Oberkommandierenden. Der Wachmann starrte zu Boden und wartete, bis sich Major Ivanow zu Wort meldete und den Einlass des leitenden Arztes gewährte. Er hörte das Husten durch die Tür. Auch Major Ivanow litt an der SkorbutKrankheit. Der Soldat öffnete, machte einen trägen Schritt zur Seite. Vasili verschloss sie hinter sich. Er nahm auf dem leeren Stuhl platz, unterdrückte einen weiteren Hustenanfall.

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Vasili geduldete sich, bis Ivanow die Liste abgearbeitet hatte. Ivanow sah zu ihm auf, entlockte sich einen ermutigenden Gesichtsausdruck. »Und?« »Sie haben einen Bären erlegt.« »Wie viele?« »Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen, aber die Anzahl hat sich auf jeden Fall verdoppelt. Bis zum Ende der Woche werden es wahrscheinlich zweihundert sein.« »Die Verteidigungsgräben?« »Zum größten Teil erledigt.« Vasili nahm einen tiefen Zug, gab den bläulichen Dunst nur langsam aus dem Mund heraus. »Welche Route?« »Ich werde es über den hinteren Bergpass der Schlucht versuchen, entlang des Vulkangebirges.« Ivanow fuhr sich nachdenklich durch den graumelierten Vollbart. Er blickte zum Arzt und lächelte. »Sie sehen krank aus, Genosse.« Vasili schmunzelte. »Sicher nicht kränker als sie, Stadthalter Ivanow.« »Wie läuft es mit der, Untersuchung des Körpers?« 11

»Ich werde nachher die Obduktion vornehmen.« Sie schwiegen, starrten auf die ausgebreitete Landkarte. »Sie sollten einen genauen Bericht verfassen, für den Fall, dass General-Major Azew mit seinen Truppen zurückkehrt.« Vasili nickte, obgleich er den Sinn eines Reportes infrage stellte. »Sein Weggang ist über zehn Wochen her.« Sie sahen sich an, sagten aber nichts, hörten dem Gebrüll der Deserteure zu. Abtrünnige Soldaten, die einen Aufstand anzettelten. Die Feinde am Tag. Doch der Feind in der Nacht würde sie vorher erledigen. Ivanow und Dr. Rjaskov wussten es beide. »Ich weiß, dass es ihnen nicht sonderlich nutzbringend vorkommen mag.« Ivanow machte eine lange Pause. »Aber jemand sollte wissen, was sich hier zugetragen hat. Falls wir…« Er unterbrach und hustete, wischte den blutigen Auswurf mit seinem Taschentuch weg. Er stand auf. »Jemand muss von den Geschehnissen erfahren.« 12

Vasili erhob sich gleichfalls. Er nickte und rückte den Stuhl an den Tisch. »Ich werde mein Bestes geben.« Ivanow trank den kümmerlichen Rest Wasser aus seinem Becher. Er holte einen Zettel aus seiner Jackentasche, überreichte ihn dem Arzt. »Wenn es beginnt, nehmen sie die Verletzten und schließen sie sich dort ein.« Der hagere Offizier zeigte auf das Papier. »Merken sie sich die Kombination.« Vasili las die Zahlenfolge und gab den Zettel nach dem zweiten Lesen zurück. Ivanow ging zum Brennofen, warf den Papierfetzen hinein. »Nehmen sie meinen Revolver.« »Das wird nicht nötig sein, sie werden mir nichts tun«, sagte Dr. Vasili Rjaskov. »Glauben sie mir: es wird! »Mein Assistent?« »Vertrauen sie niemandem.« Vasili schüttelte den Kopf. Ivanow öffnete die Tür. Vasili salutierte.

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Ivanow lächelte. »Das müssen sie noch ein wenig üben, Towarischtsch.« »Bis sie zurückkommen, gelobe ich Besserung.« Sie schritten gemeinsam durch den Flur. Die Soldaten kauerten kniend auf dem Boden, prüften ihre Schnellfeuergewehre und füllten Patronen in die Magazine nach. Der Major öffnete die Kasernentür und ließ den Arzt vorbeitreten. Sie sahen, wie sich die Rebellen das Fleisch des Bären untereinander aufteilten. Die ersten Kämpfe um rohe, blutige Stücke waren schon im Gange. Wütende Schreie raunten gedämpft über den verschneiten Platz, wurden von aufheulenden Windstößen und klangverzerrten Geräuschen schneidender Luftströmungen niedergerungen, die durch menschenleere, von wochenlangen Kämpfen verstümmelte Gebäudeschluchten rauschten. Vasili blickte Ivanow an. »Ich werde so viele retten, wie ich kann.« »Das weiß ich.« Sie schüttelten einander die Hände. Fest. Die Mauerstrahler wurden eingeschaltet, gleißend helle Lichterinseln fluteten das weiträumi14

ge Schneegelände der abschüssig gelegenen Gebirgskolonie. »Viel Glück«, sagte der Arzt zum Abschied. Vasili machte einen weiten Bogen um die aggressiven Aufrührer. Er überquerte rasch den Fahrzeugfriedhof, schritt an den zerstörten Geländefahrzeugen und rauchschwelenden Panzern vorbei und marschierte zum abseitsgelegenen Hangar, der vor der nebelverschleierten Felsschlucht prangte und ein monumentales Befestigungswerk modernster Architektur darstellte. Ein abstoßenderes Gebäude wie dieses war ihm nie zuvor unter die Augen gekommen. Er hatte sich seit seinem Dienstantritt vor sechs Monaten noch immer nicht an den scheußlichen Anblick des gewaltigen Baukomplexes gewöhnt. Das Militärgebäude war ein grauer, fensterloser Koloss aus Beton und Stahl. Die letzte Zufluchtsstätte, wenn die Munition in den nächsten Tagen ausging. Vasili verlangsamte, suchte nach den Aufsehern. Der Wachtposten an der Schranke fehlte, auch der wachhabende Soldat im Kontrollhaus war nirgends zu sehen. 15