Band 5 2007 Heft 4

HistLit

Historische Literatur

www.steiner-verlag.de

Band 5 · 2007 · Heft 4 Oktober – Dezember

Rezensionszeitschrift von

Franz Steiner Verlag

Franz Steiner Verlag

H-Soz-u-Kult

ISSN 1611-9509

H-Soz-u-Kult präsentiert zum sechsten Mal die Ergebnisse seines Wettbewerbs „Das Historische Buch“. Das Ranking stellt für interessierte Leserinnen und Leser eine Orientierungshilfe angesichts der Vielzahl historischer Neuerscheinungen zur Verfügung, indem es die herausragenden geschichtswissenschaftlichen Publikationen des Vorjahres zusammengestellt. Eine mehr als 70-köpfige internationale Jury aus renommierten Fachkolleginnen und -kollegen hat sich im Frühjahr und Sommer 2007 der Mühe unterzogen, innovative und richtungweisende Publikationen in ihren jeweiligen Arbeitsgebieten ausfindig zu machen und zu bewerten. Herausgekommen ist einmal mehr ein repräsentativer Querschnitt durch den wissenschaftlichen Büchermarkt. Kolleginnen und Kollegen aus der Redaktion von H-Soz-u-Kult haben zu den kategorialen Ergebnislisten kurze Essays verfasst, die diesem Band als Themenschwerpunkt vorangestellt sind.

Historische Literatur

„Das Historische Buch 2007“

Veröffentlichungen von Clio-online, Nr. 1

G. Burgess u.a. (Hrsg.): English Radicalism

2007-4-040

Frühe Neuzeit Burgess, Glenn; Festenstein, Matthew (Hrsg.): English Radicalism, 1550-1850. Cambridge: Cambridge University Press 2007. ISBN: 052180017X; 381 S. Rezensiert von: Robert Friedeburg, Faculty of Arts and Sciences Erasmus University Rotterdam Sollten Begriffe, die zu einem bestimmten Zeitpunkt eine bestimmte bis heute gültige Bedeutung in der politisch-sozialen Sprache erhalten haben, ohne weiteres zur Beschreibung von Zeiten genutzt werden, in denen ihre Bedeutung gänzlich anders war, oder in denen sie gar nicht bestanden? Alexander Grays „The Socialist Tradition: Moses to Lenin“ aus dem Jahre 1946 ist nur ein Beispiel in Jonathan C. D. Clarks Beitrag, wie unbefangen die englischsprachige Geschichtswissenschaft mit diesem Problem bis in die Gegenwart umgegangen ist und teils bis heute umgeht. Zwar sind im deutschsprachigen Raum die Veröffentlichungen von Reinhard Koselleck rund um die Geschichtlichen Grundbegriffe ein unerhörter Fortschritt auf dem Wege, sich Rechenschaft über die historische Entwicklung wichtiger Begriffe der historisch-politischen Sprache zu geben. Aber die teils breite Rezeption der englischen Debatte um einen „Republikanismus“ in der Frühen Neuzeit etwa hat keineswegs immer die Bedeutung schon des Begriffs ‚res publica’ mitreflektiert. Und der Autor erinnert noch recht gut, wie sich Rainer Wohlfeil im Hamburger Hauptseminar zur Reformation auch mit der These einer ‚frühbürgerlichen Revolution’ auseinandersetzen musste. Nun werden sicherlich viele sagen, dass der Historiker grosso modo sehr wohl heutige Begriffe auf die Vergangenheit wird anlegen müssen, es komme eben auf den Grad der Reflektiertheit dieses Unterfangens an. Und hier setzen die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes an. Sie nehmen das Begriffsfeld „radikal“, „Radikalität“, „Radikalismus“ zum Anlass, zu vergegenwärtigen, aus welchen Gründen und aufgrund welcher Quellenbefunde eine ganz unterschiedliche Vielzahl von Personen und Personengruppen des Zeitraums zwischen 1550 und 1850 in dieser Weise durch die englische Historiographie behandelt wurde. Glenn Burgess umreißt in seiner Einleitung die

Geschichte des Begriffs (1820 zuerst im Oxford English Dictionary) und beschäftigt sich vor allem mit den englischen marxistischen Historikern der 1930er-, 1940er- und 1950er-Jahre, die eine ‚radikale Tradition’ in der englischen Gesellschaft für sich und ihre Ziele entdeckten. Namen wie Eric Hobsbawm, Christopher Hill und Edward P. Thompson belegen, wie heterogen diese Gruppe, aber auch wie qualitativ hochwertig viele ihrer Studien waren. Bei aller Differenzierung hingen sie jedoch einer Vorstellung der Geschichte als Stafettenlauf an, bei der eine Generation der ‚Radikalen’ den Auftrag zum gesellschaftlichen Kampf gegen die ‚Herrschenden’ an die folgende Gruppe weitergibt – bei allem Respekt vor den Werken dieser Gruppe ist von dieser Vorstellung wohl nicht allzu viel übrig geblieben. Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch außerhalb der kommunistischen Partei in England von dem Begriff Gebrauch gemacht wurde, und viele der anderen Beiträge bieten dafür interessante Beispiele. Stephen Alford untersucht die ‚Notstandspolitik’ in der Regierungszeit von Elisabeth, insbesondere die so genannten Bonds of Allegiance, bei der der Kronrat praktisch alle Amtsinhaber auf die Sicherung der Person des Monarchen und den protestantischen Glauben einschwören ließ – bei aller Treue zu Elisabeth doch eine gesellschaftliche Mobilierung an der Königin vorbei und daher ‚radikal’? Luc Borot springt rund 60 Jahre weiter und beginnt die Reihe der Beiträge zum englischen Bürgerkrieg und den ‚Levellers’, den Gleichmachern. In der Tat hat die bemerkenswerte Artikulation auch einfacher Soldaten nach dem ersten Bürgerkrieg (1642-45) vor allem im Rahmen der Putney-Debatten schon seit langer Zeit das Interesse der Historiker geweckt. Im Hinblick auf Overton sucht Luc Borot dem Begriff der ‚Radikalität’ etwas abzugewinnen. Glenn Burgess legt in seinem Beitrag „Radicalism in the English Revolution“ dar, dass das, was häufig als ‚radikal’ bezeichnet wird, tatsächlich religiös fundierte Forderungen waren, die aufgrund der direkten Kommunikation mit Gott die Bedürfnisse des weltlichen Gemeinwesens hinter sich zu lassen schienen. Richard L. Greaves wendet sich den englischen und schottischen ‚Radikalen’ der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu und zählt gleich eine gan-

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Frühe Neuzeit ze Reihe von Bewegungen und Aufständen auf – so geraten die Presbyterianer des so genannten Galloway-Aufstandes in Schottland (1666), den der junge Graf von Argyle sich anerbot für seinen König niederzuschlagen, ebenso in die Reihe der Radikalen wie dieser Graf selbst, nachdem er aus religiösen Gründen aus Schottland emigriert war und gegen Jakob II. 1685 eine Invasion in Schottland anführte. Greaves gibt freilich zu, wie unterschiedlich die Bewegungen sind, mit denen er sich hier beschäftigt, und hat Mühe, die wenigen Gemeinsamkeiten – Feindschaft zu Rom – als ‚nützliche’ Propaganda abzutun (S. 97), hinter der sich die eigentliche Radikalität der Aufrührer verberge. Mit Gregory Claeys Aufsatz springen wir weitere hundert Jahre weiter, nun zum Ende des 18. Jahrhunderts. Sein Aufsatz zu Mary Wollstonecraft sucht nachzuweisen, dass es ihr weniger um politische Rechte als um Fragen der öffentlichen und privaten Moral ging. Iain Hampsher Monk stellt in seinem Beitrag zu „Not Inventing the English Revolution“ die Frage, ob die Kritiker des Establishments im England der 1790erJahre auch deswegen nicht zu revolutionären und gewalttätigen Veränderungen der Besitz- und Verfassungsverhältnisse vorgedrungen seien, weil sie alle Reformen an denen von 1688/89 maßen, und die Debatte daher automatisch einen an der Vergangenheit und ihren Richtlinien orientierten Ton erhielt. Marc Philp wendet sich in seinem ausgezeichneten Aufsatz nicht allein den societies am Ende des 18. Jahrhunderts zu, die eine Veränderung der Verhältnisse und umfassende Reformen anstrebten, sondern auch den Milizen, denen bis 1804 rund 380.000 Mann unter Waffen angehörten. Insgesamt mobilierte das Vereinigte Königreich bis 1804 circa 800.000 Mann in Heer, Marine und Milizen, was bei 3,75 Millionen waffenfähigen Männern circa eine von fünf Personen bedeutete. Philp geht der Rhetorik des Loyalismus nach und fragt, unter welchen Bedingungen auch Anhänger der Reform-Societies sich den Milizen anschlossen, schon um lokalem Druck auszuweichen. Margot Finn wendet sich dem Schicksal eines Radikalen zu, der verschuldet und im Gefängnis endete, und F. Rosen geht der Frage nach, wie die verschiedenen politischen Meinungsäußerungen von Jeremy Bentham zu bewerten sind. Clark rekapituliert die historischen Rahmenbedingungen, unter denen die Forderungen nach Reform, vor allem Wahlrechtsreform, nach Steuerreformen und nach einer Reform der für die Kirche

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zu zahlenden Abgaben (tithes) als ‚radikal’ verstanden wurden. Clark zeigt weiter, wie aus der Bezeichnung ‚radikal’ der ‚Radikalismus’ wurde. Im Verlauf dieses Prozesses bemühten sich die ‚Radikalen’ selbst um eine angemessene Vergangenheit, und historisch begründete Abgrenzungen zu den ‚Whigs’ und später den ‚Sozialisten’ entstanden. Der Leser des Bandes sollte möglicherweise mit diesem Beitrag beginnen. Miles Taylor beschäftigt sich mit den Folgen der englischen Konzeptionen für Indien, nicht zuletzt dem Vorschlag des ‚radikalen’ Parlamentsabgeordneten für Middlesex, für Indien 19 weitere Sitze in das Parlament aufzunehmen. Der Band wird durch zwei sich ergänzende Beiträge abgeschlossen, von denen einer auch angesichts der unübersehbaren Heterogenität dessen, was unter ‚radikal’ verstanden werden kann, für ein historistisches Vorgehen plädiert, der andere um eine Verteidigung des Begriffs bemüht ist: Conal Condren plädiert dafür, den Begriff ausschließlich von dem Moment an zu gebrauchen, wo er von den Zeitgenossen geprägt wurde. James Colin Davis verteidigt dagegen einen ‚funktionalen’ Gebrauch, der von Kontext zu Kontext andere Rahmenbedingungen reflektiert. Ihm geht es um grundlegende Herausforderungen der gegebenen Verhältnisse in traditionellen Gesellschaften. Vor allem geht es ihm um die Verteidigung langer Perspektiven – und die hätten eine Sprache nötig, die auch über den historischen Moment hinausgeht. Der anregende Sammelband hinterlässt beim Leser freilich den Eindruck, dass so manche Vokabel, und insbesondere die des ‚Radikalismus’, gerade dem Anliegen vergleichender Studien über lange Zeiträume kaum dienlich ist – zu unterschiedlich bleiben die behandelten Phänomene, zu wenig reflektiert die ausgelassenen Epochen. Gleichwohl, im Prozess der Selbstverständigung der Geschichtswissenschaft über ihre Vorgehensweisen hilft der vorliegende Band durch Argument und Gegenargument und mit immer anregenden Beiträgen, sich mit dem Problem zu beschäftigen. HistLit 2007-4-040 / Robert Friedeburg über Burgess, Glenn; Festenstein, Matthew (Hrsg.): English Radicalism, 1550-1850. Cambridge 2007. In: HSoz-u-Kult 12.10.2007.

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M. Fenske: Marktkultur in der Frühen Neuzeit

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Fenske, Michaela: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt. Köln: Böhlau Verlag 2006. ISBN: 3-412-24905-X.

der eigentliche Veranstaltungsort zum Marktort umgestaltet wurde („Einen Markt bauen“) und welch gravierende Auswirkungen das Wetter auf das Marktgeschehen haben konnte. Auch die einzelnen Akteure, ihre Konflikte und recht unterschiedlichen Kooperationen und Koalitionen werden vorgestellt. Im Fokus hat Fenske dabei nicht nur die „reine“ Wirtschaftsgeschichte, sondern die Trias aus Wirtschaft, Macht und Unterhaltung. Die Hildesheimer Märkte hatten einen regionalen Zuschnitt und wurden vor allem von Bauern aus der näheren Umgebung besucht, die ihre agrarischen Überschüsse absetzten und sich zugleich mit gewerblichen Produkten aus der Stadt eindeckten; gut dokumentiert sind aber auch Viehhändler aus angrenzenden Territorien, beispielsweise aus dem Hessischen. Jüdische Viehhändler waren aufs engste mit dem Handel der christlichen Mehrheitsgesellschaft verbunden („Ökonomie der Gemeinsamkeiten“, S. 265), sie agierten ökonomisch „mittendrin“; andererseits lebten sie jenseits dieser Transaktionen weiterhin „gesondert“ von der christlichen Mehrheitsgesellschaft (S. 262). Der Obrigkeit brachte der Markt nicht nur Einnahmen und vielfältige Möglichkeiten der symbolischen Inszenierung, sondern er diente beispielsweise auch als Forum, auf dem politische Konflikte zwischen Stadt und Dom, zwischen aufstrebender bürgerlicher Elite und Domherren ausgetragen werden konnten. Eingehend wird in diesem Zusammenhang auch das städtische Ordnungspersonal und seine nicht unwichtige Rolle bei Zolldelikten (Stichwort Korruption) vorgestellt. Geselligkeit, Glücksspiel und Alkohol waren fundamentale Bestandteile einer erfolgreichen Marktsession, wobei es während des Feierns/des Festes nicht wirklich zu Grenzüberschreitungen oder gar zur Infragestellung der Ordnung kam: Formale und informelle Regeln erlaubten lediglich „begrenzte Freuden“ und „geregeltes Feiern“. Ausführlich werden die ökonomischen Praktiken auf den Märkten analysiert, beispielsweise das Kreditgeschäft und die „Kultur des Risikoausgleichs“ (S. 184), das heißt die vielfältigen Versuche, die Risiken des Kreditgeschäfts und anderer Transaktionen zu reduzieren, etwa durch soziale Netzwerke. Die Preisbildung auf den Märkten wurde nicht nur über Angebot und Nachfrage organisiert, sondern auch maßgeblich durch die Ehre der Akteure beeinflusst; mitunter konnten solche informellen Regeln strenger sein als die des Marktgerichts. Vor allem dem Feilschen um Prei-

Rezensiert von: Robert Brandt, GoetheUniversität Frankfurt am Main, FernUniversität Hagen Seit den 1990er-Jahren beschäftigt sich auch die deutschsprachige Geschichtswissenschaft intensiver mit Märkten und Marktwirtschaft. Dabei hält sich noch immer hartnäckig die Vorstellung, Märkte und daran orientierte ökonomische Praktiken und Wirtschaftsmentalitäten seien eigentlich erst mit dem Industriekapitalismus entstanden – eine Sichtweise, die sich auf die systematischen Arbeiten der Historischen Schule zurückführen lässt. An dieser Stelle setzt Michaela Fenske mit ihrer von Carola Lipp betreuten kulturanthropologischen Dissertation an, die sich mit den Hildesheimer Jahr- und Viehmärkten in der zweiten Hälfte des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts beschäftigt. Statt luftiger makrohistorischer Systematiken und an Stelle des neoklassischen Standardmodells bevorzugt Fenske den Weg der Empirie: Auf breiter Quellengrundlage und mittels eines mikrohistorischen Ansatzes rekonstruiert sie die Hildesheimer „Marktkultur“, das heißt die ökonomischen Praktiken auf den Märkten sowie den politischen, sozialen und naturräumlichen Kontext dieser Marktaktivitäten. Es gelingt ihr dabei, ein wirklich buntes und mehrdimensionales Bild der Hildesheimer Märkte und der auf diesen anzutreffenden Menschen zu zeichnen, dessen Detailfülle hier nur angedeutet werden kann. Wichtigste Quelle der Untersuchung sind die Hildesheimer Marktprotokolle, in denen Konflikte und Ordnungswidrigkeiten festgehalten wurden und die für die Jahre 1646 bis 1717 ausgesprochen gut überliefert sind; geschickt ergänzt wurden die Hildesheimer Bestände um Quellen ausgewählter anderer Marktorte. Mittels ihrer Methode aus Dekonstruktion und Kombination kann die Autorin zeigen, dass es sich bei den Marktprotokollen um tendenziöse Quellen handelt, in denen die städtischen Gerichtsschreiber aus Sicht der Obrigkeit das Marktgeschehen fixiert haben. Ausführlich beschreibt die Autorin, nachdem sie ihren konzeptionellen und methodischen Ausgangspunkt erläutert hat, wie der viermal im Jahr stattfindende Hildesheimer Jahr- und Viehmarkt organisiert wurde, wie

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Frühe Neuzeit se und Zahlungsbedingungen misst Fenske als sozialer Praxis einen hohen Stellenwert bei. Generell betont sie die Rationalität im Handeln der Akteure, die auf den Hildesheimer Märkten ihren Geschäften nachgingen. Das Panorama vorindustrieller Marktökonomie wird abgeschlossen mit systematischen Überlegungen zur vorindustriellen Ökonomie. Jenseits der gängigen Einteilungen (Sombart, Polanyi oder Muldrew) erkennt Fenske in den Hildesheimer Märkten eine eigenständige Wirtschaftsweise, die sowohl profitorientiert war als auch sozial ausgleichend wirkte. Alle, die am Handel beteiligt waren, orientierten sich am Prinzip der individuellen Gewinnmaximierung; zugleich sorgten die sozialen Netzwerke, in denen diese Profitorientierung eingebettet war, sowie obrigkeitliche Eingriffe – die Platzmieten beispielsweise waren sozial gestaffelt – für einen gewissen sozialen Ausgleich, der anscheinend von allen Akteuren akzeptiert wurde. Obwohl es sich bei Michaela Fenskes Buch um ein wirklich vielschichtiges Werk handelt, das in einer ausgesprochen gut lesbaren Wissenschaftsprosa verfasst worden ist, seien an dieser Stelle trotzdem zwei grundsätzliche Einwände formuliert: Obwohl die Überlieferung für die Hildesheimer Jahr- und Viehmärkte ausgesprochen gut ist, bleibt die Frage, was die Marktprotokolle aus der Feder tendenziöser Marktschreiber eigentlich abbilden: das Typische oder das Untypische? Ist in den Marktprotokollen die Spitze eines Eisbergs „Normalfall“ (S. 198) erkennbar oder liegen nur die aktenkundig gewordenen Ausnahmen vor, die Generalisierungen und Rückschlüsse auf die allgemeinen Verbreitung der ökonomischen Praktiken, die in den Fokus des Marktschreibers geraten waren, nur bedingt zulassen? Gut funktionierende und stabile Handelsbeziehungen gerieten dabei, das merkt die Autorin selbst an, seltener in den Blick als das Konfliktträchtige (S. 198). Damit sind Grundsatzfragen der Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und der Frühneuzeitforschung im Speziellen angesprochen, und die Autorin hat in diesem Zusammenhang, obwohl sie ihrer Methode aus Dekonstruktion und Kombination hundertprozentig vertraut – das berühmte „gegen den Strich lesen“ darf natürlich nicht fehlen (S. 24) - den ein oder anderen leisen Zweifel in ihren Text eingebaut (S. 193f., 194f., 198). Der zweite Punkt betrifft die Frage der Generalisierbarkeit und ist mit dem ersten Einwand verbunden. Unklar bleibt bei Fenske, inwieweit sich

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die ökonomischen Praktiken, die auf den Jahr- und Viehmärkten Usus waren, mit den Praktiken außerhalb der Marktwochen vergleichen lassen, oder ob man es mit grundsätzlich unterschiedlichen Sphären tun hat. In diesem Zusammenhang wäre auch einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, ob die Formel Profit plus soziale Einbettung auch außerhalb der Viehmärkte aufging. Die Autorin war sicher gut beraten, im Rahmen einer Dissertation das Thema Markt auf einen Ort und einen festen Zeitraum zu begrenzen statt sich ganz generell mit Markt als universalem Tauschprinzip zu beschäftigen. Dem Leser jedoch drängt sich die Frage nach der Generalisierbarkeit und Vergleichbarkeit der Ergebnisse auf. HistLit 2007-4-055 / Robert Brandt über Fenske, Michaela: Marktkultur in der Frühen Neuzeit. Wirtschaft, Macht und Unterhaltung auf einem städtischen Jahr- und Viehmarkt. Köln 2006. In: H-Soz-u-Kult 18.10.2007.

Flöter, Jonas; Ritzi, Christian (Hrsg.): Bildungsmäzenatentum. Privates Handeln, Bürgersinn und kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit. Köln: Böhlau Verlag 2007. ISBN: 978-3412-13606-2; 432 S. Rezensiert von: Thomas Adam, University of Texas, Arlington Betrachtet man die noch junge Geschichte der Erforschung des deutschen Stiftungswesens so ergibt sich eine interessante Rangfolge, die von einer Fokussierung auf die Förderung von Kunst und Kultur über die Erforschung privater Wohltätigkeit zur Erforschung der privaten Förderung von Bildung führt. Am Anfang standen die vor allem mit dem Konzept des „Mäzenatentums“ identifizierten Untersuchungen zur Förderung künstlerischer und kultureller Einrichtungen, die in der Publikation verschiedener Monographien und Sammelbänden in der von Thomas W. Gaehtgens, Jürgen Kocka und Reinhard Rürup herausgegebenen Reihe „Bürgerlichkeit – Wertewandel – Mäzenatentum“ mündeten. Die hier veröffentlichten Studien waren von der Grundidee getragen, dass private Förderung öffentlicher Zwecke im 19. Jahrhundert vor allem Förderung von Kunstmuseen und Kunstgalerien bedeutete. In diesem Zusammenhang besaß das Konzept des Mäzenatentums durchaus Er-

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J. Flöter u.a. (Hrsg.): Bildungsmäzenatentum

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klärungswert. Manuel Freys Versuch, dieses Konzept auf andere Bereiche auszudehnen, scheiterte jedoch vor allem an einem großen Hindernis: Der Begriff „Mäzenatentum“ wird aufgrund seiner Begriffsgeschichte immer zuerst mit der Förderung von Kunst und Kultur verbunden. Die Verwendung dieses Konzeptes birgt daher die Gefahr einer ungewollten Blickverengung, die zu fragwürdigen Interpretationen führen kann. Und aus diesem Grunde haben nur wenige der Forscher, die sich mit sozialen Stiftungen oder Stiftungen im Bildungswesen beschäftigt haben, das Konzept des Mäzenatentums übernommen. Dieter Hein verwies bereits in seiner Analyse der städtischen Stiftungen in Karlsruhe und Mannheim, dass eben nicht Kultur, sondern soziale Stiftungen und Stiftungen für Bildungszwecke im Mittelpunkt bürgerlicher Stiftungstätigkeit standen.1 Folgerichtig wendeten sich verschiedene Historiker, wie zum Beispiel Stephen Pielhoff und Andreas Ludwig, der Erforschung des Stiftungswesens für soziale Zwecke und der generellen Wohltätigkeit im Spannungsfeld zwischen privater Wohltätigkeit und staatlicher Intervention zu.2 Der hier zu besprechende Sammelband widmet sich nun einem weiteren Phänomen der privaten Wohltätigkeit, nämlich der privaten Förderung von Schulbildung, Ausbildung, und universitärer Bildung. Jonas Flöter und Gerhard Kluchert betonen in ihren Einleitungen zu diesem Sammelband, dass das Bildungsmäzenatentum ein Forschungsdesiderat sei. Allerdings ergibt sich schon das erste Problem mit Blick auf den von den Herausgebern vorgeschlagenen Begriff „Bildungsmäzenatentum“, der von Kluchert als Neologismus beschrieben wird. Auch wenn er sich der Neuschöpfung dieses Wortes bewusst ist, beklagt sich Kluchert doch darüber, dass man bei der Suche nach vorhandenen Arbeiten zu dieser Thematik (S. 26-27) nicht fündig würde. Das ergibt sich aus dem Charakter dieser Neuschöpfung. Unter diesem Begriff wird man nicht die Arbeiten von Bernhard Ebneth über die private Ausbildungsförderung in Nürnberg oder Klaus Schultz über Stiftungen an der Berliner Univer-

sität finden.3 Und die darüber hinaus existierenden umfangreichen zeitgenössischen Verzeichnisse der in einzelnen Regionen oder Städten vorhandenen Stiftungen für Gymnasien und Schulen wird man mit diesem Stichwort wohl auch nicht in den Katalogen aufspüren.4 Insgesamt fragt es sich, ob es sinnvoll ist, den Begriff des Mäzenatentums hier zu verwenden. In den Quellen und Dokumenten, die zum Beispiel die Gründer von universitären Stipendienstiftungen hinterlassen haben, findet sich, so meine Erfahrung, das Wort Mäzen nicht ein einziges Mal. Dafür wird der Begriff des „Stifters“ und der „Stiftung“ konsequent verwendet. Es fällt auch auf, dass Flöter selbst in seinem quellennahen Beitrag zum Stiftungswesen an den sächsischen Fürsten- und Landesschulen, überwiegend den Begriff des Stifters, des Stiftungswesens und der Stiftung verwendet. Im Übrigen betritt der Band Neuland und lenkt unseren Blick auf ein von der Forschung bisher vernachlässigtes Feld der Philanthropiegeschichte. Der Band vereint, und das ist eine hervorhebenswerte Seltenheit, Beiträge, die sich mit der privaten Förderung verschiedener Bildungseinrichtungen von der Frühen Neuzeit bis ins späte 19. Jahrhundert beschäftigen. Eine solch weite zeitliche Spannbreite, die die imaginäre Grenze zwischen Früher Neuzeit und moderner Gesellschaft überbrückt, ist nicht üblich für die Mehrzahl der Tagungen und Publikationen, die sich mit den Phänome-

1 Hein,

Dieter, Das Stiftungswesen als Instrument bürgerlichen Handelns im 19. Jahrhundert, in: Bernhard Kirchgässner und Hans-Peter Becht (Hrsg.), Stadt und Mäzenatentum, Sigmaringen 1997, S. 75-92. 2 Pielhoff, Stephen, Paternalismus und Stadtarmut. Armutswahrnehmung und Privatwohltätigkeit im Hamburger Bürgertum 1830-1914. Hamburg 1999; Ludwig, Andreas, Der Fall Charlottenburg. Soziale Stiftungen im städtischen Kontext 1800-1950, Köln 2005.

3 Ebneth,

Bernhard, Stipendienstiftungen in Nürnberg. Eine Historische Studie zum Funktionszusammenhang der Ausbildungsförderung für Studenten am Beispiel einer Großstadt (15.-20. Jahrhundert), Nürnberg 1994; Schultz, Klaus, Stiftungen zur Studien- und Forschungsförderung an der Berliner Universität. Ihr Schicksal in den Jahren der Weimarer Republik und im Dritten Reich, (Beiträge zur Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin Nr. 32), Berlin 1994. 4 Hautz, Johann Friedrich, Urkundliche Geschichte der Stipendien und Stiftungen an dem Großherzoglichen Lyceum zu Heidelberg mit den Lebensbeschreibungen der Stifter. Nebst den Stipendien der Universität Heidelberg, den Bernhard’schen Pfälzer-Stipendien an der Universität Utrecht und dem Neuspitzer’schen Familien-Stipendium. Heidelberg 1856; Stipendien, Stiftungen und sonstige Unterstützungsquellen. Eine Zusammenstellung der im Königreich Bayern bestehenden öffentlichen Wohltätigkeits-Stiftungen, Stipendienfonds, Freiplätze an Schulen, Darlehensquellen und sonstigen Unterstützungsquellen (Zuschüsse aus Staats-, Kreis-, und Distriktsfonds) für Körperschaften (Gemeinden, Armenpflegen, Vereine etc.) und Einzelpersonen. Mit mehreren Musterbeispielen für Stipendiengesuche und sonstige Eingaben. Unter Mitwirkung von maßgebenden Fachmännern herausgegeben von Schwarz, Paulus, Ansbach 1913; Stipendien-Buch für das Großherzogthum Sachsen-WeimarEisenach nebst Anhang bearbeitet von Zwez, Wilhelm, Weimar 1852.

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Frühe Neuzeit nen der Stiftung und des philanthropischen Engagements beschäftigen. Leider wurde dieser zeitliche Längsschnitt nicht produktiv für eine theoretische Diskussion des Phänomens des Stiftens genutzt. Die Freysche Definition des Mäzenatentums steht unvermittelt neben dem von Michael Borgolte mit Blick auf vormoderne Gesellschaften entwickelten sozialhistorischen Stiftungsansatz. Die insgesamt 14 Beiträge vermitteln interessante Aspekte über so verschiedene Einrichtungen wie die Kölner Studienstiftungen, das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster, die sächsischen Fürsten- und Landesschulen, die Franckeschen Stiftungen etc. So diskutiert Flöter das stifterische Engagement des Bürgertums an den fürstlichen Landesschulen im Spannungsfeld von staatlichem und privatem Handeln. Er sieht bürgerliches Stiften als einen bewussten Anspruch des Bürgertums auf bildungspolitische Deutungsmacht. Für Stifter waren Stiftungen natürlich immer eine Möglichkeit, Gesellschaft zu gestalten und im Falle von Bildungsstiftungen, Einfluss auf die Zusammensetzung der Schüler-/Studentenschaft zu nehmen oder gar die Auswahl der Lehrinhalte zu beeinflussen. Insofern wäre eine detaillierte Diskussion dieser Deutungsmacht sehr aufschlussreich. Der Verweis darauf, dass der Stifter einer Preisstiftung verlangte, dass die Preisarbeiten nur in deutscher Sprache und nicht in Latein oder Altgriechisch verfasst werden sollten, verweist doch auf das Potential für Veränderung und Einfluss, das sich hier auftat. Dabei sollte auch nicht aus dem Blick geraten, dass Stifter, die oftmals über keinerlei pädagogische Ausbildung verfügten, mittels ihrer Stiftungen Einfluss auf bildungspolitische Fragen zu nehmen versuchten. Besonders hervorhebenswert ist Stephen Pielhoffs vergleichend angelegte Untersuchung der Ausbildungsförderung in Hamburg, Dortmund und Münster, in der der Autor zu der Erkenntnis gelangt, dass das „bürgerliche Mäzenatentum nicht generell als kulturelle Klammer um ein in Berufsgruppen und soziale Schichten differenziertes Bürgertum interpretiert werden kann“ (S. 332). Seine Untersuchung der privaten Ausbildungsförderung durch Vereine und Stiftungen deutet eher auf „die Phänomene innerbürgerlicher Differenzierung“ wie zum Beispiel „die Konflikte zwischen bürgerlichen Sozialreformern und sozialkonservativen Paternalisten auf dem Feld der Ausbildungsförderung nichtbürgerlicher Schichten oder [. . . ] die Unterschiede zwischen wirtschaftsbür-

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gerlichen und bildungsbürgerlichen Ausbildungsstiftungen“ (S. 333). Auch wenn alle Beiträge zu diesem Sammelband auf soliden Quellenstudien beruhen, sind sie doch von sehr unterschiedlicher Qualität hinsichtlich der Literaturauswahl und ihrer Analyseebenen sowie des Abstraktionsniveaus. Insgesamt ist der Sammelband natürlich wichtig für eine weitere Erforschung der Stiftungen auf dem Feld der Bildungsförderung. Mehr als ein erster Schritt ist er jedoch nicht. HistLit 2007-4-216 / Thomas Adam über Flöter, Jonas; Ritzi, Christian (Hrsg.): Bildungsmäzenatentum. Privates Handeln, Bürgersinn und kulturelle Kompetenz seit der Frühen Neuzeit. Köln 2007. In: H-Soz-u-Kult 14.12.2007.

Fuchs, Thomas: Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung. Städtechroniken, Kirchenbücher und historische Befragungen in Hessen, 1500 bis 1800. Marburg: Hessisches Landesamt für geschichtliche Landeskunde 2006. ISBN: 3-921254-88-4; VIII, 215 S. Rezensiert von: Robert Friedeburg, Erasmus University Rotterdam Die im Zusammenhang mit den Forschungen zur Habilitationsschrift des Verfassers entstandene Studie resümiert, wie der Untertitel erkennen lässt, „Städtechroniken, Kirchenbücher und historische Befragungen’ in der hessischen Landgrafschaft der frühen Neuzeit – ein Nachtrag zur 2002 bereits erschienenen Habilitationsschrift. Der Verfasser erläutert in seiner Einleitung sein Verständnis vom Verhältnis von „Tradition, Geschichtsschreibung und Städtechroniken“, beschreibt dann, Ort für Ort – von „Allendorf an der Werra“ bis „Zierenberg“ – bestehendes Quellenmaterial und sucht daraufhin seine Ergebnisse zusammenzufassen (III „Gedächtnis und Erinnerung“ und IV „Zusammenfassung“). Kapitel II, „Städtechroniken“, enthält unbezweifelt interessantes quellenkundliches Material, auch wenn manche Abschnitte – „[i]n den Beständen des Stadtarchivs [. . . ] lassen sich keine chronikalischen Texte nachweisen“ – trocken daherkommen. In den „Städten der Landgrafschaft HessenKassel [gab es ohnehin ] nur eine marginale Pro-

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Th. Fuchs: Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung duktion von historischen Stadtchroniken. Historische Imagination war hier immer auf die regierende Dynastie bezogen.“ (S. 127) Ausgehend von seiner Habilitation hebt der Verfasser in den beiden letzten Kapiteln denn auch vor allem auf die „Wirkmächtigkeit der historischen Metaerzählung der Landgrafen von Hessen“ (S.128) ab. In diesem Zusammenhang unterscheidet der Verfasser vor allem drei Wellen historischer Schriften: im Gefolge der Reformation im Verlauf des 16. Jahrhunderts, im Zeichen der Frühaufklärung, vor allem durch die Landgrafen, und dann noch einmal um 1800. Soweit die Befunde und Thesen. Zwei Anmerkungen wären zu machen. Zum einen: Der Leser stößt auf recht allgemeine Bemerkungen wie die folgende: „Gedächtnis stellt demgegenüber als anthropologische Kategorie in unserem Sinne ein (sic!) notwendig-existentielle Wissensaneignung zur Kontingenzbewältigung dar oder tradiert historische Stücke und Fragmente, deren historisches Herkommen subjektiv unbewusst ist und als Sprachhandlung ebenfalls existentiellen Charakter besitzt.“ (S. 130); „Tradition sowie ihre narrative Bewältigung waren vor der Aufklärung ein religiöses Phänomen [...] dies bedeutet für die vormodernen Gesellschaften Europas, in denen Recht sozial bestimmt war, dass Tradition trotz ihrer Rückwärtsgewandtheit utopische und emanzipatorischen Charakter besitzen konnte. Schon Spinoza hatte in seinem Theologischpolitischen Traktat nachgewiesen, dass ‚das Recht der höchsten Gewalten durch ihre Macht’ bestimmt wird.“ (S. 1-2) „Tradition war das ideologische Abfallprodukt von Geschichtsschreibung.“ (S. 4) Sollte aus einer Analyse der Inhalte städtischer Chroniken aus dem hessischen Raum wirklich auf ganz Europa geschlossen werden? Wirkte das Traktat von Spinoza, 1670 veröffentlicht, tatsächlich etwa nach Zierenberg zurück? Wie sieht es, wenn die hessischen Befunde schon in der Weltgeschichte verortet werden sollen, mit den Forschungen von Muhlack, Hammerstein, Fasolt oder Kelley aus – nur Hammerstein wird überhaupt im Literaturverzeichnis erwähnt. Das Verhältnis zwischen den teils apodiktischen Aussagen in Einleitung und Schluss, der Forschungslage zur Entwicklung von Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft in der Frühen Neuzeit und der Quellenlage der Untersuchung bleibt wenigstens undeutlich. Zum anderen: Fuchs hat sich auch mit den Befragungen der Jahre 1654 und 1660 ausein-

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andergesetzt, die Material für eine Chronik der Landgrafschaft bringen sollten. Ist sich Fuchs bewusst, dass die Kassler Landgrafen zwischen 1647 und 1655 mit einer Rechtsgeschichte der Landgrafschaft konfrontiert wurden, in der vor allem die Ritter die Hessische Chronik Wilhelm Dillichs, von Landgraf Moritz initiiert, in ihrem Sinne ausschlachteten, um ihre ständische Rechtsposition zu untermauern? Auch wenn die insgesamt recht schwachen Städte ihren Landgrafen in diesen Jahren nur bedingt Widerstand entgegensetzten und es insofern sein mag, dass „[d]ie Herrschaft des landgräflich-hessischen Geschichtsbildes [...] in den Städten [...] von der kulturellen Prägekraft und Prägeintensität der Landesobrigkeit zeugt“ (S. 164) – was anders soll man von diesen kleinen „Ackerbürgerstädten“ auch erwarten? Aber was kann „Durchsetzung des zumindest absolutistisch imaginierten Territorialstaates nach 1648 im Reich“ (S. 136) meinen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass der Wandel in der Bewertung reichsfürstlicher Herrschaft längst auch im Hinblick auf die Kassler Landgrafschaft vollzogen wurde, die älteren Bewertungen von Sohm oder Lichtner längst nicht allein differenziert, sondern über den Haufen geworfen sind? Volker Press spricht nur mehr von „Semiabsolutismus“; Karl Otmar von Aretin weist darauf hin, noch nicht einmal in Brandenburg sei den Ständen das Steuerrecht entwunden worden, in Hessen-Kassel habe der Landgraf nur erreicht, in Notfällen Steuern zu erlassen, die aber nachträglich bewilligt werden mussten.1 Und gerade in den teils dramatischen Verhandlungen der Jahre 1647-1655 beriefen sich die Stände auch vor dem Reichskammergericht auf ihre Konstruktion der Landesgeschichte als Geschichte eines hessischen „Vaterlandes“, dem sie als „Patrioten“ zu dienen verpflichtet seien. Hierzu erschien schon 2004 die preisgekrönte Studie von Armand Maruhn, die sich in einem eigenen Kapitel mit der Bedeutung der Reichsgeschichte für den Ständekonflikt beschäftigt.2 Der Verfasser scheint weder in der ide1 Sohm

Walter, „Territorium und Reformation in der hessischen Geschichte 1526-1555, Marburg 1915; Lichtner, Adolf, Landesherr und Stände in Hessen-Kassel 1797-1821, Göttingen 1913; Press, Volker, Hessen im Zeitalter der Landesteilung (1567-1655), in: Heinemeyer, Walter (Hrsg.), Das Werden Hessens, Marburg 1986, S. 267-331; Aretin, Karl Otmar von, Das Alte Reich 1648-1806, Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648-1684), Stuttgart 1993, S. 91-93. 2 Maruhn, Armand, Necessitäres Regiment und fundamentalgesetzlicher Ausgleich. Der hessische Ständekonflikt 1646-

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Frühe Neuzeit engeschichtlichen Forschungslandschaft zur Entwicklung der gelehrten Geschichtsschreibung im Europa der Frühen Neuzeit noch in den Verästelungen der Rolle geschichtlicher Erinnerung in der Landgrafschaft Hessen-Kassel wirklich zu Hause zu sein, so dass die Verallgemeinerungen zu Beginn und in der Zusammenfassung kaum zu überzeugen vermögen. Schade – denn aus dem Kontrast städtischer Chronistik und ständischer Geschichtskonstruktion hätte sich wenigstens für die Landesgeschichte ein Funken schlagen lassen – mit oder ohne Spinoza. HistLit 2007-4-141 / Robert Friedeburg über Fuchs, Thomas: Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung zwischen Reformation und Aufklärung. Städtechroniken, Kirchenbücher und historische Befragungen in Hessen, 1500 bis 1800. Marburg 2006. In: H-Soz-u-Kult 20.11.2007.

Hedwig, Andreas (Hrsg.): „Weil das Holz eine köstliche Ware ...”. Wald und Forst zwischen Mittelalter und Moderne. Marburg: Verlagsdruckerei Schmidt 2006. ISBN: 3-88964-193-8; 209 S. Rezensiert von: Bettina Borgemeister, Berlin Als der hessische Ministerpräsident Koch 2003 seinem Land mit der „Operation Sichere Zukunft“ das größte Sparprogramm der Nachkriegsgeschichte verordnete, war das Echo in den Medien groß. Schließlich wurden Kürzungen im Landeshaushalt in Höhe von einer Milliarde Euro angekündigt. Im Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit standen Streichungen bei Subventionen und sozialen Projekten. Kaum beachtet wurde hingegen, dass darüber hinaus erneut harte Einschnitte in der Forstverwaltung des waldreichsten Bundeslandes vorgesehen waren. Die Verringerung der Anzahl der Forstämter um die Hälfte und der Forstreviere um ein Drittel bezeichnete der zuständige Minister als unumgänglich. Dem Staatsarchiv Marburg, das die ältesten und umfangreichsten Bestände zur hessischen Forstgeschichte verwahrt, war die forstliche Strukturreform deshalb Anlass genug für eine eingehende Beschäftigung mit der Waldgeschichte des Landes. Im Jahre 2005 stellte es der Öffentlichkeit neben Leihgaben aus dem Forstmuseum Hanau1655 (Quellen und Forschungen zur hessischen Geschichte 139), Darmstadt 2004, Kap. 4, S. 176-215.

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Wolfgang eine Auswahl waldgeschichtlich relevanter Archivalien vor. Ergänzt wurde die Ausstellung durch ein wissenschaftliches Kolloquium, das die Wald- und Forstgeschichte Hessens vom Mittelalter bis in die Gegenwart beleuchtete. Der von Andreas Hedwig herausgegebene Band macht die Vorträge der Tagung und eine Reihe von Abbildungen aus dem Katalog zur Ausstellung nun einem breiten Publikum zugänglich. Alles in allem leisten die Beiträge des Bandes sehr viel mehr als es das verkürzende Motto im Titel vermuten lässt. Der Fokus der Betrachtung reicht über die Geschichte der Holznutzung weit hinaus. Anders als in der älteren Forstgeschichtsschreibung, die im Wald zuerst den Lieferanten des unentbehrlichen Rohstoffs und Energieträgers Holz sah, werden die Wälder als vielfältig genutzte, multifunktionale Räume mit hohem kulturellen und politischen Bedeutungsgehalt beschrieben. Entsprechend breit ist das Spektrum der Themen angelegt: Der mittelalterliche Landesausbau und die Rolle des Waldes bei der Herausbildung von Herrschaft werden ebenso behandelt wie wirtschaftliche und kulturelle Dimensionen der Waldnutzung oder Fragen der politischen Symbolik des Waldes und seines Stellenwerts im Rahmen einer vergleichenden Umweltgeschichte. „Forst und Wald im Mittelalter“: Im ersten Abschnitt stellt sich Matthias Hardt der heiklen Aufgabe, trotz lückenhafter Überlieferung die Siedlungsentwicklung für das frühe und hohe Mittelalter nachzuzeichnen und verbreitete Waldnutzungsformen zu beschreiben. Am Beispiel des Klosters Fulda kann er überzeugend darlegen, dass Rodung schon im 8. und 9. Jahrhundert ein herrschaftlich gelenkter und planvoll ausgeführter Vorgang war. Neu war im Hochmittelalter also nicht das Prinzip, sondern das Ausmaß der Rodungen. Die Folgen dieses Prozesses bilden den Ausgangspunkt für Otto Volks Beitrag über die Waldnutzung im späten Mittelalter. Volks Bilanz fällt insgesamt negativ aus: Das Spätmittelalter erscheint ihm als Krisenzeit der Waldgeschichte, geprägt von „Raubbau“ und allgegenwärtigen Nutzungskonkurrenzen und -konflikten. Seine pessimistische Einschätzung sieht er in der Überlieferung ländlicher Holzgerichte bestätigt, wobei er die bäuerliche Waldnutzung zwar in ihrer ganzen Vielfalt darstellt, die ausgleichende und waldschützende Kraft der genossenschaftlichen Gremien aber zu gering veranschlagt. Die Rolle des Waldes bei der Entwicklung des spätmittelalterlichen Städte-

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A. Hedwig (Hrsg.): Wald und Forst zwischen Mittelalter und Moderne wesens kann Volk hingegen nur andeuten: Die städtische Waldgeschichte ist immer noch ein Forschungsdesiderat. „Der Wald in der bildlichen Darstellung und im Märchen“: Den zweiten Teil des Bandes eröffnet Fritz Wolffs reich bebilderter Aufsatz über einen weithin vernachlässigten Aspekt der Waldgeschichte – die Darstellung des Waldes in der Kartographie. An den Anfang der forstlichen Kartographie in Hessen stellt Wolff den Konflikt. Lange vor der systematischen Kartierung der Forstflächen im 18. und 19. Jahrhundert entstand im 16. Jahrhundert bei rechtlichen Auseinandersetzungen über die Waldnutzung eine erste Gattung von Waldkarten: die „Prozess- und Streitkarten“ einer zunächst noch mit stilistischen Elementen der Landschaftsmalerei operierenden „forensischen Kartographie“ (S. 34). Der politischen Symbolik literarischer Waldbilder nähert sich anschließend Siegfried Becker am Beispiel der „Märchenwälder im hessischen Vor- und Nachmärz“. Während der napoleonischen Kriege zum Schutzwall gegen die Fremdherrschaft stilisiert, wurde der ‚deutsche Wald’ nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches zum „Urgrund“ (S. 63) einer neuen schwärmerischen Vaterlandsliebe verklärt. Ihren Höhepunkt erreichte die politische Aufladung des Waldes im Kaiserreich: Nun war es besonders die deutsche Eiche, als Solitär nicht zufällig Sinnbild des monarchischen Prinzips, die die Einheit von Volk, Nation und Staat repräsentierte. Verdrängt hatte sie den germanischen Eichenhain, der noch im Revolutionsjahr 1848 die Einheit der deutschen Volksstämme verkörpert hatte. Der dritte und letzte Abschnitt des Bandes mit der etwas sperrigen Überschrift „Forstnutzung und -nutzen von der frühen Neuzeit bis in die Gegenwart“ wird eingeleitet von Joachim Radkaus Beitrag über den Wald als „Lebenswelt und Konfliktfeld der alten Zeit“ – einem Text, den man auch als Summe seiner langjährigen Forschungen zur Wald- und Umweltgeschichte begreifen kann. Ihren Ausgang nehmen Radkaus acht Punkte umfassende Ausführungen jeweils bei Archivalien aus dem Staatsarchiv Marburg. Indem er diese jedoch sogleich in einen größeren regionalen und schließlich auch globalen Rahmen einordnet, gelingt es ihm, über das hessische Beispiel hinausführend zentrale Problemfelder der Waldgeschichte zu umreißen und der Forschung neue Perspektiven zu eröffnen. Damit ist der Beitrag selber ein eindrücklicher Beleg für die Fruchtbarkeit des von Rad-

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kau favorisierten Ansatzes – eines Ansatzes, der den mikro- und makroskopischen Blick miteinander verschränkt: „von der Region in die weite Welt und zurück“ (S. 75). Zurück in die Wälder Hessens führt Karl Murks Aufsatz über die Rekrutierung und Ausbildung hessischer Forstbeamter im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Murk zeichnet nicht nur die auch für Hessen typische enge personelle Verflechtung von Forst- und Militärwesen nach, sondern auch den mühsamen, von sozialen Härten begleiteten Prozess der Professionalisierung der Forstverwaltung. Über die Grundsätze der aktuellen Forstreformen referiert schließlich Volker Grundmann. Als „echten Paradigmenwechsel“ (S. 1) hatte Hedwig diese zuvor im Vorwort beschrieben. Grundmann zeigt, was sich dahinter verbirgt: eine strikte betriebswirtschaftliche Ausrichtung des Forstbetriebs, kaufmännische Buchführung, Outsourcing, e-Government und vor allen Dingen Personalabbau. „Der Amtsleiter wird zum Manager, das Forstamt [...] zum Dienstleister“ (S. 133). Dass dies offenbar dem Selbstverständnis vieler Forstwirte widerspricht, deuten HansJoachim Weimanns stark emotional eingefärbte „Bemerkungen zum Wirken hessen-kasselscher Forstleute“ an: Mit korporativem Stolz blickt er zurück auf die Verdienste einstiger Forstbeamter und bringt sie in Stellung gegen den vermeintlichen Niedergang des hessischen Forstwesens, der in der Nachkriegszeit begonnen und in der „Operation Sichere Zukunft“ seinen vorläufigen Tiefpunkt erreicht habe. In den Beiträgen des Bandes werden viele Aspekte beleuchtet, die über die hessische Waldund Forstgeschichte hinaus von grundlegender Bedeutung sind. Der weitgefasste Titel des Bandes ist insofern berechtigt. Erneut tritt ein grundlegender Dissens in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Umweltgeschichte zutage: Es besteht nach wie vor keine Einigkeit darüber, ob die vormoderne Waldgeschichte als Krisenzeit zu betrachten ist oder nicht. Über die Freude vieler Historiker an Quellenzitaten in Buchtiteln kann man sicherlich geteilter Meinung sein. Irritierend wirkt aber in diesem Fall, dass das Seckendorff zugeschriebene Zitat (S. 139) in dieser Form im „Fürsten Stat“ nicht aufzufinden ist. HistLit 2007-4-098 / Bettina Borgemeister über Hedwig, Andreas (Hrsg.): „Weil das Holz eine köstliche Ware ...”. Wald und Forst zwischen Mit-

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Frühe Neuzeit telalter und Moderne. Marburg 2006. In: H-Soz-uKult 02.11.2007.

Hering Torres, Max Sebastián: Rassismus in der Vormoderne. Die „Reinheit des Blutes“ im Spanien der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2006. ISBN: 3-593-38204-0; 292 S. Rezensiert von: Nikolaus Böttcher, Katholische Universität Eichstätt/ Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin Der vorliegende Band ist für den deutschsprachigen Raum wie auch für die Geschichte der Neuzeit von großem Interesse, da die „limpieza de sangre“ im frühneuzeitlichen Spanien auf den ersten Blick Parallelen zur Rassenpolitik im Dritten Reich aufzuweisen scheint und auch aktuelle Überblicke zur Geschichte des modernen Rassismus, hierin einen Vorläufer wahrnehmen. Doch die Vergleichbarkeit verliert sich einerseits im Ausmaß der NSVerbrechen, andererseits im Detail der komplexen Geschichte der Iberischen Halbinsel vom ausgehenden 15. bis zum frühen 18. Jahrhundert, die die Konstruktion solcher Kontinuitätslinien zweifelhaft erscheinen lassen. Dies macht Hering Torres insbesondere im letzten Abschnitt seiner Untersuchung deutlich. Doch greifen wir nicht vor. Die Personalunion der kastilischen und aragonesischen Kronen im Jahre 1479 steht am Beginn der frühneuzeitlichen Staatenbildung auf der Iberischen Halbinsel. Die Krone bediente sich in ihrem Bemühen um soziale, religiöse und kulturelle Homogenität verschiedener Strategien. Neben der Katholisierung der Gesellschaft und deren Überwachung durch die Inquisition wurde das Prinzip der „Reinheit des Blutes“ zum Instrument der sozialen Neuordnung. Der Begriff „Rasse“ ist in der Frühen Neuzeit zwar zunächst nur ein Hinweis auf eine gemeinsame Abstammung (linaje) und keine biologische Kategorie, erhält aber durch die limpieza einen pejorativen Inhalt der Unreinheit. „Von Rasse zu sein“ (tener raza) kam „Befleckung“ (mácula) gleich. Seit den grundlegenden Arbeiten von Bataillon, Menéndez Pelayo, Américo Castro, Domínguez Ortiz, Caro Baroja und Albert Sicroff ist erstaunlich wenig zu diesem Thema publiziert worden. Der Letztgenannte hat 1960 die einzige Monographie vorgelegt (deren spanische Übersetzung be-

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zeichnenderweise erst 1985 erschien).1 So ist es zu begrüßen, dass nun eine neue und umfassende Abhandlung zu diesem wichtigen Thema erschienen ist. Sie stellt die überarbeitete Fassung der Dissertation des Autors zum Thema dar, die 2004 in Wien approbiert wurde. Die Publikation hat leider auch eine Kürzung erforderlich gemacht, weshalb der Autor die an der Vertiefung des Themas interessierten Spezialisten ausdrücklich auch auf die ursprüngliche Dissertationsfassung verweist. Max Hering Torres interpretiert die limpiezaDogmatik als juristische Konstruktion. Die Arbeit analysiert am Beispiel der Neuchristen Marginalisierungsprozesse von Minderheiten, deren Ausgrenzung auf den Topoi „Rasse“, „Reinheit“ und „Blut“ basieren. Ebenso werden hier erstmalig sozialhistorische Fallstudien von genealogischen Untersuchungen über Einzelpersonen vorgestellt. Hering Torres (Universidad Nacional de Bogotá) hat es verstanden, die limpieza in den Bereich von Nationalstaat, Kollektivbewusstsein und Diskriminierung einzubetten und als Ausgrenzungsstrategie zu enthüllen. Es wird klar, dass der vermeintlich kollektive Feind einer Gesellschaft entscheidend zu deren Entstehen und Selbstdefinition beiträgt. So wurde das Bedürfnis der Abgrenzung gegenüber der neuchristlichen Bevölkerung zu einem charakteristischen Phänomen der spanischen Gesellschaft. Die altchristliche Abstammung entwickelte sich zu einem sozialen Gradmesser. Ehre und Stolz wurden zur raison d’être aller Schichten. Max Hering Torres gliedert seine Studie in sieben Kapitel. Nach einer einleitenden sorgfältigen Klärung der Begrifflichkeit (converso, limpio, mácula, raza, sangre) und der Vorstellung des aktuellen Forschungsstandes wendet sich der Autor der Chronologie der Ereignisse zu. Das erste thematische Kapitel befasst sich mit dem 15. Jahrhundert zwischen den ersten antijüdischen Ausschreitungen von 1391 bis zum Vertreibungsedikt der Katholischen Könige vom 31. März 1492. Das 1 Bataillon, Marcel, Erasme et l’Espagne, Paris 1937; Caro Ba-

roja, Julio, Inquisición, brujería y criptojudaísmo, Esplugas de Llobregat 1972; ders., Los Judíos en la España Moderna y Contemporánea, 3 Bde., Madrid 1986; Castro, Américo, España en su historia. Christianos, moros y judíos, Buenos Aires 1948; Domínguez Ortiz, Antonio, La clase social de los conversos en Castilla en la Edad Moderna, Madrid 1955; ders., Los extranjeros en la vida española durante el siglo XVII, Madrid 1960 (= Estudios de Historia social de España, Bd. 4, 2); ders., Los Judeoconversos en España y América, Madrid 1978; Menéndez Pelayo, Marcelino, Historia de los heterodoxos españoles. Madrid 1947/8; Sicroff, Albert, Les controverses des statuts de »pureté de sang« en Espagne di Xve au XVIIe siècle, Paris 1960 (span. Ausgabe 1985).

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iberische Judenproblem wurde innerhalb dieses Zeitraumes immer mehr zum converso-Problem, da vielen konvertierten „Neuchristen“ der soziale Aufstieg gelang und sie nun allein aufgrund ihrer jüdischen Herkunft diskriminiert werden konnten. Um diese Entwicklung zu erklären, ist es essentiell, die Ausgrenzungsmechanismen im ersten limpieza-Statut von 1449 zu untersuchen. So interpretiert der Autor im anschließenden Kapitel den sentencia-estatuto von Toledo als Beginn der Exklusion von Konvertiten und analysiert das Dokument als juristische und ideologische Rechtfertigung für künftige antijüdische Maßnahmen und Übergriffe. Hering Torres beschreibt in den folgenden Kapiteln die territoriale und ideelle Ausweitung des Reinheitskonzepts. 1483 wurde in einer päpstlichen Bulle festgelegt, dass bischöfliche Inquisitoren Altchristen sein mussten. Diese Unterscheidung wurde wenig später von den geistlichen Orden (von den Hieronymiten 1485, von den Franziskanern 1530 und von den Dominikanern 1531) sowie den großen kastilischen Ritterorden (1548) übernommen. Weiterhin wurden die Nachkommen von Ketzern für rechtsunfähig erklärt. Sie durften deshalb keine öffentlichen Ämter oder Berufe wie Anwälte, Notare, Schreiber, Apotheker und Ärzte ausüben. Nach 1568 war die Vorlage der Abstammung zum Nachweis der limpieza bei allen Bewerbungen, die den öffentlichen Sektor betrafen, notwendig. Ab der Mitte des 16. Jahrhunderts waren auch die Universitäten betroffen. Hier liegt eine besondere Stärke der Arbeit von Hering Torres. Zum ersten Mal werden Fallstudien (aus den Bereichen der Universität wie auch der Militärorden und der Inquisition) vorgestellt, in denen sich die Wirkung der Statuten, der enorme Aufwand genealogischer Gerichtsverfahren und deren Absurdität zeigen. Es schließt sich die theologische Diskussion in zeitgenössischen Traktaten über die limpieza an. Anhand von ausgesuchten Schriften des 15. bis zum 17. Jahrhundert weist der Autor nach, dass die neue Selbstdefinition und -legitimierung der altchristlichen Gesellschaft im Mutterland auf einer theologisch-juristischen und einer historischen (und mitunter auch medizinischen) Ebene erfolgte. Hering Torres zeigt, wie historische Wissenszusammenhänge neu geschaffen wurden und ein Diskurs entstand, der Juden als natürliche Feinde der Christen stigmatisierte. Dabei wurde die Dogmatik des Reinheitsprinzips durch Gott, Bibelexege-

se, Philosophie und Naturwissenschaft gestützt. Die vermeintliche Entdeckung von Apostaten, „Häretikern“ und „Kryptojuden“ wurde ohne Belege erfunden, danach durch Archivierung festgeschrieben und damit autorisiert. Das spanische Volk wurde parallel dazu als eine auf Noah zurückreichende Abstammungslinie neu hergeleitet, die durch das Prinzip der limpieza de sangre ausgedrückt und verteidigt wurde. Als diskursive Kategorie entstand die Vorstellung der reinen, ursprünglichen und „authentischen“ Spanier, deren Zusammengehörigkeit in der gemeinsamen Religion ihren symbolisch-weltanschaulichen und im Königtum ihren politischen Ausdruck fand. Dieser historische Diskurs diente als Instrument der inneren Neustrukturierung der in Bewegung geratenen Gesellschaft, indem er den sozialen Vorrang der zweifelsfrei „reinen“ Menschen wie die Exklusion aller mit fremdem Blut „befleckten“ legitimierte. Das Vokabular ruft die Irrlehren des Dritten Reiches ins Gedächtnis. Hering Torres stellt die eingangs erwähnte Frage nach einer historischen Kontinuität von Rassismus sinnvollerweise an den Schluss des Buches. Der rassistische Ansatz der limpieza steht außer Frage, Elemente des spanischen (den Nazis im übrigen unbekannten) Blutreinheitskonzeptes erinnern an Passagen der Nürnberger Rassengesetze, welche aber eine eigene Qualität besitzen, die eine lineare Interpretation vom vormodernen Antijudaismus bis hin zum NSAntisemitismus und Holocaust von Millionen Juden in Konzentrationslagern nicht zulässt. Hering Torres hat eine exzellente Monographie über die limpieza vorgelegt, die sowohl ihren theoretischen juristisch-theologischen Ansatz als auch ihre praktischen sozial- und mentalitätshistorischen Konsequenzen erfasst. Sie liefert einen wichtigen Beitrag zur Bedeutung von Integration und Ausgrenzung von Randgruppen im Rahmen des frühneuzeitlichen nation building. HistLit 2007-4-136 / Nikolaus Böttcher über Hering Torres, Max Sebastián: Rassismus in der Vormoderne. Die „Reinheit des Blutes“ im Spanien der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2006. In: H-Soz-u-Kult 16.11.2007.

Hermann, Ingo: Knigge. Die Biographie. Berlin: Propyläen Verlag 2007. ISBN: 978-3-549-072608; 386 S.

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Frühe Neuzeit Rezensiert von: Olga Weckenbrock, Universität Osnabrück Heute ist „Knigge“ ein Markenzeichen für gute Manieren und den guten Stil. Eine GoogleRecherche unter dem Stichwort „knigge“ verweist auf rund 3.200.000 Einträge und ist deshalb von besonderem Interesse, da sich nur die wenigsten dieser Einträge der Person von Adolph Freiherr Knigge und seinem Hauptwerk „Über den Umgang mit Menschen“ widmen. Die unzähligen Ratgeber mit dem Namen „Knigge“ im Titel bedienen alle Lebenslagen und verschiedene Kulturkreise der Gegenwart. Es geht um Benimm- und Spielregeln und um Zugangsvoraussetzungen für bestimmte Gesellschaftskreise. Wohl kaum jemand – Fachleute ausgenommen – denkt bei „Knigge“ an diese interessante Persönlichkeit der Aufklärung und an Knigges Hauptwerk, das ursprünglich nicht als Ratgeber für gute Manieren bestimmt war. Es versammelte lediglich Gedanken des Autors über den zwischenmenschlichen Umgang, um die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Entstehen begriffene bürgerliche Gesellschaft friedfertiger, gerechter und toleranter zu gestalten. Der Publizist Ingo Hermann nimmt sich nach seiner 2003 erschienenen Biographie des preußischen Kanzlers Hardenberg1 nun der Persönlichkeit von Knigge und seines Werkes an. Er verfolgt dabei das Ziel, die interessierte Öffentlichkeit – weniger die Fachleserschaft – auf einen „bedeutenden Wegbereiter demokratischen Denkens“ (S. 21) aufmerksam zu machen und mit den Vorurteilen über dessen Hauptwerk „Über den Umgang mit Menschen“ aufzuräumen. In der Auseinandersetzung mit Knigges Person und Werk sieht Hermann auch einen Schlüssel zum besseren Verständnis der Aufklärung und des Menschenbildes dieser Zeit. Mit dem, was Hermann dem Leser bietet, betritt er allerdings kein Neuland. Das Forschungsinteresse an Knigges Leben und Werk ist schon seit langer Zeit groß, was sich in den zahlreichen Werk- und Gesamtwerkausgaben sowie in unzähligen Publikationen verschiedener Fachspezialisten äußert.2 Das Verdienst von Ingo Hermann besteht darin, dass er den von der Forschung bisher wenig beach1 Hermann,

Ingo, Hardenberg. Der Reformkanzler, Berlin 2003. 2 Einen Überblick über Forschung und Literatur zu Knigge bieten die Sammelbände: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.), Adolph Freiherr Knigge, München 1996; Rector, Martin (Hrsg.), Zwischen Weltklugheit und Moral. Der Aufklärer Adolph Freiherr Knigge, Göttingen 1999.

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teten Ansatz von Wolfgang Peters aus dem Jahre 1954 aufgreift, Knigges Schaffen aus der Perspektive eines Publizisten und Journalisten auszuleuchten, und damit neue Interpretationsmöglichkeiten vorschlägt. In der Einleitung legt Hermann die Gründe für das Entstehen der bis heute hartnäckig nachwirkenden Fehlinterpretationen von Knigges Absichten sowie die verschiedenen Abschnitte der Rezeption seines Hauptwerkes dar. Die nachfolgenden sechs Teile mit insgesamt 48 Unterkapiteln zeichnen chronologisch das Leben und die Karriere Knigges in enger Verbindung zu seinem Gesamtwerk und dem sozialen und politischen Kontext seiner Zeit nach. Die Quellengrundlage der Biographie bilden die gedruckten und ungedruckten Briefe und Tagebucheinträge. Darüber hinaus werden auch die literarischen und publizistischen Aufzeichnungen von Knigge, die für Hermann durchaus einen biographischen Mehrwert besitzen, miteinbezogen. Adolph Freiherr Knigge gehörte zu jenen öffentlichen Persönlichkeiten der Aufklärungsepoche, die als die letzten Universalgenies vor der Ausdifferenzierung der Wissenschaften im 19. Jahrhundert zu bezeichnen sind. Er war vielseitig gebildet und interessiert und bis zu seinem frühen Tod unermüdlich geistig aktiv. Parallel zu seinen langjährigen vergeblichen Versuchen, an einem der deutschen Höfe eine dauerhafte einträgliche Stellung zu erlangen, entschied sich Knigge für die Tätigkeit als Schriftsteller, was für einen Adeligen ungewöhnlich war. Diese Aufgabe bot ihm allerdings zusätzliche Einnahmen für ein bescheidenes, aber standesgemäßes Leben. Neben seinen literarischen Werken, die wegen mangelnder Virtuosität kaum Anerkennung fanden, schrieb er über 1000 Rezensionen, unzählige – zum Teil veröffentlichte – Briefe, Übersetzungen und Aufsätze zu Werken und Themen seiner Zeit. Hermann sieht Knigge als einen Berichterstatter der Aufklärung, der aus seinem eigenen Erfahrungs- und Beobachtungsschatz schöpfend, auf Missstände hinwies und sie öffentlich kritisierte. Neben der schriftstellerischen Tätigkeit suchte Knigge auch andere Plattformen für die politische Mitsprache und Diskussion wie etwa die Arkangesellschaften der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die ihn und sein Weltbild nachhaltig prägten, was bereits in vielen Forschungsarbeiten thematisiert wurde. Ingo Hermann wird seinem Hauptziel gerecht: In einer leicht lesbaren Sprache führt er die bisheri-

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P. Kriedte: Taufgesinnte und großes Kapital gen Forschungsergebnisse zur Person von Adolph Freiherr Knigge und seinen Werken zusammen und leuchtet überzeugend das eigentliche Programm von „Über den Umgang mit Menschen“ sowie die Ursachen für das heutige verzerrte Bild aus. Zu den gelungensten Teilen des Buches sind ohne Zweifel die sich mit Knigges satirischem Werk befassenden Kapitel zu zählen, in denen die ganze Breite seiner Persönlichkeit und Reflexionsfähigkeit offenbart wird. Der beachtliche Anmerkungs- und Quellenapparat sowie ein Personenregister ergänzen die Biographie. Die Aufschlüsselung der Aufklärungszeit und des in dieser Zeit formulierten Menschenbildes gelingen dem Autor jedoch nicht ganz, da er die Ereignisse und Inhalte mit heutigen Maßstäben beurteilt. Bei der Bewertung von Knigges sozialer Stellung folgt Hermann den adelskritischen Interpretationsmustern und berücksichtigt nicht die ambivalente Situation eines Adeligen, der gleichzeitig Träger aufklärerischen Gedankenguts war. Er betont zwar richtig, dass Knigge einerseits dezidiert die Lebensweise und Mentalität des Hofadels kritisierte, andererseits aber eine positive Quintessenz aus den adeligen Umgangsformen zog und diese in seinem Hauptwerk für die Bürgerkultur übersetzte. Hermanns Einschätzung der ins Wanken geratenen Ständegesellschaft ruft jedoch viele Fragen auf. Außerdem leiden die Analysen zuweilen an der im Buch nahezu vollständig fehlenden kritischen Auseinandersetzung mit den Quellen. Wie schon in früheren Biographien zu Knigge (die letzte 1936!) nutzt auch Hermann die Romane Knigges, um die lückenhaften biographischen Informationen zu ersetzen, und verwischt so die Grenze zwischen dem Tatsächlichen und dem Fiktiven. Die allgegenwärtige Subjektivität des Autors und sein unkritischer Umgang mit den Quellen und Begriffen aus der Zeit um 1800 wird sicherlich beim Fachleser ein Stirnrunzeln verursachen. Auch bietet das Buch wenig neue Erkenntnisse. Trotz dieser kritischen Anmerkungen hat Ingo Hermann für die interessierte Öffentlichkeit ein lesenswertes und unterhaltsames Sachbuch mit einer fundierten Einführung in das Werk und Leben von Adolph Freiherr Knigge vorgelegt. HistLit 2007-4-188 / Olga Weckenbrock über Hermann, Ingo: Knigge. Die Biographie. Berlin 2007. In: H-Soz-u-Kult 05.12.2007.

2007-4-019 Kriedte, Peter: Taufgesinnte und großes Kapital. Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. ISBN: 978-3-525-35801-6; 803 S. Rezensiert von: Dietrich Ebeling, Bonn Als 1977 die Studie ‚Industrialisierung vor der Industrialisierung’1 erschien, schlugen die Wellen hoch. Wer von den Älteren erinnert sich nicht gerne an den Berliner Historikertag 1984? Eine Gruppe am Göttinger Max-Planck-Institut hatte die zunehmende Kritik am Paradigma der industriellen Revolution aufgegriffen und verschiedene neue wie auch ältere theoretische Konzepte zu einem umfassenden Konzept über die Voraussetzungen und Bedingungen der modernen Industriegesellschaft kombiniert.2 Im Zentrum stand die von den neo-malthusianischen Thesen Franklin Mendels3 abgeleitete Bedeutung der ländlichen Hausindustrie für den frühneuzeitlichen demographischen Wachstumsprozess, die Modernisierung der Landwirtschaft und die Entstehung eines landlosen Proletariats.4 Das Modell einer spezifischen protoindustriellen Familien- und Haushaltsökonomie konnte den Resultaten der danach zahlreich unternommenen Fallstudien freilich nicht standhalten. Gleiches gilt für andere Bausteine eines ohnehin nicht geschlossenen Konzepts.5 Die Diskussion 1 Peter

Kriedte, Hans Medick u. Jürgen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion auf dem Lande in der Formationsperiode des Kapitalismus (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 53), Göttingen 1977. 2 Zum Diskussionsstand Anfang der 1970er-Jahre siehe Richard u. Charles Tilly, Agenda for European Economic History in the 1970s, in: The Journal of Economic History 31 (1971), S. 184-198. 3 Franklin F. Mendels, Industrialization and population pressure in eighteenth-century Flanders, Diss. Wisconsin 1969, gedr. New York 1981. 4 Eine Vorreiterrolle hatte die Untersuchung von David Levine, Family formation in an age of nascent capitalism, New York 1977. 5 Eine Zusammenfassung der Debatte bis zur Mitte der 1990er-Jahre bei Markus Cerman u. Sheilagh C. Ogilvie, Theorien der Proto-Industrialisierung, in: dies., (Hrsg.), Proto-Industrialisierung in Europa: Industrielle Produktion vor dem Fabrikszeitalter, Wien 1994, S. 9-21; Zur Auseinandersetzung mit der Kritik siehe Peter Kriedte, Hans Medick u. Jürgen Schlumbohm, Die Protoindustrialisierung auf dem Prüfstand der historischen Zunft. Antwort auf einige Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 87-105; dies., Eine Forschungslandschaft in Bewegung. Die ProtoIndustrialisierung am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1998/2, S. 9-20.

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Frühe Neuzeit über Protoindustrie und Proto-Industrialisierung hat sich seitdem deutlich abgekühlt bzw. auf einzelne Themenfelder verlagert. Lediglich Ulrich Pfister hat in den 1990er-Jahren nochmals ein umfassendes Modell vorgeschlagen.6 Dreißig Jahre nach ‚Industrialisierung vor der Industrialisierung’ erscheint nun das zweite Buch von Peter Kriedte zum Krefelder Seidengewerbe.7 Die Einleitung verzichtet dankenswerterweise auf eine Debattenrückschau und auf die Verteidigung eines Begriffs, der längst Eingang in die Schulbücher gefunden hat und immerhin geeignet ist, „ [. . . ] systematische Gesichtspunkte und solche, die den Prozeßcharakter der Verdichtung von Gewerberegionen im Verlauf der frühen Neuzeit und des beginnenden 19. Jahrhunderts betonen, zusammenzuführen“ (S. 20). Diejenigen, welche ein explizites theoretisches Konzept erwartet hatten, werden enttäuscht. Bezüge zu einzelnen Theorieelementen findet man im Anmerkungsapparat der Darstellung zur Einordnung der Fallstudie und Gewichtung ihrer Resultate. Gleichwohl ist das Buch alles andere als eine rein empirische Studie. Die Schwerpunkte orientieren sich an den Besonderheiten des Krefelder Seidengewerbes. Zum einen sind dies die Rolle des städtischen Produktionsstandorts und das Stadt-Land-Verhältnis. Krefeld gehörte als „protoindustriellen Agglomeration“ zu einem neuen Städtetyp, war nach Köln und Aachen die drittgrößte Stadt am linken Niederrhein und hatte von allen preußischen Städten den höchsten An6 Ulrich

Pfister, Die Zürcher Fabriques. Protoindustrielles Wachstum vom 16. zum 18. Jahrhundert, Zürich 1992; siehe auch ders., A general model of proto-industrial growth, in: René Leboutte (Hrsg.), Proto-Industrialization, recent research and new perspectives, Genf 1996, S. 73-92; ders., Proto-industrielles Wachstum: ein theoretisches Modell, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1998/2, S. 21-47; ders., Protoindustrie und Landwirtschaft, in: Dietrich Ebeling u. Wolfgang Mager (Hrsg.), Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Bielefeld 1997, S. 57-84; Pfister hat sich auch zu einigen Teilthemen geäußert; siehe zur Rolle der Haushalte ders., The protoindustrial household economy: Toward a formal analysis, in: Journal of Family History 17/2 (1992), S. 201- 232; zuletzt zur Rolle der Institutionen ders., Protoindustrielle Produktionsregimes in institutionenökonomischer Perspektive, in: Karl-Peter Ellerbrock u. Clemens Wischermann (Hrsg.), Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics, Dortmund 2004, S. 160-178. 7 Das erste Buch (Eine Stadt am seidenen Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts [Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Bd. 97] Göttingen 1991) beschäftigte sich mit Krefeld in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

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teil gewerblich Beschäftigter. Die Bedeutung des urbanen Produktionsstandorts hatte im Wesentlichen ökonomische Gründe. Angesichts der herrschaftlichen Gemengelage in der Region übte die preußische Gesetzgebung mit ihrer strikten Trennung von gewerblich-städtischer und agrarischländlicher Sphäre keinen entscheidenden Einfluss auf das Stadt-Land-Verhältnis aus. Die ländliche Hausindustrie blieb aufgrund der besonderen Erfordernisse des Seidengewerbes nur ein ergänzender Faktor. Hochwertige Produkte wurden weiterhin ausschließlich in der Stadt hergestellt. Der ländlichen Hausindustrie wurde in Teilen die Samtbandweberei überlassen, bei der niedrige Arbeitskosten wichtig, eine unmittelbare Kontrolle des Herstellungsprozesses eher zu vernachlässigen, Unterschlagungen und eine konkurrierende Nachfrage von Verlagen aus anderen Standorten in Kauf zu nehmen waren. Die Nachteile wurden durch den Einsatz von Webermeistern (im Krefelder Seidengewerbe Fabrikenmeister genannt) als Unterverleger minimiert, ein typisches Phänomen weiträumiger Verlagssysteme. Zum zweiten werden die mennonitischen Kaufleute in den Mittelpunkt gerückt, die insbesondere in Gestalt der von der Leyen-Dynastie das Krefelder Seidengewerbe des 18. Jahrhunderts geprägt haben. Als Verleger drangen sie in die Produktionssphäre vor und gaben dem proto-industriellen Kapitalismus seine spezifische Gestalt. Aus der Zugehörigkeit zu einer kleinen, geschlossenen Religionsgemeinschaft resultierte ein hohes Maß an innerem Zusammenhalt, der die Einhaltung von Normen bei Geschäftspraktiken erleichterte und einen Ersatz bot für fehlende institutionelle Regelungen in einem herrschaftsübergreifenden Aktionsraums sowohl im Produktion- wie im Distributionsbereich. Überregionale Heiratsverbindungen stellten ein verwandtschaftliches Netzwerk her, das mindestens für Handelsbeziehungen insbesondere in den Niederlanden genutzt wurde. Relativ rasch fielen dann aber die Grenzen zwischen den protestantischen Konfessionsgruppen. Heiratsverbindungen auf der Ebene der erfolgreichsten Familien aus dem Kreis der Kaufleuteunternehmer in den verschiedenen Standorten der rheinischen Protoindustrie legten die Grundlage für eine neue Führungsschicht, die in der französischen Herrschaftszeit auch ihre Abstinenz von politischen Ämtern aufgab. Bereits zuvor hatte der für die Anfangsphase typische und für die Kapitalbildung wichtige Konsumverzicht sein Ende gefunden.

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E. Labouvie (Hrsg.): Adel in Sachsen-Anhalt In Hinblick auf die spezifische Gestalt der Krefelder Protoindustrie waren die staatlich verliehenen Monopolrechte für die von der Leyenschen Unternehmungen einflussreich. Sie bezogen sich auf den Gebrauch von Bandmühlen und damit auf bestimmte Produktsegmente, vornehmlich aber auf die Fixierung eines Nachfragemonopols (Monopson) auf dem Arbeitsmarkt. Die „Allianz zwischen ‚großem Kapital’ und Staat“ zwang konkurrierende Unternehmen zur Betriebsverlagerung, verfestigte die Strukturen des Krefelder Seidengewerbes und wirkte sich auf Dauer nachteilig auf den Modernisierungsprozess aus. Die Fortentwicklung des protoindustriellen Systems unter monopolfreien, konkurrenzorientierten Bedingungen wurde letztlich erst durch den Herrschaftswechsel infolge der französischen Besetzung des linken Rheinlandes erzwungen. Durch den bereits im 18. Jahrhundert eingeleiteten, mit Beginn des 19. Jahrhunderts dann beschleunigten Prozess der Aristokratisierung schied das Wirtschaftsbürgertum des Ancien Régime als Motor der weiteren Entwicklung des protoindustriellen Systems aus. Diese ging in die Hände einer neuen Unternehmerschicht über, wobei eine Entwicklung vom Verleger über den im 18. Jahrhundert sich entwickelnden Mischtyp des VerlegerManufakturunternehmers zum Fabrikunternehmer keineswegs zwingend war. Die Ablösung der alten, unter Monopol- bzw. Oligopolbedingungen herangewachsenen Großverlage durch kleinere, weniger kapitalkräftige Verlage beförderte zunächst die Auslagerung einzelner Leistungen auf Lohnunternehmungen wie beim Einkauf der Rohseide oder beim Färben. Das von den Altverlegern gepflegte paternalistische Unternehmensmodell zur Vermeidung von Nachfragekonkurrenz verlor mit der Normierung der Arbeitsbeziehungen durch das französische, von Preußen später übernommene Recht seinen Sinn. Die als Arbeiteraristokratie bezeichnete Gruppe der Fabrikmeister musste ihre Vermittlungsposition zwischen Werkstattsystem und Verleger abgeben. In Kleinmanufakturen übernahmen Kontoristen und Werkmeister ihre Aufgaben, im weiterhin auch bestehenden Verlagssystem gingen sie in der Masse der Lohnweber unter. Das Ancien Régime habe dem Krefelder Seidengewerbe seinen Stempel aufgedrückt, bemerkt Kriedte zur der Bewertung der staatlich garantierten Monopolrechte. Ein Sonderfall war Krefeld gleichwohl nicht. Ähnliche Begünstigungen einzelner Unternehmungen gab es in den ande-

2007-4-138 ren protoindustriell geprägten Gebieten der nördlichen Rheinlande und darüber hinaus auch. Da es nicht um Absatzgarantien wie etwa in den preußischen Kernprovinzen sondern hauptsächlich um den ungeteilten Zugriff auf das Arbeitskräftepotential ging, lassen sich diesen Monopolrechten als funktionale Äquivalente auch jene institutionellen Formen an die Seite stellen, die ebenfalls auf ein Angebotsmonopol gegenüber den verlegten Heimarbeitern zielten. Die Feine Gewandtschaft in Monschau ist ein Beispiel dafür. Schon die Durchsetzungskraft des Krefelder Seidengewerbes wie auch etwa der des Monschauer Feintuchgewerbes auf umkämpften Märkten lässt an einer Bewertung institutioneller Faktoren als Wachstumshemmnis zweifeln, wie sie jüngst wieder von Sheilagh Ogilvie vorgenommen wurde.8 Das Buch wird nicht nur auf Jahre wenn nicht auf Jahrzehnte die maßgebliche Darstellung zum Krefelder Seidengewerbe bleiben. Allein die Fülle des herangezogenen seriellen Quellenmaterials legt die Meßlatte für zukünftige Forschungen sehr hoch, auch wenn man sich zu der einen oder anderen Frage noch eine intensivere Nutzung gewünscht hätte (etwa was die Handlungsstrategien der Heimarbeiterschaft und die Frage Klassenbildung jenseits symbolischer Akte angeht). Es liefert einen wichtigen Baustein für eine Typologie der protoindustrieller Regionen und wird hoffentlich die Diskussion neu befruchten. HistLit 2007-4-019 / Dietrich Ebeling über Kriedte, Peter: Taufgesinnte und großes Kapital. Die niederrheinisch-bergischen Mennoniten und der Aufstieg des Krefelder Seidengewerbes. Göttingen 2007. In: H-Soz-u-Kult 05.10.2007.

Labouvie, Eva (Hrsg.): Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie. Köln: Böhlau Verlag 2007. ISBN: 978-3-412-12906-4; 380 S.

8 Sheilagh

C. Ogilvie, State corporatism and proto-industry. The Württemberg Black Forest, 1580-1797, Cambridge 1997; siehe auch: dies, Soziale Institutionen und ProtoIndustrialisierung, in: Markus Cerman u. Sheilagh C. Ogilvie (Hrsg.), Proto-Industrialisierung in Europa: Industrielle Produktion vor dem Fabrikszeitalter, Wien 1994, S. 35-49; dies, Soziale Institutionen, Korporatismus und Protoindustrie. Die Württembergische Zeugmacherei (1580-1797), in: Dietrich Ebeling u. Wolfgang Mager, (Hrsg.), Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, Bielefeld 1997, S. 105-138.

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Frühe Neuzeit Rezensiert von: Axel Flügel, Universität Bielefeld In der Frühen Neuzeit dominierte die Rivalität zwischen Preußen und Kursachsen die Gebiete, die seit 1990 das Bundesland Sachsen-Anhalt bilden. Die beiden kurfürstlichen Häuser kämpften um die Vorherrschaft im Erzbistum Magdeburg, in den Hochstiften Halberstadt, Merseburg und Naumburg-Zeitz, in den Grafschaften Mansfeld und Stolberg. Am Ende, insbesondere seit 1815, trug Preußen den Sieg davon. Allein das kleine, zudem noch in mehrere Linien zersplitterte Fürstentum Anhalt behielt durch Anlehnung an Preußen eine rechtliche Selbstständigkeit. Im Raum Sachsen-Anhalt gab es daher kein höfisches Zentrum wie in Dresden oder eine bedeutende korporativ organisierte Adelslandschaft, wie sie Heinz Reif für das Fürstbistum Münster untersucht hat. Ein Landadel als der vormoderne politische Stand des Landes par excellence entfällt hier weitgehend. Deshalb meint „Adel“ im vorliegenden Band allein das Milieu kleiner Reichsstände bzw. Standesherren. Diese Gegebenheiten sind schwierige Voraussetzungen für eine Geschichte des Adels, wie sie der aus einem Magdeburger Hauptseminar zur höfischen Kultur und adeligen Lebenswelt hervorgegangene und um weitere Beiträge ergänzte Band durchzuführen versucht. Daher richtet die Herausgeberin in der kurzen Einleitung ihr Interesse aus Not (und Neigung) auf die kulturelle Vielfalt adeliger Lebenswelten und auf den agierenden Menschen in seiner Lebenswelt (S. 2f.). Eine gewisse Aversion gegen vorliegende Modelle und Konstrukte der Adelsforschung begleitet diesen Versuch einer kulturgeschichtlichen und mikroperspektivischen Sicht. Die gegebene schwierige Ausgangslage und die kulturgeschichtliche Ausrichtung des Bandes machen eine Konzentration auf Einzelbeispiele nahezu unvermeidlich. Dass der Sammelband recht heterogen ausfällt, ist also zu akzeptieren, interessant hingegen bleibt die Frage, was die zwölf BeiträgerInnen aus ihren Einzelthemen gemacht haben. Am Anfang des Bandes stehen völlig zu Recht sechs Beiträge zur geschlechtsspezifischen Lebenswelt adeliger Frauen und Männer. Behandelt werden zwei Vorfälle im Haus Anhalt-Bernburg: erstens die Heirat des Witwers und Erbprinzen Carl Friedrich (1668-1721) mit der Bürgerlichen Wilhelmine Charlotte Nüssler (1683-1740), spätere Gräfin Ballenstedt, im Jahr 1715 als Beispiel einer standesungleichen Verbindung (Carolin Dol-

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ler). Zweitens die Ehescheidung zwischen Alexander Friedrich Christian (1767-1834) und Marie Friederike von Hessen-Kassel (geboren 1768) im Jahr 1817 nach dreiundzwanzig Jahren Ehe (Katrin Iffert). Ein weiterer Beitrag widmet sich Gisela Agnes von Anhalt-Köthen (1669-1740), ihrer Witwenschaft sowie ihrer Regentschaft in den Jahren 1704 bis 1716 (Katrin Rawert). In allen Beiträgen stehen die individuellen Sichtweisen und die Handlungsspielräume der Individuen – hier der adeligen Frau als Ehefrau, als Regentin und als Witwe – im Mittelpunkt der Darstellung. Leider erfährt man aber kaum etwas über die finanziellen und sonstigen Bestimmungen der jeweiligen Eheverabredungen oder Eheverträge, die vor allem für den Witwenstand von großer Bedeutung waren. Auch die Ausstattung und der weitere Lebensweg der Kinder aus der standesungleichen Ehe der Gräfin Ballenstedt werden nicht mehr berücksichtigt. Der letzte Beitrag zur weiblichen Lebenswelt ist der einzige englischsprachige Beitrag des Sammelbandes, welcher dem Selbstentwurf der Luise von Anhalt-Dessau (1750-1812) in ihrem Reisetagebuch von 1775 gewidmet ist (Johanna GeyerKordesch). Die männliche Lebenswelt wird in den beiden anschließenden Beiträgen thematisiert, und zwar zum einen anhand der Kavalierstouren von Victor Friedrich von Anhalt Bernburg im Jahr 1717/18, von Heinrich Ernst zu Stolberg-Wernigerode 1738 und Johann Georg von Anhalt-Dessau 1765-68 (Stefan Schulz), der das Reisen selbst als Bildungserlebnis hervorhebt. Der zweite Beitrag stellt die Ehrvorstellungen adeliger Offiziere, die im 18. Jahrhundert im preußischen Infanterieregiment Alt-Anhalt dienten und in Halle stationiert waren (Jutta Nowosadtko und Sascha Möbius), in den Mittelpunkt. Inwieweit es sich bei diesen Offizieren und ihrer Ehre vor allem um abgefundene nachgeborene Söhne der adeligen Grundherren, um landlosen Adel oder um Kinder aus standesungleichen Verbindungen handelt, wie z.B. im Fall von Georg Heinrich von Berenhorst (siehe S. 155 und S. 125), bleibt offen. Aspekte der Adelskultur im engeren Sinne behandeln anschließend zwei Beiträge zur adeligen Erinnerungskultur in der Form der adeligen Familiengräber für die Häuser Sachsen-Weißenfels, Anhalt-Zerbst und Anhalt-Dessau im 17. und 18. Jahrhundert (Angela Damisch) und zur Funktion des höfischen Balletts am Ende des 17. Jahrhunderts in der Sekundogenitur Sachsen-Weißenfels

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M. Lindemann: Liaisons Dangereuses (Bernhard Jahn), letzteres insbesondere im Hinblick auf das Verhältnis zwischen den teilnehmenden Geschwistern und den Unterschied zwischen den ältesten und den nachgeborenen Kindern. Schließlich untersucht ein weiterer Beitrag die repräsentative Bedeutung der Taufe für den Zusammenhalt und den Zusammenhang der regionalen Adelsgesellschaft am Beispiel der Tauffeste von 1607/09 in Anhalt-Köthen sowie den Wandel der Sprache in den Geburtsanzeigen und Gratulationsschreiben im 18. Jahrhundert (Eva Labouvie). Die drei abschließenden Aufsätze des Bandes liegen außerhalb der kulturwissenschaftlichen Perspektive. Zwei Aufsätze stellen die Grafen Stolberg als Unternehmer vor und zwar einerseits die (erfolglosen) Versuche Mitte des 16. Jahrhunderts, eine verbesserte Wasserhebemaschine im Bergbau zu installieren (Jörg Brückner), andererseits die frühindustriellen Unternehmungen des Grafen Henrich zu Stolberg-Wernigerode (1772-1854) in Ilsenburg, Magdeburg und Hattingen (Uwe Lagatz). Der letzte Beitrag des Bandes präsentiert den Fall der Nobilitierung einer Kaufmannsfamilie im 19. Jahrhundert anhand des Tabakfabrikanten und Rittergutsbesitzers Johann Gottlob Nathusius (1760-1835) und seiner 1840/57 geadelten Söhne. (Ramona Myrrhe). Dieser Beitrag, wie der von Lagatz, fällt allerdings deutlich zu hagiographisch aus. Am Ende der Lektüre lässt sich festhalten, dass die verschiedenen Spezialisten in diesem Sammelband für ihr jeweiliges Thema interessantes Material finden. Der Band ist zudem mit zahlreichen Abbildungen, darunter sechs farbige, großzügig ausgestattet, allerdings vermisst man eine historische Karte der Adelsherrschaften in SachsenAnhalt und ein Personenregister. Eine mehr oder weniger zusammenhängende Darstellung des frühneuzeitlichen Adels und seiner Kultur in SachsenAnhalt zu erwarten, überfordert jedoch den Band. Dazu fehlt es nicht zuletzt an einer ausführlichen problemorientierten Einleitung, welche die Einzelbeiträge nicht nur vorstellt, sondern in den lokalen und den historischen Kontext einbettet. Dennoch ist es sehr zu begrüßen, dass mit diesem Sammelband ein weiterer Anfang zur Adelsforschung in Sachsen-Anhalt gemacht wurde. Allerdings sind auch die Kosten der in diesem Band selbst gewählten (oder auferlegten) kulturwissenschaftlichen Eingrenzung auf die „Perspektive des erlebenden Individuums“ (S. 228) nicht zu übersehen. Wie man leicht vermuten kann,

2007-4-204 wird ein Aspekt adeliger Lebenswelt und Kultur vollständig ausgeblendet: der Adel als Grundherr (und Grundherrin!). Ob dies mangels Quellen oder mangels Interesse geschieht, lässt sich nicht beurteilen. Es ist aber gerade in mikro- und kulturgeschichtlicher Hinsicht nicht zwingend. Außerdem wird unter der kulturwissenschaftlichen Fahne die für die frühe Neuzeit so zentrale rechtliche Dimension im Alltag aller adeligen Akteure vom Chef des Hauses über die Ehefrau bis zur Mitgift der jüngsten Tochter sträflich vernachlässigt. Hier wird geradezu eine Chance vertan. Auf diese Weise bleibt am Ende völlig unklar, was die Faszination der frühneuzeitlichen Adelswelt ausmacht, die nicht in den touristisch nutzbaren Überbleibseln der Schlösser und Parks besteht, sondern darin liegt, dass sie eine die adeligen Rangstufen, die adeligen Häuser, Männer und Frauen, Söhne und Töchter, Erstgeborene und Nachgeborene usw. umfassende, durchdringende und akzeptierte Kultur der ungleichen Rechte und rechtlichen Ungleichheit, der eifersüchtigen Konkurrenz um die eigenen Rechte und der ständigen Suche nach Rangerhöhung ausmacht. HistLit 2007-4-138 / Axel Flügel über Labouvie, Eva (Hrsg.): Adel in Sachsen-Anhalt. Höfische Kultur zwischen Repräsentation, Unternehmertum und Familie. Köln 2007. In: H-Soz-u-Kult 19.11.2007.

Lindemann, Mary: Liaisons Dangereuses. Sex, Law, and Diplomacy in the Age of Frederick the Great. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2006. ISBN: 0-8018-8317-2; 353 S. Rezensiert von: Heiko Droste, Södertörns University College, Stockholm Hamburg: Am 19. Oktober 1775 wurde ein italienischer Graf (Joseph Visconti) im Haus der Geliebten (Anna Maria Romellini) des spanischen Konsuls (Antoine de Sanpelayo) von einem schlesischen Baron (Joseph von Kesslitz) im Streit getötet. Der Täter gab später an, in Notwehr gehandelt zu haben. Während das Opfer mit 23 Messerstichen brutal getötet wurde, trug der Täter freilich keinerlei Verletzungen davon. Dieser Umstand wie die Liebesbeziehung zwischen dem Konsul und seiner Geliebten veranlassten den Hamburger Rat zu einer mehrere Monate dauernden Untersuchung

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Frühe Neuzeit des Falls. Diese war umso langwieriger als die Beteiligten, da nicht Bürger der Stadt, Anlass zu diplomatischen Bemühungen von Seiten ihrer Herkunftsländer gaben. Der Rat glaubte offenbar an einen mit Vorsatz begangenen Mord. Der Täter befand sich folglich während der gesamten Untersuchung in Haft und wurde erst nach Abschluss der Untersuchung mit Leistung der Urfehde entlassen. Das war keineswegs ein Freispruch, zumal die Zweifel gegen ihn nie ausgeräumt werden konnten. Mehrere Monate nach der Tat streute Anna Maria Romellini zudem das Gerücht, der Täter habe sich dafür bezahlen lassen, die Schuld auf sich zu nehmen. Diese wie viele andere Behauptungen sind nicht mehr zu verifizieren. Lindemann arbeitet den Todesfall mitsamt der Untersuchung, der Vorgeschichte der Beteiligten wie auch der möglichen Deutungen und Hypothesen detailliert auf. Das tut sie vor allem mit Hilfe des ausführlichen Untersuchungsberichts des Hamburger Syndikus Garlieb Sillem, aber auch eingehender Recherchen in den Archiven der involvierten Fürsten und Höfe. Damit arbeitet sie ein imponierendes Quellenmaterial auf, zumal sie sich intensiv um die Einbettung des Todesfalls in die Kultur der Zeit bemüht. Diese Vorgehensweise ist der prinzipiellen Entscheidung Lindemanns geschuldet, den Fall zur Basis einer Kulturgeschichte zu machen, in deren Zentrum zunächst die Bürgerstadt Hamburg steht. Sie eröffnet das Buch mit einer packenden Darstellung der eigentlichen Tat, um den Fall anschließend in zwei Hauptteilen zu analysieren. Im ersten Hauptteil geht es zum einen um die außenpolitischen Handlungsoptionen des Hamburger Stadtrats und damit einer Stadtrepublik in einer monarchischen europäischen Gesellschaft. Zum anderen wird die lange Geschichte der Unruhen innerhalb Hamburgs, der Vielzahl von teils konkurrierenden Bürgergremien sowie der leicht zu reizende Öffentlichkeit herausgearbeitet. Im zweiten Hauptteil werden die vier Beteiligten sowohl als Individuen mit einer je eigenen Vorgeschichte als auch als typenhafte Erscheinungsformen einer sich wandelnden Adelskultur gesehen. Nach Ansicht Lindemanns entwarfen sie ihre eigenen Biographien in Anlehnung an zeitgenössische Kriminal- und Liebesgeschichten. Visconti wurde in der Darstellung der Beteiligten zum falschen Grafen, der brutal war und von illegalen Geschäften und Betrügereien lebte. Sanpelayo

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war der Vertreter einer angesehenen spanischen Familie, der als wirtschaftlich erfolgreicher Konsul in Hamburg lebte. Er gefährdete seinen Ruf allerdings durch die öffentliche Liebschaft zu Romellini. Diese wiederum war zu diesem Zeitpunkt etwa 24 Jahre alt, lebte aber bereits seit Jahren von Geschenken wechselnder hochgestellter Liebhaber. Sie hatte mehrere uneheliche Kinder und wird von Lindemann als „woman of pleasure“ bezeichnet. Kesslitz schließlich war Abkömmling einer verarmten schlesischen Adelsfamilie, der seinen Lebensunterhalt wenig standesgemäß verdiente und daher möglicherweise erpressbar war. Der Fall bietet darüber hinaus viele interessante Aspekte, etwa zum Straßengericht – einer rituellen Forderung nach einer Bestrafung der Täter am Platz des Todes, die vom Scharfrichter und Vertretern des Rats ausgeführt wurde – oder zu den Details der Lebensberichte der Beteiligten, die diese im Lauf des Prozesses abzugeben hatten. Gleichzeitig greift Lindemann weit in die schlesische Geschichte, die brandenburgischen Kriege wie die besonderen Beziehungen Spaniens zu Hamburg aus. Die Vielfalt der von Lindemann aufgegriffenen Themen und Perspektiven ist ganz sicher eine Stärke des Buchs. Es richtet sich an einen gebildeten, freilich nicht notwendig akademischen Leserkreis. Es gibt dennoch ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie Endnoten. Die Vielfalt ist allerdings auch die größte Schwäche der Studie. Der Leser hat den Eindruck, dass Lindemann sich nicht für eine Geschichte bzw. ein Thema entscheiden kann. Da sie eine kulturalistische Deutung eines Ereignisses anbietet, bietet sie auch eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten neuen Forschungen in diesem Bereich. Da der Fall am Hamburger Niedergericht verhandelt wurde, erklärt sie die Arbeitsweise des Gerichts mitsamt seiner Geschichte. Um die Herkunft von Kesslitz’ aus schlesischem Adel zu bewerten, fügt sie eine Geschichte Schlesiens seit dem 16. Jahrhundert mitsamt Landkarte ein. Hinzu tritt eine Einführung in die zeitgenössische Adelserziehung in Schlesien. Die multiperspektivische Herangehensweise Lindemanns, die die Lebendigkeit und Vielschichtigkeit des Falls wie auch der frühneuzeitlichen Gesellschaft insgesamt aufzeigen soll, ist verdienstvoll. Als Literatur funktioniert sie hingegen nur bedingt. Es kommt notwendig zu vielen Wiederholungen. Dadurch verschwindet der Todesfall zeitweilig aus dem Blickfeld, da er nur mehr

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T. Lindner (Hrsg.): Das Ende des Siebenjährigen Krieges Aufhänger einer Darstellung der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts ist. Diese Unentschiedenheit äußert sich bereits im Buchtitel: Während der Obertitel bewusst an den berühmten Briefroman von Choderlos de Laclos erinnert, verweist der Untertitel auf Friedrich den Großen. Beides soll offenbar die Neugierde der Leser wecken. Das Medium Brief spielt freilich nur eine untergeordnete Rolle und Friedrich der Große kommt nur am Rande vor. Eine abschließende Bewertung fällt daher schwer. Lindemann hat große Anstrengungen unternommen, den Todesfall in Hamburg im Rahmen einer Kulturgeschichte der Feudalgesellschaft einzubetten. Hierbei arbeitet sie sehr fundiert und gründlich. Ihre Studie verliert dadurch freilich an Geschlossenheit und Prägnanz. Vielleicht ist es gerade der Anspruch, alle Fragen zu erörtern und möglichst zu klären, der das Buch seines Zentrums beraubt. HistLit 2007-4-204 / Heiko Droste über Lindemann, Mary: Liaisons Dangereuses. Sex, Law, and Diplomacy in the Age of Frederick the Great. Baltimore 2006. In: H-Soz-u-Kult 11.12.2007.

Lindner, Thomas (Hrsg.): Eberhard Kessel: Das Ende des Siebenjährigen Krieges 1760-1763. Teil 1: Torgau und Bunzelwitz, Teil 2: Schweidnitz und Freiberg. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag 2007. ISBN: 978-3-506-75706-7; 1020 S. Rezensiert von: Marcus von Salisch, Militärgeschichtliches Forschungsamt Potsdam Militärgeschichtliche Darstellungen zum 18. Jahrhundert haben Konjunktur. Im Zentrum moderner Betrachtungen stehen – zumindest im deutschsprachigen Raum – überwiegend interdisziplinäre Fragestellungen. Desertion, Garnisonsalltag, soziale Lebenswelten in Frieden und Krieg, Heeresergänzungsmodi, das Agieren von „Kleingruppen“ und die Frage nach der „Motivation“ des Soldaten sollen hier nur als Beispiele dienen. Die „Neue Militärgeschichte“ boomt, kein Zweifel. Erst kürzlich machte jedoch Sönke Neitzel darauf aufmerksam, dass vor dem Hintergrund der an sich begrüßenswerten stetigen Öffnung der Militärgeschichtsschreibung für andere (historische) Teildisziplinen der „klassische Kern“ militärhistorischer Forschung, nämlich der Einsatz von Streitkräften im

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Krieg, in Vergessenheit zu geraten droht.1 Eng mit dieser Entwicklung verbunden ist auch das Defizit operationsgeschichtlicher Betrachtungen in der modernen deutschen Militärhistoriographie. Dies liegt nicht nur an einer weit verbreiteten Skepsis gegenüber der klassischen „Kriegsgeschichte“, sondern auch – nach Jutta Nowosadtko – in den „hohen Zugangsschwellen“ der Operationsgeschichte für zivile Historiker, beispielsweise der angeblich schwer verständlichen militärischen Fachsprache „hermetischen Charakters“.2 Ein „Klassiker“ unter den mit so viel Vorsicht behandelten Werken der applikatorischen „Kriegsgeschichte“ ist die vom Großen Generalstab herausgegebene Reihe „Die Kriege Friedrichs des Großen“, deren dritte Abteilung sich mit dem Siebenjährigen Krieg befasst. Der bis in das Kriegsjahr 1760 reichende 13. Band dieser Reihe wurde 1914 publiziert, aber nicht mehr in Vollauflage gedruckt. Der Mainzer Historiker Eberhard Kessel (1907-1986) hatte sich daher in den 1930erJahren das Ziel gesetzt, das „Generalstabswerk“ zu komplettieren. Waren die äußerst umfangreichen Arbeiten an den von ihm konzipierten zwei Bänden bis 1945 weitgehend abgeschlossen, vernichteten die Brände infolge alliierter Bombenangriffe auf Potsdam und Berlin im April 1945 nicht nur die Archivalien, auf denen Kessels Studien gründeten, sondern auch seine Manuskripte – so glaubte zumindest der Autor. Anfang der 1990er-Jahre wurden jedoch Kessels Arbeiten unter verloren geglaubten Beständen des Potsdamer Heeresarchivs, die 1945 als „Beutegut“ in die Sowjetunion abtransportiert und zwischenzeitlich an die DDR zurückgegeben worden waren, im BundesarchivMilitärarchiv in Freiburg wieder entdeckt. Thomas Lindner hat als profilierter Kenner der friderizianischen Kriegskunst im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes Potsdam die Manuskripte Kessels aufbereitet und um einen umfangreichen Kartenteil erweitert. Erscheint es bereits ungewöhnlich, etwa sechzig Jahre alte Forschungsergebnisse zu publizieren, so erhöhen die ungewöhnliche Geschichte des Buches und der augenfällige operationsgeschichtliche Ansatz die Spannung auf das umfangreiche Werk noch mehr. Bereits ein Blick in das Inhaltsverzeichnis ver1 Neitzel,

Sönke, Militärgeschichte ohne Krieg? Eine Standortbestimmung der deutschen Militärgeschichtsschreibung über das Zeitalter der Weltkriege, in: HZ 44 (2007), S. 287308. 2 Nowosadtko, Jutta, Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tübingen 2002, S. 140.

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Frühe Neuzeit rät, dass die Studie hinsichtlich ihres Aufbaus in der Tradition des so genannte „Generalstabswerkes“ steht. Dass die Darstellung etwas abrupt mit den Operationen vor der Schlacht bei Torgau einsetzt, zeigt zudem, dass Kessel sein Werk gewissermaßen als nahtlose Anknüpfung an die „Kriege Friedrichs des Großen“ verstanden hat. Dem an einer ganzheitlichen Darstellung des Kriegsgeschehens des Jahres 1760 interessierten Leser sei daher für den Zeitraum Januar bis Oktober 1760 das „vorbereitende“ Studium weiterer Literatur empfohlen. Beginnend mit dem Manövrieren beider Kriegsparteien in Sachsen Ende Oktober 1760 rekonstruiert Kessel das Kriegsgeschehen bis zum Frieden von Hubertusburg chronologischstringent, äußerst detailliert und umfassend. Im Teilband 1 (Torgau und Bunzelwitz) thematisiert er unter anderem mit Torgau eine bislang durchaus kontrovers beurteilte Schlacht. Waren bisher die Vorgänge – so Johannes Kunisch – „kaum noch zu rekonstruieren“3 , so ermöglicht Kessel nun sehr ausführliche Einblicke in das Kampfgeschehen. So wie er die preußische Hauptarmee auf dem sächsisch-schlesischen Schauplatz des Siebenjährigen Krieges dann bis in die Winterquartiere hinein begleitet, widmet sich Kessel auch den Ereignissen in Pommern sowie den Operationen gegen die französische Armee im Westen des Reiches, also bis heute eher weniger berücksichtigten Kapiteln dieses Krieges. Obgleich deutlich wird, dass die Winterzeiten keineswegs ohne Operationen vergingen, nutzt Kessel die jeweiligen Jahreswechsel gleichsam zu einer Bilanz der Ereignisse und stellt die Rüstungsbemühungen und Feldzugspläne aller maßgeblichen Mächte ausführlich vor. Dem gleichen Muster folgt der Teilband 2, der mit der Belagerung von Schweidnitz sowie den Schlachten bei Burkersdorf und Freiberg wesentliche Ereignisse des Kriegsjahres 1762 berührt. Eine ausführliche Abhandlung der Friedensschlüsse von Paris und Hubertusburg rundet schließlich Kessels Werk ab. Ergänzt werden die Darstellungen durch umfangreiche Anhänge beispielsweise zum Zustand einzelner Korps, der jeweiligen Stärke und Verteilung der Truppen, Kontributionen, Angriffsplänen sowie zu den Quellen über einzelne Schlachten und Feldzüge. Insgesamt liegt der Schwerpunkt etwas mehr bei den Ereignissen der preußischen Armee(n), die Gegner Friedrichs II. werden dennoch keineswegs vernachläs-

sigt. So findet beispielsweise selbst das in französischen Diensten kämpfende kursächsische Auxiliarkorps des Prinzen Xaver Berücksichtigung. Besonders hervorzuheben sind die zahlreichen Verweise auf den umfangreichen Kartenteil. Zehn Beilagen (Übersichten zur den Gliederungen der Heere) und 31 präzise Karten visualisieren das Geschehen auf allen thematisierten Kriegsschauplätzen hervorragend. Der Aufwand des Herausgebers bei der Überarbeitung dieses auf Vorarbeiten des Großen Generalstabes basierenden Kartenmaterials ist allenfalls zu erahnen. Da für die deutsche Historiographie ein eher zurückhaltender Umgang mit Karten zu verzeichnen ist, kann ein derart opulenter kartographischer Beitrag nur begrüßt werden. Es bleibt zu hoffen, dass er dazu beiträgt, die Berührungsängste der modernen deutschen Militärgeschichte mit dem Faktor „Raum“ in seiner essentialistischen Bedeutung, mit dem „Gelände“ als Ort des Gefechts, der intensivsten Interaktion von Streitkräften, abzubauen. Insgesamt kann die Herausgabe von Eberhard Kessels Werk durch Thomas Lindner nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für Interessenten des Siebenjährigen Krieges bietet sich mehr als eine überaus qualifizierte Fortsetzung des „Generalstabswerkes“, welches zumindest für die militärischen Operationen bis heute ohnehin unverzichtbar erscheint. Nicht nur die Operationsführung selbst, sondern auch ihre politischen Rahmenbedingungen und sonstigen Begleiterscheinungen, wie etwa Heeresersatz und Versorgung, werden thematisiert. Sprachlich klar und im Detail präzise zeigen Lindner und Kessel, dass Operationsgeschichte verständlich und fesselnd aufbereitet werden kann und führen damit Berührungsängste mit dieser Disziplin ad absurdum. Ein außergewöhnliches Buch mit einer bemerkenswerten eigenen Geschichte, welches zur Meßlatte künftiger operationsgeschichtlicher Untersuchungen werden könnte. HistLit 2007-4-024 / Marcus von Salisch über Lindner, Thomas (Hrsg.): Eberhard Kessel: Das Ende des Siebenjährigen Krieges 1760-1763. Teil 1: Torgau und Bunzelwitz, Teil 2: Schweidnitz und Freiberg. Paderborn 2007. In: H-Soz-u-Kult 08.10.2007.

3 Kunisch,

Johannes, Friedrich der Große. Der König und seine Zeit, München 2004, S. 422.

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A. Luttenberger (Hrsg.): Katholische Reform und Konfessionalisierung Luttenberger, Albrecht P. (Hrsg.): Katholische Reform und Konfessionalisierung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. ISBN: 978-3-534-02717-0; 574 S. Rezensiert von: Wolfgang E.J. Weber, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg Der reihentypisch solide gestaltete Band bietet neben einer knapp 90seitigen Einleitung insgesamt 135 als einschlägig erachtete Quellen in nach entsprechenden Phasen – vor der Reformation, von der Reformation bis zum Ende des Konzils von Trient, nach dem Konzil – und in einem Fall dem Hauptakteur – die Jesuiten vor und nach Trient (hier fehlt im Inhaltsverzeichnis die Seitenangabe) – geordneter Folge. Allerdings kommen nur sehr wenige Dokumente erstmals zum Druck; die meisten konnten aus vorliegenden, oft verstreuten Editionen herangezogen werden, bedurften vielfach jedoch der Übersetzung hauptsächlich aus dem Lateinischen und Italienischen. Auf diese Weise werden ein Zeitraum von 1454 bis 1640 sowie entsprechende Vorgänge vor allem in Bayern, Köln, Trier, Mainz und Teilen Österreichs abgedeckt. Als einschlägig aufgenommen wurden Diagnosen, Vorschläge und Maßnahmen hauptsächlich zur Kloster- und Klerusreform sowie zu den diversen Versuchen einer Verbesserung des christlichen Lebens und der Abwehr der Ketzer, aber auch die Kommunikation der örtlich Verantwortlichen mit der päpstlichen Zentrale und deren wechselseitige Widrigkeiten und Mängel kommen anschaulich zur Sprache. Obwohl fast alle Zeugnisse unvermeidlich die Perspektive von oben reproduzieren, also die Wahrnehmungen, Einschätzungen und Praktiken der Obrigkeit zeigen, werden insbesondere im Spiegel von Visitationsberichten auch Situationen und Entwicklungen ‚unten’, bei den gemeinen Gläubigen, plastisch deutlich. Erkennbar werden ferner die Existenz und das Gegeneinander von zelotisch-fundamentalistischen und geschmeidigeren ‚politischen’ Fraktionen im Papsttum und in den sonstigen Kirchenführungen, die Ambivalenz der Konzilsidee bzw. -reformen, die spezifischen Hemmnisse, welche die Reichsverfassung einer systematischen päpstlich-katholischen Strategie in den Weg legte, und nicht zuletzt immer wieder die Vergeblichkeit der konsequenten Durchsetzung aller Vorschriften. Die Einleitung des Herausgebers bietet einer-

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seits einen durchaus kritischen Überblick über den derzeitigen Stand der Diskussion um das Konfessionalisierungsparadigma im Allgemeinen und im Besonderen, andererseits einen gelungenen Überblick über die wichtigsten historischen Konturen der Sache selbst. „Die Reichweite des Konfessionalisierungskonzepts“ sei durchaus „begrenzt“. „Die Genese und der Ausbau frühmoderner Staatlichkeit und der postulierte Prozess sozialer Disziplinierung zu reflektierter Lebensführung, Affektkontrolle und Fügsamkeit lassen sich kaum ausschließlich oder primär aus der Konfessionalisierung bzw. dem Vollzug konfessioneller Standards erklären. Festzuhalten bleibt viel mehr, dass im Gesamtbild nicht nur diejenigen Bereiche und Sektoren einzurechnen sind, die wie z.B. die späthumanistische Gelehrsamkeit, das staatliche Finanzwesen [...], die wirtschaftliche Ordnung etc. einer tiefgreifenden konfessionellen Prägung unzugänglich waren, sondern auch die außerkonfessionellen Faktoren und Konzepte, deren Rationalisierungspotential die sich anbahnende Entwicklung zur Moderne nachhaltig beeinflusste.“ „Eine ‚fundamentale’ Steuerungsfunktion“ sei der Konfessionalisierung „in der Vorbereitung der Moderne“ demnach „offenbar nicht“ zugekommen (S. 3). Anstatt als „von oben organisierter Zwangsmechanismus mit Erfolgsgarantie“ stelle sich die moderne Forschung Konfessionalisierung besser als „langfristige[n] Kommunikationsprozess“ vor, „der den Betroffenen Raum ließ zur Selektion, zur Modifikation und Resistenz [...], so dass [...] mit unterschiedlichen Rezeptionsgraden und Rezeptionsformen zu rechnen ist“ (S. 4). Schließlich lasse sich „die jeweilige religiös-theologische Option“, also der dogmatische Inhalt der jeweiligen Konfession, „als Wirkungsfaktor nicht grundsätzlich ausklammern“ (S. 5). Der kundige Leser wird dem verdienten Regensburger Frühneuzeithistoriker dankbar sein, an dieser Stelle nicht den Einwurf vornehmlich einer neuen katholischen Konfessionalisierungsforschung übernommen zu haben, dass nämlich die Begründer und Hauptvertreter des Konfessionalisierungsparadigmas Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling die Wahrheitsfrage nicht stellten. Er wird allerdings möglicherweise auch fragen, warum in der Quellenauswahl die angesprochenen kritischen Perspektiven nicht doch stärkere Berücksichtigung erfahren haben. Diese Ansätze scheinen mir im Übrigen auf ein grundsätzliches konzeptionelles Problem hinzuweisen. Im ur-

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Frühe Neuzeit sprünglichen Konfessionalisierungsansatz kommt der Konfessionalisierungskonkurrenz eine prominente Stellung zu. Diese sich zuspitzende, im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert bekanntermaßen großflächig kriegerisch entladende Konfessionalisierungskonkurrenz bestand keineswegs nur in einem Verchristlichungswettbewerb, wie ihn sich die Frühneuzeitforschung mittlerweile vorwiegend zu eigen gemacht hat und er hier fast ausschließlich dargestellt wird. Vielmehr ging es zumindest phasenweise um nichts weniger als auch einen Existenzkampf, der als solcher eben doch kaum einen Sektor und Faktor der damaligen Welt unbeeinflusst ließ. Jeder Quellen- und Darstellungsband, der sich der Konfessionalisierung im Rahmen einer bestimmten Konfession widmet, drängt diese übergreifende, z.B. sogar die politischen Erfolgsrezepte des Machiavellismus zustimmungsfähig machende Rivalität an den Rand, diejenige Ausprägung der Konkurrenz also, über die die historische Wirksamkeit des Vorgangs erst eigentlich erfasst werden kann. Mit anderen Worten, auch der vorliegende, nur sehr selten noch unter Registermängeln (z.B. der S. 514 erwähnte Ort Paden ist im Ortsindex nicht verzeichnet) leidende, ansonsten aber gelungene Band unterstreicht, dass letztlich auch eine Quellensammlung erforderlich ist, die genau diese Rivalität, die gegenseitigen Prozesse der Aufschaukelung. Aufrüstung, der Dynamik usw. dokumentiert. HistLit 2007-4-102 / Wolfgang E.J. Weber über Luttenberger, Albrecht P. (Hrsg.): Katholische Reform und Konfessionalisierung. Darmstadt 2006. In: H-Soz-u-Kult 05.11.2007.

Lutz, Alexandra: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main: Campus Verlag 2006. ISBN: 978-3593-37974-6; 408 S. Rezensiert von: Marion Universität Bochum

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In Zeiten, in denen eine hohe Zahl der Scheidungen die Fragilität der Ehegemeinschaft in der modernen Gesellschaft belegt, liegt es mitunter nahe, auf vergangene, scheinbar bessere Zeiten zu verweisen. Historiker wissen indessen schon lange, dass auch frühneuzeitliche Ehen nicht stets harmonisch verliefen oder hielten, bis der Tod sie

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schied. Was für die Betroffenen eine bittere Erfahrung gewesen sein mag, stellt sich für den Historiker als Glücksfall dar: eheliche Konflikte, die vor Gericht gerieten und damit Spuren in den Quellen hinterlassen haben. Tatsächlich sind solche Quellen von der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten verstärkt herangezogen worden, um die soziale Praxis frühneuzeitlicher Ehen, vor allem aber den disziplinierenden Zugriff der Obrigkeiten in den Blick zu bekommen. Auch Alexandra Lutz greift auf solche Gerichtsquellen zurück. Ausgewertet hat sie über 400 Fälle von Ehestreitigkeiten, eigenmächtigen Trennungen, böswilligem Verlassen oder Scheidungsbegehren, die vor dem holsteinischen Konsistorium der Propstei Münsterdorf in den Jahren 1650 bis 1770 verhandelt wurden. Ihr Untersuchungsansatz ist dabei stark alltagsgeschichtlich geprägt, geht es ihr doch vorrangig darum, Einblicke ins „Innenleben“ dieser Ehen zu gewinnen, geschlechtsspezifische Handlungsräume auszuloten, Erwartungen und handlungsleitende Normen sowie Machtstrukturen in den Paarbeziehungen offen zu legen und die neuralgischen Punkte des Ehelebens zu analysieren (S. 8f.). Zu Beginn untersucht die Autorin aber die sozioökonomischen und rechtlichen Bedingungen, die Einfluss auf die Lebenswelt der Eheleute hatten bzw. den Konfliktaustrag vor Gericht strukturierten. Was die normativen Grundlagen und die Urteilspraxis des konsistorialen Ehegerichts betrifft, betont Lutz, dass der Einfluss landesherrlicher Regulierungsbemühungen im ganzen Untersuchungszeitraum gering war. Dagegen bemühten sich die durchweg geistlichen Richter am Konsistorium seit dem späten 17. Jahrhundert, „verstärkt gegen die Tendenzen der Selbstregulierung“ von Ehekonflikten vorzugehen (S. 374). Im Laufe des 18. Jahrhunderts versuchten sie zudem, stärker auf die Gestaltung der ehelichen Beziehung und den Lebenswandel der Ehegatten einzuwirken. Allerdings stießen sie dabei immer wieder auf den Widerstand der Betroffenen, gegen deren Willen sich rigide obrigkeitliche Normen dann auch nur bedingt durchsetzen ließen. Von einer erfolgreichen Sozialdisziplinierung in diesem Bereich könne daher keine Rede sein (S. 376). Eingehend beschäftigt sich Lutz anschließend mit zeitgenössischen Diskursen über die Ehe. Berücksichtigt werden sowohl juristische Diskurse als auch die Ehelehren Luthers und der Hausväterliteratur. Die über diese Diskurse vermittelten

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A. Lutz: Ehepaare vor Gericht Normen und Eheideale vergleicht die Autorin dann mit den Argumentationsmustern vor Gericht, den normativen Zuschreibungen und Bildern, die dort vom idealen Eheleben, dem eigenen (normgerechten) Verhalten und dem (normabweichenden) des Partners entworfen wurden. Dabei sei nicht immer eindeutig zu bestimmen, ob die Parteien den vor allem von Luther beeinflussten Vorstellungen hinsichtlich der innerehelichen Rollen- und Aufgabenverteilung tatsächlich handlungsleitende Relevanz für ihre Lebensgestaltung zuerkannten oder ob sie im Prozess aus strategischen Gründen auf diese rekurrierten (S. 185f.). Der Hauptteil der Arbeit widmet sich dann der sehr detaillierten Analyse der Konfliktursachen und -abläufe sowie der Mittel des Konfliktaustrags. Das besondere Interesse der Autorin gilt den von der Forschung bislang eher vernachlässigten Emotionen. Hier konfrontiert Lutz die u.a. von Edward Shorter vertretene These fehlender emotionaler Bindungen in frühneuzeitlichen Paarbeziehungen mit der Bedeutung, die Eheleute ihren (verletzten) Gefühlen beimaßen, wenn es galt, vor Gericht das Scheitern einer Ehe zu begründen. In dieselbe Richtung weist es, wenn die eheliche Sexualität als wichtiges Zeichen des Einverständnisses mit und der Zuneigung zum Partner, die sexuelle Verweigerung aber als ernstes Signal emotionaler Entfremdung aufgefasst wird (S. 240). Als weitere Konfliktursachen kamen ein als unangemessen empfundener Lebenswandel und dabei vor allem der übermäßige Alkoholkonsum des Ehegatten vor Gericht zur Sprache. Beides konnte unmittelbare wirtschaftliche Folgen haben und so zur Belastung der ehelichen Gemeinschaft werden. Allerdings erkennt Lutz ökonomischen Faktoren als Ursache ehelicher Probleme in ihrem Untersuchungsgebiet keine dominante Rolle zu (S. 383f.). Zu den neuralgischen Punkten der Ehe gehörte auch die Gestaltung der innerehelichen Machtverteilung. Konflikte entzündeten sich häufig an der Frage der Entscheidungs- und Verfügungsgewalt über den gemeinschaftlichen Besitz bzw. der Unterordnung und Gehorsamspflicht der Frauen. Hier kommt Lutz zu dem Ergebnis, dass insbesondere deren Handlungsräume sowie die ehelichen Machtbeziehungen in der sozialen Praxis keineswegs immer so eindeutig fixiert waren, wie es die zeitgenössischen Diskurse nahe legen. Stattdessen forderten Frauen immer wieder einen respektvollen Umgang und ihre Teilhabe an wichtigen Entscheidungsprozessen ein (S. 283f.).

2007-4-197 In den gerichtsnotorischen Ehestreitigkeiten kam (männlicher) Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags eine überragende Rolle zu. Daneben zielten die von beiden Geschlechtern gleichermaßen eingesetzten Injurien auf die Verletzung der Ehre, mit Hilfe von Drohungen versuchte man, Druck auf den Partner auszuüben. Auch symbolische Handlungen gehörten zum Repertoire der Streitenden: So ließen sich dem Ehegatten mittels eines „sauren Gesichts“, eines entblößten Hinterteils oder der verweigerten Tisch- und Bettgemeinschaft mehr als deutlich die bestehenden Friktionen innerhalb der Ehe demonstrieren. Die Rolle des sozialen Umfelds bei Eheproblemen war ambivalent: Einerseits versuchten Verwandte und Nachbarn, bei Streitigkeiten zu vermitteln und zu schlichten; andererseits konnten gerade die Herkunftsfamilien der Eheleute selbst Quelle für Konflikte sein. Auch hier sieht Lutz die Ursache der Auseinandersetzungen weniger in ökonomischen Faktoren als vielmehr in „emotionale[n] Abhängigkeitsbeziehungen“. Ehemänner konnten heftig reagieren, wenn die Ehefrau eine engere Beziehung zu ihren Eltern unterhielt als zu ihrem Angetrauten (S. 351). Es ist das Verdienst der Autorin, die von ihr benutzten Quellen unter einer ganzen Reihe von Gesichtspunkten, die hier nur ansatzweise angedeutet werden konnten, intensiv ausgewertet zu haben. Entstanden ist so eine quellennahe Arbeit, die vor den Augen des Lesers ein farbiges Panorama frühneuzeitlicher Ehebeziehungen, -konflikte und Konfliktstrategien entfaltet. Insgesamt wäre aber eine weniger breit gefächerte Anlage und weniger kleinteilige Aufgliederung der untersuchten Aspekte wünschenswert gewesen, was die Arbeit gestrafft und einige Redundanzen verhindert hätte. Vielleicht nur eine Folge unglücklicher Formulierungen ist der teilweise angedeutete Anspruch der Autorin, auf der Grundlage der für den Untersuchungsraum gewonnenen Einsichten eine Klärung der bislang oftmals divergierenden Forschungsergebnisse vornehmen zu können (z.B. hinsichtlich der Rolle frühneuzeitlicher Gerichte in Ehekonflikten, des disziplinierenden Zugriffs der Obrigkeiten usw.). Ein solcher Anspruch überzieht aber die Repräsentativität der vorliegenden Regionalstudie. Neu, was die Gewichtung anbelangt, ist vor allem der Ansatz, die ehelichen Konflikte stärker als bislang auf ihre emotionale Qualität und Ursachen hin abzuklopfen. Hier liegt ein auch für

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Frühe Neuzeit die zukünftige Forschung noch längst nicht ausgereiztes Untersuchungsfeld, welches aber in hohem Maße Fallstricke bereithält. Dessen ist sich die Autorin durchaus bewusst, sie setzt diese Erkenntnis aber nicht immer befriedigend um. Die Schlussfolgerung, dass die vor Gericht häufig eingeforderte „Liebe“ des Ehepartners „in der Frühen Neuzeit nicht nur die Erfüllung gegenseitiger Verpflichtungen, sondern auch emotionale Verbundenheit meinte“ (S. 196), wirft die Frage auf, ob diese Differenzierung tatsächlich durch die Quellen gedeckt ist. In ihnen wird nämlich, wie Lutz selbst konstatiert, fehlende Liebe gewöhnlich anhand von konkreten Handlungen bzw. Unterlassungen illustriert (S. 193), wobei die „Liebe in der Vorstellung der Männer eng mit dem Gehorsam ihrer Frauen gekoppelt war“, in den Aussagen der Ehefrauen „Liebe dagegen als Gegensatz zu Misshandlungen und zu fehlenden Unterhaltsleistungen der Männer dargestellt“ wurde (S. 194). Zielte der „Liebesdiskurs“ (S. 192) also auf eine „Liebe der Emotionen“ oder doch eine „Liebe des Handelns“1 , die sich in der Erfüllung bestimmter Rollenerwartungen und Verhaltensgebote konkretisierte, die eingeübt, auch eingefordert und gegebenenfalls durch „erzieherische“ Prügel erzwungen werden konnte? Dies würde dann doch auf eine andere Liebessemantik als die uns heute vertraute hinauslaufen! An einigen Stellen wäre eine stärkere Einbettung des innerehelichen Konfliktverhaltens in den Kontext zeitgenössischer Kommunikationsformen wünschenswert gewesen. Dies hätte unter Umständen andere Deutungsperspektiven eröffnet. Ein Ehemann, der seiner Frau „gleich drei Briefe schrieb, in denen er sie dazu aufforderte, nie mehr zu ihm zurückzukehren“, kann damit möglicherweise „dem Ausmaß seiner Enttäuschung und seinen immer noch bestehenden Gefühlen Ausdruck“ gegeben haben (S. 196). Berücksichtigt man aber, dass die dreimalige Wiederholung in der frühneuzeitlichen Kommunikation eine besondere Rolle spielte und dazu diente, Worten und Taten besonderen Nachdruck, eine gewissermaßen ’rechtliche’ Relevanz zu verleihen, würde diese Handlungsweise zwanglos zu der in diesem Fall offenbar intendierten Selbstscheidung passen. 1 Beck,

Rainer, Frauen in der Krise. Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien régime, in: Dülmen, Richard van (Hrsg.), Dynamik der Tradition. Studien zur historischen Kulturforschung IV, Frankfurt am Main 1992, S.137-212, hier S.188, 192.

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HistLit 2007-4-197 / Marion Lischka über Lutz, Alexandra: Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main 2006. In: H-Soz-u-Kult 10.12.2007.

Maissen, Thomas: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006. ISBN: 978-3525-36706-3; 672 S. Rezensiert von: Thomas Lau, Universität Freiburg/Schweiz, Lehrstuhl für Geschichte der Neuzeit „Geburt der Republic“ - schon der Titel der Habilitationsschrift von Thomas Maissen will provozieren. Frühneuzeitlicher Republikanismus, so der Autor, ist weder der „Superlativ von Kommunalismus“ (Blickle) noch eine im Gefolge des so genannten italienischen Bürgerhumanismus entstandene Sprache der Virtus (Pocock). Er ist nicht das Produkt einer Bewusstwerdung, sondern vielmehr ein Programm, das bewusst gestaltete Veränderungen legitimieren und dabei zugleich orientierungsstiftend wirken soll. Maissen berichtet von einer schleichenden ‚Kulturrevolution’ und deren Folgen. Sie findet im späten 17. Jahrhundert statt und ihr Zielpunkt ist - anders als der Leser zunächst erwarten dürfte - weder Volkssouveränität noch Gewaltenteilung, sondern die Genese einer zentralisierten, souveränen Polyarchie - einer Republic. Dem Heidelberger Historiker geht es um die Gründe und die überraschend tief greifenden Konsequenzen eines Prozesses, in dessen Verlauf aus einem Reichsstand ein Völkerrechtssubjekt wird. Noch Ende des 16. Jahrhunderts gibt es wenige Zeichen, die darauf hindeuten, dass die Eidgenossen jemals auf den Kaiseradler in ihren Standeswappen verzichten würden. Die auf wechselseitige Privilegiengarantie ausgerichtete Nischengesellschaft des Alten Reiches gewährte dem eigenwilligen Bundesgeflecht weit reichenden Gestaltungsund Bewegungsraum. Prozesse der politischen Entscheidungsbildung wurden auf dem Wege der horizontalen und vertikalen Konsensbildung vollzogen. Sie glichen damit jenen in den umliegenden Reichsständen. Dies nahmen auch die Eidgenossen selbst so wahr. Stimmen, die die Monarchie als strukturell minderwertig verdammten und das Ratsregiment als beste aller Regierungsformen

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T. Maissen: Die Geburt der Republic priesen, wie Zwingli dies ebenso wortgewaltig wie inkonsequent tat, blieben zumindest nördlich der Alpen die Ausnahme. Man hasste die Tyrannei, nicht das väterliche Regiment einer von Gott gesetzten Obrigkeit. Auch die städtischen Räte, deren Amt auf dem Prinzip der Identitätsrepräsentation fußte, forderten mit derselben Entschiedenheit den Gehorsam ihrer Bürger ein wie dies die fürstlichen Nachbarn taten. Im Reich der Mischverfassungen suchte man, so Maissen, entschiedene Republikaner vergeblich. Der Wandel entsprang dem Chaos der französischen Religionskriege - als die Möglichkeit konsensualer Lösungen immer mehr zur Utopie gerann, konstruierte Bodin das Bild der vollkommenen Souveränität. Die sich hier formierende Idee eines pluralen Europas, zusammengesetzt aus unabhängigen Staaten, die einzig ihrem Interesse verpflichtet waren, gewann angesichts der militärischen und diplomatischen Erfolge Frankreichs an Anhängerschaft und zwang zur Neupositionierung. Dies, so Maissen, versuchten zumindest niederländische und französische Gesandte dem eidgenössischen Emissär Wettstein auf dem westfälischen Friedenskongress aus wohlerwogenen Eigeninteressen klar zu machen. Der war gekommen, um weitere Privilegien zu erhalten, und ging als Vertreter einer souveränen Macht. Die Daheimgebliebenen reagierten geehrt und irritiert zugleich. Der neue Status eröffnete, das begriffen die eidgenössischen Eliten rasch, Handlungsoptionen, aber zwang auch dazu, eine neue Sprache der Politik zu erlernen. Machte man Fehler - wie 1663 bei der Bundeserneuerung mit Frankreich - so wurde der stolze Anspruch zum diplomatischen Bumerang. Zur vorsichtigen Konsensbildung gezwungen, konnten erforderliche Anpassungsprozesse nur langsam vollzogen werden. Maissen zeichnet sie akribisch für jeden einzelnen der 13 Orte nach, wobei Zürich - schon aufgrund seines internationalen Renommees im 18. Jahrhundert - im Zentrum der Betrachtungen steht. Im Sinne der neuen Ideengeschichte (Skinner) untersucht er ein breites Quellenspektrum auf die Veränderung von Wortfeldern. Maissen geht es um die Veränderung der politischen Sprache und die oft unbeabsichtigten Folgen, die dies hatte. Sein Paradebeispiel ist die Übernahme des Begriffs Republic in die deutsche Sprache und dessen allmähliche Bedeutungsfixierung. Um ihn gruppierte sich bald ein ganzer Reigen neuer Schlagwörter, wie Neutralität oder Interesse. Aber auch ikonographische Innovationen

2007-4-047 sind festzustellen, wie etwa die weibliche Personifikation des einheitlichen, unteilbaren, ewigen, eidgenössischen Staates. All dies geschah nicht von selbst. Die Republic war - anders als dies von Teilen der Forschung noch immer angenommen wird - keine genuin eidgenössische Schöpfung. Man war auf internationalen Ideologietransfer insbesondere von Seiten der Niederländer angewiesen. Diese halfen mit Freuden, waren sie doch daran interessiert, die Schweiz zum Rückzug ihrer Infanteristen aus französischen Diensten zu bewegen. Zudem teilten sie mit diesen das Problem, als Vertreter einer Republic auf internationalem Parkett als nachrangig behandelt zu werden - der Aufruf, man möge sich gemeinsam gegen die Ansprüche der Monarchien wehren, wie nun in zunehmender Frequenz geäußert, entbehrte damit nicht eines gewissen Realitätsgehaltes. Zur Fremd- trat die republikanische Selbsterziehung. Im Rahmen des Collegium Insulanum und seiner Nachfolgevereinigungen trifft sich die künftige Zürcher Elite und debattierte u.a. über das Völkerrecht und das Wesen der Republic - die Techniken des Auslands wurden aufgenommen und an eidgenössische Rahmenbedingungen angepasst. Derlei Anstrengungen tragen, wie der Autor aufzuzeigen vermag, auf diplomatischer Bühne bemerkenswerte Früchte: Die Reichspublizistik erkannte mehrheitlich die eidgenössische Souveränität an, im Zeremoniell erfolgte eine klare Aufwertung ihrer Vertreter und die zugewandten Orte wurden Schritt für Schritt als Teil des eidgenössischen Corpus anerkannt. Doch nicht nur nach außen, auch im Inneren blieb die Adaption der Souveränitätstheorie nicht folgenlos. Der souveräne Staat bedurfte einer einheitlichen Staatsgewalt. Doch wo sollte die liegen? Zwischen den Orten, aber auch ortsintern entbrannte über diese Frage eine heftige Kontroverse. Sollte der Bund gestärkt werden, wie Zürich dies wollte, oder die Kantone, wie dies vom Schwyzer Johann Michael Bühler bevorzugt wurde? Waren die Räte oder Landsgemeinden Träger der Souveränität? Jeder der Orte wusste eine andere Antwort auf diese Fragen zu geben. Gemeinsam war allen, dass sie gestellt wurden. So bildete die neue politische Sprache zwar kaum die alleinige Ursache für den einsetzenden Wandlungsprozess, die Verdichtung der Staatsgewalt, die Professionalisierung des Staatsdienstes, die sich abzeichnende Trennung zwischen Gesellschaft und Staat - sie gab den einsetzenden Entwicklungen jedoch eine gemeinsame Richtung und beschleu-

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Frühe Neuzeit nigte sie. Dabei zeichneten sich schon früh Nebeneffekte ab, die eine unvorhersehbare Eigendynamik entwickelten. Die neue Staatselite konnte sich als Lenkerin einer rationalen Staatsmaschine kaum auf Gottes Hand bei der Ratswahl berufen. Die Diener des ewigen Zürich waren auch nach eigenem Verständnis graue Herren, die ihr Amt einzig ihrer Tugend zu verdanken hatten. Selbstentsagung - dies predigte auch die Bildsprache des neuen Rathauses - war das Leitbild dieser Republik. Wenn aber Tugend zur Schlüsselqualifikation wird, lässt sich die Frage kaum vermeiden, warum sie auf Patriziersöhne beschränkt bleiben sollte. So stand die Eidgenossenschaft Mitte des 18. Jahrhunderts bereits wieder vor der nächsten Sackgasse. Neben der Heterogenität der Republik war es vor allem die so genannte politische Oligarchisierung, die den Zorn mancher Aufklärer - wie etwa Iselins - erweckten. Die neuen Symbole der Republic galten ihnen als Inbegriffe einer alten maroden Ordnung, die der Zerstörung, zumindest aber der Reform bedurfte. So kündigte sich bereits der nächste Umbruch in einer Republic an, die dank eines intensiven Adaptions- und Konstruktionsprozesses deutlich früher als die Stände des Reiches an die westeuropäischen Staats- und Naturrechtsdebatten herangeführt wurde. Mit diesem Ausblick auf die Helvetik endet das Buch Maissens, dessen Blick auf die Konstruktion der souveränen Republic und deren Spätfolgen der Forschung neue Horizonte erschließt. Elegant geschrieben, quellennah und nüchtern argumentierend darf man dieser meisterlichen Arbeit rege Aufnahme wünschen. HistLit 2007-4-047 / Thomas Lau über Maissen, Thomas: Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft. Göttingen 2006. In: H-Soz-uKult 16.10.2007.

Mansel, Philip: Dressed to Rule. Royal and Court Costume from Louis XIV to Elizabeth II. New Haven: Yale University Press 2005. ISBN: 0-30010697-1; 237 S. Rezensiert von: Kirsten O. Frieling, Universität Erlangen Die soziale Funktion von Kleidung und Mode ist längst nicht mehr nur ein Thema der Soziologie

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und Philosophie1 , sondern hat sich auch in der Geschichtswissenschaft als Forschungsfeld etabliert. Nachdem deutlich geworden ist, in welch hohem Maße die Untersuchung von Kleidungsgewohnheiten zum Verstehen vergangener Gesellschaften beitragen kann2 , ist Kleidung in der historischen Forschung als Gegenstand sozialgeschichtlicher Fragestellungen vermehrt ins Blickfeld gerückt. Im Rahmen einer stärker kulturgeschichtlich orientierten Erforschung von (symbolischen) Kommunikationsformen ist in den letzten Jahren ein neuerliches Interesse an Kleidungspraktiken als Konstituens für das Selbst- und Fremdbild von Individuen und Gruppen zu verzeichnen. Zu diesen jüngeren Arbeiten lässt sich auch die 2005 erschienene Studie über höfische Kleidung von Philip Mansel rechnen. In sechs thematisch ausgerichteten, in loser chronologischer Abfolge angeordneten Kapiteln (Splendour, Service, Identity, Revolutions, The Age of Gold, Empires) nimmt Mansel den Leser mit auf eine Reise durch die letzten 350 Jahre und führt ihn dabei zu den großen Höfen der Zeit, von Paris/Versailles, London, Madrid und Wien über Berlin, Stockholm, Sankt Petersburg und Konstantinopel bis nach Ägypten, Japan, Afghanistan und Persien. Beginnend mit den Einzügen Karls II. in London und Ludwigs XIV. in Paris am 29. Mai bzw. 26. August 1660, arbeitet er anhand eines vielfältigen Quellenmaterials (Tagebücher, Briefe, Erinnerungen, Reise- und Gesandtschaftsberichte, Hofrechnungen, Inventare, Kleiderordnungen und Luxusgesetze, literarische Texte, Portraits, Gemälde und Fotos sowie erhaltene Kleidungsstücke) heraus, wie Kleidung als Herrschaftsinstrument genutzt und für politische Zwecke eingesetzt wurde – und noch wird. Die verschwenderisch-opulente Pracht französischer Hofkleider zur Zeit des Ancien Régime, die nicht nur Reichtum und Wohlstand versinnbildlichte, sondern auch den Zugang zum Monarchen regulieren und die heimische Textilindustrie ankurbeln half, wird ebenso thematisiert wie die außerhalb Frankreichs im 18. Jahrhundert einsetzende ‚Uniformierung’ von Hofgesellschaften. 1 Verwiesen

sei hier nur auf die ebenso einschlägigen wie anregenden Arbeiten von König, René, Menschheit auf dem Laufsteg. Die Mode im Zivilisationsprozeß, neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Hans Peter Thurn, Opladen 1999, und Barthes, Roland, Die Sprache der Mode, Frankfurt am Main 1985. 2 Wegweisend: Jütte, Robert; Bulst, Neithard (Hrsg.), Zwischen Sein und Schein. Kleidung und Identität in der ständischen Gesellschaft, Freiburg 1993.

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Ph. Mansel: Dressed to Rule Im Zuge der wachsenden Bedeutung des Heeres als Garant von Herrschaft setzte sich die militärische Uniform als maßgebliches Kleidungsstück für Monarchen und Adelige durch und prägte im 19. und frühen 20. Jahrhundert, ergänzt um zivile Uniformen, das Erscheinungsbild von Hof und Gesellschaft. Zur Sprache kommen ferner die Bedeutung von Herrscherinnen wie Marie Antoinette oder Kaiserin Eugenie als Stilikonen, die Relevanz von Kleidungspraktiken für die Kennzeichnung politischer Gruppierungen, die – etwa bei den Sansculotten – sogar namensgebend werden konnten. Weiter geht es um die Übernahme westlicher Mode in Russland unter Peter dem Großen und, seit Anfang des 20. Jahrhunderts, in Japan, Afghanistan und Iran als Zeichen einer Modernisierung der Gesellschaft. Thema ist schließlich der Rückgriff auf Kleidung als Kristallisationspunkt nationaler Identität, sei es, wie in Polen, Schweden und Schottland, in der Hoffnung auf nationale Unabhängigkeit oder, wie im Osmanischen Reich, in Afghanistan und Iran in der Absicht, die verschiedenen Volksgruppen zu einigen. Der Reiz des Projektes besteht darin, dass es zeitlich und geographisch so breit angelegt ist. Indem Mansel höfische Kleidungspraktiken verschiedener Länder aus rund dreieinhalb Jahrhunderten nebeneinander stellt, gelingt es ihm, sowohl diachrone Entwicklungen darzulegen als auch synchrone Mode-Einflüsse aufzuzeigen. Dass dabei nicht alle angeführten Höfe in gleichem Umfang berücksichtigt werden können, sondern Schwerpunkte gesetzt werden müssen, bringt der breite Ansatz mit sich; die stärkere Gewichtung der französischen und der englischen Monarchie, die der Verfasser vornimmt und durch die Auswahl des Archivmaterials zusätzlich unterstreicht, erscheint angesichts der tonangebenden Stellung, die zuerst der französische und dann der englische Hof in Bezug auf Mode- und Kleidungsfragen innehatten, sinnvoll. Ebenso verständlich ist, dass angesichts der Vielzahl der behandelten Länder bei Weitem nicht alle nationalen Forschungsstränge in gleicher Weise wahrgenommen, geschweige denn bis ins Detail überblickt werden können – wobei es allerdings schon verwundert, dass die einschlägige Arbeit von Martin Dinges nicht rezipiert wird.3 Wenngleich ausdrücklich zu begrüßen ist, dass Mansel so viele, auch außereuropäische Monarchi3 Dinges,

Martin, Der ‚feine Unterschied’. Die soziale Funktion der Kleidung in der höfischen Gesellschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 1 (1992), S. 49-76.

2007-4-181 en in der longue durée in den Blick nimmt, statt sich auf einen engeren Zeitraum und auf weniger Höfe zu konzentrieren, bleibt doch zu bemängeln, dass die Untersuchung bisweilen etwas holzschnittartig gerät. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Fokusierung auf Kleidungspraktiken gelegentlich zu einer allzu einseitigen Betrachtung historischer Ereignisse und Entwicklungen führt. Der Ausbruch der Revolution in Paris im Februar 1848 wird etwa mit der Hoftrauer für Louis-Philippes Schwester 1847/1848 begründet, weil das Aussetzen der Hofbälle weniger Bestellungen für neue Kleidung zur Folge gehabt und somit der Textilbranche erhebliche Ausfälle bescherte habe. Zwar hat das durch die Trauer bedingte Ausbleiben lukrativer Aufträge vom Hof die wirtschaftliche Krise zweifellos verschärft. Daraus aber – wie Mansels Argumentation suggeriert – zu folgern, dass die Revolution wegen des geänderten höfischen Kleidungsverhaltens ausbrach (S. 102), wirkt zu konstruiert. Es stellt sich die Frage, ob die Relevanz von Kleidung für den Gang der Geschichte nicht bisweilen überschätzt wird. Zum anderen tragen der streckenweise apodiktische Duktus, die Verwendung von Begriffen wie ‚dress patriotism’, ‚dress nationalism’, ‚dress revolution’, ‚dress war’ oder ‚dress globalisation’ (S. 49, 20, 59, 159 und öfter) und nicht zuletzt die Bezeichnung von Kleidung und Uniformen als ‚(political) weapon’ (S. 19 und öfter) dazu bei, der Darstellung einen plakativen Anstrich zu verleihen. Vor diesem Hintergrund muten auch die mottoartigen Kapitelüberschriften wie verkürzende Schlagworte an, die den Inhalt der Kapitel nur bedingt wiedergeben. Das gilt besonders für das letzte Kapitel, in dem unter dem Stichwort ‚Empires’ auch die versuchte Uniformierung der Gesellschaft in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts (S. 129-133) sowie die aktuell geführte KopftuchDebatte in Frankreich, Deutschland und der Türkei (S. 158-159) thematisiert werden. Eine conclusion, auf die Mansel bedauerlicherweise verzichtet, hätte es nicht nur erlaubt, zeitübergreifende Muster im höfischen Kleidungsverhalten nochmals in stringenter Form aufzuzeigen, sondern hätte es auch ermöglicht, Unterschiede stärker zu konturieren, und somit das Buch als Ganzes abgerundet. So endet es etwas unvermittelt mit dem symbolischpolitischen Gehalt der Kleidung Osama bin Ladens. Trotz der angeführten Kritikpunkte hat Mansel insgesamt eine kenntnisreiche, fundierte und quel-

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Frühe Neuzeit lengestützte Arbeit vorgelegt, die durch ihre Herangehensweise besticht. Indem er disziplinierende, identitätsbegründende und Zugehörigkeit stiftende Funktionen, aber auch wirtschaftspolitische Implikationen höfischer Kleidung herausarbeitet, leistet er mehr, als modische Entwicklungen lediglich in den Kontext einzubetten. Alles in allem ist Mansel ein kurzweiliges, anschaulich geschriebenes und ansprechend bebildertes Buch gelungen, dessen Lektüre überaus lohnenswert ist. HistLit 2007-4-181 / Kirsten O. Frieling über Mansel, Philip: Dressed to Rule. Royal and Court Costume from Louis XIV to Elizabeth II. New Haven 2005. In: H-Soz-u-Kult 04.12.2007.

Mathieu, Christian: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeit. Köln: Böhlau Verlag 2007. ISBN: 978-3-412-16806-3; 292 S. Rezensiert von: Achim Landwehr, Philosophische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Dieses Buch lässt sich in mehrfacher Hinsicht als fundamental bezeichnen, nicht nur aufgrund seiner breiten Quellenbasis und seiner für die weitere Forschung grundlegenden Bedeutung, sondern auch mit Blick auf sein eigentliches Thema: Es geht in einem wörtlichen Sinn um das Fundament venezianischen Selbstverständnisses und venezianischer Herrschaft, da beide in der besonderen Topographie der Markusrepublik begründet liegen. Gegenstand der in Saarbrücken entstandenen Dissertation ist also die Situiertheit Venedigs inmitten der Lagune, deren Bedeutung der Verfasser sowohl in geographischer als auch politischer Hinsicht in den Blick nimmt. Nun hat jede wissenschaftliche Arbeit über Venedig mit dem Problem zu kämpfen, dass es wohl kaum eine andere europäische Stadt gibt, die mit so vielen Vorurteilen, Klischees und Mythen überfrachtet ist. Gerade historischen Arbeiten kommt daher die Aufgabe zu, inmitten dieser Gemeinplätze ihr Anliegen ausreichend deutlich zum Vorschein zu bringen. Mathieu geht diese Aufgabe unmittelbar an. In einem ersten Analyseschritt dekonstruiert er denjenigen Mythos, der erfolgreich über Venedig etabliert wurde, oder besser gesagt: Er legt die zahlreichen mythischen Schichten frei,

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die sich über die Stadt und ihre Umwelt gelegt haben. Mathieu beginnt mit der jüngsten dieser Schichten, indem er den venezianischen Ökomythos seziert und deutlich macht, dass die Stadt keineswegs bereits seit Jahrhunderten eine umsichtige und auf den Erhalt des fragilen Ökosystems der Lagune abzielende Umweltpolitik betrieben hat. Aus solchen häufig anzutreffenden Ansichten sprechen wohl eher das moderne Umweltgewissen sowie die seit Langem als Katastrophenszenario evozierte Gefahr des Versinkens der Stadt in den adriatischen Fluten als die konkreten historischen Umstände. Diese Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für Mathieus Fragestellung, denn wenn die umfangreiche Lagunenpolitik Venedigs nicht einem ökologischen Bewusstsein geschuldet ist, woraus resultiert sie dann? Warum versuchten die Venezianer über Jahrhunderte hinweg mit allen Mitteln, die Trennung zwischen Festland und Lagune aufrecht zu erhalten? Die Antwort findet sich in dem Umstand, dass die besondere topographische Lage Venedigs zugleich die Grundlage des politischen und sozialen Gemeinwesens war. Mathieus Frage zielt insbesondere darauf ab, wie die natürliche Umwelt der Lagune, die unterschiedlichen Herrschaftsansprüche Venedigs sowie der Mythos der Serenissima im Verlauf der Frühen Neuzeit eine unauflösliche Verbindung eingingen. Er sieht in den Maßnahmen, in denen sich Venedig mittels massiver Eingriffe in das norditalienische Flusssystem und die Lagune seine eigene Umwelt erschuf den Versuch der Serenissima, den Raum zu produzieren, der mit dem eigenen Mythos und den eigenen politischen Ansprüchen korrespondierte. Mathieu widmet sich in drei größeren Kapiteln den Flussumleitungsmaßnahmen, dem ökologischen Risikodiskurs sowie der kulturellen Produktion von Raum in mehreren Medien, um auf diese Weise die Diskurse freizulegen, die das verbindliche Wissen über Gestalt und Funktion der Lagune etablierten. Diese unterschiedlichen Perspektiven erlauben es nicht nur, die Fragestellung in mehrfacher Hinsicht abzusichern, sondern zeigen ganz nebenbei auch auf, dass es sich bei historischen Diskursanalysen, wie sie Mathieu betreibt, keineswegs um Untersuchungen handeln muss, die sich ausschließlich mit mehr oder weniger wissenschaftlichen Debatten beschäftigen. Vielmehr kann der Verfasser zeigen, dass jede Praxis in der einen oder anderen Weise diskurs- und damit wissenskonstituierend wirkt.

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M. Niendorf: Das Großfürstentum Litauen Im Falle der venezianischen Lagune handelt es sich bei diesen Praktiken um die Umleitung der Flüsse Brenta, Piave und Sile, deren Zuflüsse in die Lagune seit dem 15. Jahrhundert in groß angelegten Projekten minimiert werden sollten. Während man heute bei den Gefährdungen, denen Venedig ausgesetzt ist, an ein Ansteigen des Meeresspiegels denkt, hatte das Venedig der Frühen Neuzeit mit Schlamm, Sand und einem zu hohen Süßwasseranteil zu kämpfen, die zu einer allmählichen Verlandung Venedigs führten. Mathieu zeichnet für die wichtigsten Lagunenzuflüsse nicht nur die Umleitungsmaßnahmen nach, sondern auch die Institutionalisierungsformen, die diese Projekte im venezianischen Verwaltungssystem angenommen haben, und ordnet zudem die Umweltpolitik in den weiteren Kontext der venezianischen Geschichte ein. Die beiden folgenden Teile konzentrieren sich auf unterschiedliche institutionelle und mediale Kontexte, in denen die lagunare Umwelt Venedigs verhandelt wurde. Neben der spezifischen Gattung der Gewässertraktate, die mit ihren wichtigsten Autoren vorgestellt wird, finden Chroniken, Stadtführer, Reiseberichte, Veduten und juristische Traktate Berücksichtigung. In dieser Zusammenschau gelingt es Mathieu aufzuzeigen, warum die Gestaltung der Lagune für Venedig so große Bedeutung hatte. Auf mehrfache Weise war Venedig von seiner Situiertheit existentiell abhängig. Der Zusammenhang von Raum, Mythos und Herrschaft stand nicht nur für die militärische Uneinnehmbarkeit Venedigs (obwohl die Stadt keine Mauern besaß), sondern war auch bedeutsam für die juristische Argumentation der ursprünglichen Freiheit der Stadt, die niemandem untertan war, eben weil sie keine Verbindung zum Festland hatte. Die Lagunenpolitik mit ihren Flussumleitungsprojekten transportierte also die Herrschaftsideologie des venezianischen Patriziats. Das Buch endet mit einem ausblickenden Kapitel, das die weiteren Verschiebungen des Diskurses um Venedig und die Lagune bis in die Gegenwart hinein verfolgt. Man möchte insbesondere diesen Seiten (und in der Folge dem ganzen Buch) eine breite Leserschaft wünschen, denn es handelt sich um ein beeindruckendes Beispiel kluger wissenschaftlicher Essayistik, das aus der Verknüpfung literarischer Zeugnisse, eigener wissenschaftlicher Ergebnisse und aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen wichtige Einsichten zur aktuellen Situation der Lagunenstadt ver-

2007-4-195 mittelt. Der Rezeption des Buchs hätte es zwar geholfen, wenn die Karten größer und damit lesbarer reproduziert worden wären und wenn die zahlreichen italienischen Zitate eine Übersetzung erfahren hätten, aber dies sind Marginalien angesichts der Leistungen der Untersuchung. Ansonsten ist Mathieu nur in einem Punkt zu widersprechen. Wenn er im – durchaus amüsanten – ersten Absatz des Vorwortes die Suche nach einem passenden Einstiegszitat mit den Worten Karl Valentins beschließt, dass – insbesondere zu Venedig – schon alles gesagt worden sei, aber noch nicht von jedem, so muss angesichts der vorliegenden Arbeit festgehalten werden, dass sich hier noch viel bisher Ungesagtes findet. Aufgrund dieser Leitung wird das Buch nicht nur zu einer unverzichtbaren Lektüre für alle an der Geschichte Venedigs Interessierten werden, sondern ebenso für diejenigen, die sich mit Problemen frühneuzeitlicher Umwelt- und Herrschaftsgeschichte beschäftigen – oder einfach für Leser, die ein sehr gutes historisches Buch zur Hand nehmen wollen. HistLit 2007-4-014 / Achim Landwehr über Mathieu, Christian: Inselstadt Venedig. Umweltgeschichte eines Mythos in der Frühen Neuzeit. Köln 2007. In: H-Soz-u-Kult 04.10.2007.

Niendorf, Mathias: Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569-1795). Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2006. ISBN: 3-447-05369-0; 329 S. Rezensiert von: Stefan Rohdewald, Universität Passau Mathias Niendorf legt mit seiner nun veröffentlichten Kieler Habilitation eine Fallstudie zum „missing link“ zwischen Formen spätmittelalterlicher „nationes“ und modernen Nationen auf höchstem wissenschaftlichen Niveau vor: Am Beispiel des Großfürstentums Litauen behandelt er die Themen Nation, Sprache und Konfession als Bereiche frühneuzeitlicher Nationsbildungsvorgänge. Die Auseinandersetzung mit dem Großfürstentum Litauen ist umso begrüßenswerter, als dieses trotz seiner Langlebigkeit, seiner zeitweise enormen territorialen Ausdehnung und der außerordentlichen kulturellen Vielfältigkeit nicht nur in der deutschen und englischsprachigen Forschung

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Frühe Neuzeit kaum beachtet wird.1 Auch in den nationalen Historiographien der Region stehen methodische Zugänge zum Vielvölkerreich, die ethnische und konfessionelle Trennlinien abstrahieren, noch ganz am Anfang. Niendorf konzentriert sich in seiner Studie auf „zeitgenössische Vorstellungen“ über das Großfürstentum und seine Bevölkerung. Dieser „potentiell ‘nationale’ oder protonationale Diskurs“ wird Sprach- und Handlungsfeldern um „Sprache“ sowie „Konfession“ gegenübergestellt (S. 19). Eine eingehende Untersuchung dieser Zusammenhänge mit Blick auf das Fürstentum Žemaiten dient sodann als exemplarischer Prüfstein auf regionaler Basis. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, da sich damals die auf Dauer wesentlichen Grundzüge der frühneuzeitlichen Entwicklung herausgestalteten. Einleitend sowie ausblickend werden mittelalterliche sowie Vorgänge des 19. und 20. Jahrhunderts abgeschätzt. Zunächst umreißt der Autor die Entstehung einer „mittelalterlichen natio lituanica“ (S. 23) und deren Entfaltung bis zu den Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts. Während die Vorstellung von der „corona regni Poloniae“ früh eine abstrakte Einheit darstellte, ist Litauen noch um 1400 als Personenverbandsstaat anzusehen. Mit der Festigung des weiträumigen Herrschaftsgebietes, das immer mehr Teile des ostslavischen Siedlungsgebietes bzw. der Rus’ umfasste, ging eine wechselseitige gesellschaftliche und rechtliche Abgrenzung von Bauern und Adelsstand einher. Sie war die Vorraussetzung zur formalen Verschmelzung der „terrarum Litwaniae et Russiae“ (1401) zur korporativen Einheit „nationis Lithwaniae“ (1501). Auch durch die Beschränkung dieser Einheit auf den Adel ohne Geistlichkeit stellte das Großfürsten1 Mit

nur wenigen Seiten zur Frühen Neuzeit: Snyder, Timothy, The Reconstruction of Nations. Poland, Ukraine, Lithuania, Belarus, 1569–1999, New Haven 2003; Jetzt: Rohdewald, Stefan; Frick, David; Wiederkehr, Stefan (Hrsg.), Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.-18. Jahrhundert) / Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th-18th Centuries) (=Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 71), Wiesbaden 2007; Beschränkt auf die Ostslaven: Plokhy, Serhii, The Origins of the Slavic Nations. Premodern Identities in Russia, Ukraine and Belarus, Cambridge 2006; Aus polnischer Perspektive, auch zu Ruthenien: Bömelburg, Hans-Jürgen, Frühneuzeitliche Nationen im östlichen Europa. Das polnische Geschichtsdenken und die Reichweite einer humanistischen Nationalgeschichte (1500–1700), Wiesbaden 2006 (=Veröffentlichungen des Nordost-Instituts, Bd. 4), v.a. S. 358-389.

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tum „ein Übergangsgebiet zwischen West- und Osteuropa“ dar. Während seitens der weißrussischen Forschung eine weißrussische Ethnogenese teilweise vom 14. Jahrhundert an angenommen wird, gilt in der ukrainischen Sicht die litauische Zeit schlicht als Fremdherrschaft, die auf angebliche Anfänge ukrainischer Nationalgeschichte in der Kiewer Rus’ gefolgt war. Auch eine Skizze zur Anwendung des Epochenbegriffes „Frühe Neuzeit“ auf das Großfürstentum lässt dessen „Übergangscharakter“ von West nach Ost erkennen (S. 43). Dabei erweist sich nach Gerichtsreformen und der Einführung von Adelslandtagen das Großfürstentum als „stärker einheitlich durchorganisiertes Staatswesen“ als die Krone (S. 48). Dies spiegelte sich in der auch als jüdischer Reichstag bezeichneten Aufsichtsorganisation der jüdischen Gemeinden Litauens. Allerdings blieb der Adelsstand unter der Vorherrschaft weniger Magnatengeschlechter und stellte damit keine einheitliche soziale Gruppe dar. Im Kapitel „Protonationale Diskurse“ lotet der Verfasser die soziale und „transethnische Integrationswirkung“ von Ursprungs- und Herrschermythen aus (S. 55). Die Vorstellung einer sarmatischen Abstammung, wie sie zunächst im polnischen Kleinadel entstand, entfaltete im Adel Polen-Litauens integrative Wirkung über ethnische Grenzen hinweg. Die Legende von der römischen Herkunft des litauischen Adels wurde ergänzt durch einen römischen Herkunftsmythos unter den Magnaten Polens. Andererseits stand ihr in der ostslavischen Chronistik eine ruthenische Ursprungserzählung gegenüber. Im Kontext westlicher Bildung ist für orthodoxe Bürger von Mahilëu ein Anknüpfen an ostslavische diskursive Traditionen als kultureller „Synkretismus“ festzustellen. Mit den Werken Stryjkowskis war gleichzeitig ein „allseits akzeptables Grundmuster an Deutungen“ verfügbar, das es erlaubte, Vorstellungen litauischer Geschichte weder im Konflikt mit westnoch mit ostslavischer Geschichte zu sehen (S. 65). Auch der Kult um Großfürsten und besonders um Vytautas war ethnisch übergreifend. Von den litauischen Tataren wurde er sogar als „Förderer des Islams“ verehrt (S. 67). Im Abschnitt zu Selbst- und Fremdwahrnehmung als Element „frühneuzeitlicher Nationsbildung“ (S. 76) stellt Niendorf anhand von Stryjkowskis Chronik eine Vorherrschaft sozialer und konfessioneller Faktoren und ein Zurücktreten der Rolle ethnischer Diversität fest, je näher die

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M. Niendorf: Das Großfürstentum Litauen Darstellung der Gegenwart kam. Eine litauische Vorstellung von „Freiheit“ neben derjenigen der Adelsrepublik lässt sich nicht nachweisen. Aber mit der Wertschätzung des litauischen Statuts von 1588 und der Rechtspflege vor Gericht bzw. an den Adelslandtagen ist ein Selbstbild zu erkennen, das die ethnische Vielfalt der Akteure zu integrieren vermochte: Die Selbstbezeichnung des Adels als „Litauer“ war selbstverständlich. Gleiches ist auch für den orthodoxen bzw. unierten ruthenischen Adel anzunehmen, aber noch weiter zu untersuchen, gerade in situativen Kommunikationszusammenhängen. Die Selbstwahrnehmung der Juden im 19. Jahrhundert als „Litvakes“ dürfte auf „ältere Bewusstseinszustände“ verweisen (S. 89). Das Großfürstentum war als „Sprachlandschaft“ oder „Kommunikationsraum“ nicht weniger vielfältig, obgleich die Vielsprachigkeit von den Einwohnern nicht thematisiert wurde (S. 97). Es ist dabei nicht einfach eine „Polonisierung“ festzustellen, wird doch noch bis ins 17. Jahrhundert eine eigentliche „Ruthenisierung des Polnischen“ beobachtet (S. 109). Setzte sich dann das Polnische als Sprache des Adels und der Schriftlichkeit durch, ohne einen Identitätswechsel zu bewirken, wurde auf Kosten des Litauischen das Weißrussische zur „lingua franca“ der mündlichen Kommunikation, auch für Tataren und Juden (S. 118). Auch für Konfessionsbildungsvorgänge gilt, dass sich die Forschung zu oft an den heutigen Staatsgrenzen orientiert hat, anstatt das Großfürstentum als Ganzes wahrzunehmen. Der Autor spricht von „Ansätze[n] von Konfessionalisierung“ (S. 132) auch für die Orthodoxie und das Judentum. Dabei wird in dieser Studie im Unterschied zum überwiegend anhand deutscher Beispiele entwickelten Konfessionalisierungsparadigma nicht der Staat, sondern der Adel als Träger untersucht. „Züge von Sozialdisziplinierung“ in orthodoxen Laienbruderschaften seien besonders aufschlussreich, zumal sie unter keinerlei obrigkeitlichem Druck standen (S. 135). Niendorf beschreibt kontrovers-theologische Debatten als Fälle von Transkonfessionalität, sieht allerdings ihre soziale Reichweite auf die Eliten beschränkt. Dennoch erblickt er in der „Begegnung verschiedener Kulturen“ eine „übergreifende Streitkultur“ (S. 155). Diese wirkte sich aber nicht in einer übergreifenden Identifikation mit dem Begriff „Litauen“ aus, der in Gegenüberstellung zum Begriff der „Rus’“ blieb. Regional und ethnokonfessionell unterschiedliche Reichweiten erlangten die Vereh-

2007-4-195 rung der „Mutter Gottes von Traken“ als Schutzpatronin Litauens, der „Regina Populi Rutheni“ in Žyrovicy, die auch für Litauen als politische Einheit gegenüber Moskau stand, und das „‘weißrussische’ Tschenstochau“ in Bjalynicy bei Mahilëu sowie der Kasimirkult und die Verehrung des unierten seligen Josafat (S. 162-166). Žemaiten dient sodann zur exemplarischen Untersuchung von Nationsbildungsprozessen im Rahmen einer kleineren Region. Die deutliche sprachliche Differenz des ‘Niederlitauischen’ zum Hochlitauischen sowie die beinahe deckungsgleiche territoriale Ausdehnung der Diözese und des Fürstentums Žemaiten hätten die Entstehung einer gesonderten Landesidentität fördern können. Dennoch ist eine solche nur in Ansätzen zu erkennen. Auch in diesem regionalen Zusammenhang betont Niendorf das Fehlen von Untersuchungen zum situativen Gebrauch ethnischer Terminologie. Ausblickend beobachtet der Verfasser bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts die Festigung der Vorstellung einer litauischen Nation, allerdings sei diese „keineswegs geradlinig“ verlaufen (S. 200). Für das weißrussische kollektive Selbstverständnis ist eine solche Entwicklung auch gegenwärtig weitaus weniger eindeutig und bleibt insbesondere im Verhältnis zum ukrainischen Kontext weiter zu untersuchen. Im litauischen Fall spielten Angehörige des kleineren und mittleren Adels im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle, nicht aber die Aristokratie. Wie bei der estnischen und lettischen Nationalbewegung konnte auch bei der entstehenden litauischen Bewegung die Konfession nicht von vornherein identitätsfestigend wirken, da Unter- und Oberschichten gleicher Konfession waren. Für die frühe Neuzeit ist die Erkenntnis wesentlich, dass sich im Großfürstentum wie auch in Žemaiten „Frühformen von Nationsbildung“ oder „Landespatriotismus“ „nicht einfach entlang ethnischer Merkmale“ entwickelten (S. 206). Ein „Nebeneinander scheinbar widersprüchlicher Orientierungen“ kollektiver Identität ist aber nicht für frühneuzeitliche Akteure und Gruppen plausibel, sondern auch noch für solche des 19. und 20. Jahrhunderts (S. 211). Nach der Realunion von Lublin 1569 bestand zwar ein eigenständiger Litauendiskurs weiter, der sich auf die legendäre römische Herkunft stützte, wie auch auf die Verehrung von Führungspersönlichkeiten wie Großfürst Vytautas und auf das eigene Rechtssystem. Darüber hinaus entwickelte sich aber kein litauisches kollektives Selbstbewusstsein. Allenfalls erkennt Ni-

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Frühe Neuzeit endorf im Kasimirkult als Patron des Großfürstentums ein Gegengewicht gegen polnische Diskurse. Dieser wie auch Marienkulte entfaltete sich aber in ständischen Rahmen – im Gegensatz zu nationaler Mobilisierung, wie sie sich erst im 19. Jahrhundert entwickelte. Der Begriff der Adelsnation sei zu starr, um die Reichweite gesellschaftlicher Integration im Adel zu beschreiben, und werde etwa den großen sozialen Unterschieden im Adel des Großfürstentums nicht gerecht. Das Beispiel Žemaiten bestätigt diesen Befund noch verschärft: Weder können eine kohärente žemaitische Identität festgestellt werden, noch eigenständige genealogische Legenden, noch Verehrungspraktiken herausragender Persönlichkeiten – trotz einiger spätmittelalterlicher Voraussetzungen. Soziale Integrationsprozesse fanden hier wie im ganzen Großfürstentum zwar statt, aber nicht im Sinne eines expliziten (proto-)nationalen kollektiven Bewusstseins. Stattdessen stützt die Studie neuere Thesen, in Polen-Litauen hätten sich kulturelle und institutionelle Muster entwickelt, die ethnokonfessionelle Trennlinien dauerhaft überschritten. Ein wesentliches weiteres Resultat der Studie ist, dass die gesellschaftlichen Prozesse im Großfürstentum nicht einfach denen in der polnischen Krone gleichgesetzt werden können. Neben weiteren Forschungen zu Formen ‘frühneuzeitlicher Nationsbildung’ sind die Untersuchung von Synkretismen2 , transnationaler oder transkultureller Vergesellschaftungsprozesse zu verstärken. Angesichts der Schwierigkeiten bei der Suche nach Formen einer ‘vermissten’ frühneuzeitlichen Nation stehen diese bzw. transkonfessionelle Vorgänge bereits in diesem Buch im Vordergrund. Dieses Ergebnis ist nicht nur, aber gewiss auch durch die Wahl des ethnokonfessionell äußerst vielfältigen Großfürstentums als exemplarisch untersuchter Großregion bedingt. Die sehr verdienstvolle Studie geht weit hinaus über einen Bericht zu dem sprachlich und thematisch stark diversifizierten Forschungsstand, unter Einbeziehung aller relevanten Bereiche, einschließlich der orthodoxen, unierten und jüdischen Bevölkerung sowie der Tataren bzw. Karaimen. Niendorf stellt mit beeindruckenden Sprachkenntnissen nicht nur die litauische, polnische, weißrussische, russische, ukrainische und internationale Historiographie in einen übergreifenden Zusammenhang, sondern nimmt auf einem hohen Abstraktionsniveau und auf der Grundlage des Stu2 Vgl.

den Band Litauen und Ruthenien und dort den Beitrag von Mathias Niendorf, S. 303-330.

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diums edierter Quellen sowie exemplarischer Archivalien wesentliche Neueinschätzungen vor. Damit eröffnet er für eine ganze Palette zentraler Forschungsbereiche nicht allein der Geschichte der frühen Neuzeit neue Perspektiven. Vergleiche mit anderen europäischen Nationsbildungsprozessen machen das Werk zu der angestrebten Fallstudie, der nicht nur in der Osteuropahistoriographie Aufmerksamkeit zukommen sollte. Zusammenfassungen auf Weißrussisch, Polnisch, Litauisch, Russisch und Englisch sowie ein umfangreiches Literaturverzeichnis erleichtern den Zugang vorbildlich. Der renommierte Warschauer „Przeglad ˛ Wschodni“ hat das Buch kürzlich nicht umsonst als beste ausländische Untersuchung des Jahres 2006 ausgezeichnet. HistLit 2007-4-195 / Stefan Rohdewald über Niendorf, Mathias: Das Großfürstentum Litauen. Studien zur Nationsbildung in der Frühen Neuzeit (1569-1795). Wiesbaden 2006. In: H-Soz-u-Kult 07.12.2007.

Pohlig, Matthias: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546-1617. Tübingen: Mohr Siebeck 2007. ISBN: 978-3-16-149191-7; 589 S. Rezensiert von: Anja Moritz, Goethe-Universität Frankfurt am Main In der Frühneuzeitforschung zeichnen sich in den letzten Jahren erste Ergebnisse einer Selbstreflexion ab, die nicht nur längst fällig war, sondern auch fruchtbar auf die Disziplin zurückwirkt. Insbesondere die jüngsten Diskussionen um den Stellenwert der Reformation, die den eigenen historiographischen „Sehepunkt“ in den Blick nehmen, gelangen zu einer differenzierten Sichtweise, die sowohl auf der Ebene der Begrifflichkeiten (z.B. „Mythos“ der Reformation) als auch in der Betonung von Kontinuitäten und Traditionen ihren Ausdruck findet.1 Die Rolle der neuzeitlichen protestantischen Historiographie für die Determinierung eines entsprechenden Geschichtsbildes ist bekannt. Weniger erforscht dagegen ist die Bedeutung der 1 Schilling,

Heinz, Reformation – Umbruch oder Gipfelpunkt eines Temps des Réformes?, in: Moeller, Bernd (Hrsg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch: wissenschaftliches Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte 1996, Gütersloh 1998, 13-34, hier 31.

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Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546-1617 frühneuzeitlichen lutherischen Geschichtsschreibung für die eigene konfessionelle Selbstvergewisserung. Dieser Thematik widmet sich die Dissertation von Matthias Pohlig, die 2005 an der Philosophischen Fakultät der Berliner HumboldtUniversität eingereicht wurde. Neuere Studien zur frühneuzeitlichen Historiographie, insbesondere lutherischer Provenienz, sind rar und widmen sich lediglich einzelnen Werken2 , Autoren3 oder Aspekten4 . Die Fragestellung vorliegender Dissertation ist sehr viel komplexer und gliedert sich in zwei Teilfragen: A) Welche Ursachen, Motive und Funktionen charakterisierten die lutherische Geschichtsschreibung? B) Besaß die lutherische Geschichtsschreibung Einfluss auf die Prägung der konfessionellen Identität der Lutheraner und wenn ja, welchen? Das Ergebnis wird zeigen, dass beide Fragen einander bedingen. Um die unterstellte Vielschichtigkeit der Historiographie erfassen zu können, verwendet Matthias Pohlig einen sehr weiten Begriff von Geschichtsschreibung, der „alle Texte“ umfasst, „in denen Autoren des 16. Jahrhunderts sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen“ (S. 6). Die Einbeziehung sehr unterschiedlicher Gattungen ermöglicht die Untersuchung des Einflusses jener Gattungen auf die „Konfessionalisierbarkeit“ (S. 5) der Historiografie. Bedient werden im Wesentlichen die beiden großen Bereiche von Universal- und Kirchengeschichte, hinzu kommen die Kalenderliteratur und die Apokalypsenkommentare. Unberücksichtigt bleiben hingegen Schriften, die in konkreten und somit eingrenzbaren Kontexten historisch argumentieren. Das betrifft etwa Landeschroniken, Fürstenspiegel oder die städtische Geschichtsschreibung. Der Autor begründet dies mit der Fülle der zu bewältigenden Quellen und seinem forschungsleitenden Interesse an gelehrter Kommunikation. Mit dem Tod Martin Luthers 1546 und dem ersten Reformationsjubiläum 1617 sind zwei Eckpfeiler markiert, die den Untersuchungszeitraum 2 U.a.

Beatrice, Christina; Frank, Melanie, Untersuchungen zum Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus, Tübingen 1990; Haye, Thomas, „Catalogus testium veritatis“ des Matthias Flacius Illyricus: zur Auswahl, Verarbeitung und kritischen Bewertung seiner Quellen, Göttingen 1990. 3 U.a. Keute, Hartwig, Reformation und Geschichte. Kaspar Hedio als Historiograph, Göttingen 1980. 4 Klempt, Adalbert, Die Säkularisierung der universalhistorischen Auffassung. Zum Wandel des Geschichtsdenkens im 16. und 17. Jahrhundert, Göttingen 1960; sowie Seifert, Arno, Der Rückzug der biblischen Prophetie von der neueren Geschichte. Studien zur Geschichte der Reichstheologie des frühneuzeitlichen Protestantismus, Köln 1990.

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schlüssig begrenzen. Wird doch in dieser Zeit eine konfessionelle Identitätsfindung – auch und gerade in Auseinandersetzung mit der Figur Martin Luthers – unumgänglich bzw. in den intra- und interkonfessionellen Konflikten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts aufs Neue gefordert. Nach der einleitenden Diskussion von Begriffen und Methoden (Teil A) sowie grundsätzlichen Bemerkungen zur Historiographie im konfessionellen Zeitalter (B I) widmet sich der Autor der Luthermemoria (B II) innerhalb des Untersuchungszeitraumes. Dabei wird unter anderem deutlich, dass die Stilisierung des Reformators als eines charismatischen Propheten und die Einordnung seines Reformwerkes in die Heilsgeschichte durchaus dem Erzählmuster der mittelalterlichen Heiligenviten entsprach. Während die Jubiläumspublizistik dieses Bild geradezu zementierte, verweigerten sich überraschenderweise die Predigtpostillen einem solchen Erinnerungsdiskurs. An ihnen wird beispielhaft deutlich, wie stark die historiographische Gattung der Konfessionalisierbarkeit von Geschichtsbildern Grenzen zu setzen vermochte. Insofern bietet sich die vom Autor vorgeschlagene Charakterisierung der „Gattungen als Institutionen“ an (S. 153), die sowohl die Produktion als auch die Rezeption von Texten steuern konnten. Die umfangreichen Kapitel B IV und B V widmen sich mit der Universal- und der Kirchengeschichte den beiden wichtigsten Bereichen der frühneuzeitlichen Historiographie. Die Universalgeschichte basierte ebenso wie die Kirchengeschichte auf den biblischen Prophetien. Vor allem das Danielbuch mit dem 4-Monarchien-Schema blieb bis ins 18. Jahrhundert dominierend. Während aber die Kirchengeschichte sich ausschließlich der Geschichte der wahren Lehre widmete und im Gewand der Dogmengeschichte die Problematik der ecclesia visibilis umging, umfasste die Universalgeschichte sowohl die profane als auch die kirchliche Geschichte. Möglich wurde diese Inklusivität durch das Konzept der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre, das Philipp Melanchthon für das Gebiet der Historiographie fruchtbar machte und später auf die Profangeschichte reduziert wurde. Anhand der Untersuchung verschiedener Gattungen, wie den Kaiserchroniken (z.B. des Paulus Prätorius), den Universalchroniken (wie z.B. dem Chronicon Carionis oder „De quatuor summis imperiis“ des Johannes Sleidan), den Chronologien (z.B. des Johannes Funck) oder dem Heldenbuch des Heinrich Pantaleon, kommt Matthias

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Frühe Neuzeit Pohlig zu dem Ergebnis, dass sich die Universalgeschichte nur begrenzt für den lutherischen Identitätsdiskurs eignete, da sie eher auf nationale Motive oder Elemente moralischer oder unterhaltender Funktion zugriff. Die zugrunde liegende Konzeption der Zwei-Reiche-Lehre war zwar konfessioneller Provenienz, führte aber letztlich zur Begrenzung der Konfessionalisierbarkeit. Im Gegensatz dazu war der Bereich der Kirchengeschichte für eine lutherische Selbstverständigung geradezu prädestiniert. Die hier angesiedelten historiographische Gattungen, wie z.B. die Ketzer-, Zeugenund Märtyrerliteratur, Gesamtdarstellungen (wie die Magdeburger Zenturien oder das Kompendium des Johannes Pappus) sowie kontroverspolemische Texte, bewegten sich zwischen Kontinuitäts- und Verfallsdiskursen, die nebeneinander standen oder, wie im Falle der Zenturien, miteinander verbunden werden konnten. Nicht nur bedurfte der lutherische Identitätsdiskurs der katholischen Kirche, um sich im positiven oder negativen Sinne zu ihr zu verhalten. Er führte auch dazu, dass die innerlutherischen Konflikte, die insbesondere im Nachklang des Interims ausbrachen, überdeckt und Differenzen dissimuliert wurden. Für die gemeinhin stark rezipierten Geschichtsund Heiligenkalender (Kap. B VI) kommt der Autor hinsichtlich ihrer konfessionellen Identitätsvermittlungsrolle zu ähnlichen Ergebnissen wie für die universal- und kirchengeschichtlichen Texte. Die Kommentare zur Johannesoffenbarung (Kap. B VII) als historiographische Schriften in die Untersuchung einzubeziehen, ist angesichts der bereits durch die Zeitgenossen an diese herangetragenen Geschichts- und Zeitdiagnostik durchaus schlüssig. Matthias Pohlig konstatiert für diese Texte eher eine statische Geschichtsbetrachtung, da sich aus der Offenbarung keine klare historische Abfolge, nicht einmal ein Niedergangsprozess herauslesen lässt. Dennoch wurde von den zeitgenössischen Exegeten anhand des Textes die Heilsgeschichte gedeutet, die mit der Reformation und der Offenbarung des Antichristen ihre letzte Phase erreicht hat. Damit korrespondierten diese exegetischen Historiographien durchaus mit der Naherwartung, die die konfessionelle Verortung der Lutheraner dominant prägte. Die lutherische Geschichtsschreibung, so kann Matthias Pohlig im Ergebnis nachweisen, war auf sehr differenzierte Weise am Prozess der innerkonfessionellen Identitätsstiftung beteiligt. Deren Funktionen als magistra vitae einerseits und „ex-

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egetische[n] Hilfswissenschaft“ andererseits (S. 497) wurden nicht nur in den Dienst des Nachweises der langen Tradition der lutherischen Kirche gestellt, sondern auch in den der Überbrückung dogmatischer wie territorialer Zersplitterungen innerhalb des Luthertums. Die Eigenlogik der historiographischen Gattungen setzte allerdings der Konfessionalisierbarkeit der Geschichtsschreibung deutliche Grenzen. Grundsätzlich kann nicht von einer engen Korrelation zwischen Konfessionalisierung und Historiographie, sondern eher von einer „losere[n] Kopplung“ (S. 507) gesprochen werden. Selbst wenn dieses Ergebnis insgesamt nicht überrascht, so steht es doch am Ende einer hervorragenden und dazu noch gut lesbaren Studie, die durch eine breite Quellenbasis fundiert ist und aufgrund der Zwischenergebnisse und einiger Exkurse zahlreiche Anregungen für die historische Forschung bietet. HistLit 2007-4-171 / Anja Moritz über Pohlig, Matthias: Zwischen Gelehrsamkeit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546-1617. Tübingen 2007. In: H-Soz-u-Kult 29.11.2007.

Roper, Lyndal: Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung. München: C.H. Beck Verlag 2007. ISBN: 978-3-406-54047-9; 470 S. Rezensiert von: Rainer Walz, Ruhr-Universität Bochum Das bereits 2004 auf Englisch erschienene Buch der bekannten Historikerin konzentriert sich auf Hexenverfolgungen im ober- und ostschwäbischen Raum (Nördlingen, Augsburg, Marchtal) vom 16. bis ins 18. Jahrhundert und bezieht dörfliche und städtische Prozesse ein. Zunächst wird der Prozess gegen Ursula Götz, Marchtal, vorgestellt, wobei schon das Hauptthema des Buchs angeschlagen wird: der Zusammenhang der Hexenverfolgungen mit Reproduktion und demographischen Problemen (S. 22f.). Danach schildert Roper die „barocke Landschaft“, wobei vor allem die geistlichen Territorien mit ihren verheerenden Prozessen (Bamberg, Würzburg) behandelt werden, dann aber auch das kleine Marchtal und die Verhältnisse in den Reichsstädten Augsburg und Nördlingen. Die Hexenprozesse dieser Territorien werden kurz umrissen, aber es wird auch der Kampf der Geistlichen

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L. Roper: Hexenwahn

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(hier sogar Delrio) gegen den Aberglauben des Volkes geschildert. Dabei stellt Roper schon die zentrale Frage, warum vor allem Frauen verfolgt wurden, und gibt auch gleich die Antwort: Die Zerstörung der Fruchtbarkeit durch die Hexen erklärt die Dominanz der Frauen (S. 54). Schließlich werden in diesem Kapitel noch der Zusammenhang zwischen Hexenverfolgungen und Judenverfolgungen und die unterschiedliche Bedeutung der Magie für die Konfessionen erörtert. Danach behandelt Roper Verhör und Folter, wobei sie versucht, die Entstehung einer Beziehung zwischen Verhörenden und Angeklagten darzustellen. Sehr unvermittelt stehen sich hier die Aussagen gegenüber, dass die Verhörenden für letztere zur Vaterfigur wurden, andererseits die ‚Hexen’ für die Verhörenden keine Menschen mehr gewesen seien (S. 84 und 7). Wie wenig sich die Folterpraxis änderte, zeigt die Schilderung des Falles von 1747. Vorurteile werden allerdings bedient, wenn Neidgefühle gegenüber der Hexe als treibende Kraft der Prozesse nicht etwa nur bei den in der Regel auf gleicher sozialer Stufe stehenden Geschädigten, sondern bei den Prozessführenden dargestellt werden (S. 94). In den folgenden Kapiteln werden Kannibalismus, Teufelsbuhlschaft und Hexensabbat als die wichtigen Elemente der Hexenvorstellung erörtert. Die Beziehung des Abendmahls zum Kannibalismus ist seit Freud ein Topos. Wenn man solche Beziehungen konstruiert, sollte schon der Fehler vermieden werden, das lutherische Abendmahlsdogma so missverständlich darzustellen, als ob das Luthertum doch an der Transsubstantiation festgehalten habe (S. 108). Ein Blick in Luthers De captivitate babylonica hätte über das Verhältnis der verschiedenen Substanzen belehrt. Etwas zu viel des Psychologisierens wird dem Leser zugemutet, wenn Roper behauptet, die Nähe von Hexen und Anklägern erkläre sich aus der Identifikation mit den kannibalistischen Hexen (S. 118). Ein Hinweis auf die gerade in Städten (Lemgo!) zu findende Funktionalisierung des Hexenglaubens für politische Auseinandersetzungen hätte es auch getan. Das Thema Kannibalismus wird in dieser Arbeit völlig überzogen. Beim Hexensabbat geht es notwendigerweise wieder um die Beziehung zwischen den Angeklagten und den Verhörführenden. Hier wird vieles richtig gesehen, aber die Lage der Frauen, die oft zur Vermeidung weiterer Folter erraten mussten, was jene hören wollten, wird nicht adäquat darge-

stellt. Die Dramatik der Befragungen über Teufelsbuhlschaft und Sabbat wird nicht recht deutlich. Ja, wenn Roper die Geständnisse der Frauen als Ausdruck des Misstrauens gegen Sinnenlust und der Urängste aller libidinösen Energien deutet, das zum in dem Buch so oft bemühten Hinausschieben der Heirat passe, dann ist dies fast schon eine Verharmlosung der Folterverhöre. Eine völlige Nebensache in den grauenvollen Situationen erfolterter Geständnisse wird zum Nachteil der Dynamik der Verhöre überbetont. Verhörprotokolle, die genau angeben, wann bei diesen Befragungen über Teufelsbuhlschaft und Sabbat gefoltert bzw. erneute Folter angedroht wird, ermöglichen eine sehr viel erschütterndere und den Hexenprozessen adäquatere Analyse, als sie hier vorgelegt wird. Das umfangreiche Kapitel über Fruchtbarkeit zeigt, dass die Verfasserin doch letztlich ein sehr monokausales Verständnis der Hexenverfolgungen hat: „Die Bedrohungen, Ängste und Abhängigkeiten, die das Kindsbett mit sich brachte, bilden den Kern des Hexenwahns.“ (S. 177) Hier hat der Hexenhammer vielleicht zu sehr geprägt. Dabei schwankte, wie Roper betont, die Epoche zwischen demographischer Beschränkung durch Heiratskontrollen und Förderung der Fruchtbarkeit (S. 182ff.). Wenn die Verfasserin nun auch noch den Demographen und Statistiker Süßmilch einbezieht und schreibt, „Süßmilchs Anliegen deckten sich in vielerlei Hinsicht mit denen der Hexenjäger“ (S. 187), nämlich in der Sorge um den Fortbestand der Bevölkerung, doch die Hexenjäger hätten geglaubt, das Problem durch Ausrottung der Hexen zu lösen, kommt sie in ihrer monokausalen Betrachtung der Verfolgungen sehr in die Nähe der Thesen von Steiger und Heinsohn, von denen sie sich andererseits, ohne die Namen zu nennen, wieder distanziert (S. 217). Die Argumentation ist hier schon konfus. Ähnlich fragwürdig ist es, wenn die Verfolgungen von Kindsmörderinnen als ironischer Beweis für die Stärke des Mutterkults im Europa der frühen Neuzeit gewertet werden (S. 188). Bei der Behandlung der Greisinnen gibt es einen logischen Widerspruch. Einerseits wird betont, dass es sich bei den Verfolgten in aller Regel um ältere Frauen handelt („ Sie waren in den Wechseljahren oder älter, und es waren Mütter“, S. 221), andererseits aber der Verfolgung von Mutter und Tochter doch große Bedeutung beigemessen wird („Mutter-Tochter-Paare“, S. 237). Dass ältere Frauen vor allem deswegen verfolgt wurden,

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Frühe Neuzeit weil sie in den kleinräumigen Gemeinschaften keine Verteidiger mehr fanden, kommt der Wahrheit vielleicht näher als manche dieser Konstruktionen. In den folgenden beiden Kapiteln geht es um die Augsburger Prozesse. Im Mittelpunkt eines Familienkonflikts steht die als Zwanzigjährige hingerichtete Juditha Wagner, die sich selbst der Untaten bezichtigte und deren Verfahren als typischer Kinderhexenprozess einzuordnen ist. Bei den sehr späten Kinderprozessen (1720er-Jahre) werden die Konflikte in den Familien geschildert, einerseits die Selbstbezichtigungen der Kinder, die aus Vernachlässigung resultierten, andererseits das Bemühen der Angehörigen, diese Kinder loszuwerden. Vieles erinnert an die Kinderprozesse des 17. Jahrhunderts, allerdings wurden die Kinder nun nicht mehr hingerichtet. Interessant sind hier die Sichtweisen der katholischen und lutherischen Theologen. Erstere unterstellten letzteren, diese Gelegenheiten für publikumswirksame Teufelsaustreibungen zu nutzen. Im letzten Großkapitel werden die Prozesse im Herrschaftsgebiet des Klosters Marchtal gegen eine ältere Frau und ihre Tochter aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. geschildert. Dabei unterlaufen Fehler, wenn von den Äbten Buchaus (statt Äbtissinnen) die Rede ist und wenn behauptet wird, das Beichtgeheimnis sei eine Errungenschaft der Gegenreformation gewesen (S. 323). Dass die Dinge nicht ganz so einfach lagen, sondern es hier um die Aufhebung von Einschränkungen ging, interessiert in der plakativen Darstellung nicht. Wenn behauptet wird, diese „Marchtaler Hexenprozesse [zeugten] vom Zeitalter Kants und Lessings“ (S. 331), weil hier mehr Sensibilität und eine verfeinerte Ausdrucksfähigkeit einen radikalen Richtungswechsel bedeuteten, so wird man wohl doch ein großes Fragezeichen setzen dürfen. In diesem späten Prozess greifen notwendigerweise (sonst wäre es wohl doch zu keiner Verurteilung gekommen!) alle unsensiblen und unfeinen Vorurteile und Praktiken aus der Hochzeit der Verfolgungen. Der Verblendungszusammenhang der Verfolger muss so groß gewesen sein wie früher. Erhöhte Sensibilität hätte ihnen auf die Sprünge geholfen, das Verhalten der Angeklagten (z.B. Furcht, Ausreden usw.) anders zu interpretieren. Die Diagnose auf Melancholie der verfolgten Frauen durch Kritiker der Prozesse im 16. Jahrhundert zeigt sehr viel mehr Sensibilität im Sinne Kants und Lessings. Eine genauere Kenntnis z.B. der Akten von Kinderhexenprozessen des 17. Jahrhundert hätte vor einem

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solchen Urteil bewahrt. Die Ausführlichkeit vieler Prozessakten etwa des 17. Jahrhunderts spricht gegen die S. 330 aufgestellten Thesen. Betrachtungen zu „Hänsel und Gretel“ und „Faust“ schließen das Buch ab. Sie sollen die Verwandlung der Hexenvorstellung im 19. Jahrhundert dokumentieren. Der Eindruck des Buches bleibt sehr zwiespältig. Einerseits ist die genaue und ja immer sehr aufwändige Recherche zu einzelnen Prozessen sehr zu schätzen, andererseits die sehr dogmatische und einspurige Analyse zu tadeln. Mehr Kontrolle der psychologischen Phantasie hätte gut getan. In manchen Punkten fällt das Werk in die ideologische Betrachtungsweise der feministischen Forschung der 1980er-Jahre zurück. Manches Urteil wirkt eher peinlich. Dem Untertitel (‚Geschichte einer Verfolgung’) wird das Buch nicht gerecht, da es doch regional eng begrenzt ist und auch die Breite der Hexenverfolgungen, die sich gerade in der Multifunktionalität der Verwendung zeigt, nicht darstellt. Als Überblick über das Phänomen eignet sich das Buch nicht. Dass auch die Übersetzung an einigen Stellen zu wünschen übrig lässt, sei ganz nebenbei angemerkt. Es ist nicht schön, wenn statt ‚gebaren’ das Imperfekt „gebärten“(S. 187) gebildet wird und „Wechselbälger“ (S. 143) statt ‚Wechselbälge’ beschrieben werden. HistLit 2007-4-223 / Rainer Walz über Roper, Lyndal: Hexenwahn. Geschichte einer Verfolgung. München 2007. In: H-Soz-u-Kult 18.12.2007.

Rosseaux, Ulrich: Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden (1694-1830). Köln: Böhlau Verlag 2006. ISBN: 3-412-00506-1; 432 S. Rezensiert von: Michaela Fenske, Institut fuer Kulturanthropologie/Europaeische Ethnologie, Göttingen Wissenschaftliche Repräsentationen werden auch durch ihre Untersuchungsgegenstände geformt. Dies gilt für eine Kulturgeschichte der Unterhaltung in der Frühen Neuzeit, die Ulrich Rosseaux 2006 als Habilitation an der TU Dresden eingereicht und in diesem Jahr veröffentlicht hat, im besonderen Maße. Indem das Buch die Formen und Praktiken der frühneuzeitlichen Unterhal-

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U. Rosseaux: Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden 1694-1830 tungskultur breit darstellt, vermittelt es auch etwas von der Faszination, die dem Untersuchungsgegenstand innewohnt. Grundlage von Rosseaux Untersuchung ist die gute Quellenüberlieferung der Residenzstadt Dresden als „eines der wichtigsten urbanen Zentren im deutschsprachigen Raum“ (S. 21). Der zeitliche Schwerpunkt liegt im 18. Jahrhundert, das durch tiefgreifende Veränderungen geprägt war; Rosseaux konzentriert sich vor allem auf den Wandel der Unterhaltungskultur. Das von Rosseaux angewandte heuristische Raum-Konzept vermag diesbezüglich Wichtiges zu leisten, ermöglicht es doch, kulturelle Praktiken in ihrer Breite und vor allem in ihrer zeitlichen Veränderung zu fokussieren. Die Umsetzung des „spacial turn“ in den spezifischen Untersuchungskontext bedeutet konkret „die Analyse jener sozialen Räume, die durch kulturelle Praktiken entstanden“ (S. 13). Dabei werden sowohl „die Zeitstrukturen als auch die verschiedenen Arten der Unterhaltung und des Vergnügens (...) als soziale Räume (begriffen), die sich durch die Handlungen der historischen Akteure konstituierten und deren Veränderungen daher vom Wandel eben jener kulturellen Praktiken abhingen, durch die sie entstanden waren“ (ebd.). Wenig überzeugend ist in diesem Zusammenhang allerdings die konkrete Begriffsverwendung „Freiraum“. Bereits auf dem Historikertag 2004, auf dem der Autor gemeinsam mit Ute LotzHeumann das Freiraum-Konzept vorgestellt hat, stimmten die Diskutant/innen mit Rosseaux und Lotz-Heumann zwar darin überein, dass der Freizeitbegriff für eine Analyse vormodernen Vergnügens ungeeignet ist, kritisierten aber ebenso den ersatzweise vorgeschlagenen Begriff „Freiraum“ ob seiner freiheitlichen Konnotationen.1 Tatsächlich verwendet auch der Autor im Verlauf seiner Darstellung den Begriff „Freiraum“ gelegentlich in diesem umgangssprachlichen Sinne (etwa S. 106: „der Freiraum der Narren“). Dabei gehört es gerade zu den bemerkenswerten Stärken von Rosseaux Studie zu zeigen, dass und wie das breite Feld der Unterhaltung durch politische und soziale Machtverhältnisse durchdrungen und geformt wurde. Von einem Freiraum im Sinne der Befreiung von herrschenden Zwängen kann mithin keine Rede sein. Von diesem in der Begriffsverwendung ange1 Vgl.

den Bericht von Christian Hochmuth in H-Soz-u-Kult vom 13.10.2004, (18.10.2007).

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legten Missverständnis abgesehen, zeichnet sich die Darstellung durch eine klare, kenntnisreiche und detaillierte Darstellung aus. Die Arbeit gliedert sich in sieben Teile, von denen sich neben Einleitung, Schluss und einer Einführung in frühneuzeitliche Zeitrhythmen vier wohlproportionierte Teile mit dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand beschäftigen. Im Teil III (Symbiose: Bürgerliche Hofnutzung - höfische Stadtnutzung) geht es um das Ineinander höfischer und städtischer Unterhaltungskultur. Höfische Feste, Karneval, Theater und Oper werden als vielschichtig aufgeladene Handlungsräume, als Orte ebenso der Begegnung wie der Abgrenzung der sozialen Großgruppen der Stadt Dresden dargestellt. Rosseaux zeigt, wie die ehemals exklusiven höfischen Angebote, meist in veränderter Form zunehmend auch im Bürgertum gepflegt wurden, ohne dass der Adel auf seine Partizipation verzichtet hätte. Die Verflechtung von Hof-Adel und Stadt-Bürgertum setzt sich auf dem Feld der korporativen Unterhaltungspraktiken (Kapitel 1 im Teil IV: Strukturwandel urbaner Freiräume - Von der Korporation zum Kommerz) fort. Dies gilt etwa für das Vogelschießen, bei dem der Kurfürst im 16. Jahrhundert Schützenkönig wurde oder das der Regent 1699 als Medium politischer Kommunikation nutzte. Das umfangreichste Kapitel dieses Teils ist den kommerziellen Formen gewidmet, von denen sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts insbesonders jene ausweiteten, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse umsetzten oder zur Schau stellten. Behandelt werden: Tiervorführungen und -dressuren, Akrobatik, Körpersensationen und fremde Menschen, Wachsfigurenkabinette, Automaten und Experimente. Mit der neuen Wahrnehmung von Natur und Landschaft im Gefolge der Rousseau-Rezeption gewann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Raum vor bzw. außerhalb der Stadt an Bedeutung: Badekuren und Sommerplaisier, Spaziergänge und Gartenfreuden, Bade- und Schwimmanstalten in der Elbe sowie das diese begleitende reichhaltige Angebot an Theater, Musik und Spiel stehen im Mittelpunkt des V. Teils (Stadtraum und Naturraum). Diese Entwicklung zur Nutzung des Naturraums mündete schließlich in die Entfestigung der Stadt Dresden im Jahre 1829, mit der sich die Stadt auch baulich dem Umland öffnete. Den VI. Teil (Erweiterungen der Freiräume) hat Rosseaux den neuen Möglichkeiten gewidmet, und zwar den sozialen (Gesellschaften und Vereine), funktionalen (Freizeitpark), vertikalen (Bal-

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Frühe Neuzeit lonfahrten) sowie visuellen (Schaumedien). Als wesentliche Ergebnisse der Studie skizziert der Autor drei Entwicklungslinien: (1.) Wachstum und Ausdifferenzierung, was sowohl die quantitative als auch qualitative Ausdehnung der Formen und Praktiken der Unterhaltung meint; (2.) Öffnung und Kommerzialisierung, was die zunehmende Beteiligung immer größerer Teile der Bevölkerung an der Unterhaltungskultur in Gestalt einer „konsumierbaren Dienstleistung“ (S. 322) benennt (kritisch angemerkt sei, dass diese Öffnung insofern relativ ist als beispielsweise, wie der Autor mit den gewählten Beispielen selbst illustriert, ökonomische Ungleichheit die Teilnahme vieler Menschen konkret erschwerte, ständische Exklusionsprinzipien mithin durch kapitalistische ersetzt werden); (3.) Permanenz und Veralltäglichung, womit die zunehmende Verschiebung der Tag- und Nachtgrenze sowie die zunehmende Lösung von saisonalen Bindungen wie Festen und Märkten gemeint ist. Am Ende der skizzierten Entwicklung sieht Rosseaux die „Konturen einer modernen Freizeitgesellschaft“ aufscheinen mit neuartigen Formen des Vergnügens und der Erholung wie zoologische Gärten, Volksgärten, Rummelplätze, Bildungsreisen sowie der touristischen Nutzung der Natur. Forscher/innen auf dem Feld der Unterhaltungskultur ist die von Rosseaux geschilderte Entwicklung nicht neu. Sie ergibt sich als Gesamteindruck aus der Fülle an wissenschaftlichen, aber auch an eher populären Einzeldarstellungen auf diesem Feld. Rosseaux gelingt jedoch unter dem analytischen Raum-Konzept eine Bündelung und Präzisierung der bislang disparaten Erkenntnisse auf neuer empirischer Grundlage. Damit hat er am Beispiel der Stadt Dresden erstmals eine Gesamtschau wesentlicher Teile der Unterhaltungskultur vor allem des 18. Jahrhunderts erarbeitet, und die Grundzüge ihres Wandels in breitere Forschungskontexte eingeordnet. Als hilfreich erwies sich dabei sicherlich, dass Rosseaux – anders als der auf das enge Themenfeld bezogene Forschungsüberblick im einleitenden Kapitel (S. 5-7) suggeriert – auf eine Literaturbasis auch aus Nachbardisziplinen zurückgreifen kann, darunter beispielsweise auch auf Studien aus der Europäischen Ethnologie. Rosseaux ergänzt die vorhandenen Forschungen immer wieder durch neue Perspektiven oder Hinweise, etwas wenn er der These von der Verbürgerlichung des Theaters im späten 18. Jahrhundert die „Verbürgerlichung des Thea-

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tergeschmacks des Hofes“ (S. 130) gegenüberstellt. Über manches hätte man gerne mehr erfahren, so zum Beispiel über die ökonomischen Seiten (und Zwänge) der Unterhaltungskultur, über die Wahrnehmungsebenen und Erlebnisweisen der historischen Akteure (die eher summarisch behandelt werden), über die hier eher unterbeleuchteten Vergnügungen der städtischen Unterschichten oder die Begegnungen von Stadt und Land, etwa auf Märkten. Ein Verweilen in manchem Raum und seine genaue Ausleuchtung wäre inspirierend gewesen. Das Fehlen dieser und anderer interessanter Aspekte mag nicht zuletzt den durch die Quellenüberlieferung gesetzten Grenzen geschuldet sein. Inwieweit das in mancher Hinsicht doch besondere, da sehr wandlungsvolle, 18. Jahrhundert hier für die Frühe Neuzeit insgesamt stehen kann, wäre ebenfalls zu diskutieren. Dass über die Untersuchung der Unterhaltungskultur neue und grundlegende Erkenntnisse über die großstädtische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts möglich sind, betont der Autor nicht nur selbst. Sein Buch illustriert dies auch anschaulich und sei daher Frühneuzeitforscher/innen ebenso empfohlen wie solchen der Unterhaltungskulturen, nicht zuletzt aber auch den an der Geschichte Dresdens interessierten Leser/innen. HistLit 2007-4-154 / Michaela Fenske über Rosseaux, Ulrich: Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden (1694-1830). Köln 2006. In: H-Soz-u-Kult 23.11.2007.

Rosseaux, Ulrich: Städte in der Frühen Neuzeit. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. ISBN: 978-3-534-16674-9; VII, 152 S. Rezensiert von: Philip R. Hoffmann-Rehnitz, Universität Konstanz Seit den 1960er-Jahren wurden die frühneuzeitlichen Städte zunehmend von der Historiographie erschlossen. Mittlerweile bilden sie ein ebenso fruchtbares wie vielgestaltiges Forschungsfeld. Nichtsdestotrotz ist die frühneuzeitliche Stadt zumindest für die Zeit nach der Reformation ein Gegenstand ohne festen Ort in den „Großen Erzählungen“ der Geschichtswissenschaft geblieben. Vielmehr wird ihr meist ein abgeleiteter Status zugeschrieben, sei es als Auslaufprodukt des Mit-

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U. Rosseaux: Städte in der Frühen Neuzeit telalters, als Opfer frühneuzeitlicher Staatsbildung oder als Vorläufer der bürgerlichen Moderne. Diese Deutungen prägen auch die bisherigen Überblicksdarstellungen zum frühneuzeitlichen Städtewesen, insbesondere die mittlerweile in die Jahre gekommenen Referenzwerke von Klaus Gerteis und Heinz Schilling.1 Eine vor Kurzem erschienene Einführung in die Thematik, verfasst von dem Dresdner Historiker Ulrich Rosseaux, gibt nunmehr Gelegenheit, danach zu fragen, inwieweit sich in der jüngeren Forschung neue Fragestellungen und innovative Forschungstrends aufgetan haben und ob sich die historiographische Sicht auf die frühneuzeitlichen Städte und ihre Bedeutung für die Entwicklung der alteuropäischen Gesellschaft verschoben hat. Gemäß der Konzeption der Reihe „Geschichte kompakt“, in der dieses Buch erschienen ist, richtet es sich an ein breites, historisch interessiertes Publikum, insbesondere an Lehrende und Lernende in den Schulen und Hochschulen, um es mit aktuellen Entwicklungen und neuen Ansätzen der historischen Forschung vertraut zu machen. In der Einleitung formuliert der Autor demgemäß allgemeine Leitlinien seiner Darstellung, wobei er sich auf den Raum des Alten Reichs in den Grenzen von 1648 beschränkt. Das Leitmotiv der neueren Forschung zur frühneuzeitlichen Stadt sieht Rosseaux in der „Gleichzeitigkeit von Veränderung und Konstanz“ (S. 3). Diese Faktoren waren in den einzelnen Bereichen des städtischen Lebens unterschiedlich ausgeprägt. So waren etwa die kommunale Verfassung oder die Organisation des Handwerks maßgeblich durch Konstanz gekennzeichnet, Veränderungen gingen hingegen auf allgemeine Transformationsprozesse wie die frühmoderne Staatsbildung oder die Verschiebung des europäischen Handelssystems zurück, aber auch auf die Etablierung neuer sozioökonomischer Strukturen und einen Wandel der Lebensformen. Letzteres habe auch das (Selbst-)Verständnis der Städte verändert, das immer weniger durch rechtlichjuristische Vorstellungen und immer mehr durch einen urbanen Lebensstil geprägt gewesen sei. Diese „Urbanität als Lebensform“ manifestierte sich etwa in einem spezifischen Umgang mit der Zeit oder in bestimmten Konsumgewohnheiten (S. 3f.). Diese Ausgangsüberlegungen schlagen sich im 1 Gerteis,

Klaus, Die deutschen Städte in der frühen Neuzeit: zur Vorgeschichte der „bürgerlichen Welt“, Darmstadt 1986; Schilling, Heinz, Die Stadt in der frühen Neuzeit, München 1993 (2. unveränderte Auflage 2004).

2007-4-229 weiteren Gang der Darstellung nieder. Diese gliedert sich in fünf Teile. Zunächst wendet sich der Autor dem Thema „Städtewesen und urbane Demographie“ zu. Behandelt werden vornehmlich quantitative Aspekte wie die Zahl der Stadtneugründungen, die Entwicklung der Einwohnerzahlen und der Urbanisierungsgrad, aber auch Probleme der Demographie wie Mortalität, Natalität, Eheschließung oder Migration. Außerdem werden von den Reichsstädten bis hin zu den Kurorten verschiedene Städtetypen vorgestellt. Das folgende Kapitel wendet sich den Bereichen „Wirtschaft – Gesellschaft – Politik“ zu, auf die jedoch nur in knapper Form eingegangen wird. Dies hängt offensichtlich vor allem damit zusammen, dass hier aus Sicht des Autors die Kräfte der Tradition besonders stark walteten. So werden in dem schmalen Abschnitt zum Handel weitgehend Phänomene des Niedergangs und der Stagnation wie etwa das Ende der Blüte der süddeutschen Handelsmetropolen beschrieben; in den Ausführungen zum Handwerk liegt der Schwerpunkt auf den beharrenden Faktoren wie den Zünften als (angeblichen) Repräsentanten einer „vormodernen Wirtschaftsauffassung“ (S. 51f.). Auf ein gewisses Innovationspotential in der frühneuzeitlichen Stadtwirtschaft verweist hingegen der Abschnitt „Neue Gewerbezweige“. Im Anschluss an das Unterkapitel „Soziale Strukturen“ wird schließlich auf Verfassungsverhältnisse, politische Konflikte und Unruhen sowie den Wandel der politischen Festkultur als einem wichtigen Bereich der jüngeren, kulturgeschichtlich ausgerichteten Forschung eingegangen. Das dritte Kapitel widmet sich dem Thema „Stadt und Religion“ und damit einem der bedeutendsten Bereiche der neueren Forschung. Ausführlich wird zum einen der Komplex „Stadt und Reformation“ behandelt, wobei der Fokus auf die von der Forschung weniger beachteten landstädtischen Reformationen gerichtet wird; zum anderen wird auf Prozesse der konfessionellen Homogenisierung nach der Reformation und das Problem der Multikonfessionalität eingegangen. In den letzten beiden Kapiteln werden Bereiche des städtischen Lebens thematisiert, die aus Sicht des Autors zum einen aktuelle Trends der Forschung markieren und auf denen sich zum anderen im Laufe der Frühen Neuzeit ausgeprägte Veränderungsprozesse vollzogen haben. So widmet sich der Autor unter dem Schlagwort „Stadt und Umwelt“ zunächst dem Wandel des Stadtbilds, der Sozialtopographie und der städtischen Architektur,

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Frühe Neuzeit um daran anschließend ausführlich auf ökologische und gesundheitliche Probleme frühneuzeitlicher Stadtkommunen einzugehen, so die Wasserund Energieversorgung, Formen der Umweltverschmutzung und Abfallbeseitigung sowie die Gesundheitsfürsorge. Betont wird dabei, dass in der frühneuzeitlichen Stadt ein „Umweltbewusstsein avant la lettre“ existierte und sich im 18. Jahrhundert ein neues Hygienebewusstsein durchsetzen konnte (S. 114). Das abschließende Kapitel setzt sich mit dem weiten Feld der städtischen Lebensformen auseinander. Der vielleicht am besten gelungene Abschnitt des Buches beschreibt den spezifisch städtischen Umgang mit der Zeit und die Ausbildung einer immer abstrakter werdenden Zeitwahrnehmung in den Städten. Diese wurde gerade bei der Ordnung der Tageszeit zunehmend von natürlichen Bedingungen unabhängig. So kam es im 18. Jahrhundert in Folge der Verbreitung von Straßenbeleuchtungen zur „Eroberung des Abends und der Nacht“ (S. 120f.). Nachdem die Bereiche des Wohnens, der Familie, der Nahrung und der Kleidung angesprochen werden, geht Rosseaux zum Schluss ausführlich auf den Komplex „Unterhaltung, Erholung und Vergnügen“ ein, der auch im Mittelpunkt seiner kürzlich erschienenen Habilitationsschrift steht.2 Neben traditionellen Formen städtischer Unterhaltungskultur wie Schützenfesten oder dem Karneval werden Neuentwicklungen vor allem des 18. Jahrhunderts beschrieben, die – wie im Fall des Theaters und der öffentlichen Konzerte oder auch neuer Formen der Erholung im städtischen Umland – aus Sicht des Autors ein besonderes Signum von (früh-)neuzeitlicher Urbanität darstellen und auf das ‚bürgerliche Zeitalter’ verweisen. Den Abschluss des Bandes bilden eine (zu) knappe Bibliographie und ein Register. Alles in allem fällt der Eindruck zwiespältig aus. So gelingt es dem Autor einerseits, mit der Konzentration auf Themengebiete, die wie die Umweltgeschichte oder die Unterhaltungskultur erst in jüngster Zeit verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt sind, das Potential neuer, insbesondere kulturgeschichtlicher Forschungsansätze deutlich zu machen. Die oftmals allzu detaillier2 Rosseaux,

Ulrich, Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden 1694-1830, Köln u.a. 2007. Vgl. Fenske, Michaela, Rezension zu: Rosseaux, Ulrich, Freiräume. Unterhaltung, Vergnügen und Erholung in Dresden (1694-1830), Köln 2006, in: H-Soz-uKult, 23.11.2007, .

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ten Ausführungen zu diesen Gegenständen stehen andererseits in einem augenfälligen Kontrast zu der puritanischen Knappheit, mit der andere, auch nicht ganz unbedeutende Bereiche des städtischen Lebens wie die „klassischen“ Felder Wirtschaft und Politik behandelt werden. So wird etwa auf das Konzept des Stadtrepublikanismus nicht und auf das Verhältnis von Stadt und frühmoderner Staatsbildung nur kursorisch eingegangen. Auch werden wichtige Themen der neueren Forschung etwa zum Wandel politischer Kommunikationsmedien oder der städtischen Öffentlichkeit nicht berücksichtigt. Gänzlich ausgespart bleiben darüber hinaus das Geld- und Finanzwesen und der zentrale Bereich der Kriminalität und sozialen Kontrolle. Sicher: Auf rund 150 Seiten ist es nicht möglich, alle Bereiche des städtischen Lebens in vertiefter Weise zu behandeln. Dennoch kann die thematische Schwerpunktsetzung letztlich nicht überzeugen und erscheint der Band in seiner spezifischen, stark von subjektiven Forschungsinteressen geprägten Selektivität als nicht ausgewogen. Des Weiteren legt der Band zwar durchaus plausibel dar, dass sich die frühneuzeitlichen Städte zumindest in bestimmten Lebensbereichen fundamental wandelten und als Ort gesamtgesellschaftlicher Veränderung fungierten. Die einzelnen Einsichten werden vom Autor jedoch nicht in eine Gesamtdeutung integriert. In der Einleitung führt Rosseaux aus, dass das einzige allgemeine Signum der Geschichte der frühneuzeitlichen Städte im „allmähliche[n] Übergang von Mittelalter zur Moderne“ bzw. in der „Gleichzeitigkeit von Veränderung und Konstanz“ zu sehen sei (S. 3). Jenseits dieser historischen Leerformeln verzichtet Rosseaux aber explizit auf eine nähere, analytisch angeleitete Bestimmung des Untersuchungsgegenstands, und vielleicht ist es ja auch angesichts der Vielgestaltigkeit des städtischen Lebens und einer höchst ausdifferenzierten Forschungslandschaft nur bedingt sinnvoll, die frühneuzeitlichen Städte in einem Modell der frühneuzeitlichen Stadt zu integrieren. Dieser Verzicht hat jedoch zur Folge, dass die Darstellung ohne einen inneren Zusammenhang bleibt und die einzelnen Abschnitte und die darin geschilderten Verhältnisse und Entwicklungen weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. Und auch wenn der Band in seinem offenen wie fragmentierten Charakter den gegenwärtigen Zustand der frühneuzeitlichen Stadtgeschichte durchaus widerspiegeln mag, so ist dies für den Leser letztlich wenig befriedigend.

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M. Schnettger: Principe sovrano oder civitas imperialis? HistLit 2007-4-229 / Philip R. Hoffmann-Rehnitz über Rosseaux, Ulrich: Städte in der Frühen Neuzeit. Darmstadt 2006. In: H-Soz-u-Kult 19.12.2007.

Schnettger, Matthias: Principe sovrano oder civitas imperialis? Die Republik Genua und das Alte Reich in der Frühen Neuzeit (1556-1797). Mainz am Rhein: Philipp von Zabern Verlag 2006. ISBN: 3-8053-3588-1; 694 S., 1 Karte Rezensiert von: Julia Zunckel, Westfälische Wilhelms-Universität Münster Mit seiner in der Reichsgeschichtsforschung angesiedelten Frankfurter Habilitationsschrift hat sich Matthias Schnettger einem auf den ersten Blick exotisch anmutenden Thema verschrieben: den diplomatischen Beziehungen zwischen dem Kaiserhof und der Adelsrepublik Genua während der Frühen Neuzeit. Schnettgers Wahl erweist sich jedoch als wohlbegründet, geht es ihm doch in erster Linie um die programmatische Abkehr von einer allzu modernistischen Reichsgeschichtsschreibung, die das proto-nationalstaatliche Profil eines institutionell verdichteten „komplementären Reichs-Staats“ (Georg Schmidt) überbetont, indem sie eine „unmoderne“, aber konstitutive Komponente der Reichsverfassung weitgehend ausblendet: das Reichslehnswesen. Um eben diese grundsätzliche Persistenz der lehnsrechtlichen Verfassungsmatrix deutlich herauszuarbeiten, richtet sich Schnettgers Interesse auf einen „Regionalstaat“ in Reichsitalien, also auf die Peripherie des Alten Reiches. Mit diesem Perspektivenwechsel zielt er auf eine adäquate Berücksichtigung des weit konzipierten, frühneuzeitlichen Reichsverständnisses und der damit verbundenen herrschaftskonstitutiven Ordnungsvorstellungen. Schnettgers Untersuchung basiert substantiell auf den von Karl Otmar von Aretin für Reichsitalien erarbeiteten Ansätzen. Indem von Aretin die große Bedeutung reichs- bzw. lehnsrechtlich begründeter Ordnungsmuster für die Ausbildung der italienischen Regionalstaaten betonte, leistete er einen wichtigen Beitrag für die Überwindung etatistisch-nationalstaatlicher Interpretamente, die (nicht nur) die Reichsitalienforschung lange Zeit blockierten. Die traditionelle Diplomatiegeschichte betrachtete die imperialen Hoheitsansprüche entweder als anachronistisches Relikt des Mit-

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telalters oder als einen in (macht-)politischer Hinsicht instrumentalisierten, aber nahezu irrelevanten verfassungsrechtlichen Formalismus. Die genaue Untersuchung der sich um die Behauptung der Reichrechte über Italien entspinnenden Kontroversen sind hingegen für eine um kulturgeschichtliche Aspekte erweiterte Politikgeschichte von erheblicher Relevanz. Denn wie nicht zuletzt die momentane Forschungskonjunktur deutlich macht, hat das Bemühen um eine neue Heuristik frühneuzeitlicher Denk- und Handlungsmuster auch jene Sparte der Politik- und Verfassungsgeschichte erfasst, die sich nach wie vor über makrostrukturelle Analysezugänge definiert.1 Eben dieser Zugriff auf die Diplomatiegeschichte liegt der Arbeit Schnettgers zugrunde, richtet sich sein Erkenntnisinteresse doch auf die minutiöse Nachzeichnung jener (Ver-)Handlungsstrategien und -dynamiken, die sich um das politische Kernproblem in den Beziehungen zwischen Genua und dem Kaiserhof aufbauten: das Streben der Republik nach voller Souveränität. Die Untersuchung widmet sich somit einer rechtspolitischen Problematik, die von der Historiographie lange Zeit vernachlässigt wurde, für die Behauptung des außen- wie innenpolitischen Handlungsspielraums der Adelsrepublik jedoch von zentraler Bedeutung war. Denn in zweifacher Hinsicht hatte Genua während der gesamten Frühen Neuzeit den imperialen Oberhoheitsansprüchen Rechnung zu tragen: einerseits in Hinblick auf ihren eigenen ambivalenten Status als Reichsstadt, andererseits in Hinblick auf jenen Gürtel von kleineren Reichslehen, die entweder im Besitz genuesischer Adelsgeschlechter waren oder die die Republik zwecks Absicherung ihres Kernbesitzes im Laufe der Zeit erwarb. Zwar bedeutete ersteres keine Lehnsuntertänigkeit vom Reich, implizierte aber die bei jedem Herrscherwechsel einzuholende grundsätzliche Bestätigung der qua kaiserlichen Reservationsrechts zugebilligten Privilegien. Stellte die Privilegienbestätigung die Anerkennung der kaiserlichen Oberhoheit unter Beweis, so musste es folglich das Hauptanliegen der genuesischen Diplomatie sein, diesen Akt der Unterordnung zu vermeiden, da er den Souveränitätsansprüchen der Republik entgegenstand. Weitaus geringer war der Handlungsspielraum hinsichtlich der von Genua erworbenen Reichslehen, denn hier 1 Etwa

Schnettger, Matthias; Verga, Marcello (Hrsg.), L’Impero e l’Italia nella prima età moderna / Das Reich und Italien in der Frühen Neuzeit, Berlin 2006.

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Frühe Neuzeit war die Rechtslage eindeutig: Ohne die Erneuerung der Investitur beim Regierungsantritt jedes Kaisers waren die von Genua erworbenen Rechtstitel ungültig. Wie eng diese beiden, das Verhältnis der Republik zum Kaiserhof bestimmenden Rechtskonstellationen in der politischen Verhandlungspraxis über den gesamten Untersuchungszeitraum miteinander verknüpft waren, zeigt Schnettger im Anschluss an ein relativ knappes Einführungskapitel: Die Bemühungen Genuas um eine grundsätzliche Statusverbesserung blieben über die gesamte Frühe Neuzeit deshalb erfolglos, weil der Kaiserhof mit der Verweigerung der ja stets zeitgleich mit den Privilegienbestätigungen anstehenden Investiturerneuerungen über ein effizientes Druckmittel verfügte, die Republik zur Raison zu bringen. Lediglich im Hinblick auf die kaiserlichere Titulaturformel sollte es der Republik gelingen, eine Verminderung des in ihr zum Ausdruck gebrachten Abhängigkeitsverhältnisses durchzusetzen: An die Stelle von „Duci, et Magistratibus Civitatis Genuae“ setzte man „Serenissimo Duci Principi nostro charissimo, ac Illustribus Gubernatoribus Reipublicae Genuensium nostris dilectis“. Dieser Teilerfolg konnte bezeichnenderweise in den ersten Regierungsjahren Ferdinands III. erzielt werden, denn er gehörte zu jener Repräsentationsoffensive, die Genua in den 30er Jahren des 17. Jahrhunderts gestartet hatte, um im ’ranking’ der europäischen Mächte nicht vollends ins Hintertreffen zu geraten. 1637 hatte sich die Republik demonstrativ unter die Oberhoheit der Madonna gestellt, um dadurch ihre Souveränität zu bekräftigen - die wiederum eine unverzichtbare Voraussetzung für die Erlangung des königlichen tractaments an den europäischen Höfen darstellte. Schnettger entschlüsselt die Hintergründe und die Tragweite dieses aufsehenerregenden Vorstoßes zwar nur ansatzweise, doch er kann nachweisen, dass die zeremonielle Repräsentationsoffensive die Republik vor einer faktischen Statusminderung bewahrte, wobei nicht zuletzt beträchtliche Zahlungen in die kaiserlichen Kassen den maßgeblichen Ausschlag gaben. Greift Schnettger die ökonomischen Aspekte des genuesischen Abhängigkeitsverhältnisses vom Kaiserhof in seinem letzten Untersuchungsabschnitt wieder auf, so sind zunächst drei weitere Kapitel der Frage gewidmet, welche Auswirkungen die imperialen Oberhoheitsansprüche für die Artikulierung der Machtund Herrschaftsansprüche Genuas über die sie um-

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gebenden Territorien nach sich zogen. An einer Fülle von unterschiedlich gelagerten Fallbeispielen weist er zunächst nach, dass es der Republik nie gelingen sollte, die oberste Jurisdiktionskompetenz des Reichshofrates über die ligurischen Reichslehen zurückzudrängen. Der sich daraus ergebende Befund einer mangelnden Geschlossenheit des genuesischen Hoheitsgebietes wird in zwei weiteren Untersuchungsschritten noch präzisiert, in denen Schnettger die Grenzen der genuesischen Arrondierungspolitik in Gestalt der kaiserlichen Aufsichts-, Schieds- und Schutzfunktion über die Region thematisiert, wobei im letzten Abschnitt die Rolle des Kaisers bei den Konflikten mit Savoyen eine zentrale Rolle spielt. Ist Schnettger mit dem Anspruch angetreten, die politische Wirkungsmächtigkeit der lehnsrechtlichen Verfassungsmatrix am Fallbeispiel Genua unter Beweis zu stellen, so ist ihm dies durchweg gelungen. Schließlich weisen die sich um die Behauptung der Reichsrechte aufbauenden politischen Konflikte an der Peripherie des Alten Reiches deutliche Parallelen zu den Entwicklungen im Reichskern auf. Dass er für diesen Nachweis mehr als 600 Seiten benötigt, strapaziert die Geduld des Lesers allerdings über Gebühr. Denn nach gründlicher Lektüre kommt man zu dem Schluss, dass sich die akribische Wiedergabe der insbesondere aus der diplomatischen Korrespondenz, aus den Reichshofratsakten sowie aus den Unterlagen der Mailänder Reichskommissare und Plenipotentiare gezogenen Verhandlungsabläufe und -logiken durchaus auf weniger als die Hälfte ihres Umfanges hätte reduzieren lassen. Nichts läge der Rezensentin ferner, als sich gegen möglichst quellennahe Studien auszusprechen; eine Konzeption, die eine gewissermaßen objektiv verstandene „Historie“ mittels Referierung ihrer Zeugnisse über weite Strecken praktisch für sich selbst sprechen lassen will und die historiographische Analyse in erster Linie als Kontextualisierung der Quellen begreift, erscheint ihr jedoch problematisch. Fordert Schnettger im Interesse einer dem frühneuzeitlichen Reichsverständnis angemessenen Hermeneutik in seinem Schlusssatz „einen Schuss Ranke“, so liegt der Rezensentin im Zuschnitt seiner Arbeit eindeutig ein Schuss Historismus zu viel. Schnettger konzentriert sich weitgehend auf die bilateralen Beziehungen zwischen Kaiserhof und Genua, die er – zu Recht – als die eigentliche Grundkonstante der genuesischen Außenpolitik begreift. Das intensive Agieren an anderen

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E. Schütz: Die Gesandtschaft Großbritanniens am Reichstag zu Regensburg europäischen Höfen, das den Handlungsspielraum Genuas gegenüber dem Reich maßgeblich mitbestimmte, findet dabei lediglich marginale Berücksichtigung. Soziopolitisch fundierte Einzelanalysen, die auf eine Erfassung des gesamten außenpolitischen Interaktionsfeldes zielen, die wichtigsten Handlungsoptionen der in Genua tonangebenden Oligarchie in den jeweiligen breiteren historischen Kontext stellen oder gar die Bedeutung der weitgespannten personalen Beziehungen der finanzkräftigen genuesischen Aristokratie evaluieren, sollte man sich von der Untersuchung also nicht erwarten. Aber Schnettgers Stoßrichtung ist – wie eingangs gesagt – eine andere. HistLit 2007-4-145 / Julia Zunckel über Schnettger, Matthias: Principe sovrano oder civitas imperialis? Die Republik Genua und das Alte Reich in der Frühen Neuzeit (1556-1797). Mainz am Rhein 2006. In: H-Soz-u-Kult 21.11.2007.

Schütz, Ernst: Die Gesandtschaft Großbritanniens am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg und am kur(pfalz-)bayerischen Hof zu München 1683-1806. München: C.H. Beck Verlag 2007. ISBN: 978-340610749-8; 367 S. Rezensiert von: Susanne Friedrich, LudwigMaximilans-Universität München Durch die Offenheit für neue Konzepte erlebt die Diplomatiegeschichte gerade einen bemerkenswerten Aufschwung.1 Parallel wird der Immerwährende Reichstag seit einigen Jahren besonders beachtet, so dass es schon erstaunt, dass zu einzelnen reichsständischen und auswärtigen Gesandtschaften bislang nur wenige fundierte Studien vorliegen.2 Die 2004 in Eichstätt angenommene Dissertation von Ernst Schütz zur Gesandtschaft Großbritanniens am Immerwährenden Reichstag und am bayerischen Hof stößt in diese Lücke. Ziel des Autors ist es, der „Vielschichtigkeit ei1 Vgl.

Kugeler, Heidrun; Sepp, Christian; Wolf, Georg, Einführung: Internationale Beziehungen in der Frühen Neuzeit. Ansätze und Perspektiven, Münster 2006. Das Interesse an einer ‚neuen’ Diplomatiegeschichte dokumentiert auch das von Heinz Duchhardt und Franz Knipping herausgegebene ‚Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen’. 2 Neben den Arbeiten Walter Fürnrohrs ist hier vor allen die Studie von Lehsten, Lupold von, Die hessischen Reichstagsgesandten im 17. und 18. Jahrhundert, 2 Bde., Darmstadt 2003 zu nennen.

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ner diplomatischen Mission“ (S. 17), durch die Verbindung der Diplomatiegeschichte mit einer Beschreibung der Funktionsweise der Gesandtschaft und perzeptionellen Aspekten gerecht zu werden. Die Wahl der britischen Vertretung als Untersuchungsobjekt wird mit deren gerade nicht hervorgehobenen Stellung und der Aussicht begründet, „[d]ie transatlantisch-europäische Ebene [...] (zumindest potentiell) parallel zur reichischen und reichsständischen, ja teilweise sogar zur landständischen“ (S. 7) betrachten zu können. Ergebnisse zur „landständischen“ Ebene sind jedoch, abgesehen von ‚Beschreibungen’ einiger landständischer Adeliger, kaum zu finden. Der erste Teil ist der traditionellen Diplomatiegeschichte verpflichtet und widmet sich vor allem der Ereignisgeschichte der britischen Vertretung. Schütz’ quellengesättigte Darstellung bringt einige neue Fakten ans Licht, die hier nicht im Einzelnen referiert werden können. Seit der Erstbeschickung des Reichstags 1683 werden vier Phasen britischer Außenpolitik markiert. So wird die Hannoveraner Thronfolge in Großbritannien (1714) überzeugend als Einschnitt gewertet, da der König nun zugleich Reichsstand war. Die durch den Versuch, die Stände gegen den Kaiser einzunehmen, veranlasste Ausweisung des britischen Gesandten 1727 beendete diese zweite, durch sporadische Beschickung gekennzeichnete Phase. Die dritte wird 1766 mit der Etablierung der Doppelvertretung RegensburgMünchen eingeleitet. Da daraufhin eine Schwerpunktverlagerung auf München stattfand, behandelt die Arbeit die Vorkommnisse auf dem Reichstag nach diesem Datum kaum mehr. Der Beginn der vierten Phase, die in die napoleonische Zeit fällt und in der sich England ebenso halbherzig wie erfolglos um ein Bündnis mit Bayern bemühte, wird nicht kenntlich gemacht. Sie endet jedenfalls in München mit dem Abbruch der Beziehungen 1804, in Regensburg mit der Auflösung des Reiches 1806. Wie Andrew Thompson3 in seiner kürzlich erschienenen Studie, wertet auch Schütz die ‚Verteidigung des Protestantismus’ als wichtigen Faktor britischer Politik auf dem Reichstag. Doch sieht Schütz andere politische Ziele, etwa die Erhaltung der ‚Balance of Power’, als die häufig stärkeren Handlungsmotive. Er geht im Vergleich zu Thompson aber von einer deutlicheren Trennung von Hannoveraner und britischer Politik aus, die 3 Thompson,

Andrew C., Britain, Hannover and the Protestant Interest, 1688–1756, Cambridge 2006.

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Frühe Neuzeit sich nach dem Tod Georgs I. noch verstärkt habe und die sich in zwei voneinander unabhängig agierenden Gesandtschaften ausdrückte. Der König gewann so einen Informationsvorsprung vor seinen Ministern, weil nur er die Berichte beider Gesandter kannte, weshalb Schütz diese Trennung gar als „kleinen Geniestreich“ wertet (S. 291). Das Urteil, Großbritannien sei erst nach der Zusammenlegung der Gesandtschaften 1766 dauerhaft in Regensburg präsent gewesen und erst jetzt könne „von der britischen Reichstagsgesandtschaft gesprochen werden“ (S. 83), ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Inwiefern die postulierte Trennung zutrifft, müssen weitere Studien erweisen, denn zumindest in konfessionellen Konfliktsituationen ergibt sich bislang das Bild einer engen Zusammenarbeit zwischen den Hannoveraner und den britischen Gesandten. Der mit Gewinn zu lesende zweite Hauptteil widmet sich der praxisnahen Schilderung des Alltags der Gesandtschaftsangehörigen, ihrer Rechte, der Ausstattung des Gesandtschaftsquartiers, den Finanzen, ihrer Berichterstattung und ihrer Netzwerke. Der große Zeitrahmen erlaubt es hier, Entwicklungen nachzuzeichnen. Zu Recht betont Schütz die Bedeutung des Zeremoniells auf dem Reichstag, wenn auch die Behauptung, dieser sei das zeremonielle Zentrum Europas gewesen (S. 167), überzogen erscheint. Die Entwicklung des Zeremoniells der auswärtigen Gesandten wird vorbildlich rekonstruiert.4 Allerdings wird die Bedeutung der Forderung der kurfürstlichen Gesandten, nur Ambassadeurs als gleichwertig anzuerkennen, nicht in ihrer vollen Reichweite erkannt. Die Entsendung eines britischen Ambassadeurs nach Regensburg hätte die Stände aufgrund der Reziprozität des Gesandtschaftsrechts berechtigt, ihrerseits erstrangige Gesandte nach London zu entsenden. Dies aber wäre einer Anerkennung ihres souveränen Status gleichgekommen, denn das Recht, erstrangige Gesandte zu ernennen, wurde nur Souveränen zugestanden, was die Reichsstände in den Augen der europäischen Mächte nicht waren. Um die aus dieser Situation erwachsenden Probleme zu verhindern, akkreditierte Großbritannien am Reichstag ausschließlich Gesandte zweiten Ranges. Aufgrund der Tatsache, dass die Vertretung 4 In

vielen Punkten zu undifferenziert ist dagegen Leiher, Nikolaus, Die rechtliche Stellung der auswärtigen Gesandten beim Immerwährenden Reichstag zu Regensburg. Eine rechtshistorische Untersuchung unter Auswertung der Schriften zum Ius Publicum des Alten Reiches, Aachen 2003.

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meist jungen Diplomaten anvertraut wurde, folgert Schütz, die Gesandtschaft habe in erster Linie als Ausbildungsort gedient, weshalb man sie trotz geringer politischer Bedeutung beibehalten habe. Diese interessante neue Interpretation ist spekulativ, da eine bewusste Entscheidung nicht nachgewiesen werden kann. Alternative Erklärungsmöglichkeiten für den Befund werden jedoch nicht in Erwägung gezogen. Der dritte Hauptteil ist der Perzeption gewidmet, verstanden „als die selektive Art und Weise, in welcher die britischen Diplomaten aus ihrer [...] sozialen und geographischen Herkunft heraus auf ein neues, ungewohntes Betätigungsfeld blickten“ (S. 236). Neben der Wahrnehmung des Fremden soll die Selbstwahrnehmung und der mögliche interkulturelle Transfer zwischen Entsende- und Gastland thematisiert werden. Bereits in der Einleitung betont Schütz die trotz inhaltlicher und formaler Beschränkungen gegebene Eignung von Gesandtenberichten für diese Art von Untersuchung, will sie aber durch ‚Privatkorrespondenzen’ ergänzen (S. 13–16), wobei zweifelhaft ist, ob die erwähnten Schreiben an Funktionsträger als solche zu bezeichnen sind. Um die Ergebnisse einordnen zu können, zieht er stichprobenartig Material anderer auswärtiger Gesandtschaften hinzu. Schütz versucht die gesamte Breite der Wahrnehmungen durch die Quellen zu erfassen. Betrachtet werden die Schilderungen der Protagonisten in Regensburg und München, das Zeremoniell, die ‚Verfassung’ und schließlich die „außerdienstlichen Zustände“, worunter die ‚Aufklärung’, ‚Religion’ oder ‚Nationalstereotypen’ subsumiert werden. Im Ergebnis wird deutlich, dass sowohl Bayern als auch im späteren 18. Jahrhundert das Reich negativ beurteilt wurden. Die Themen der Berichte deckten sich ebenso wie die Urteile mit dem britischen Deutschlandbild, was auf eine weitgehend stereotypische Wahrnehmung hindeutet. Die Gesandten hielten ihre eigene Nation für überlegen. Schütz schreibt diesen an sich kaum überraschenden Ergebnissen große Wirkmacht zu. Die negativen Berichte über Bayern etwa hätten es unmöglich gemacht, dieses als potentiellen Partner anzuerkennen. Auch wurde dadurch ein kultureller Transfer zwischen dem Reich und Bayern auf der einen und Großbritannien auf der anderen Seite verhindert. Nicht ganz nachvollziehbar ist hingegen die Schlussfolgerung, die Einbeziehung der durch diese Stereotypen geprägten Wahrnehmung in das historiographische Urteil könne ein Beitrag

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K. Siebenhüner: Bigamie und Inquisition in Italien zur „Relativierung der ‚Reichseuphorie‘“ (S. 293) sein. Das Verdienst des Buches liegt darin, ein Baustein zu einer kulturhistorisch inspirierten, auch an den ‚Niederungen’ des diplomatischen Alltags interessierten und um die Thematisierung der Perzeption ergänzten Diplomatiegeschichte zu sein. Es handelt sich um ein gut strukturiertes, sorgfältig recherchiertes und insgesamt lesenswertes Buch. Wertvoll sind auch die angehängten Verzeichnisse der Gesandtschaftsangehörigen und die Quellenbeilagen. HistLit 2007-4-217 / Susanne Friedrich über Schütz, Ernst: Die Gesandtschaft Großbritanniens am Immerwährenden Reichstag zu Regensburg und am kur(pfalz-)bayerischen Hof zu München 1683-1806. München 2007. In: H-Soz-u-Kult 14.12.2007.

Siebenhüner, Kim: Bigamie und Inquisition in Italien 1600-1750. Römische Inquisition und Indexkongregation. Paderborn: Ferdinand Schöningh Verlag 2006. ISBN: 3506713884; 250 S. Rezensiert von: Margareth Lanzinger, Institut für Geschichte, Universität Wien Eine Verbindung zwischen Bigamie und Inquisition scheint auf den ersten Blick nicht unbedingt nahe liegend, insofern die Inquisition für Glaubensfragen zuständig war. Das Verdienst von Kim Siebenhüner ist es, die innere Logik und spezifische Dynamik von Bigamie als Gegenstand der Inquisition in einer sehr gut strukturierten und thematisch klar umrissenen Arbeit präzise durchleuchtet und herausgearbeitet zu haben. Die theologischkonzeptuelle Grundlegung, die Ausformung des institutionellen und normativen Rahmens, die Abläufe der bürokratischen und gerichtlichen Maschinerie des Sant’Ufficio, die Kommunikation mit der ‚Peripherie‘, die verschiedenen Anzeigemodi und deren Konsequenzen, Belehrung und Buße, unterschiedliche Strafausmaße und -formen stellen dabei eine Seite der Geschichte dar. Diese werden methodisch wie darstellerisch auf gelungene Weise verbunden mit den Lebenszusammenhängen und Erfahrungen, Konflikten und Strategien, dem Selbstverständnis der bigami und ihren Erwartungen an eine Ehe. Das Ziel der Autorin, „Teile gesellschaftlicher Ordnung“ und „individu-

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elle Lebenswege“ sichtbar zu machen (S. 15), löst das Buch damit auf souveräne Weise ein. Schauplatz des Geschehens ist Italien vom ausgehenden 16. bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Den bischöflichen Eheprozessen – Ehetrennungen, Eheversprechen, Annullierungen etc. – wurde in der historischen Forschung der vergangenen Jahrzehnte viel Aufmerksamkeit geschenkt. Bigamieakten sind demgegenüber bislang kaum behandelt worden – wiewohl sie in Archiven überliefert sind. Ein bischöflicher Bestand aus Siena konstituiert einen Teil des von Kim Siebenhüner analysierten Quellenmaterials. Die Öffnung des Archivs der ehemaligen Inquisition im Rom im Januar 1998 machte einen weiteren Quellenbestand an Bigamieakten zugänglich. Die Autorin hat als eine der ersten Historikerinnen diese neuen Möglichkeiten genutzt. Insgesamt umfasst das Sample 220 Fälle. Trotz Verlusten, die es unmöglich machen, eine Grundgesamtheit zu beziffern, stellt dieses Material eine reichhaltige Grundlage auch für eine Neubewertung des Inquisitionstribunals dar. Die Inquisitionsforschung insgesamt ist in Italien in den letzten Jahren zu einem innovativen und differenzierten Forschungsfeld avanciert, das auch im besprochenen Buch durch interpretatorische Perspektiven immer wieder präsent ist: wenn es etwa darum geht, Verfahrenswege und Rechtsprechung der Inquisition jenseits des Klischees der Grausamkeit dieser päpstlichen Behörde genau in den Blick zu nehmen, die Implikationen ihrer Präsenz über Außenstellen oder den repressiven Charakter der Instrumentalisierung der Beichte zu reflektieren. Die Historische Kriminalitätsforschung bietet der Autorin einen weiteren konzeptuellen Rahmen und zugleich auch eine Reibungsfläche aufgrund der Spezifik der Abläufe am Sant’Ufficio, die darüber hinausgehende Ansätze und Zugänge erfordern. Eine geschlechtergeschichtliche Perspektive zieht sich durch die Arbeit und kommt vor allem in der Problematisierung der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Delinquentenzahlen und der damit verbundenen strukturellen Muster zum Tragen oder in der Thematisierung der geschlechtsspezifischen Unterschiede, die in den Urteilen und Strafverhängungen sichtbar werden. Die besondere Verfolgung von Bigamie ist im Kontext der konfessionellen Herausforderung der katholischen Kirche durch die Reformation zu sehen. Dabei kam der Institution der Ehe wie sie vom tridentinischen Konzil definiert und neu geordnet wurde, ein besonderer Stellenwert zu. De-

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Frühe Neuzeit ren Sakramentalität und Unauflöslichkeit galt es in Abgrenzung zu anderen Konfessionen und Religionen durchzusetzen und zu ‚verteidigen‘. Bigamie bedeutete aus kanonischer Sicht ein doppeltes Eheband und stellte einen Missbrauch des Sakraments dar – auch wenn es, wie in den meisten ausgewerteten Fällen, im zeitlichen Nacheinander geschlossen wurde, nach dem Verlassen der ersten Ehefrau oder nach längeren Aufenthalten fern des eigenen Wohnorts. Der Schritt vom doppelten Eheband zum Häresieverdacht war aus dieser Perspektive nicht weit. Ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert wurde Bigamie von der Kirche in diesem Konnex gesehen. Das Interesse der Inquisition richtete sich dementsprechend darauf, einem möglichen Glaubensirrtum in Bezug auf das katholische Ehemodell nachzuspüren. Die Absicht, religiöse Lehren zu missachten, einen ‚ketzerischen‘ Akt zu begehen, war allerdings – so ein Ergebnis der vorliegenden Forschung – keineswegs Motivation oder Grundlage des Handelns, selbst nicht bei bigami, die zum Katholizismus konvertiert waren oder sich in konfessionell pluralen Gesellschaften aufgehalten hatten. Die Umtriebigkeit der Inquisition in ihrer Überwachung des wahren Glaubens war in diesem Zusammenhang letztlich also inadäquat. Jedoch zeitigte ihr Einsatz im Laufe der Zeit Folgen, die über das konkrete Delikt hinaus höchst wirksam waren. Im Zuge der inquisitorischen Kontroll- und Überwachungstätigkeit gerieten die Voraussetzungen einer regulären Eheschließung und vor allem deren Lücken immer stärker ins Visier der kirchlichen Bürokratie. Davon betroffen waren vor allem Dokumente wie Ledigenscheine und Totenscheine, deren Fälschung oder allzu leichtfertige Ausstellung so manche bigame Ehe ermöglicht hatte. Aber auch die Anerkennung von Personen als vertrauenswürdige Zeugen und die Art ihrer Vernehmung standen dabei zur Debatte und wurden Gegenstand neuer Regelungen. Letztlich mündete die Tätigkeit der Inquisition im Bereich der Bigamie in eine zunehmende Regulierung und Überwachung der katholischen Eheschließungspraxis insgesamt und trug zur Durchsetzung des tridentinischen Ordnungsmodells bei. Als eine besondere Problemlage – die (kirchliche) Bürokratien über das Ende der Inquisition hinaus beschäftigen sollte – stellte sich dabei das nur partielle Wissen über Lebensdaten und -stationen mobiler Männer und Frauen heraus. Das Buch gliedert sich nach einer Einleitung, zugleich erstem Kapitel, welches die Problemstel-

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lung, die zentralen Fragen, den Forschungskontext und die Quellenlage skizziert, in weitere sechs Kapitel, einen Schluss und zwei Anhänge (mit einer Fallgeschichte sowie einer normativen Quelle). Im zweiten Kapitel, „Die Erfindung der Bigamie“, zeichnet die Autorin den Weg der Bigamie zu einem häresieverdächtigen Delikt nach, das damit in die Zuständigkeit der Inquisition fiel. Dabei kam es zu Kompetenzstreitigkeiten mit anderen Tribunalen. Die Autorin verweist auch auf die Bedeutung von Handbüchern, die nicht nur der juristisch-theologischen Ausbildung dienten, sondern ihrerseits auf die Rechtspraxis zurückwirkten. Im dritten Kapitel wird die „Logik des römischen Sant’Ufficio“ aufgerollt, in dem es vor allem um den Prozessverlauf, die Logiken der Rechtsprechung und der Sanktionspraxis geht. Generell wurde die zweite Ehe annulliert; die vielfältigen Umstände, die zur Bigamie geführt hatten – unüberbückbare „Konflikte um Ökonomie, Familie und Sexualität“ (S. 80) – fanden keinerlei Berücksichtigung vor dem Inquisitionstribunal. „Der Weg vor Gericht“ fokussiert im vierten Kapitel u.a. auf die Frage des von Seiten der Kirche – etwa in der Beichte – erzeugten Drucks auf die bigami, auf die verschiedenen Wege, auf denen Anzeigen nach Rom kamen und auf die besondere Bedeutung der Selbstanzeige. Auch in den beiden folgenden Kapiteln stehen die bigami im Mittelpunkt: „Männer, die gehen, Frauen, die bleiben“ setzt sich mit Arbeit und Mobilität von Männern und Frauen, mit den sozialen Kontexten und dem Status von Ehe auseinander. „Die Ehen der bigami “ gibt Einblick in Entfremdung, Konfliktpotenziale, Emotionen und die vielfältigen Strategien, um eine zweite Ehe eingehen zu können (gefälschte Dokumente und Zeugenaussagen, sogar Identitätswechsel). Kim Siebenhüner demonstriert überzeugend, dass Bigamie zumeist die Folge räumlicher Distanz war, nicht umgekehrt. Das siebte Kapitel führt zur Institution der Inquisition zurück und gibt eine Einschätzung ihrer Wirkmächtigkeit als Kontrollinstanz von Ehe und Sexualität. Die Autorin hat sich intensiv mit der italienischen Forschung auseinandergesetzt. Das macht ihr Buch auch zu einem Transfer- und Vermittlungsmedium für im deutschsprachigen Raum wenig präsente und gerade für die Frühneuzeitforschung im katholisch-kirchlichen Kontext grundlegende Arbeiten. Die katholische Welt ist hier jedoch nicht als monolithischer Block gezeichnet – sichtbar werden neben Abgrenzungen zugleich

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B. Siegert: Passagiere und Papiere auch Überschneidungen und Begegnungen und damit eine konfessionelle Vielfalt. Für manche LeserInnen und für den Einsatz in der Lehre mögen die italienisch belassenen Zitate aus dem Quellenmaterial eine kleine Hürde darstellen – wiewohl die Passagen jeweils kommentiert und paraphrasiert werden. Falls dies einer Reihen-Politik geschuldet ist, wäre vielleicht ein Modus überlegenswert, die Übersetzung in den Anmerkungen oder im Anhang mitzuliefern. Der Qualität des Buches von Kim Siebenhüner, die eine schwierige Materie fundiert und gekonnt bewältigt hat und die LeserInnen durch einen spannenden, reflektierten und ergebnisoffenen Forschungsprozess führt, tut dies jedoch keinerlei Abbruch. Sie hat eine exemplarische Studie zur Geschichte der Inquisition als Institution und zur Geschichte der AkteurInnen, die damit konfrontiert waren, vorgelegt. HistLit 2007-4-064 / Margareth Lanzinger über Siebenhüner, Kim: Bigamie und Inquisition in Italien 1600-1750. Römische Inquisition und Indexkongregation. Paderborn 2006. In: H-Soz-u-Kult 22.10.2007.

Siegert, Bernhard: Passagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien und Amerika. München: Wilhelm Fink Verlag 2006. ISBN: 3-7705-4224-X; 176 S. Rezensiert von: Arndt Brendecke, Abteilung Frühe Neuzeit, Historisches Seminar der LudwigMaximilians-Universität München Bernhard Siegert schließt mit seinem Buch ‚Passagiere und Papiere’ an die Anfangskapitel seiner 2003 erschienenen Monographie ‚Passage des Digitalen’ an.1 Während dort das Vorhaben der spanischen Kolonialverwaltung der Frühen Neuzeit im Zentrum stand, ihre Regierung auf ‚vollständige Information’ über die überseeischen Gebiete zu gründen, konzentriert er sich nun auf das Sevilla des 16. Jahrhunderts und die dortige Casa de la Contratación. Diese 1503 gegründete Behörde hatte den gesamten atlantischen Schiffsverkehr, den Handel und die Ströme an Gütern und Menschen zu regulieren. Wenn dabei von der „Erfindung des Passagiers“ (S. 13) die Rede ist, so nicht im Sinne einer Kulturgeschichte des Rei1 Siegert,

Bernhard, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900, Berlin 2003.

2007-4-035 sens, sondern deshalb, weil an den bürokratischen Praktiken der Casa de la Contratación abgelesen werden soll, welche Relation sich zwischen dem „Am-Platz-Sein“ von Dingen und Menschen und dem „Am-Platz-Sein“ von Signifikanten einstellte. Auf der Spur dieser Phänomene greift Siegert Leitfragen Michel Foucaults auf und führt den Leser in einer kulturwissenschaftlichen tour de force zu Vergleichskontexten, Vorgeschichten sowie medialen und sozialen Parallelphänomenen, wie der Armutsbekämpfung, der Geschichte der Sesshaftigkeit, der Entwicklung des Schelmenromans, der Zentralperspektive und der Stadtplanung. Den Ausgangspunkt des ersten Kapitels bildet die Überlegung, dass der Atlantik eine nicht nur räumlich-nautische, sondern eben auch bürokratische Schwelle darstellte. Die Überfahrt war nur Kastiliern altchristlicher Abstammung gestattet. Wer allein reiste, hatten zudem nachzuweisen, dass er unverheiratet war. Dies führte zu komplizierten Versuchen des In-Deckung-Bringens der jeweils eigenen Familien- und Lebensgeschichte mit den normativen Ansprüchen der Krone und damit zur Produktion passfähiger Lebensentwürfe. Diese mussten in der Formelsprache der Verwaltung niedergeschrieben und angemessen beglaubigt werden. Letzteres geschah in der Regel durch Zeugen, so dass sich die bürokratische Objektivierung sozialer Tatbestände auf Ketten subjektiver Wahrheitspostulate zu stützen hatte. Siegert analysiert diese Prozedur zu Recht als eine Urszene des Kontroll- und Aufzeichnungsgebarens staatlicher Instanzen, strapaziert jedoch die Begeisterungsfähigkeit des Lesers im Laufe des Buches mit einer Reihe alter Stereotypen über die spanische Geschichte, mit sprachlichen und historischen Fehlern und einem unbekümmerten Umgang mit der Forschung. So irritiert es beispielsweise, dass Studien zur Demographie und zur atlantischen Migration, die sich ja zentral mit Sesshaftigkeit und Mobilität beschäftigen, nur in Ansätzen und nur bis in die 1970er-Jahre berücksichtigt wurden und solche zur pragmatischen Schriftlichkeit, etwa auch zu den Aufschreibepraktiken in Stadtkommunen, an Pass- und Zollstationen, fehlen. Das zweite Kapitel nützt Siegert, um zu verdeutlichen, dass es neben den eigentlichen Kontrollund Schriftlichkeitsnormen der Casa de la Contratación eine komplexe Praxis und Kultur der Umgehung der Vorschriften, des Spiels mit Beglaubigungen und Identitäten gab, die von einfachen Täuschungsversuchen mit falschen Zeugen vor den

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Frühe Neuzeit Beamten der Casa bis hin in die literarischen Figuren des spanischen Schelmen- bzw. Pícaroromans nachweisbar ist. Ausgerechnet das Leitbeispiel des zweiten Kapitels basiert jedoch auf einem Lesefehler: Nicht „Francesco de Melgar, el moco“ (S. 75) beantragte die Amerikapassage, sondern ein Mann, der statt eines italienischen den spanischen Vornamen „Francisco“ und auch nicht den Beinamen ‚el moco’ (der Popel) trug, sondern den tausendfach zu findenden Zusatz ‚el mozo’ (der Bursche). Die Schreiber kürzten Vornamen ab, schrieben das kleine ‚z’ als Cedilla (ç). Aber „Fran.co de Melgar, el moço“ lässt sich ohne paläographische Kenntnisse auflösen, wenn man die gedruckt und auch online verfügbaren Passagierkataloge konsultiert.2 Siegert entwickelt aus dem Lesefehler ‚el moco’ jedoch eine Geschichte, die den Brückenschlag zum Pícaroroman erlauben soll: ‚El moco’ sei in diesem Fall mit „der Schlingel“ (S. 77) zu übersetzen und Melgar hätte sich „leicht prahlerisch“ (S. 78) selbst so bezeichnet, wodurch einerseits die doppelbödig zwischen Fiktion und Wirklichkeit oszillierende Welt des Registerführens durchschaubar, andererseits der Weg erkennbar werde, den das im Bürokratischen sich einnistende ‚Als-Ob’ auf das Feld des Literarischen, insbesondere des Schelmenromans (‚der Schlingel’!), nahm. Es ist in der Tat von großer Wichtigkeit, die präliterarischen Schreibpraktiken zu rekonstruieren, vor deren Hintergrund etwa der Lazarillo de Tormes entstand. Die jüngere Lazarillo-Forschung diskutiert dabei jedoch eine andere administrative Schreibpraktik der spanischen Kolonialzeit, die die Identitäts- und Biografiefiktionen der frühen Schelmenromane sehr viel plausibler vorwegnimmt als die knappen, von Amtsschreibern vorgenommenen Einträge der Passagierregister, nämlich die ausführlichen, biografischen Leistungs- und Verdienstberichte (relaciones de méritos y servicios), die die Subjekte selbst verfassten.3 2 Catálogo

de pasajeros a Indias durante los siglos XVI, XVII y XVIII, Bd. 3 (1539-1559), Sevilla 1946. 3 Dazu: Folger, Robert, Die Institutionalisierung einer Institution oder wie die Autorität in die Geschichte von Amerika kam, in: Schulze, Winfried; Regn, Gerhard; Oesterreicher, Wulf (Hrsg.), Autorität der Form - Autorisierungen - Institutionelle Autoritäten, Münster 2003, S. 277-291; nun auch: Folger, Robert, The picaresque subject writes: Lazarillo de Tormes, in: Ehland, Christoph; Fajen, Robert (Hrsg.), Das Paradigma des Pikaresken. The Paradigm of the Picaresque, Heidelberg 2007, S. 45-68; zur Bürokratie als Kontext auch: Rutherford, John, Breve historia del pícaro preliterario, Vigo 2001.

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Die Grundfrage nach den Motiven der Registrierung und Reglementierung reisender Menschen vertieft Siegert im dritten Kapitel, das sich mit der Idealisierung des sesshaften Menschen und der Angst vor seinem mobilen Gegenüber, dem Vagabunden, beschäftigt. Spannend ist dabei der Abschnitt über die Maßnahmen, die sich in den oberitalienischen Handelszentren des Quattrocento zur Bekämpfung von Pestepedimien ausbildeten (Quarantänen, Gesundheitsbescheinigungen, Listenführung) und Aufenthaltsorte von Bevölkerungsgruppen zu einem politisch-administrativen Projekt machten. Die spätmittelalterliche Bettlerkritik richtet sich jedoch nicht gegen „mendicantes invalidi“, wie Siegert darlegt (S. 109), sondern gegen die „mendicantes validi“, denn diese sind die ‚falschen Bettler’, die betteln, obwohl sie arbeitsfähig sind. In einer abschließenden Betrachtung der kolonialen, rasterförmigen Stadtanlagen wird verdeutlicht, wie sich das Fixieren von Menschen im Raum in einem urbanen Rasterformat mit klaren Adressen manifestierte. Ob die in den Stadtplänen aufzeigbare Trennung von Daten und Adressen „zum ersten Mal ein Speichermodell [realisiert], wie man es heute von den Arbeitsspeichern unserer Computer her kennt“ (S. 150) lässt sich diskutieren. Diese These verweist aber nebenbei auf eine gewisse Teleologie der Darstellung, die Fragen nach der spezifischen Heuristik und Methodik des hier gepflegten Ansatzes aufwirft. So ist die Konzentration auf Prozesse und Verfahren des Aufschreibens ein ohne Zweifel sinnvoller Ansatz, ja einer der Schlüssel zur Analyse und Dekonstruktion der Moderne. Siegert neigt jedoch dazu, die von ihm dargestellten historischen Schreibakte und Maßnahmen mit einer Sprache vor Augen zu führen, die den Gegenstand entfremdet, exotisiert und Fragen nach der spezifischen Ratio dieser Zeit und ihrer Praktiken kaum mehr zulässt. Dass etwa dem Registerbuch der Casa ein Schreiben Philipps II. vorangestellt wurde, in dem dieser vor falschen Zeugen warnt, ist nach Siegert für die inszenierte Objektivität ihrer Registereinträge ein „Prankenschlag ihrer Nichtigkeit“ und ein Indiz, dass der König „den Worten seines eigenen Zweitkörpers nicht mehr“ glaubt (S. 75f.). Kann man es aber nicht als Ausweis dafür verstehen, dass zeitgenössisch die Grenzen und Gefährdungen dieser Verfahren reflektiert und sehr genau verstanden wurden, es also die Versessenheit auf schriftliche Objektivierung zwar gab, aber

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G. Stedmann u.a. (Hrsg.): Höfe - Salons - Akademien nur innerhalb eines spezifischen administrativen Diskurses? Insgesamt wird so gewissermaßen niemals die spanische Bürokratie erklärt, sondern permanent die Moderne. Dies birgt die Gefahr, ein im Grunde zutiefst modernes Geschäft weiterzubetreiben, nämlich die Gegenwart im Spiegel entfremdeter Vergangenheitspraktiken zu bestätigen. Auch wird Foucaults Interesse an einem komplexeren Machtbegriff dadurch unterlaufen, dass hier ‚Macht’ beinahe vollständig auf den Vorgang des Aufschreibens reduziert und das Funktionsspektrum des Aufschreibens unnötig eng gehalten wird, indem staatlich-administrative Schriftlichkeit unter dem steten Verdacht und in der Metaphorik biopolitischer Absichten betrachtet werden. Sich für die Überfahrt registrieren zu lassen, heißt demnach, „für einen kurzen Moment gezwungen“ zu sein, „in den Lichtkegel der Macht zu treten“ – also aufgeschrieben zu werden –, und dann „für immer im Dunkel“ zu verschwinden (S. 24). Das Leseerlebnis ist zutiefst ambivalent. Siegert operiert mit einem sicheren Gespür für interessante historische Phänomene und verknüpft sie zu einer Erzählung über bürokratische Obsessionen der Moderne. Er arbeitet an dem Versuch einer transdisziplinären Synthese auf hohem Niveau, leistet aber den Rückbezug zum historischen Gegenstand und dem Forschungsstand der sachlich betroffenen Fachdisziplinen nicht mit ausreichender Verlässlichkeit. Sprachlich verfällt er, offenbar von keinem Lektorat und Kollegen unterstützt, immer wieder in Italianismen und Halb-Italianismen (ponte, visitá, Francesco und Francesca), setzt das Betonungszeichen der Tilde nach Belieben und schreibt die Namen der Personen so, wie sie in den Quellen auf den ersten Blick zu stehen scheinen. Antonio de Eraso, Philipps II. Sekretär, heißt so bei ihm „de Crasso“ (S. 55). HistLit 2007-4-035 / Arndt Brendecke über Siegert, Bernhard: Passagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien und Amerika. München 2006. In: H-Soz-u-Kult 11.10.2007.

Stedman, Gesa; Zimmermann, Margarete (Hrsg.): Höfe - Salons - Akademien. Kulturtransfer und Gender im Europa der Frühen Neuzeit. Hildesheim: Georg Olms Verlag - Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 2007. ISBN: 978-3-478-132686; 372 S.

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Rezensiert von: Christiane Coester, Deutsches Historisches Institut Paris Den Umschlag des vorliegenden Sammelbandes ziert ein Ausschnitt aus einem Gemälde, das dem französischen Maler Louis-Michel Dumesnil zugeschrieben, aber mit wechselnden Titeln bezeichnet wird: „Königin Christina von Schweden im Kreise berühmter Gelehrter und Zeitgenossen“ oder auch „Christina von Schweden diskutiert mit Descartes in Anwesenheit des Grand Condé“. Es handelt sich um ein „Wissenschaftsbild“, das auf verschiedenen Bedeutungsebenen sowohl den Paradigmenstreit der Anhänger Descartes’, Pascals und Leibniz’ gegen den Aristotelismus als auch die wissenschaftlich-geselligen Zirkel des 17. Jahrhunderts thematisiert, in denen Angehörige des Adels, des Klerus und des Bürgertums aus ganz Europa, Männer wie Frauen – neben Christina von Schweden ist Elisabeth von Böhmen abgebildet – der Vorführung physikalischer Experimente folgten und gelehrte Konversation betrieben. Auch wenn dies nie in der im Bild dargestellten Konstellation geschah, lassen sich anhand dieses Gemäldes daher die Motive und Fragestellungen des Sammelbandes thematisieren. Dabei nimmt der Aufsatz „Christina von Schweden, der Grand Condé und die Revolution der Wissenschaften im 17. Jahrhundert“ von Otto Gerhard Oexle eine Schlüsselstellung ein, der sich einerseits intensiv mit den verschiedenen Aussagen des Bildes befasst, die dargestellten Personen und Tätigkeiten identifiziert und die Beziehungen zwischen den Personen sowie die Bedeutung der physikalischen Experimente und wissenschaftlichen Diskussionen behandelt, andererseits aber sein Augenmerk immer auf den beiden Hauptaspekten des Sammelbandes richtet: Kulturtransfer und Gender. Dem Zusammenhang von Kulturtransfer und Gender ist von der Frühneuzeitforschung bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Auf der einen Seite geraten zwar in vielen Untersuchungen zu Fürstinnen, Hofdamen oder gelehrten Frauen Aspekte des Kulturtransfers in den Blick, beispielsweise wenn es um Brautfahrten oder Korrespondenzen geht, doch wird das Konzept des Kulturtransfers kaum explizit thematisiert. Auf der anderen Seite steht in Publikationen, die sich mit Fragen des Kulturtransfers befassen, der Genderaspekt nur selten im Mittelpunkt. Dagegen stellt dieser Band, der aus einer Tagung über „Reale und symbolische Räume des Kulturtransfers“ her-

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Frühe Neuzeit vorging, die 2003 am damals noch an der Technischen Universität angesiedelten Berliner Frankreichzentrum stattfand, für die Geschichts- wie für die Literaturwissenschaften einen wichtigen Anstoß dar. Die Herausgeberinnen betonen, dass sich der Band als „Anregung zum Weiterdenken“ darüber versteht, „wie ein produktiver Forschungsansatz wie die Transferforschung sich von der vermeintlichen Geschlechterneutralität lösen und zu neuen Erkenntnissen gelangen kann“ (S. 15). In 16 zumeist deutschsprachigen, aber auch italienischen und französischen Aufsätzen, deren Autorinnen und Autoren unterschiedlichen Fächern und Forschungskontexten angehören, werden die Beziehungen zwischen Kulturtransfer und Gender anhand verschiedener realer und symbolischer Orte untersucht: Höfe, Salons, Akademien, Klöster und Texte. Der Vorzug des Sammelbandes liegt in der beeindruckenden Vielzahl und Mannigfaltigkeit der behandelten Themen. Die Beiträge widmen sich nicht nur dem Kulturtransfer an den im Untertitel genannten Orten – es geht auch um Reisen und Mode, um Übersetzungen, Kommentierungen und Vermittlungen wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Frauen und Männer auf der Basis französischer, italienischer, spanischer, portugiesischer, deutscher, englischer und lateinischer Quellen vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen die diversen Aspekte kultureller Austauschbeziehungen, die Traditionen weiblicher Kulturvermittlung, die wechselseitige Befruchtung von Texten und immer wieder die Frage nach Rezeption, Akkulturation und Aneignung des vermittelten Wissens im Empfängerkontext. Da den meisten Beiträgen ein dezidiert theoretischer Ansatz zugrunde liegt, wird das Konzept des Kulturtransfers dabei einer grundsätzlichen Revision unterzogen. Im Folgenden wird eine Auswahl an Aufsätzen aus dem Sammelband vorgestellt. Mit Salon, Akademie und Kloster als reale und symbolische Räume des Kulturtransfers setzen sich Margarete Zimmermann („Kulturtransfer in Salons des 16. Jahrhunderts“), Tatiana Crivelli („L’Arcadia femminile: spazi reali e simbiloci di un’ interazione culturale“) und Renate Kroll („Beschriebenes Leben als Ort des Kulturtransfers: Baudonivia, Marie de Chatteris und die Salondamen des 17. Jahrhunderts“) auseinander. Anhand verschiedener Beispiele von Salons in und um Paris, in Poitiers und am Hof von Nancy zeigt Mar-

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garete Zimmermann, dass Salons aufgrund ihrer geographischen Vernetzung und der hohen Durchlässigkeit der verschiedenen Soziotope als Zentren des Kulturtransfers fungierten, an denen nicht nur innovative literarische Strömungen gefördert sondern auch neue weibliche Rollenmuster wie der Habitus der humanistischen „sçavante“ von italienischen und spanischen Vorbildern übernommen und in die französischen Salons des 17. Jahrhunderts weitervermittelt wurden. Tatiana Crivelli sieht in der Akademie der Arkadier nicht nur einen realen Ort, der Frauen die Möglichkeit zur Darstellung ihrer Talente, zur Publikation ihrer Werke und zur Kontaktaufnahme mit anderen gelehrten oder künstlerisch tätigen Männern und Frauen bot, sondern auch einen symbolischen Raum, in dem Frauen aus der passiven Rolle der Muse in die aktive der wissenschaftlich tätigen Protagonistin wechseln, sich eine eigene, weibliche Tradition schaffen und mit unterschiedlichen Modellen von Abhängigkeit und Autonomie experimentieren konnten. Renate Kroll vergleicht von Männern verfasste Heiligenviten mit Fortführungen und Nacherzählungen durch Frauen und zeigt dabei, wie die Nonnen durch ihre Texte eine eigene Kultur entwickelten, diese pflegten und verbreiteten und auf diese Weise das mittelalterliche Frauenkloster zu einem sowohl realen als auch symbolischen Ort weiblicher Kulturvermittlung werden ließen. Mit Religion, Wissenschaft und Mode als Bereiche weiblichen Kulturtransfers beschäftigen sich die Beiträge von Andrea Grewe („Margarete von Navarra und der Hof von Nérac“), Ursula Winter („Émilie Du Châtelet und der Transfer naturwissenschaftlicher und philosophischer Paradigmen innerhalb der europäischen Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts“) und Gertrud Lehnert („Mode als Medium des Kulturtransfers im 18. Jahrhundert“). Andrea Grewe setzt sich mit der Frage auseinander, ob und auf welche Weise die aktive Rolle der Königin von Navarra bei der Vermittlung evangelischer Ideen zu einem tief greifenden kulturellen Wandel beitragen konnte. Die Autorin zeigt, wie der von Margarete von Navarra geleistete Kulturtransfer den Bedürfnissen und Interessen von Frauen entgegenkam und somit zur Schaffung eines spezifisch weiblichen Kulturraums beitrug. Ursula Winter beschreibt, wie die Übertragungen und Kommentierungen der Werke Newtons und Leibniz’ durch Émilie du Châtelet nicht nur bereits akzeptierte Kulturgüter vermittelten, sondern grundlegende Neuerungen in das natur-

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A. Strohmeyer: Konfessionskonflikt und Herrschaftsordnung philosophische Denken ihrer Zeit einführten und somit zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel im 18. Jahrhundert beitrugen. Gertrud Lehnert beschäftigt sich mit Mode als einem Ort, an dem (bürgerliche) Werte und Normen verhandelt werden. Anhand von Modezeitschriften und bildlichen Darstellungen zeigt die Autorin, wie über Mode, die mithin mehr bedeutet als Kleidung und Accessoires, kulturelle Identität in Deutschland entstand, und zwar in Auseinandersetzung mit den französischen Vorbildern, die rezipiert, selektiert, umgearbeitet oder abgelehnt wurden. Der Fokus der Beiträge von Roswitha Böhm („Reise, Kulturtransfer und Gender in MarieCatherine d’Aulnoys Reiseberichten aus Spanien“) und Bernhard Struck („Reise und Kulturtransfer. Möglichkeiten und Grenzen eines Forschungskonzeptes“) richtet sich auf die Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich der Anverwandlung und Aneignung des Wissens über die Kultur des Reiselandes im Empfängerkontext, wobei beide Texte zu eher ernüchternden Ergebnisse kommen. Während Roswitha Böhm auf die engen Grenzen hinweist, die der Bearbeitung derartiger Fragestellungen durch die prekäre Quellenlage gesetzt sind, bemerkt Bernhard Struck, dass kaum zu ermitteln sei, auf welcher individuellen und gesellschaftlichen Ebene das Wissen über die Kultur des Reiselandes gewirkt hat. Ungeachtet dieser kritischen Schlussfolgerungen präsentieren beide Aufsätze jedoch aufschlussreiche Fallbeispiele, anhand derer die Autoren Erkenntnisse über die Darstellung von Fremd- und Eigenbildern in Reiseberichten oder die Käuferschaft von Reisebeschreibungen diskutieren. Diese Auswahl zeigt, wie vielschichtig die Fragestellungen, Ansätze und Ergebnisse der Beiträge des Sammelbandes sind, welche die Transferforschung mit innovativen Aspekten konfrontiert und ihr neue Impulse zum Weiterdenken vermittelt, so dass sich bewahrheitet, was die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung postulieren: „Fast alle in der Transferforschung gängigen Kategorien werden erheblich geschärft, wenn man sie mit einer Geschlechterperspektive verbindet“ (S. 13f.). HistLit 2007-4-135 / Christiane Coester über Stedman, Gesa; Zimmermann, Margarete (Hrsg.): Höfe - Salons - Akademien. Kulturtransfer und Gender im Europa der Frühen Neuzeit. Hildesheim 2007. In: H-Soz-u-Kult 16.11.2007.

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Strohmeyer, Arno: Konfessionskonflikt und Herrschaftsordnung. Das Widerstandsrecht bei den österreichischen Ständen (1550-1650). Mainz: Philipp von Zabern Verlag 2006. ISBN: 3-80533570-9; X, 561 S. Rezensiert von: Martin Scheutz, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien Die Ständeforschung, wiewohl wichtiges Thema der vormodernen Verfassungsentwicklung und Staatswerdung, stellt kein häufig begangenes, wenn auch in letzter Zeit vermehrt beackertes Thema der österreichischen Geschichte dar.1 Der Autor, jüngst berufener Fachvertreter für die Geschichte der Neuzeit an der Universität Salzburg, nimmt die Widerstandspraxis und -sprache der ober- und niederösterreichischen Landstände am Beispiel mehrerer Huldigungen bzw. der langwierigen Huldigungsverhandlungen (1577/78/79, 1608/09, 1619/20 und in weiterer Folge bis 1652) in den Blick. Besonders die in den Verhandlungen sichtbar gewordenen Denkfiguren und Ordnungsvorstellungen, aber auch der nach 1600 spürbare Verfassungswandel werden dabei in einem klug konzipierten Aufbau vorgeführt. Die österreichische Forschung sah die Stände und den „absolutistisch“ werdenden Staat in der Zeit um das endende 16. und beginnende 17. Jahrhundert lange Zeit durch die monochrome Brille der richtungweisenden Biographie Hans Sturmbergers über Georg Erasmus von Tschernembl und dessen calvinistischer Widerstandslehre: Überspitzt formuliert tat sich – forschungsgeschichtlich mittlerweile überholt – ein deutlicher Gegensatz von „leidendem“ protestantischen Gehorsam und calvinistischem Monarchomachentum auf, wobei den niederösterreichischen Ständen angesichts der biographischen Zuspitzung auf Tschernembl zu Unrecht eine theoretisch überhöhte Widerstandskonzeption weitgehend abgesprochen wurde. Das staatsbildende Potenzial der österreichischen Stände wurde zwar auch von der älteren Forschung erkannt und betont, aber mangels neuerer Editionen und fehlender Grundlagen1 Ammerer, Gerhard; Godsey, William D. Jr.; Scheutz, Martin;

Urbanitsch, Peter; Weiß, Alfred Stefan (Hrsg.), Bündnispartner und Konkurrenten der Landesfürsten? Die Stände in der Habsburgermonarchie (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 49), Wien 2007; Mata, Petr; Winkelbauer, Thomas (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1620 bis 1740. Leistungen und Grenzen des Absolutismusparadigmas (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 24), Stuttgart 2006.

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Frühe Neuzeit forschung durch das Dickicht der Biblschen Publikationen lediglich verschwommen wahrgenommen und kaum komparatistisch untersucht. Vor allem der Verfassungswandel, also die inhaltliche Dynamik der Verfassungsentwicklung und die Veränderung der adelig-ständischen Widerstandspraxis, stellt ein zentrales Thema der Arbeit Strohmeyers dar. Gestützt auf das Sprachkonzept von Quentin Skinner und John G. A. Pocock werden erstmals die heute in der Wiener Erzbischöflichen Bibliothek verwahrten „Religionsbücher der Stände des Landes ob der Enns“ im Sinne einer intellectual history untersucht. Die Untersuchung der Widerstandspraxis zwischen 1550 und 1650 (etwa die sich verändernde symbolische Bedeutung des Kniefalls als ständisches Widerstandsmittel) bildet den zweiten Teil. Beginnend mit dem Herrschaftsantritt Rudolfs II. und den mühseligen Huldigungsverhandlungen mit den niederund oberösterreichischen Ständen wird bei jeder der vier Huldigungsphasen die Widerstandssprache im Hinblick auf Vertragsdenken, „altes Herkommen“, Gemeinwesen im Sinne einer patriarchalen Familie und Gewissensfreiheit untersucht. Die Handlungsfähigkeit der ober- und niederösterreichischen Stände stieg mit dem zunehmenden Grad der über die Landesgrenzen hinausgreifenden innerständischen Vernetzung und erreichte ihren Höhepunkt mit der „Confoederatio Bohemica“ 1619/20, wobei erstmals das Verfassungsmodell der seit 1620 in Retz angesiedelten aufständischen niederösterreichischen Stände stärker Berücksichtigung findet. Die von den Ständen praktizierte „historische Alchemie“ instrumentalisierte Vorgänge der Vergangenheit für die Gegenwart: Waren anfänglich noch 40 und mehr Jahre für das amorphe „alte Herkommen“ ausreichend, so langten schließlich zehn oder weniger Jahre, um Handlungen durch Verweise auf Vergangenheit zu legitimieren. Die Stände selbst stellten weitreichende, bis Nero oder auf die österreichischen Freiheitsbriefe zurückreichende historische Betrachtungen an, um ihre Sichtweise zu untermauern und eine verfassungsrechtliche „Erinnerungsautorität“ zu erlangen. Die Debatten zu Beginn des 17. Jahrhunderts lesen sich aus heutiger Perspektive weniger als bipolare Auseinandersetzung zwischen den Ständen und dem Landesfürsten, sondern waren vielmehr stärker von der richtigen Interpretation einer Herrschaftsordnung als von der Konfrontation zweier rivalisierender und einander ausschließender Staatsmodelle bestimmt.

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Das vom Autor erarbeitete „Vokabular“ der Widerstandssprache schneidet Themen wie die Legitimation des Landesfürsten durch Erbrecht und Huldigung, die Bedeutung der kontraktuellen Vereinbarungen, das Interregnum, die Landtagsbewilligungen und die Eigenständigkeit der Stände gegenüber dem Landesfürsten an. Eine schleichende inhaltliche Transformation (eine interpretative Ausdehnung des „alten Herkommens“) lässt sich besonders nach 1608/09 in den Verhandlungen zwischen Landesfürst und Ständen beobachten. Begriffe wie „Gegentreue“ und „Gegenpflicht“ fanden auf dem Weg einer Verschriftlichung des Herrschaftsvertrages durch die Kapitulationsresolution verstärkt Eingang in die ständische Argumentation. Zugleich begann sich der Diskurs der landesfürstlich-katholischen und der ständisch-protestantischen Partei zunehmend semantisch und inhaltlich zu differenzieren, die konfessionellen Fragestellungen wurden nach dem späten Einsetzen der Rekatholisierung mit der ständischen Libertät amalgamiert, das „göttliche Recht“ spielte dabei insgesamt eine geringe Rolle. Nach der Schlacht am Weißen Berg trat durch die „Zähmung“ des alten Herkommens infolge seiner zunehmenden inhaltlichen Präzisierung, durch die Festigung des Erbrechts, den auch in den Symbolen sichtbar werdenden Funktionswandel der Huldigung und die Zunahme der in historischen Werken fixierten Erinnerungsautorität des Landesfürsten eine Verringerung der davor offen und konfliktreich ausgehandelten Verfassungskomplexität ein. Neben dem Rechte und Pflichten festlegenden Vertragsdenken und dem auf Gewohnheitsrecht basierenden alten Herkommen spielte auch das Gemeinwesen, ausgedrückt in der Metapher des Körpers eine gewisse Rolle – Landesfürst und Stände waren Teil dieses geschlechtsunspezifischen Körpers (Kopf und Glieder). Eine elastische und auf konkrete verfassungsgeschichtliche Probleme bezogene Verschränkung von „alt“ und „neu“, etwa die Präzisierung des alten Herkommens, bestimmte die landesfürstliche Position nach 1620. Der von Rudolf II. als Provokation empfundene Kniefall der oberösterreichischen Stände 1578 wandelt sich symbolgeschichtlich im 17. Jahrhundert zu einer Geste der Unterwerfung. Der Funktionswandel der widerstandsrechtlich entschärften Huldigungen lässt sich an diesem Beispiel gut exemplifizieren. Die bislang prägende Vertragstheorie „rann“ nun langsam aus. Ein großes Verdienst des vorliegenden Buches

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P. Vogt (Hrsg.): Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus ist die Hinterfragung vieler, vor allem durch die Arbeiten von Hans Sturmberger gängig gewordener Erkenntnisse, die auf die selektive Wahrnehmung Sturmbergers und dessen wissenschaftsgeschichtlichen Werdegang zurückzuführen sind. Das prägnante Fazit Strohmeyers lautet: „Von einer den Lutheranen inhärenten Neigung zu Unterordnung und Gehorsam kann keine Rede sein.“ (S. 452) Die vorliegende, an der Universität Bonn als Habilitation approbierte Arbeit beeindruckt durch einen analytischen, kulturwissenschaftlichen Zugang, durch die Verbindung von Ideen- und Verfassungsgeschichte sowie durch das konsequent verfolgte Frageschema, mit dem ständisches Handeln und die Aushandlungsprozesse zwischen den Positionen des Landesfürsten und denen der Stände in den Mittelpunkt rückt. Immer wieder argumentiert diese im letzten Teil etwas redundante Studie auch wissenschaftsgeschichtlich, indem sie die Zeitgebundenheit der Werke der älteren Stände- und Konfessionsforschung forschungsgeschichtlich dekonstruiert (etwa den Einfluss von Hans Baron auf die Konzeption des calvinistischen Widerstands). Zudem werden die ober- und niederösterreichischen Stände im europäischen Kontext (etwa Vergleiche mit Spanien, den Niederlanden und Schottland) untersucht. Kein Zweifel, die vorliegende Beschreibung der lange Zeit ergebnisoffenen Formierungsphase einer modernen Gesellschaft in den österreichischen Erbländern ist ein Standardwerk für die österreichische und europäische Ständegeschichte der Neuzeit. HistLit 2007-4-001 / Martin Scheutz über Strohmeyer, Arno: Konfessionskonflikt und Herrschaftsordnung. Das Widerstandsrecht bei den österreichischen Ständen (1550-1650). Mainz 2006. In: HSoz-u-Kult 01.10.2007.

Vogt, Peter (Hrsg.): Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus. Texte zur Stellung des Pietismus zum Judentum. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. ISBN: 978-3374024568; 128 S. Rezensiert von: Hedwig Richter, Universität zu Köln Im Jahr 1716 sorgten zwei Pietisten vor der Prager Synagoge für einen „großen Zulauf der Juden“ und „Gedräncke des Volks“. Sie erzählten den Herbeigelaufenen „wie sie der Herr [. . . ] wiederum zu

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seinem Volck und Eigenthum annehmen werde“, worauf die Juden in Tränen ausbrachen. „Wir empfunden eine grosse Liebe zu ihnen allen, und sie bezeugten deßgleichen“, wie sich einer der beiden Pietisten später erinnerte (S. 71-73). Außer diesem „Bericht über einen Besuch bei den Juden in Prag“ hat der Theologe Peter Vogt in der vorliegenden Anthologie zwölf weitere Texte herausgegeben, in denen sich Pietisten mit dem Judentum auseinander setzen. In Visionen, gelehrten Abhandlungen, Predigten, Liedern und Aufrufen aus der Zeit von 1693 bis 1764 entfaltet sich ein faszinierendes, weites Panorama nicht nur des Pietismus. Die Texte spiegeln auch die Sicht der Autoren auf den jüdischen Glauben, die soziale Lage der Juden und den vorherrschenden Antijudaismus der Zeitgenossen. Damit ist das Buch nicht nur für Pietismusforscher interessant, sondern für Historiker, Philosophen und Antisemitismusforscher im Allgemeinen. Der Sammelband ist von Peter Vogt mit einem knappen, aber aussagekräftigen Kommentar zu jedem Text und Autor versehen. In einem Nachwort, das etwas ausführlicher hätte sein können, fasst der Herausgeber zentrale Aspekte der Beziehung zwischen Juden und Pietisten zusammen und ordnet sie in die Barockzeit ein. Die Literaturangaben in Nachwort und Kommentar ergeben zusammen eine kleine Bibliographie der wichtigsten Arbeiten über das Thema. Der Pietismus war durch einen vielschichtigen Philosemitismus geprägt. In den Texten, deren Autoren aus unterschiedlichen Schichten und pietistischen Richtungen kommen, werden die Gründe dafür deutlich: Pietisten sahen dank ihres wörtlichen Bibelverständnisses (anders als viele zeitgenössische Theologen) die Juden nach wie vor als das auserwählte Volk. Deshalb, so mahnten die Pietisten, dürften auch die Versprechungen der Bibel für das Volk Israel (seine Errettung, Gottes andauernde Liebe, das verheißene Land usw.) nicht symbolisch auf die Kirche übertragen, sondern müssten nach wie vor den Juden zugesprochen werden (S. 16, 22-24, 76, 84 et passim). Eine zweite Motivation für diesen Philosemitismus war die endzeitliche Ausrichtung des Pietismus. Pietisten lasen im Neuen Testament die Verheißung, dass vor Jesu Wiederkunft die Juden bekehrt und errettet werden würden (z.B. S. 5-19). Daher kam die Verpflichtung des Pietismus zur Judenmission. Ein Großteil der Texte dreht sich denn auch darum, wie „das Werck der Bekehrung der Juden“ zu vollbringen sei (Johann Wilhelm Petersen, S. 22).

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Frühe Neuzeit Dabei zeigen sich beide Seiten des christlichen Bekehrungseifers: einerseits die Unfähigkeit, dem anderen ohne vorgefasste Meinung gegenüber zu treten; andererseits aber das universelle und egalitäre Angebot des Evangeliums, das durch keine Rasseoder Staatsgrenzen eingeschränkt werden dürfe. Die einen empfehlen als den besten Weg zur Judenbekehrung den intellektuellen Disput (wie der Orientalist Johann Heinrich Callenberg, S. 54-60); die anderen mahnen, sich darauf nicht einzulassen und stattdessen allein „Jesum, den Gekreuzigten“ zu verkündigen (Samuel Lieberkühn, S. 83); Philipp Jacob Spener, der Begründer des lutherischen Pietismus, sieht eine Ursache für den Unglauben der Juden in ihren prekären sozialen Verhältnissen und will diese bessern (S. 39-43); das pietistische Halle an der Saale eröffnet ein „Institutum Judaicum et Muhammedicum“ für orientalische Sprachen, das Traktate in jiddischer Sprache veröffentlicht (S. 103); Nikolaus Ludwig von Zinzendorf will die Juden emotional überzeugen („Sie müssen im Herzen fühlen“, S. 69). Einig sind sich die Pietisten darin, dass Judenmission ohne jeden Zwang geschehen müsse (S. 46, 85). Viele der Autoren sehen in den Christen selbst den Hauptgrund für die verbreitete Ablehnung des christlichen Glaubens durch die Juden (S. 36, 46, 85f. et passim). Wobei typisch pietistisch unterschieden wird zwischen den wahrhaften Christen und den Christen, die „in großen Verfall gerathen“ und keine echten Gläubigen seien (S. 85). So beschreibt Zinzendorf ironisch das Interesse der „anderen Christen“ an den Juden: „sie schimpfen und lästern, geniessen und brauchen sie [die Juden] mehr als wir“. Die Gläubigen aber, weil sie die Bibel ernst nähmen und darin die Errettung der Juden prophezeit sei, bekümmerten sich in Liebe um die Juden (S. 66f.). Auch Spener attackiert den Antijudaismus, wie er ihn in Frankfurt am Main als Senior der städtischen Geistlichkeit erlebte: „wie dann leider einige es eher vor ein gutes werck, und zeugnus ihrer liebe zu Christo Jesu, achten, als sich darüber sünde fürchten, da sie einem juden leid zufügen, ihn übervortheilen, betriegen, in schaden bringen, oder sonst ihm anderes unrecht anthun“, so dass die Juden „offt kaum sicher und ohne ungemach auf der strasse gehen“ können. Der Prediger ermahnt seine Kollegen, dieses Verhalten den Gläubigen streng zu verbieten (S. 41). Die 13 Texte zeigen jedoch, dass sich das Verhältnis zu den Juden nicht in Missionsbemühungen erschöpft, wie der Titel „Zwischen Bekehrungsei-

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fer und Philosemitismus“ nahe legt. So setzt sich Spener mit der sozialen Situation der Juden auseinander. Dabei klingen nicht nur bei ihm antisemitische Stereotype an (vgl. S. 17, 20f.). Er greift auch den Vorwurf auf, die Juden gingen oft keiner regelrechten Arbeit nach, erklärt dann aber: „Das theils ohne ihre schuld geschiehet, indem sie eignes land zu bauen nicht haben, auch an meisten orten zu handwerckern, sie zu lernen oder zu treiben, nicht gelassen werden“ (S. 39). Ein erster Schritt zur Judenmission sei daher, ihnen all das zu erlauben. Doch würden sich die Fürsten leider kaum auf dieses Vorgehen einigen (S. 40). Dominierend ist in den Texten das Mitleid mit den „arme[n] Juden“ (S. 34) oder dem „arme[n] Volk“ (S. 86). Besonders interessant ist der intellektuelle Austausch. Meist sprechen die Pietisten dabei mit Hochachtung von den jüdischen Gelehrten, und nur selten kommt es wie bei dem radikalen Pietisten Horch zu antijüdischen Ausfällen: „Hier hab ich das Glück auff einem Judischen Misthauffen eine Perle zu finden, dann so schreibet Rabbi Laniado über die Worte des Propheten: [. . . ]“ (S. 17). Zwar müssen sich radikale Pietisten gegen den Vorwurf einer Nähe zu angeblich jüdischen Dogmen wehren (S. 20-22), doch ziehen die Gelehrten häufig Rabbiner für ihre Argumentation heran, tauschen sich mit ihnen aus und interessieren sich für die jüdische Exegese (S. 17, 21, 72f. et passim). Um dem Urtext der Bibel nahe zu sein, erlernten Pietisten das Hebräische; Oetinger studierte die Kabbala. Ein pietistisches Gesangbuch enthielt eine Kantate, die durchsetzt war mit hebräischen Wörtern (S. 63-66). Die vielschichtigen Texte zeigen einmal mehr, wie notwendig es ist, die Pietismusforschung über das 17. und 18. Jahrhundert hinaus auszudehnen und die langen Entwicklungslinien zu untersuchen. Das könnte Einblick in ein wichtiges Kapitel der Beziehungen zwischen deutschem Protestantismus und Judentum geben. Bezeichnender Weise liegt noch immer keine Arbeit über den Pietismus in der NS-Zeit vor. Die Anthologie, die wie die anderen Bände in der Reihe „Kleine Texte des Pietismus“ ein sehr ansprechendes Layout hat, ist ein kleines, günstiges, aber feines Buch, das nicht nur für Kenner interessant ist, sondern auch einen ersten Einblick in die Materie gewährt. HistLit 2007-4-214 / Hedwig Richter über Vogt, Peter (Hrsg.): Zwischen Bekehrungseifer und Phi-

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P. Vogt (Hrsg.): Zwischen Bekehrungseifer und Philosemitismus

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losemitismus. Texte zur Stellung des Pietismus zum Judentum. Leipzig 2007. In: H-Soz-u-Kult 13.12.2007.

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