ZEITSCHRIFT FOR

HISTORISCHE FORSCHUNG Herausgegeben von Johannes Kunisch, Klaus Luig Peter Moraw

21. Band

DUNCKER

1994

& HUMBLOT

/ BERLIN

REFORMERODER REVOLUTIONÄRE? DEUTSCHER UND ITALIENISCHER JAKOBINISMUS . IM VERGLEICH Von Volker Reinhardt, Fribourg Hat es außerhalb Frankreichs im Europa der Jahre 1792 - 99 eine ideologisch zum einen den französischen Protagonisten der Jahre 1793/94 so nahestehende und zum anderen in ihren theoretischen Grundpositionen so gefestigte Gruppe von Denkern und Praktikern der Revolution gegeben, daß man ihr ohne Bedenken den Terminus "Jakobiner" verleihen kann? Die reine Quantität von Textsammlungen und (bei näherem Zusehen freilich mehr oder weniger) wissenschaftlicher Sekundärliteratur scheint geeignet, alle Reserven gegen den historiographischen Topos des mittel- und südeuropäischen Jakobinismus! fortzuschwemmen. Verläßt man sich auf ihren Grundtenor, so existierte auch außerhalb der Grande Nation eine europäische revolutionär-republikanisch-demokratisch gesonnene Avantgarde, die durch ihre Volksnähe dazu berufen war, im Bündnis mit den unteren Volksschichten, deren politische und soziale Emanzipation im hie et nunc sie anstrebte, den Staat des Ancien Regime auszuhebeln und auf eine neue, radikal egalitäre Basis nach französischem Vorbild zu stellen. In mancher Hinsicht verrät diese eher Jakobinismus-apologetische denn Jakobinismus-definierende Literatur freilich mehr über die Zeitumstände, in denen sie entstand, als über die, von denen sie handelt: in den beiden Deutschlands der 1960er und -70er Jahre wurde eifrig nach Ahnengestalten und Vorläufern gesucht, die geeignet schienen, das parlamentarisch-demokratische bzw. angeblich volksdemokratisch-realsozialistische System gewissermaßen qua Anciennität zu legitimieren'[. So ist es nicht ohne tiefere Bedeutung, daß die 1 An solchen, überwiegend auf die hier umrissenen Stereotypen abhebenden übergreifenden Definitionsversuchen sind zu nennen: Waiter Grab, Zur Definition des mitteleuropäischen Jakobinismus, in: Otto Büsch/Walter Grab (Hrsg.), Die demokratische Bewegung in Mitteleuropa im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert. Ein Tagungsbericht, Berlin 1980, 3 - 22; Helmut Reinalter, Der Jakobinismus in Mitteleuropa. Eine Einführung, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1981; tiers. (Hrsg.), Jakobiner in Mitteleuropa, Innsbruck 1977. 2 Diese Tendenz ist für die ehemalige DDR vor allem an den Arbeiten Heinrich Scheels und seiner Schule, auf bundesrepublikanischer Seite an den zahlreichen, inhaltlich monotonen Veröffentlichungen von WaIter Grab und Nachfolgern festzumachen. Vgl. dazu vor allem Heinrich Scheel, Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden Ende des 18. Jahr-

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jeweilige Jakobinismus-Forschung in Deutschland, pauschal gesprochen, in den letzten 10 Jahren in jeder Hinsicht weiter ausgedünnt ist. Im großen und ganzen analog - bei allerdings zunehmendem Bemühen um eine ideologisch weniger vorgeprägte Annäherung an Programme und Ideen der als Jakobiner etikettierten Revolutions-Anhänger - präsentiert sich die Forschungslage in Italien'': auch hier wurde beträchtliche aktualisierende Vereinnahmung betrieben, wurde nicht nur im eigentlichen Risorgimento, sondern bereits im triennio rivoluzionario 1796 - 99 nach Garanten für Weltanschauungen und Gewährsmännern für ideologische Konflikte der Gegenwart sortiert. Dabei gewannen die historiographischen Kontroversen angesichts der bis heute zwischen den ideologischen Lagern ausgetragenen Konflikte über die Abgrenzung der Einflußsphären von Kirche und Staat - die Eindämmung klerikaler Intervention in politische und kulturelle Bereiche war ein Hauptthema der politischen Diskussion im italienischen Settecento lange vor der hunderts, 2. Aufl., Berlin 1971; ders., Deutscher Jakobinismus und deutsche Nation. Ein Beitrag zur nationalen Frage im Zeitalter der großen Französischen Revolution, Berlin 1966; ders. (Hrsg.), Die Mainzer Republik, 3 Bde., Berlin 1975- 1989; Hedwig Voegt, Die deutsche jakobinische Literatur und Publizistik 1789- 1800, Berlin 1955; Waiter Grab, Norddeutsche Jakobiner. Demokratische Bestrebungen zur Zeit der Französischen Revolution, Frankfurt am Main 1967' Hellmut G. Haasis, Morgenröte der Republik. Die linksrheinischen deutsche~ Demokraten 1789- 1849, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1984; Axel Kuhn, Jakobiner im Rheinland. Der Kölner Ko?~titutionelle Zirk~l von 1798, Stuttgart 1976; Uberblick über die deutsche Jakobinismusforschung m West und Ost bei Heiner M. Wilharm, Historische Demokratieforschung in der DDR und in der Bundesrepublik. Von der Mitte der 50er bis zum Ende der 70er Jahre, Diss. Hagen 1981. 3 Zusammenfassung der älteren Forschung und der Diskussion über den italienischen Jakobinismusbegriff bei Armando Saitta, La questione del "giacobinismo" italiano, in: Critica Storica 1965, 204 - 252; ders., Notes pour l'etude des attitudes politiques et des groupes sociaux dans l'Italie jacobine et napoleonienne, in: Annales historiques de la Revolution Francalse 49 (1977),503 - 527, auch mit reicher Literatur zum triennio 1796- 99 in den diversen italienischen Regionen; dieser ganz dem jakobinisch-napoleonischen Italien gewidmete vierte Quartalband enthält bezeichnenderweise keinen kritischen, politische Philosophie und Programmatik näher bestimmenden Definitions- bzw. Revisionsversuch;Ansätze dazu bei Franco della Peru ta, La Revolution franeaise dans la pensee des democrates italiens du Risorgimento, in:.eb~., .664- 676. D~eeinzige neuere Arbeit, die politisches Vokabular und Ideen italienischer Jakobmer textnah und mit interessanten Ergebnissen, auf die sich die folgenden Ausführungen teilweise stützen, untersucht, bei Eluggero Pii (Hrsg.), Idee e parole nel giacobinismo italiano, Firenze 1990.Weiter für die hier verfolgte Fragestellung von Belang: Umberto Corsini, Pro e contro le idee di Francia: la pubblicistica minore del triennio rivoluzionario nello Stato Veneto e limitrofi territori dell'Arciducato d'Austria, Roma 1990' Carlo Zaghi, L'Italia giacobina, Torino 1986; Salvo Mastel!one, Il dibattito sull~ democrazia nel triennio giacobino italiano (1796- 1799),in: Il mondo contemporaneo, Bd. 11: 11 modello politico giacobino e le rivoluzioni, Firenze 1984, 154- 161' ders., Storia della democrazia in Europa. Da Montesquieu a Kelsen, Torino 1986; Armando Saitta, Spunti per uno studio degli atteggiamenti politici e ell gruppi sociali nell'ltalia giacobina e napoleonica. in: Annuario dell'Istituto storico italiano per I'etä moderna e contemporanea 33/34 (1971/72), 270 - 292; Renzo de Felice, Introduzione ai giornali giacobini italiani, Milano 1962; C. Ghisalberti, Le costituzioni "giacobine" (1796- 1799),Milano 1957.

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Revolution - eine besondere Schärfe bzw. Würze. Auch hier aber ist, wie in Deutschland, der Begriff Jakobinismus durch alle Anfeindungen bzw. Nuancierungen offenbar gehärtet hindurchgeschritten und hat sich auch in ideologisch unverdächtigen Handbuchund Standardpublikationen einen unangefochtenen S~ammplatz erworben'; er wird auch hier in der Regel mit den Schablonen Republikanismus, Demokratie, Volksnähe, sozioökonomische Umgestaltung, ja Umwälzung gleichgesetzt. Aber nicht nur die auf beiden Seiten immer noch überwiegend einseitige, vereinnahmende und voreingenommene Gruppenbeschreibung und komplementär der Bedarf an einer nicht auf ideologischen Prämissen, sondern umfassender Text-Rezeption beruhenden ideologischen Profilbestimmung läßt den hier erstmals versuchten mental-programmatischen Vergleich zwischen deutschen und italienischen Revolutionsbefürwortern der Jahre 1792 - 99 ergiebig erscheinen. Erst ein solcher kornparatistischer Ansatz läßt die bislang eher apodiktisch mit pro, gelegentlich mit kontra beantwortete Frage", ob sich die Existenz eines politische und linguistische Grenzen übergreifenden, durch gemeinsame Grundüberzeugungen und Fundamentaloptionen umreißbaren Netzes europäischer Republikaner schlüssig beweisen läßt, einer Lösung näherbringen. Und erst ein umfassender europäischer Vergleich der jeweiligen Gruppierungen, zu dem die hier versuchte Gegenüberstellung nur Prolegomena liefern kann, vermag potentielle minima politica eines solchen supranationalen republikanischen Glaubensbekenntnisses in der angemessenen Rang-Reihenfolge hervortreten zu lassen, da nur auf diese Weise eine Scheidung zwischen Substantialia und Accidentalia, zwischen unverzichtbaren Kernpunkten und eher beiläufig-marginalen Artikeln eines solchen politischen Katechismus vorgenommen werden kann. Zudem haben in Deutschland und Italien die politisch interessierten bzw. aktiven Intellektuellen der 1790er Jahre parallele Erfahrungen gesammelt und vergleichbare Entwicklungen erlebt", Zum einen nämlich mündete das praktische republikanische Experiment, das in Deutschland auf den cisrhenanischen (Un-)Freistaat von französischen Gnaden be, Z.B. Stuart J. Woolf, Dal primo Settecento all'Unitä. Storia d'Italia,. Bd. 3, Torino 1973, 166 - 174. I S Guter Forschungsüberblick bei Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien R~gime zum Wiener Kongreß, 2. Auß., München 1986, 161 - 169; vgl. auch Gerhard Kaiser, Über den Umgang mit Republikanern, Jakobinern und Zitaten, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), 226 - 242. Ein (allzu affirmativausgefallener) Uberblick über Definitionen des deutschen Jakobinismus bei Inge Stephan, Literarischer Jakobinismus in Deutschland (1789 - 1806),Stuttgart 1976. B Zur geschichtlichen Entwicklung Italiens in den 1790er Jahren neben der Literatur in Anm. 4: Antonio Ronco, Storia della Repubblica Ligure 1797 - 1799, Genova 1988; Carlo Zaghi, L'Italia di Napoleone dalla cisalpina al regno, Torino 1986; Giovanni Assereto, La repubblica ligure. Lotte politiche e problemi finanziari (1797 - 1799),Torino 1975.

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schränkt blieb, in Italien dafür unter wechselnden Namen fast die ganze Halbinsel erfaBte, in eine Frustration der Protagonisten und vor allem der Idealisten, die zu einer breiten Abwendung von den Grundprinzipien des alles Heil von Frankreich erwartenden Republikanismus 7 und, sehr schematisch gesprochen, zur Hinwendung zu neuen, nationalstaatlich geprägten Denkmustern führte: jetzt, da die vorgeblich kosmopolitische, auf Menschheitsbefreiung gerichtete, messianisch-missionarisch verkleidete Italien-Politik des Direktoriums bzw. des Konsulats definitivals Instrument zur fiskalischen Bereicherung des Mutterlandes und zur Versorgung einer neuen administrativ-militärischen Elite dekuvriert worden war, trat neben in beiden Ländern kräftig, in Deutschland jedoch noch vehementer ausgeprägter Frankophobie als Schlüsselbegriff des neuen politischen Credos die nun überwiegend als Abstammungs-, Sprach- und Kulturgemeinschaft verstandene, religiös überhöhte, transzendent legitimierte Nation und daraus abgeleitet ein durch Einheit und schichtenübergreifende organische Nähe gekennzeichneter Staatsbegriff beherrschend hervor. In Italien erklärt diese negative Prägung durch das triennio rivoluzionario das anderweitig unauflösbare Paradoxon, daß die demokratische Hauptströmung des Risorgimento fundamental von frankophoben Positionen determiniert wenn nicht paralysiert und romantisch-heilsgeschichtlichen Dogmen verpflichtet ist", Und schließlich führt uns ein Profilvergleich germanischer und romanischer "Jakobiner" den hohen polemisch-affektiven Stellenwert nationalen Bewußtseins und nationaler Stereotypen, also eine Vorprägung und Voreingenommenheit durch nationalgeschichtliche Mythenbildung und damit Phänomene vor Augen, die in der Literatur eher schamhaft mit dem Mantel des Verschweigens bedeckt bzw. schlicht geleugnet worden sind". Anzusetzen hat die komparatistische KritiklO beim Namen, der nicht Schall und Rauch, sondern Omen ist. Bei der Ablehnung des Gattungsbe7 Exemplarisch auf deutscher Seite Joseph Görres, der 23jährig nach vorangegangenem Frankreich-Aufenthalt seinen Abschied von der Politik verkündet; vgl. Joseph Görres, Politische Schriften der Frühzeit (1795 - 1800), hrsg. von Max Braubach, Köln 1928, 562 - 592; stärkster literarischer Ausdruck dieser Desillusionierung in Italien bei Ugo Foscolo (vg!. dazu Mario Martelli, Ugo Foscolo. Introduzione e guida allo studio deU'opera Foscoliana, Firenze 1969). 8 Beste Einführung in die auf komplexe Weise frankophobe, die französische nationale Mission mit der Großen Revolution für beendet erklärende Geschichtskonstruktion Giuseppe Mazzinis in Franco della Peruta (Hrsg.), Scrittori politici dell'Ottocento. Giuseppe Mazzini e i democratici, Milano/Napoli 1969; zur kurzen Orientierung über die ideelogtsehen Strömungen des Risorgimento nützlich: Harry Hearder, Italy in the age of the Risorgimento 1790 - 1870, London 1983; Stuart J. Wool/, A history of Italy 1700 - 1860. The social constraints of political change, London 1979. 9 Vg!. Anm. 1 - 3. ID Das Gruppenprofil der deutschen "Jakobiner" stützt sich vor allem auf die folgenden Autoren mit ihren wichtigsten Texten: Georg Forster, Werke in

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griffs "Jakobiner" könnte man es sich, vor allem was die angeblichen deutschen Exemplare des genus betrifft, leicht machen, indem man sie selber über ihre vermeintlichen Gesinnungsgenossen in Frankreich zu Wort kommen ließell: dieses repräsentative Urteil reicht über die einhellige Klassifizierung Robespierres, Marats und Saint-Justs als Blut-Monster bis hin zu mental signifikanten, heftig wuchernden VerschwörungsTheorien, die die letzteren als Doppelagenten im Solde Englands klassifizieren, eine Etikettierung, die gerade deshalb bedeutsam ist, weil sie die Anfälligkeit für irrationale Erklärungsmuster auch bei den Autoren erkennen läßt, die in beiden Ländern am dezidiertesten einen historischstrukturellen Deutungsansatz hinsichtlich der Französischen Revolution und ihrer auf diese Weise bewiesenen geschichtlichen Notwendigkeit praktizieren12• 4 Bänden, hrsg. von Gerhard Steiner, Frankfurt am Main 1967 - 1970, vor allem Bd. 3 und 4; Georg Friedrich Rebmann, Kosmopolitische Wanderungen durch einen Teil Deutschlands, hrsg. von Hedwig Voegt, Frankfurt am Main 1968; ders., Holland und Frankreich in Briefen, hrsg. von Hedwig Voegt, Berlin 1981; ders., Vollständige Geschichte meiner Verfolgungen und meiner Leiden, Altona 1796; ders., Ideen über Revolutionen in Deutschland. Politische Publizistik, hrsg. von Werner Greiling, Köln 1988; Georg Kerner, Jakobiner und Annenarzt. Reisebriefe, Berichte, Lebenszeugnisse, hrsg. von Hedwig Voegt, Berlin 1981; Konrad Engel. bert Oelsner, Luzifer oder gereinigte Beiträge zur Geschichte der Französischen Revolution, ND Kronberg 1977; Johann Benjamin Erhard, Uber das Recht des Volkes zu einer Revolution und andere Schriften, hrsg. von Hellmut G. Haasis, München 1970;Joseph Görres, Politische Schriften der Frühzeit (Anm. 7); Johann Friedrich Reichardt, Vertraute Briefe aus Paris, hrsg, von Ralf Weber, Berlin 1980; Heinrich Würzer, Revolutions-Katechismus, ND Kronberg 1977. Die wichtigsten Texte italienischer "Jakobiner" liegen in einer kleinen Ausgabe und zwei umfangreichen Sammlungen vor; sehr knapp, doch gut ausgewählt bei Claudio Colaiacomo (Hrsg.), L'etä giacobina e rivoluzionaria e Foseolo, Firenze 1977; grundlegend zur Erschließung der Primärtexte die in der Reihe Serittori italiani (Bd. 215, 227) erschienene Edition Giacobini italiani, Bd. I, hrsg. von Delio Canti· mori, Bd. 2, hrsg. von Delio Cantimori und Renzo de Felice, Bari 1956 bzw. 1964; wichtige Ergänzungen in der dreibändigen Edition von Armando Saitta (Hrsg.), Alle origin! del Risorgimento; i testi di un "celebre" concorso (1796), Roma 1964. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf diese Korpora, wobei neben mehreren anonymen Texten die Arbeiten von Matteo Galdi, Giovanni Antonio Ranza, Enrico Micheie L'Aurora, Guiseppe Compagnoni, Girolamo Bocalosi und Mario Pagano am häufigsten herangezogen werden. Der nProtokommunist" Filippo Buonarotti bleibt hier unberücksichtigt, da seine Aktivitäten im engsten Zirkel Babeufs in die französische Sphäre fallen und seine (geistes-)geschichtliche Wirksamkeit in Italien erst im folgenden Säkulum von Belang ist (vgl. dazu Armando Saitta, Filippo Buonarotti, 2 Bde., Roma 1972). Da es um die Hervorhebung der communes opiniones, das gemeinsame Credo und den politischen Konsens der deutschen wie italienischen Gruppe geht, werden in den Anm. nur noch besonders typische Äußerungen im einzelnen zitiert. . 11 Das Bild der französischen Jakobiner bei ihren vermeintlichen Gesinnungsgenossen behandelt die unveröffentlichte, in der nächsten Zeit zur Diss. erweiterte Magisterarbeit (Freiburg i. Br., 1992) von Wollgang Reinbold, Der Mythos der deutschen Jakobiner. Das Bild der deutschen Linksrepublikaner von den französischen Jakobinern Ende des 18. Jahrhunderts. Zu den Blutmenschen und Konterrevolutionären Robespierre und Marat stellvertretend Konrad Engelbert Oelsner, Luzifer (Anm. 10),398; Georg Kerner, Jakobiner und Armenarzt (Anm. 10), lU. 12 Vgl. dazu Georg Friedrich Rebmann, Holland und Frankreich (Anm. 10).

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Dieselbe Ambivalenz schlägt sich im Topos von der jakobinischen Konterrevolution am 31.5.1793 nieder'", mit der - auch das communis opinio in beiden Ländern - die Revolution die ihr vorgezeichnete Bahn hin zur Vollendung der Freiheit verlassen habe: Anklänge an die moderne Theorie der derapage, doch auch hier durchsetzt mit wild wuchernden, dichotomische Weltbilder spiegelnden Komplott-Theorien. Wenn die beiden republikanischen Strömungen in Deutschland und Italien unbedingt einen Namen aus dem Mutterland der Großen Revolution tragen müssen, so könnte er legitimerweise nur deutsche bzw. italienische Girondisten lauten (eine nicht nur der geographischen contradictio in adjectu wegen besser zu unterlassende Taufe), denn in diesen Kreisen suchten und fanden die jeweiligen Republikaner - so ein adäquaterer Terminus - ihre erklärten, zu Heroen verklärten Vorbilder+", Aber es gibt tiefere Gründe dafür, daß die repräsentativen deutschen und italienischen "Jakobiner" diesen Namen zu Unrecht tragen: die Aversion gegen die französischen Originale spiegelt insofern Tiefenstruktur, als programmatische Unvereinbarkeiten zugrundeliegen. Als Kern des französischen Jakobinismus nämlich haben die deutschen Autoren - und ihre Diagnose läßt sich durchaus als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner der aktuellen Jakobinismus-Diskussion ansprechen'" - die vom Wohlfahrtsausschuß in Angriff genommenen sozialpolitischen Lösungsversuche ausgemacht - und verurteilt. Was Marat und Robespierre die düstere Aura des besoldeten Konterrevolutionärs einbringt, ist gerade das partielle Bündnis mit den Unterschichten, im Wortgebrauch der vermeintlichen deutschen Sympathisanten der Pöbel, der zur Unzeit, nämlich moralisch unreif emanzipiert wird und von der Straße aus Politik macht. Dieser Emanzipation steht auf deutscher wie italienischer Seite das Postulat einer von bildungsbürgerlicher Seite vormundschaftlich auszuübenden Volkserziehung entgegen, die dem jeweiligen sozialen Substrat zuerst aufgeklärte Sittlichkeit als Voraussetzung später zu erwerbender politische Rechte zu vermitteln hat. Weiterer nicht akzeptabler und entsprechend verdammter programmatisch-weltanschaulicher Kernpunkt des französischen Jakobinismus ist der egalitär-geometrische Zuschnitt seiner alles historisch Gewachsene nivellierenden, auf einer ges(ch)ichtslosen tabula rasa aufbauenden und deshalb für die kulturell vielfältige deutsche wie italienische Landkarte verhängnisvollen Neugestaltung, der vor allem von deutschen Autoren als eigenständige Werte und Prinzipien stärkere Rücksicht auf organisch herangebildete Strukturen Z.B. Georg Kerner, Jakobiner und Armenarzt (Anm. 10), 117, 129. Ebd., 96 - 109. IS Zum französischen Jakobinismus und der zugrundegelegten Definition sei hier nur auf den Forschungsüberblick bei Ferme Eeher, The Frozen Revolution: an Essay on Jacobinism, Cambridge 1987, verwiesen. 13 14

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entgegengestellt werden16. Dem wirtschaftlich und sozial reglementierenden und regulierenden Interventions-Staat wird das Konzept der unter bildungsbürgerlicher Leitung karitativagierenden, pädagogisch veredelnden, den einzelnen durch Entfaltung persönlicher Anlagen zur individuellen Eudämonie anleitenden Republik kontrastiert. Charakterisiert man etwas überpointiert, doch im Kern treffendl? die anthropologisehen Grundlagen des französischen Jakobinismus mit den Kernelementen der Skepsis, ja des Mißtrauens hinsichtlich der Vereinbarkeit von Eigen- und Gemeinnutzen, von individuellem Streben nach Vorteil und Tugendstaat, dadurch als jenseits der Denkhorizonte der Aufklärung angesiedelt, so fallen die Leitvorstellungen deutscher wie italienischer "Jakobiner" mit der Harmonisierung von Individuum und Gesellschaft, mit der Endvision einer konfliktfreien Sozietät und Soziabilität ganz und gar in deren Kontext. Damit ist eine Negativfolie gewonnen, vor der die wirklichen Anliegen und Interessen unserer Autorengruppen herauszuarbeiten sind. Kaum ein Begriff wird im hier behandelten Kontext so häufig qua Undifferenziertheit mißbräuchlich verwendet wie "Demokrat(ie)"18. Unterlegt man ihm als semantische Basis allgemeines Männer-Wahlrecht zu einem legislativen Repräsentativorgan, so hat es im deutschen wie italienischen Republikaner-Lager dezidierte Demokraten nicht gegeben. Gerade die deutsche Gruppe hat sich mit Verfassungs- und VerfassungsDefinitions-Fragen, nicht zuletzt in den als Gattung der 1790er Jahre so geschätzten politischen Glaubensbekenntnissen, intensiv auseinandergesetzt, die französische Konstitution des Jahres 1793 lange gewogen, schließlich zu leicht, d.h. leichtfertig verfrüht befunden und demgegenüber einen Besitzeliten begünstigenden Zensus als zeitangemessenen Grundsatz postuliert'". Man wird für den deutschen Sprachraum das Exempel der Mainzer Republik und der Mainzer Clubisten dagegen und vor allem Georg Forster als Anwalt einer Erziehung zur Freiheit durch Freiheit ins Feld 18 Exemplarisch etwa bel Georg Forster, Darstellung der Revolution in Mainz, in: Werke, Bd. 3 (Anm. 10), 685f. 17 Nach Ferenc Feher, The Frozen Revolution (Anm. 15). 18 Vgl. zum italienischen Gebrauch der Zeit Salvo Mastellone, Linguaggio politico e giacobinismo italiano; Vittorio Conti, La traduzione del linguaggio costituzionale francese del triennio; Gian Biagio Furiozzi, Monarchia e democrazia in Luigi Martore1li; Eluggero Pii, La polemica contro la democrazia, sämtlich in: Eluggero Pii (Hrsg.), Idee e parole nel giacobinismo italiano (Anm. 3), 1 - 12, 37 - 48, 181 - 206, 207 - 230. Eine gegenwärtigen Ansprüchen genügende Wortgeschichte für das Deutschland der 1790er Jahre fehlt. . le Eine gruppentypische Definition der demokratischen Staatsform, die in reiner Ausprägung erst in fernerer Zukunft als praktikabel erachtet wird, bei Joseph Görres, Mein Glaubensbekenntnis, in: Politische Schriften der Frühzeit (Anm. 7), 195f. 14 Zeiuchnft

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führen, zu Recht, und auch wieder zu Unrecht/". Auch hier krankt die Diskussion am Fragmentierungsprinzip, nach dem jeder aus den bekanntlich zwischen skeptischem Enthusiasmus und abgeklärter Analyse schwankenden Texten des stellvertretenden Vorsitzenden des rheinisch-deutschen Nationalconvents die der jeweiligen Überzeugung gemäßen Belegstücke herausschneidet. Aus der Gesamtheit seiner politischen Stellungnahmen aber kristallisiert sich das für deutsche Republikaner in ihrer Gesamtheit typische Votum für die abstrakten Grundsätze politischer Freiheit, doch ebenso für eine Anwendung zur rechten Zeit, d.h. nach vorausgehender erzieherischer Vorbereitung heraus'". Der Sprung in die Demokratie des Frühjahres 1793 ist mit seiner Vorzeitigkeit, so der Tenor der das Experiment Leitenden post factum, den dramatischen Umständen zuzuschreiben, unter denen er sich vollzieht, ein anachronistischer, doch moralisch vollwertiger Versuch'". Ansonsten aber bei allen Autoren anstelle voller Partizipation im hic et nunc: Erziehung des Volkes zur Reife. Dieses Votum aber verträgt sich nördlich wie südlich der Alpen mit der Berufung auf einen - in Italien freilich viel intensiver rezipierten und kommentierten - Rousseauf". Es ist in beiden Ländern ein vielfältig zurechtgeschnittener, ein mit zivilisatorischem Optimismus überklebter, verfremdeter, mit dem geschichtlich begründeten Fortschrittsglauben der Spätaufklärung versetzter und auf diese Weise fast unkenntlich gewordener Citoyen de Geneve, der hier als Gewährsmann angerufen wird. Sein Contrat social wird in eigentümlicher Verdrehung der auktorialen Intentionen zur Apologie des parlamentarischen Systems verwendet, dem in dieser theoretischen Hauptschrift mit dem Prinzip der Nicht-Delegierbarkeit von Souveränität bekanntlich eine harsche Absage erteilt wird, die erst in der - dem damaligen deutschen Publikum unbekannten - Verfassungs-Denkschrift für Polen mit der Billigung eines strikt imperativ verstandenen Mandats als Notbehelf abgemildert wird24• Übernommen werden hingegen auf beiden Seiten der Grundsatz der Unteilbarkeit der Souveränität und die Vertragsidee als 20 Das hier umrissene Fazit stützt sich auf Forsters reifste, in analytischer Distanz zu den dramatischen Ereignissen verfaßte "Darstellung der Revolution in Mainz", in: Werke, Bd. 3 (Anm. 10), 628ff. Uber den Reifegrad Deutschlands für eine Revolution nach französischem Vorbild fällt nicht nur bei Forster, sondern auch bei Rebmann und den übrigen "Jakobinern" das Urteil fast einhellig negativ aus. 21 Ebd., 685f. 22 Ebd., 689f. 23 Zur Rousseau-Rezeption in Italien S. Rota Ghibaudi, La fortuna di Rousseau in ItaUa, Torino 1961. 24 Zum Problem Rousseau und Parlamentarismus vgl, vor allem Richard Fralin, Rousseau and Representation. A Study of the Development of his Concept of Political Institutions, New York 1978.

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solche, doch wird die letztere letztlich als fiktive Konstruktion verstanden; konsequenterweise ins Reich der Fabel verbannt. wird die im Diskurs über die Ursachen der Ungleichheit ausführlich ausgemalte Schilderung des vorgesellschaftlichen Naturzustandes, vor dessen Hintergrund Zivilisationskritik und der Gesellschaftsvertrag als Freiheitstausch erst ihre potentiell revolutionäre Dynamik entfalten25• In den Augen deutscher wie italienischer Republikaner ist der Mensch im eigentlichen Wortsinn außerhalb von Frühformen der Gesellschaft und des Staates, so rudimentär und roh sie auch sein mochten, nicht vorstellbar, da sich das genuin Humane erst in beiderlei Kontext zu entfalten und in allmählich verfeinerten Konstitutionen schrittweise zu veredeln vermag. Und so wird im Rahmen dieses fortschrittsgläubigen Geschichtsbildes das eigentlich Anstößige, der Rousseausche Kassandraruf gegen die Zivilisation und die darauf aufbauende Entfremdungstheorie, auf die Auseinandersetzung mit den verformenden Kräften nicht der zivilisatorischen Evolution als ganzer, sondern der Fehlentwicklung Despotismus reduziert26• Fundamentales Credo und Leitmotiv der Staatsvorstellung italienischer "Jakobiner" aber ist die - von deutscher Seite geteilte, aber weniger nachdrücklich thematisierte - Überzeugung, daß in einer harmonisch austarierten Gemeinschaft Natur- und Gesellschaftszustand zusammenfallen können, wobei unter "Natur" selbst das höchst artifizielle Konstrukt eines nach "natürlichen" Anlagen entfalteten, von äußeren Zwängen befreiten Menschen verstanden wird, der im Rousseauschen Urdschungel keineswegs überlebensfähig wäre:. die Natur des Menschen bedarf zur ungehinderten Ausbildung des Biotops der wohlgeordneten res publica'", Der Weg dorthin aber, das werden die italienischen Republikaner zu demonstrieren nicht müde, führt über den legitim, d.h. nach dem Grundsatz unteilbarer Souveränität ermittelten Gemeinwillen. Auch hier unterschiedliche Bedeutungsnuancen, insofern als die volonte generale, die bei deutschen Jakobinern vorwiegend dekorative Funktion besitzt, im Süden zum autoritativen Argumentationsprinzip erhoben wird. Sind die italienischen "Jakobiner~ also doch, und im Gegensatz zu ihren deutschen Pendants, im modernen Verständnis Demokraten? Hier 2S Exemplarisch dazu von den italienischen Autoren Vincenzio Russo, Pensieri polltici (1798), in: Dello Cantimori (Hrsg.), Giacobini (Anm. 10), 267 - 282; aus dem deutschen Raum: Georg Eorster, Cook der Entdecker, in: Werke, Bd. 2 (Anm. 10), 103 - 224. 28 Exemplarisch bei Georg Friedrich Rebmann, Ideen über' Revolutionen (Anm. 10), passim; vgl. auch Domenico Felice, Note sulla fortuna di Montesquieu nel giacobinismo italiano (1796 - 1799), in: Eluggero PÜ (Hrsg.), Idee e parole (Anm. 18), 13 - 34. . . 27 Vgl.etwa Giuseppe Compagnoni, Elementi di diritto costituzionale dernocratieo (1797), in: De1io Cantimori (Hrsg.), Giaeobini (Anm. 10),42 - 55.

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heißt es genau die geschriebenen Worte abwägerr": in der Tat sind bei Rousseau und seinen italienischen Adepten alle Bürger (bei letzteren wahlweise auch das Volk) souverän. Wer aber ist in diesem Sinne Bürger? Daß bereits bei Rousseau Abschied von naiven Vorstellungen allgemeiner Wahlrechts-Demokratie genommen werden muß, machen seine eigenen konkreten Nutzanwendungen, u.a. auf die Republik Genf, wo Einwohner keineswegs gleich citoyen ist, überdeutlich'". Analog dazu sind die Zwischentöne italienischer Republikaner hörbar zu machen: das bei ihnen allgegenwärtige Loblied auf die altröm.ische Republik ist nicht als antiquarische Pflichtübung, sondern als handfestes Votum für eine Zensusverfassung nach Direktoriums-Vorbild zu verstehen3o• Die Rechtfertigung dieses Modells aber wird auch im lateinischen Sprachraum durch Erziehung zur Partizipation geliefert, während deren Dauer das Recht auf aktive und passive politische Teilhabe gewissermaßen suspendiert bleibt. Gerade weil es - oberstes Credo im politischen Katechismus beider Seiten - die vornehmste Aufgabe des Staates ist, die ungehinderte Entfaltung der individuellen Anlagen des einzelnen zu fördem'", für die der Erwerb aufgeklärter Bildung und Moral unverziehtbare Voraussetzung ist, setzt eigenständige Aktivität in der politischen Sphäre die letzteren Qualitäten bindend voraus; die seit Jacques Droz32 immer wieder konstatierte moralpädagogische Obsession deutscher Revolutions-Rezipienten setzt sich südlich der Alpen, wo ea. zwei Drittel der "jakobinischen" Schriften zumindest schwerpunktmäßig volkspädagogische Konzepte entwickeln, nahtlos fort, aus gutem Grund: gerade in Italien wird die Unterschicht als ein von außen, durch Nachlässigkeit oder perfiden Eigennutz des despotischen Staates zwar nicht in der Substanz zerstörtes, doch so weit abgesunkenes, in den Fährnissen des täglichen Überlebenskampfes verwildertes, daher der Domestizierung durch Erziehung bedürftiges animal sociale betrachtet, das sich selbst überlassen in eine tyrannisch-klerikale Finsternis zurücktappen würde. Wie sich in Genua 1797 und Neapel 1799, um nur zwei Beispiele aufzuführenf", erweisen 28 Vgl. Anm. 18, 19; idealtypische Argumentation bei Matteo Galdi, Saggio d'istruzione pubblica rivoluzionaria (1798), in: Delio Cantimori (Hrsg.), Giacobini (Anm. 10), 223 - 254; Girolamo Bocalosi, Dell'educazione democratica da darsi al popolo italiano (1797), in: Delio Cantimori/Renzo de Felice (Hrsg.), Giacobini (Anm. 10), 7 - 208. 29 Dazu John St. Spink, Jean-Jacques Rousseau et Geneve, Paris 1934. 30 Dazu Vittorio Conti, La traduzione (Anm. 18); Jacques Droz, La pensee politique et morale des cisrhenans, Paris 1940, 28f. 31 Exemplarisch Georg Forster, Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit, in: Werke, Bd. 3 (Anm. 10), 695 - 725; Vincenzio Russo, Pensieri politici (Anm. 25), 255 - 277. 32 Vgl. Anm. 30 und Jacques Droz, L'Allemagne et la Revolution Franeaise, Paris 1949.

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sollte, eine hellsichtige Diagnose, die sich freilich wertfreier als unüberbrückbare Distanz zwischen aufgeklärter Elitenkultur und traditioneller popularer Mentalität umschreiben ließe. Auf der Seite deutscher Republikaner ist das bildungsbürgerliche Befremden der Unterschichtenmentalität gegenüber nicht geringer, doch stärker in tuteläre Philanthropie aufgelöst und damit häufig überspielt, die Fremdheit als Bedrohung verdrängt. So haben die Erziehungsprogramme vor allem deutscher "Jakobiner" das Ziel, eine, dem Zwang der Umstände gehorchend, auf das physische Überleben ausgerichtete, daher materiell bestimmte Wertordnung von unten in die aufgeklärt-idealistische Normenhierarchie der Erzieher umzuformen. Ist der als notwendige (Langzeit-)Etappe34 angesetzte pädagogische Prozeß daher in beiden Lagern parallel anzusetzen, so machte man sich in Italien weniger Illusionen über die Komplexität dieses Umformungsprozesses, während in Deutschland die optimistischeren Texte dasselbe Prozedere nicht selten analog zur in bürgerlichen Rührstücken stereotypen Rückkehr des verlorenen Sohnes in den Schoß ethischer Biederkeit ausmalen. Dieser affektiv-rhetorische Kontrast spiegelt zugleich die unterschiedliche Einfärbung des zugrundeliegenden Tugend-Kodex, der in Italien, römisch-antiken und machiavellischen Traditionen folgend, überwiegend mit dem herben Kolorit einer catonischen Pflicht und patriotischen Entsagungs-Ethik, in Deutschland eher mit den Pastelltönen einer auf die privaten Bezirke zentrierten Hausvater-Moral gemalt wird35• In beiden Fällen aber überlagert die Moral die Ökonomie. Eine ausgearbeitete republikanische Ökonomie hat es im Deutschland der 1790er Jahre nicht gegeben; wenn derartige Problemstellungen behandelt - und das heißt, eher gestreift als elaboriert - werden36, dann läuft das Fazit unweigerlich auf meritokratische Aufstiegs-Prinzipien und die Apologie des von staatlichen Einengungen frei schaltenden Handelsmannes und somit auf eine Gesellschaft hinaus, in der nach Abschaffung aller ständischen Privilegien der persönliche mit dem allgemeinen Nutzen zusam33 Dazu außer den in Anm. 4 und 6 genannten Titeln Benedetta Croce, La rivoluzione napoletana del 1799, Bari 1912; G. Cingari, Giacobini e sanfedisti in Calabria nel 1799, Messina/Firenze 1957; Angus Heriot, Les Francais en Italie 1796 1799, Paris 1961; Francesco Leani, Storia della controrivoluzione in Italia (1789 1859), Napoli 1975. 34 Vgl. Anm. 19,28. 35 Für Italien exemplarisch Maria Pagana, Sulla relazione dell'agricoltura, delle arti edel commercio allo spirito pubblico (1798), in: Delio Cantimori/Renzo de Felice (Hrsg.), Giacobini (Anm. 10), 367 - 378; Enrica Micheie L'Aurara, AU'Italia nelle tenebre L'Aurora porta la luce (1796), in: Delio Cantimori (Hrsg.), Giacobini (Anm. 10), 157 - 192; für Deutschland Gearg Friedrich Rebmann, Kosmopolitische Wanderungen (Anm. 10). 36 Etwa bei Heinrich Würzer, Revolutions-Katechismus (Anm. 10).

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menfallen und, weitreichendstes Zugeständnis gegenüber Forderungen von unten, allenfalls in Notzeiten die ansonsten unumschränkt geltende Heiligkeit des Privateigentums bestimmten Einschränkungen unterliegen wird. Alles darüber hinaus Reichende, etwa Rebmanns berühmte Utopie aus dem Jahre 179637, ist halbbelletristischer Zukunftsentwurf ohne einschneidende Schlußfolgerungen. Demgegenüber sind die Akzente in Italien deutlich verschoben: das Problem einer alternativen Wirtschaftsordnung, speziell einer gerechteren Verteilung von Grund und Boderr", ist in einem über weite Teile von Latifundienwirtschaft dominierten und weiterhin von Massenhungersnöten bedrohten Land39 drängend genug. Wie schon beim Problem politischer Partizipation lesen sich auch hier einige der bekannteren Umgestaltungsentwürfe umstürzlerisch egalitär; fraglos sind italienische "Jakobiner" in höherem Maße als ihre deutschen Pendants bereit, sich mit den Postulaten einer unterbürgerlichen moral economy auseinanderzusetzen und von ihr Anregungen aufzunehmen. Doch vollzieht sich diese Rezeption in einem Prozeß verbal(radikal)er und politischer Neueinkleidung, dessen Endprodukt der deutschen "jakobinischen" Wirtschaftsethik und -ordnung recht nahe kommt: der im alten paternalistisch ausgerichteten Staat zwischen Monarch und Unterschicht, zumindest in deren Augen, explizit geschlossene Pakt, der Gehorsam von Subsistenz-Garantien abhängig macht, wird jetzt auf ein hochragendes naturrechtliches Postament gehoben, als unveräußerliches Menschenrecht eingeklagt, ohne daß die daraus gezogenen praktischen Konsequenzen - weitere Parallele zum deutschen Milieu - den Rahmen staatlicher Fürsorge-Einrichtungen zu sprengen vermögen. Stark pointierend ließe sich also, was die konkreten Auswirkungen derartiger sozialpolitischer Modelle angeht, von der bloßen Auswechslung der Schutz-Instanz sprechen, die jetzt nicht mehr vom Monarchen von Gottes Gnaden, sondern von einer zugleich karitativen und zu produktivem Wirtschaftsverhalten stimulierenden Honoratioren-Vernunftrepublik wahrgenommen wird. Denn darauf laufen die in Italien so verbreiteten gracchischen Umverteilungsmodellet? unweigerlich hinaus: die Georg Friedrich Rebmann, Holland und Frankreich (Anm. 10),68 - 77.. Vgl. die in Anm. 35 genannten Autoren; dazu die bei Delio Cantimori/Renzo de Felice (Hrsg.), Giacobini (Anm. 10), 401 - 454, edierten anonymen Texte. Zu den römischen "jakobinischen" economisti vgl. Volker Reinhardt, Überleben in der frühneuzeitlichen Stadt. Annona und Getreideversorgung in Rom 1563 - 1797, Tübingen 1991, 420 - 427; Enzo Piscitelli, La riforma di Pio VI egli scrittori economici romani, Milano 1958; ders., n pensiero degli econom1sti italiani del '700 sull'agricoltura, la proprietä terriera e la condizione dei contadini, in: Clio 15 (1979), 245 - 292. 39 Vgl. Volker Reinhardt, Überleben (Anm. 38), 361 - 411, mit umfangreicher weiterer Literatur. 40 Exemplarisch bei Nicio Eritreo, Grammatica repubblicana (1798), in: Delio Cantimori (Hrsg.), Giacobini (Anm. 10), 131 - 156. 37 38

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Parzellierung adelig-klerikalen Großgrundbesitzes in Kleinbauernstellen, ein kaum je ausbleibender Topos in "jakobinischen" Programmen der 1790er Jahre südlich der Alpen, bleibt letztlich unverbindliches, unpolitisch philanthropisches Wunschdenken, weil sie nicht durch konsequente Enteignung, sondern weit eher durch freiwilliges Aufeinanderzugehen der sozialen Antagonisten in Angriff genommen werden soll. Das sensu stricto jakobinisch anmutende Ziel, autonomen Kleinbesitz zu fördern, reduziert sich auf diese Weise in der Regel zu einer wirklichkeitsfemen Schutzvorrichtung gegen Verelendung unter vielen. Vor allem aber sind die allgegenwärtigen Agrargesetze nie ökonomischer Selbstzweck, sondern in überwältigendem Maße Vehikel zum moralisch-politischen Neubeginn, der nach dem Vorbild altrömischer Austerität in ein idyllisch, ja millennarisch getöntes Tableau mündet, in dem sich Rousseausche Stadt-Aversion, die Idealisierung eines agrarisch, patriotisch-genügsam und zugleich wehrhaft konstituierten republikanischen Tugendstaates nach Liviusschem Vorbild zu einem oben und unten durch gemeinsam geteilte bürgerliche Arbeits- und Verdienstethik versöhnenden harmonischen Ganzen zusammenfügen'". Die einem solchen Glückszustand entgegenstehenden Hindernisse aber, darin sind sich deutsche wie italienische "Jakobiner" wiederum einig, sind die Hinterlassenschaften des Despotismus, die die allein seligmachende republikanische Staatsform im Zuge der von ihr bewirkten allgemeinen Regeneration aller Lebensbereiche - diese Art des idealistischen Etatismus findet vor allem in deutschsprachigen Glaubensbekenntnissan''f eklatanten Niederschlag - beseitigen wird. Aufhebung ständischer Privilegien, bürgerliche Freiheiten und rechtsstaatliehe Garantien aber erfordern, auch darüber herrscht Einigkeit, nicht per se revolutionäre Mittel zu ihrer Umsetzung. Bei der Bewertung der Französischen Revolution und der Notwendigkeit ihrer Imitation wird im großen und ganzen einhellig, mit besonders ausführlicher relativistischer Begründung in Deutschland, dreifach unterschieden. Die Perhorreszierung revolutionärer Gewalt und Gewalttäter entspricht dabei dem bereits herausgearbeiteten evolutionär-reformerischen Profil und Impetus beider Seiten; sie verträgt sich jedoch mit prinzipieller Billigung der geschichtlichen Entwicklung im großen, soweit sie in Frankreich vonstatten geht, die im Guten wie Bösen für das eigene Land als Paradigma dienen soll, nämlich dazu, die von der Grande Nation revolutionär gewonnenen Errungenschaften durch friedliches, stufenweises Voranschreiten herbeizuführenv'. Das Schauspiel entfesselter Leidenschaften, 41

Vgl. Anm. 35, 38.

Zur Beliebtheit des Genres wie der übrigen "jakobinischen" Textgattungen grundlegend lnge Stephan, Literarischer Jakobinismus (Anm. 5). 43 Dazu exemplarisch Georg Friedrich Rebmann, Ideen über Revolutionen (Anm. 10); Georg Forster, Darstellung der Revolution in Mainz (Anm. 20), 685f. 42

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das die Pariser Feuer- und Blutbühne bietet, dient als Lehrstück der Vermeidung und Aneignung, das insofern moralisch interpretiert wird, als schichtenspezifische Wirtschafts- und Sozialinteressen vor allem in Deutschland als Ausdruck von Eigennutz und damit als moralische Minderwertigkeit verstanden, ein pluralistischer, die Austragung sozioökonomischer Ziele gestattender Staat als negatives Gegenbild harmonischen Ausgleichs, daher als Chaos und Anarchie begriffen wird44• Das heißt, die fehlgetauften Jakobiner beider Länder sind an der Reformfähigkeit des aufgeklärten Absolutismus irre geworden und versuchen, die essentiell selben Ziele vernünftiger Reform, häufig gegen ihr mentales Profil dem Zwang der Umstände folgend, jetzt im neuen Hoffnungs-Kontext der Republik umzusetzen und auf diese Weise das traumatische Auseinanderklaffen zwischen Staat und aufgeklärten Eliten im späten Ancien Regime zu überwinden'", Bei im großen gemeinsamer Bestandsaufnahme sind dabei nördlich und südlich der Alpen die Akzente charakteristisch verschoben; das Skandalon der Rückständigkeit wird in Italien stärker auf konkrete sozioökonomische Phänomene, etwa auf den meridionalen Feudalismus, bezogen, während in Deutschland der eigentliche Stein des Anstoßes eher in der moralischen Inferiorität höfischer und aristokratischer Führungsschichten und institutioneller Verkrustung gesehen wird'". Die bislang gesammelten ideologischen Versatzstücke der individuellen Eudämonie als Staatszweck, aufgeklärter Vernunft- und Zweckmäßigkeits-Moral als zur politischen Bewertung von Personen, Systemen und Ereignissen angelegter Maßstab, eines historischen Optimismus, der Geschichte nationenweise über Entwicklungsstufen zum Endziel einer allgemeinen (männlichen) politischen Partizipation voranschreiten läßt, der freilich die fundamentale sittliche Erziehung der dazu noch nicht reifen Massen voranzugehen hat, die auch durch die Terreur-Phase in Frankreich nicht in ihren Grundfesten erschütterte Überzeugung, daß Einzel-, Gruppen- und Gemeininteressen im Staat harmonisch zusammenfallen können, alle diese Kernpunkte eines politische und sprachliche Grenzen übergreifenden Staats- und Gesellschafts-Katechismus werden in derselben Zeit mutatis mutandis auch von gemäßigt-protoliberalen Strömungen akzeptiert'". Doch sind auch zu dieser Seite hin die 44 Am ausgeprägtesten bei Georg Kerner, Jakobiner und Armenarzt (Anm. 10) und Konrad EngelbeTt Oelsner, Luzifer (Anm. 10), die als Berichterstatter vor Ort jakobinische Agitation in der besagten Weise brandmarken. 45 Dieses Dilemma als globale Zeitdiagnose leitmotivisch bei Georg Friedrich Rebmann, Ideen über Revolutionen (Anm. 10) und Girolamo Bocalosi, Dell'educazione democratica (Anm. 28). 46 Vgl. Pasquale Villani, Aspects de la vie ~conomique italienne A l'~poque napoIeonienne, in: Anna1es historiques de la Revolution Franeaise 49 (1977), 587 - 617; Jean Georgelin, L'Italie A la fin du XVIlle siecle, Paris 1989.

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programmatischen Trennwände recht solide, allerdings zum großen Teil aus einem Stoff, der von ideologisch vorgeprägten Interpreten in seiner besonderen, fragilen Beschaffenheit nicht wahrgenommen wurde: aus Rhetorik und Emotion'". Im Gegensatz zu moderaten Auslassungen enthält der idealtypische republikanische Text nördlich und südlich der Alpen die folgenden Merkmale: nahezu omnipräsent der Kult des großen, Geschichte gestaltenden Einzelnen, vor allem des Märtyrers, des politischen Wahrheitszeugen, der zu beträchtlicher Eigendynamik, gerade in Italien, verdichtete antiklerikale Affekt, der sich in der Regel mit einem sentimental geprägten Theismus nach dem Vorbild dessavoyischen Vikars oder mit naturschwärmerischem Deismus verbindet; nicht minder kennzeichnend auf dieser Ebene das regelmäßig in den lyrisch-larmoyanten Erguß umschlagende Pathos, das zum Wort-Ausbruch drängende Leiden an den despotischen Fehlentwicklungen der Geschichte, die gefühlvolle Parteinahme für die Erniedrigten und Beleidigten, die anklägerisch vorgetragene bürgerliche Geschlechtsmoral mit ihren dämonisierten höfisch-aristokratischen Feindbildern, die Reduzierung der Frauenrolle - hier eine der beliebtesten Rousseau-Entlehnungen - auf die der tugendhaften Herdwächterin und Zwist-Dämpfertnf'', der sich 'hymnisch Bahn brechende Glaube an eine essentiell gut geschaffene, allenfalls vom Menschen zeitweise verunstaltete Natur, die vibrierende Leidenschaftlichkeit der dichotomisch schroffen Schwarzweißzeichnung; der nicht dialogischskeptische, sondern apodiktisch-bekenntnishafte Charakter "jakobinischer" Texte läßt bereits in dieser Grauzone zwischen Sentiment und Ratio eine Scheidung der Lager zu, die durch einige weitere fundamentale Credos zusätzlich vertieft wird. An erster Stelle wird die Republik als Staatsform zur alleinseligmachenden Lösung überhöht, gewinnt der antimonarchische Affekt ge47 Zur Abgrenzung immer noch grundlegend Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770 - 1815, 2. Aufl., Düsseldorf 1978; außerdem James J. Sheehan, Die Ursprünge des deutschen Liberalismus 17701847, in: ders. (Hrsg.), Der deutsche Liberalismus von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum ersten Weltkrieg 1770 - 1914, München 1983,11 - 59. 48 Eine eingehende literaturwissenschaftliche Analyse der sprachlichen Mittel deutscher Jakobiner steht bis heute aus; gute Ansätze bei lnge Stephan, Literarischer Jakobinismus (Anm. 5); exemplarisch zu Johann Gottfried Seume, einem späten Vertreter des deutschen Republikanismus, Harald Fricke, Aphorismus, Stuttgart 1984, 97 - 105. Für Italien auf wortgeschichtl1cher Basis Eluggero Pii (Hrsg.), Idee e parole (Anm. 3). 49 Zum konsequent emanzipatorischen, anonymen, bei Delio Cantimori/Renzo de Felice (Hrsg.), Giacobini, (Anm. 10), 455 - 466, edierten Text "La causa delle donne. Discorso agl'ltaliani della Cittadina ••• " gibt es weder in der übrigen italienischen Publizistik, geschweige denn im deutschen Sprachraum ein Pendant. Das bürgerliche Frauenbild exemplarisch in der erwähnten Utopie von Georg Friedrich Rebmann, Holland und Frankreich (Anm. 10), 68 - 77.

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radezu Initiationscharakter, da die durch das französische Vorbild von 1795 bestimmte konstitutionelle Ordnung zum Symbol für geschichtlichen Fortschritt, für empirisches Lernen aus der Geschichte schlechthin steht und damit allein die gerade und sichere Bahn in eine freiheitlich bestimmte Zukunft garantiert. Hinter diesem Bekenntnis zur Honoratioren-Republik als einer sich selten mit endzeitlicher Heilserwartung beladenen Antwort auf die Probleme und Antagonismen der Zeit verbergen sich, um die schematische Abgrenzung zur Mitte hin mit wenigen Strichen zu Ende zu führen, in der Regel der mit größerer Schärfe vorgetragene bildungs-bürgerliche Anspruch auf moralische Superiorität und politische Führung, geringere Duldsamkeit gegenüber Privilegien und Position altetablierter Eliten, d.h. kompromißloses Bestehen auf ständischer Nivellierung, und, auch das ein fundamentales Credo, gegen Klientelismen formulierte meritokratische Prinzipien, die als alleiniges Vehikel sozioökonomischer Mobilität legalisiert werden. Unterschiedlich in "gemäßigten" und ..jakobinischen" Lagern nicht weniger die Beurteilung der Unterschichten, des Volkes, das gerade für die republikanischen Strömungen in eigenartiger Ambivalenz zum einen sentimentale Bezugsgröße, unschuldiges Opfer despotischer Machination ist, zum anderen durch die Kombination von larmoyanter Überhöhung und pädagogischer Einflußnahme verfremdet und auf mentale Distanz gehalten wird. Bei aller Gemeinsamkeit politisch-historischer Weltanschauung im großen haben sich zwischen deutschen und italienischen Republikanern der 1790er Jahre einige im folgenden zu erweiternde markante mentale Nuancierungen herausgeschält: südlich der Alpen das zumindest verbal stärker betonte spartanisch-altrömische Vorbild mit seinen herben, asketisch-luxusfeindlichen Konnotationen, allgemein die Antike als bestimmende Norm und unerreichtes Paradigma, die daraus abgeleiteten gracchisch-georgophilen Träumereien, die Koppelung von Praxisnähe und messianischer Erwartung, die herausragende Bedeutung von Naturrecht und einer menschliche Natur und Anlagen mit der Gesellschaft versöhnenden, in ihr zur höchsten Reife bringenden volonte generale, allgemein größere Bereitschaft, traditionelle Subsistenzforderungen der Unterschicht aufzugreifen (ohne freilich dabei am Grundprinzip der Heiligkeit des Eigentums zu rühren). Diese Merkmale kontrastierten mit der höheren Abstraktheit des moralischen, geschichtlich-teleologischen und formaljuristischen Raisonnierens und philosophischen Theoretisierens auf deutscher Seite aufs auffälligste; in der hier idealtypisch zugespitzten Revolutions-Interpretation deutscher Republikaner bricht sich auf diese Weise ein vom moralischen Überlegenheitsgefühl deutscher Art genährtes, kräftig ausgeprägtes Nationalbewußtsein Bahn, das vor Herabsetzung anderer Völker und ihrer Eigentümlichkeiten durchaus nicht gefeit ist5o•

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Diese Elemente vor allem sind es, die über die gemeinsamen politischen Grundoptionen und Geisteshaltungen hinweg das Trennende zwischen den Vertretern einer popularisierten und politisierten bürgerlichen Spätaufk1ärung ausmachen, als die wir die deutschen und italienischen "Jakobiner" identifiziert haben. Beide sind, wie kaum anders zu erwarten ist, aber gerne verschwiegen wird, von den Traditionen der jeweiligen nationalen Selbst- und Fremdwahmehmung geprägt, die mit ihren Kernelementen in die Zeit des die wechselseitigen Stereotype und Vorurteile prägenden Renaissance-Humanismus zurückreichen'". Damit ist gerade auf deutscher Seite ein argumentatives Arsenal angelegt, aus dem sich bei Bedarf Munition zur Bestreitung ideologischer Abgrenzungskämpfe beziehen ließ. Sie wurde vor allem für ein anderweitig kaum aufzulösendes kausales Dilemma des deutschen Republikanismus fruchtbar gemacht; es bestand darin, die besagte derapage, die seit Juni 1793 zu diagnostizierende Abweichung der Französischen Revolution zu deuten, die in den Augen deutscher Beobachter von der vorgezeichnet scheinenden, zu Freiheit und allgemeiner Eudämonie führenden geraden Bahn in den unversöhnlichen Kampf sich gegenseitig befehdender, nicht mehr harmonisch ausgleichbare sozioökonomische Interessen ausfechtender Schichten und damit in moralische Depravation degenerierte'", Diese unheimliche Eigendynamik der Revolution, die nur noch den Ausweg prinzipiellen Festhaltens am geschichtlichen Fortschreiten im großen bei gleichzeitiger Distanzierung von Protagonisten und Ereignissen im einzelnen zuließ, legte es nahe, ein moralisch vernichtendes Urteil nicht nur über besonders verabscheuungswürdige Personen, sondern über die Nation als ganze zu fällen. Damit aber war ein verengtes, mit nationalistischen Kategorien operierendes, die Fehlentwicklungen der Großen Revolution auf französische nationale Minderwertigkeit in all ihren vertrauten Schattierungen zurückführendes Erklärungsmodell so verführerisch nahegerückt, daß sich auch überlegene Geister vom Range eines Forster seiner zugleich emotionale Abgrenzung und politischen 50 Dafür besonders eklatante Beispiele bei Konrad Engelbert Oelsner, Luzifer (Anm. 10), 27f., 93; Georg Friedrich Rebmann, Holland und Frankreich (Anm. 10), 242, wo Frankreich in nicht zu überbietender Knappheit als das "verderbteste unter allen Völkern" bezeichnet wird; Johann Friedrich Reichardt, Vertraute Briefe (Anm. 10), 103, 112. 51 Grundlegend zum Nationalismus deutscher Humanisten um 1500 J. Ride, L'image du germain dans la pensee et la Iitterature allemande de la redecouverte de Tacite A la fin du XVIe siecle, 3 Bde., Paris 1977; außerdem L. Krap], Germanenmythus und Reichsideologie. Frühhumanistische Rezeptionsweisen der taciteischen Germania, Tübingen 1979. Vgl. zu diesem Komplex Volker Reinhardt, Der Primat der Innerlichkeit und die Probleme des Reiches. Zum deutschen Nationalgefühl der frühen Neuzeit, in: Bemd Martin (Hrsg.), Deutschland in Europa. Ein historischer Rückblick, München 1992, 88 - 104. 52 Vgl. Anm. 50.

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Trost spendenden Dynamik nicht zu entziehen vermochten'". Komplementär dazu gewinnt - ein gerade ~us den emotional hoch befrachteten Briefen eines Rebmann, Oelsner oder Kerner mit Händen zu greifendes Phänomen - die Aufwertung der eigenen Kultur und Geschichte, der deutschen Innerlichkeit und Aufrichtigkeit als Basis überlegener Sittlichkeit, vor allem aber der Kult der Reformation als der wahren, der deutschen, der moralisch regenerierenden Revolution'", vor deren Hintergrund die französische vor allem der Jahre 1793/94 nur verlieren konnte und zurücktreten mußte, hohes Gewicht, ja geradezu die ideologischen Strömungen übergreifenden Beweischarakter. Umgekehrt treten auf italienischer Seite die altüberkommenen Topoi der mit dem römisch-italischen Namen seit jeher verknüpften Kulturmission, der Glaube an die Unverlierbarkeit historisch konkretisierter Virtus, die in der Antike geprägt, in der Städtekommune des Mittelalters bewahrt wurde und im republikanischen Tugendstaat der Zukunft ihre Auferstehung zu erleben hat, bestimmend hervor'". Gerade diese Elemente nationaler Abgrenzung und die Erwartung kommender nationaler Wiederauferstehung sollten in beiden Ländern, als die kurzlebigen republikanischen Experimente unter französischer Oberhoheit in Desillusionierung und Frustration geendet waren, die neue, in der "jakobinischen" Phase noch zurücktretende Größe des auf gemeinsamer Sprache, Geschichte und Abstammung beruhenden Nationalstaates determinieren.

53 Georg Forster, Parisische Umrisse, in: Werke, Bd. 3 (Anm. 10), 753j ders. Briefe, in: Werke, Bd, 4 (Anm. 10), 843ff. ä titre d'exemple. ' 54 Charakteristisch bei Georg Friedrich Rebmann, Kosmopolitische Wanderungen (Anm. 10), 58 - 61. 55 Zum italienischen Nationalbewußtsein Ende des 18. Jahrhunderts R. Soriga, L'idea nazionale italiana dal secolo XVIII all'unificazione, Modena 1941.