Ostseeman, Triathlon, Langdistanz (3,8 km Swim, 180km Bike, 42,2km Run) Die Streckenbeschreibung: Massenstart in der Ostsee an der Strandpromenade von Glücksburg. Zwei Runden auf einem strandnahen Dreieckskurs 3,8 km schwimmen, nach dem Wechsel auf einem welligen, schnellen Radrundkurs, der wassernah durch das reizvolle Angeln und durch Glücksburg führt 180 km Rad fahren, wobei die Strecke sechsmal zu durchfahren ist und somit sehr abwechslungsreich für Athleten und Zuschauer, erneuter Wechsel in der gleichen Wechselzone wie nach dem Schwimmen. Die Marathon-Laufstrecke führt zunächst 3 km direkt am Wasser zum Teil steil nach oben über die Kurpromenade in den Ortskern von Glücksburg, durch den Schlosspark und vorbei am Schloß. Sie ist fünfmal zu durchlaufen. Hier ist mein Bericht, unglaublich, lang, echt, ehrlich und wahrhaftig: Sonntag, 02.08.2009, 6:50 Uhr, Glücksburg bei Flensburg: Hinter mir geht die Sonne auf. Ich blicke mit 700 anderen Startern auf die flache, ruhige Ostsee. Footballer der Hamburg Seadevils stehen in der 1. Reihe und hindern uns daran das Wasser zu früh zum Kochen zu bringen. Mir geht’s es richtig gut. Ich bin zufrieden mit mir und meiner Welt. Noch 10 Minuten bis zum Start. Endlich. Unglaublich. Glücklich. Seit Dezember verfolge ich dieses Ziel, habe diesen Traum, am Start meiner ersten Langsdistanz zu stehen. Wir sind schon donnerstags angereist. Ich hatte große Schwierigkeiten meine Arbeit und die am Ultimo fälligen Dinge zu managen und aufgrund der bereits zuvor zugesagten Urlaubsanträge die 4 Arbeitstage von Donnerstag bis Dienstag auch noch frei zu bekommen. Ausgerechnet Mittwoch sagt mir mein Physio wegen Krankheit den letztmöglichen Termin ab für ein Kinesio-Tape meines lädierten Lendenwirbelbereichs ab. Als alles am Donnerstag losgehen sollte und ich trotz Urlaub noch mal zur Arbeit gehe und letzte Dinge auf den Weg bringen will bekomme ich einen Anruf, der mir die Füße wegzieht: Mein Kollege hat die Schweinegrippe aus Mallorca mitgebracht und fällt ab Montag aus. Sollte ich tatsächlich den Urlaub gekürzt oder gar gestrichen bekommen. Abwarten. Ich melde den Schweinegrippenfall an die Personalabteilung und die Marktleitung, hinterlasse meine Handynummer und fahre mit Michaela und unserem voll geladenen A4 Kombi los in Richtung Glücksburg. Es geht 700 km durch die Republik. Da angekommen sieht die Welt ganz anders aus, Das Meer zeigt sein unschönes Gesicht. Rau, windig, wellig. Am Freitag auch; mein Einschwimmen verheißt spannende 3,8 km. Das Wasser ist zwar überraschend klar und gar nicht so salzig. Dafür ist es voll mit Quallen.

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Es gibt sie hier wirklich, nicht vereinzelt, nicht wenige, sondern viele. Unter mir, neben mir, und vor allem vor mir. Überall. Ich kann mir nicht vorstellen hier über eine Stunde im Wasser zu sein und mich durch dieses Getier zu pflügen. Beim Eintauchen und Langmachen im Wasser eine Qualle mit der flachen Hand zu durchstoßen ist ein ganz seltenes Gefühl. Es ist widerlich. Nicht auszudenken, wenn mir eine im Gesicht hängt. Und es sollen sich ja auch Feuerquallen darunter befinden, wie meine linke Hand bestätigen kann. Auch der Wellengang ist für einen rheinhessischen Schwimmbadgänger recht heftig. Solche Wellen produziert nicht einmal die Ludwig-Gruppe auf der Nebenbahn. Das wird spannend. Nach 15 Minuten hab ich genug davon und pelle mich aus meinem Neo. In 2 Tagen bin ich hoffentlich längst aus dem Wasser draußen und auf dem Fahrrad. Ich ziehe mich genau da am Strand um, wo ich dann sonntags am Start stehen werde. Hier bin ich. Die Sonne hinter mir wirft meinen Schatten ins Meer; ein Teil von mir ist also schon auf der Strecke, obwohl der massige Footballer noch vor uns steht. Ich genieße diesen Augenblick, obwohl die Nacht davor keine wirkliche Nacht war. Ich war so aufgeregt, habe mich mit all den kommenden Qualen und Quallen beschäftigt und bin nie wirklich tief eingeschlafen. Jetzt weiß ich warum man vom härtesten Tag des Jahres spricht: Weil die Nacht davor schon mitzählt. Alles hat gut geklappt. Ich habe alle Tüten sortiert und abgegeben, habe trotz Schlange vor den Dixy´s noch rechtzeitig vor dem letzten Blatt Klopapier mein finales Geschäft erledigt und mich noch schön mit meinem Anti-Quallen-Melkfett eingeschmiert. Hier bin ich. Obwohl mir meistens zu kalt ist, spüre ich heute eine ungewohnte Wärme in mir, anders ausgedrückt: Ich bin heiß! Das Einschwimmen vor wenigen Minuten im 16,5 Grad kalten Wasser war herrlich. „Ganz schön kalt“, meint die Sportlerin neben mir. „Ich find´s klasse“ sage ich und grinse im Kreis. Ich weiß Bescheid, ich bin heiß! Frankfurt war vor 4 Wochen. Aber heute ist mein Tag. Der 02.08.2009. Hier bin ich. Mein Frankfurt liegt bei Flensburg. Der Glücksburger Glücksritter heißt Rainer. Startnummer 509. Ob sie hier auch die Nationalhymne spielen? Nein, tun sie nicht! Egal, die Musik ist trotzdem gut. Hinter mir stehen die meisten der Starter und nur wenige vor mir, aber keiner wirkt auf mich so ruhig, wie ich es bin. Heute ist mein Tag. Ich bin da! Endlich! Startschuß! 2

Wie ich mir es vorgenommen habe, gehe ich die ersten Meter links ganz ruhig bis zur ersten Flensburger Pilsener Tonnenboje, das Wasser geht mir immer noch bis zu den Oberschenkeln, was hilfts. Los geht’s! Ich beginne zu schwimmen. Direkt unter mir rennt eine Krabbe um ihr Leben. Ganz schön was los hier heute morgen. Den Steg rechts von uns umschwimme ich möglichst weit links um den Trubel auszuweichen. Um mich herum schwimmen grüne, gelbe, weiße und rosa Badekappen, so wie ich auch eine trage. Ich muß daran denken, dass beim letzten 70.3 in Wiesbaden die Mädels in rosa gestartet sind!

Jetzt starten die meisten Männer hier in rosa. Mir fällt auch nicht mehr ein, wer jetzt die grünen Kappen trägt und wer weiß und wer gelb. Egal, ich soll ja schließlich schwimmen und da muss ich in dieser Menschenmasse immer konzentriert bleiben. Keine Zeit für Farbspiele. Auf dem Weg zur ersten Wende-Boje ist es dann doch erstaunlich ruhig. Es zappeln zwar überall ganz viele Arme umher, aber ich schaffe es dabei meine Bahn ziemlich ungestört und alleine zu ziehen. Damit finde ich zwar keinen Wasserschatten, aber auch keinen der mir die Brille wegreißt oder mir ins Gesicht tritt. Dafür entdecke ich ein paar Seesterne am Meeresgrund. Die Quallen sind dagegen wie weggeblasen. Vor der ersten Boje tut sich eine schöne Gasse für mich auf, wie schön, es geht fast schon gemütlich zu, auch wenn das der, den ich beim Wenden unter Wasser trete, in seiner Zusammenfassung anders sehen wird. Ist doch enger als gedacht. Tut mir leid und ab dafür Richtung Yachthafen. Knapp 1 km geradeaus, möglichst die Ideallinie finden. Jetzt geht es etwas weiter raus aufs Meer. Ich bleibe in der Bewegung. Etwas mehr Seegang und auch ein paar Quallen sorgen für Abwechslung. Viele Mitschwimmer scheinen ganz schön weit rechts abzutreiben, ich hingegen wähne mich auf der Ideallinie. Auch die nächste Wende nehme ich so genau, dass ich das DLRG-Kanu ramme und die nächste Boje ganz im 3

Stile von Faris al Sultan hart anschwimme. Ein wenig Abwechslung muß sein, denke ich mir lapidar. Mit Schwimmen beginne ich auf Lanzarote im Juli 2002. Der Pool ist 20 Meter lang. Immer wenn ich am anderen Ende ankomme, brauche ich eine lange Pause. Kraulen ist sehr anstrengend. Echter Freistil sieht anders aus. Die Blicke der anderen am Pool, die durch mein mittägliches Geplantsche aufschrecken, geben mir die Gewissheit. Mein Stil ist verbesserungs-bedürftig! Am nächsten Tag flüchte ich ins Meer. Ich beschließe 10 Minuten raus und dann wieder reinzuschwimmen. Nach 5 Minuten fühle ich mich bedenklich weit draußen und kehre um. Zurück brauche ich mindesten 10 Minuten und gefühlte 20. Am Strand entdecke ich eine gelbe Flagge und kenne seitdem deren Bedeutung. Das ist ein Zeichen: Ich werde noch lange davon träumen die erste Disziplin komplett durchzukraulen. Heute ist das anders. Ich kraule immer noch. Am Boden haben die Organisatoren diesmal Muschelbänke platziert. Die haben wirklich ein Auge für Details hier in im Norden. Nochmal entlang des Strandes, vorbei am Steg, Richtung Wende und wieder zurück. Auf Runde zwei erschrecke ich fast über mich selbst. Was mache ich hier eigentlich? Ach ja, Schwimmen, richtig und die anderen um mich drumrum auch. Mein Körper scheint sich vom Geist zu lösen und schwimmt wie programmiert. Eintauchen, gleiten, ziehen, abdrücken, eintauchen, gleiten, ziehen, abdrücken. Auf einmal ein Stich in meinem rechten Ohr: Wasser. Was sonst. Kurz geschüttelt. Weiterschwimmen. Da vorne schwimmt mein Wasserschatten. Den hol ich mir und bleibe dran. Das funktioniert aber nur ein paar Minuten. Immer wieder verlässt der die Linie und scheint backbord Dänemark ansteuern zu wollen. Ey, ey Kapitän, gute Reise. Während mein Wasserschatten Dänische Kronen braucht, schläft mir mein linker Arm ein. Er wird irgendwie taub und steif, aber er folgt der Programmierung: Eintauchen, gleiten, ziehen, abdrücken. Und weiter geht’s. Yachthafen, letzte Wende, letzter Gruß ans DLRG-Kanu und an die Muscheln. Hier beginnt das Finish, die letzten knapp 400 Meter bis zum Strand. Die großen Flensburger Pilsener Tonnen grüßen mich wieder und ich schwimme so weit wie es geht. Noch 2mal , 3mal: Eintauchen, gleiten, ziehen, abdrücken. Ich will gar nicht mehr aufhören zuschwimmen. Die pure Freude durchströmt meinen Körper. Ich bin am Strand. Vor 7 Jahren noch ein blutiger Nichtschwimmer, ein wirklicher Schwimmbahnenverstopfer und jetzt im Ziel der ersten Disziplin einer Langdistanz. Wie geil ist das denn. Unglaublich. Ich pelle meinen Oberkörper ruck zuck aus dem Neo und posiere für Michaela, die mich mit der Kamera empfängt. „Super Rainer“. Stimmt! Wirklich super!

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Weiter geht’s zu meiner schlechtesten Disziplin, dem Wechseln. Vor lauter Freude vergesse ich meinen Wechselbeutel, bekomme den aber von einer Helferin flott angereicht. Sehr nett hier alle. Ab ins Wechselzelt. Da stehen nur 2 Bänke und die sind alle besetzt. Irgendwie dreht sich jetzt alles bei mir und um mich rum. Die machen sich aber auch ganz schön breit hier. Ich warte kurz und trete dabei den Neo runter, bis ein Platz frei wird. Dann mache ich mich ganz schön breit hier, wie ich feststellen muß. Mein Herz schlägt wie der Teufel und ich zwänge mich in Hosen, Trikots, jeweils 2 Stück, schließlich ist es noch kühl und früh am Morgen, ziehe Armlinge, Piratentuch und meine CEP-Kompressionsstrümpfe, sowie die Schuhe an und ab zum Fahrrad. Das hat verdammte 8 Minuten gedauert und, was ist das denn? Auf meinem Sattel sitzt die komplette Wechselwäsche von heute früh. Von wegen: Alles hat gut geklappt. Fast alles. Hastig will ich den Berg Wäsche fassen und dabei fällt erstmal alles auseinander und durcheinander. Michaela steht zum Glück unweit parat und nur 10 Meter weit weg. Ich packe das Zeug und reiche es ihr über den Zaun. Für sie wird das auch ein harter Tag. Aufstehen um 4:30, Frühstück um 5 und dann Athletenrundumbetreuung. Vorm Schwimmen sieht sie mich gar nicht, hinterher kurz, beim Radfahren 6mal und beim Laufen 5mal, wenn alles klappt. Aber das ist das gute an den Rundkursen, man sieht sich öfter. Ich eile zurück ans Rad, greife das Startnummernband, Helm auf und zu, verlasse mit der gefühlt schlechtesten Wechselzeit des Tages die T1 -da die Wechselzeiten in Glücksburg zu den Radzeiten zugeschlagen werden, bleibt das aber Spekulation- los geht’s endlich auf die 6 Runden a´ 30km rund um Glücksburg. Ich bin die Runde einmal mit Andreas Ulrich aus dem Ute Mückel Sebamed Team und seinen Freunden abgefahren und war wirklich überrascht von dem auf und nieder hier an der Ostsee und tatsächlich ist die Strecke sehr wellig. 5

„Rolling hills“ nennt das der Experte und knapp 800 Höhenmeter warten auf mich. Erstmal ruhig losfahren und nicht gleich überzocken. Ich halte mich an meinen Puls und versuche mich im klassischen „Trimming 130“. Los geht’s hoch auf die Sandwigstrasse und mit viel Schwung runter vorbei an etlichen Zuschauern am Rand. Das geht gut los, aber natürlich nicht so weiter. Nach 3 km wartet gleich einer der ersten längeren Anstiege nach Wees, so dass ich mich wirklich zurücknehmen muß. Durch Wees geht’s über einen holprigen Kreisel und etliche verkehrsberuhigte Hubbel was jetzt schon nervt, dafür stehen da die ersten wahren Fans am Rande, immer verteilt in kleinen sympathischen Tennie-Gruppen und in Sachen Lautstärke ganz groß. Ganz hinten im letzten Haus wohnt eine Großfamilie und die Mutter ist die Dorfschönheit und sie gibt mir und mit Ihrem Lächeln noch mal Vollgas. So kann es weiter gehen. Über Oxbüll führt die Strecke auf einem schmalen Feldweg – die Strecke folgt überwiegend abseits der Haupstraßen angelegten WirtschaftswegenRichtung Munkbrarup. Diese Kreuzung werde ich heute abend dann endlich als Ostseeman passieren, wenn wir zu unserer Unterkunft Landhaus Riebe“ zurückkehren. Dieses Haus war die letzte Möglichkeit im weiten Umkreis noch überhaupt kurzfristig einen Schlafplatz zu bekommen. Michaela hatte diese am Ironmansamstag, als entschieden war, dass ich am nächsten Tag nicht starten werde und die Glücksburger einen ihrer letzten Plätze an mich vergeben werden, klar gemacht. Das absolute Gegenteil einer Sportlerunterkunft. Wer einmal einen ganzen „Rosamunde Pilcher“-Film durchgehalten hat, kann sich nur annähernd vorstellen, wie idyllisch Frau Riebe Heim und Garten eingerichtet hat. Antiquitäten soweit das Auge reicht. Kaffeemühlen, Töpfe, Schüsseln, Teller, Figuren, Säulen, Tücher, Teppiche, Stuck, Glanz und Glorie. Der Garten ist wie geleckt! Auf meinem Nachttisch am Bett steht eine über 200 Jahre alte Buddha Figur. Wir wohnen in der Supersuite. Das hört sich gut an. In einer Woche in der kein Triathlon in der Nähe stattfindet, also ohne so viele Gäste, ist das das Schlaf und Wohnzimmer unserer Herbergsmutter. Frau Riebe hat alles mit viel Liebe eingerichtet. (Merke: Richten + Liebe = Riebe). Nicht nur Haus und Garten, auch Frau Riebe ist ein Knaller. Herzlich, offen, hilfsbereit, aufgeschlossen, tolerant, eloquent, ehrlich und besorgt. „Was haben Sie vor?“ „ 3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren und 42,195 km Laufen“ „Wie, bitte und das alles an einem Tag? Das ist ja verrückt!“ Stimmt. Ich bin froh hier untergekommen zu sein und nicht in einem Hotel vor Ort, wo sich die Gespräche vor, nach und beim Frühstück und Abendessen wohl immer nur um alle möglichen Details drehen werden rund um den verrückten Triathlonsport. Dinge über die ich keine Ahnung habe: Total immersion, Kettenblätter,- kränze, -zähne, Laufräder, Puls-, Navigations-, Geschwindigkeitsmessungen, Kompressionskonfektionen. Dinge, die mich interessieren, immer sehr teuer und mir doch irgendwie egal sind. Ich will nur eins, ab ins ZIEL. Bei Munkbrarup geht’s dann mal auf die Landstrasse. Die Sportler fahren links, Straßenverkehr ist rechts. Nach nicht mal 5km geht’s über Ringsberg, vorbei an der Dorfjugend-Gang, die einem fast vor Begeisterung vors Fahrrad springt, runter nach Rüde mit der ersten herben Rechtskehre im Kurs. Der führt an den wenigen Häusern von „GEIL“ vorbei. Hier beginnen die rollenden Hügel, wo es gilt den Schwung mitzunehmen und es folgen etliche kleinere und größere Kurven, an denen immer wieder vorsichtig gebremst und neu beschleunigt werden muß. Zwischendrin auf einem riesigen Grundstück ein Ehepaar beim Frühstück, fröhlich, kauend, winkend. Nach einer langen und völlig uneinsehbaren Abfahrt in einer Rechtskurve, die mich an die Achterbahn im Phantasialand erinnert, zumindest gab es da mal vor 20 Jahren genau so eine, streift der Kurs die Flensburger Außenförde. An der nächsten scharfen Linkskurve wartet dann sogar das hiesige Rotkreuzteam. Alles klar, ich habe verstanden, langsam machen! Vor einem kurzen, zähen Anstieg hat der Veranstalter ein eishockeytor- artiges Fischernetz für die leeren 6

Wasserflaschen aufgebaut und oben wartet eine überaus bemühte Verpflegungscrew mit den verschiedensten Leckereien: Wasser, High5 Elektrolyt, High5 Riegel, High5 Gel und Bananen. Ich halte mich nicht lange auf, schließlich bin ich noch gut versorgt und gemäß Ute Mückel Ernährungsplan auch bestens gewappnet: Vor dem Start bis 2h vor dem Start frühstücken und bis kurz vor dem Start 0,7 Liter trinken. Alles kein Problem! Nach dem Schwimmen auf dem Rad die ersten 10,15 Kilometer einfahren und in den 30 Minuten ca. 0,5 Liter Mineralgetränk und bloß nicht essen! Problem! Natürlich bekomme ich während der ersten halben Stunde schon massiv Hunger, halte mich aber an die Vorgabe. Mein erstes Drittel Powerbar nach genau 29 Minuten schmeckt super und ich lasse ihn mir auf der Zunge zergehen, was ich aber aufgrund meiner Bissschienen sowieso machen muß, weil das Kauen mit den Schienen nicht möglich ist, ansonsten ziehe ich mir die Dinger von den Zähnen. Ich hätte nicht gedacht, dass die zähen Riegel sich im Mund mit der Zeit so herrlich auflösen und genieße jeden Schluck Energie. Trainiert habe ich das nicht und im Training gleich die Power Gels genommen, aber ich freue mich über die Tatsache, dass man im Training doch nicht alles ausprobieren muß. So kann es weiter gehen. Über die wegen der Autos seitlich verengte Strasse geht’s nach Bockholm und von dort zur Wende nach Holnis und wieder zurück Richtung Glücksburg. Dem Höhenprofil des Veranstalters Glauben schenkend sind die 3-4 km bis zur Wende flach wie ein Blondinenwitz, aber ich empfehle dem Veranstalter an dieser Stelle den Vermesser noch mal seine Latte in den Boden zu stecken. Flach ist anders. Wir reden hier von keinen großen Steigungen aber immerhin muß ich hier noch 5mal vorbei und jedes Mal zweifle ich an mir selbst, weil mein Puls hier an angeblich flacher Stelle neue Höhen erklimmt. Die 130 sehe ich hier nicht mehr auf meiner Uhr. Die Wendestrecke ist landschaftlich sehr schön und auch hier stehen vereinzelt Leute in kleinen Gruppen die wirklich jedem ihren Respekt zollen und ihn anfeuern, als wäre er hier der erste und einzigste auf seiner Mission. Zur Idylle tragen mehrere Pferdekoppeln entlang der Straße bei, doch vom Interesse der Pferde bin ich massiv enttäuscht. Als würden hier an dieser Stelle jeden Tag ständig hunderte, tausende Radfahrer vorbeikommen, ziehen sie es vor Ihren Kopf im Gras zu vergraben und das Grünzeug genüsslich zu Stroh zu verarbeiten. Ich erinnere mich an meinen Wettkampf in Butzbach und die Pferde an dieser Strecke, die sich nicht satt sehen konnten an den rollenden Zweibeinern auf der Straße vor ihrer Koppel. Ein kleines blondes Mädchen im sonntäglich hellblauen Kleidchen verhält sich da anders. Es steht da mit offenem Mund und einer Art Rassel in der Hand und rasselt staunend monoton mit offenem Mund den Radlern entgegen. Bei meiner letzten Runde wird die Kleine immer noch dastehen, als hätte sie kein Zuhause, während die Eltern nach einer Stunde keine Ausdauer mehr haben. Das nenne ich stille Begeisterung. Nach Bockholm beginnt wieder ein Wellenabschnitt und wieder hat man die Strasse geteilt für Sport und Verkehr, was die Sache gerade an den Anstiegen nicht leichter macht, weil manche Kollegen beim bergab fahren die Beine hochnehmen, während ich den Schwung mitnehme. Dadurch komme ich immer wieder an vielen vorbei, die vermutlich nur halb so lange gewechselt haben, aber ich sehe mich gezwungen mich von hinten immer anzukündigen, weil mir das doch immer sehr eng erscheint. 4, 5 Hügel später erreiche ich Glücksburg und die ersten Menschen sitzen an der Strecke und feuern mich an. Ein Junge sitzt an der Straße und schlägt rhythmisch auf seine Trommel ein, bumm, bumm, bumm. Die Strecke innerorts rund um den Jungfernberg – wie symbolisch für mich- ist wieder vom feinsten. Von der Hauptstrasse rechts ab, leicht nach oben, wieder leicht rechts runter, radikal rechts ab und bergab rechts entlang, 7

wieder leicht hoch und dafür gleich wieder links runter und noch mal hoch, scharf rechts und ab nach oben Richtung VP 2 und Richtung Ziel. Phantasialand Glücksburg. Wow, was ist denn hier los. Menschen! Und zwar wirklich viele. Die Lautstärke wandelt sich schlagartig von Idylle zu Hexenkessel. Wie geil. Ich gehe aus dem Sattel und freue mich über diese Passage. Zu Beginn des Anstiegs hält eine Frau ein Schild vor sich auf dem steht „Antal mein“ und dann ganz groß „TIGER“. Ich kann es nicht fassen und bevor ich vor Lachen aus den Pedalen rutsche schreie ich „TIIIIIGER“ und erschrecke vor mir selbst und vor meiner Lautstärke. Egal. Linkskurve und noch mehr Menschen rechts und links auf der Straße. Tour de France Feeling an der Ostsee. Ich genieße jeden Meter und schon kommt die VP 2, obwohl ich noch immer nix brauche. Michaela hab ich noch nicht gesehen , doch schon auf der folgenden Abfahrt höre ich meinen Namen „Raaaaaainer“.

Da ist sie mit dem Versuch ein Foto von mir zu schießen. Dumm nur, dass ich hier mit knapp 50 runterfahre und nach einem fröhlichen „Huuhuu“ schon auf Runde 2 bin. Prima, nur noch 5mal „Huhu“ und ich kann hier runter vom Rad! Die Zeit von 55 Minuten für die 30km stellen mich zufrieden und ich versuche es auch in der nächsten Runde etwas lockerer angehen zu lassen, um nicht zu übertreiben. Ach ja: Alle 10 Minuten ein Schluck Mineralgetränk und alle 30 Minuten ⅓ PowerBar. Endlich wieder essen. Gut so. Mein Rücken hält auch gut mit. Der Veranstalter hat nach der Wettkampfbesprechung ein kostenloses Kinesiotaping gegen eine freiwillige Spende angeboten, wodurch ich doch noch zu meinem rosa Rückentape gekommen bin. Das war wichtig für den Kopf! Ich strecke mich trotzdem ab und an und bleibe nicht stur in der Aeroposition, was hier eh nicht geht. Schließlich hat der Veranstalter knapp 30 Ecken und Kanten eingebaut, die höchste Konzentration verlangen. Mein Rücken hält sich erstaunlich gut, wie ich finde. Nachdem ich wieder in Wees einfahre und merke, dass immer noch die gleichen Menschen an der gleichen Stelle stehen und mich anfeuern, gefällt mir die Sache mit der Rundstrecke noch besser. Kreisel, Teenies, Hubbel, Schönheit, Jugendgang, Rüde, Kehre, Hügel, das Ehepaar hat das Frühstück gegen ein Schifferklavier und Gesangsbuch eingetauscht, Feldweg, Geil, Kurve, Achterbahn, Kehre, Ostsee, VP 1, Wendepunktstrecke, Mädchen mit Rassel, 8

Radler im Gegenverkehr, nette Leute, Hurra, ein Pferd interessiert sich nun doch für uns, Wende und zurück, angeblich flach, nach Bockholm, Antritt mit Schwung, Überholen mit Ankündigung, erste Menschen, 270Grad rechts, Trommel, Phantasialand, mehr Menschen, TIIIIIGER, Frankreichrundfahrt, Raaainer und Michaela. Puhhh. Runde 2 war sogar viel schneller, unter 52 min! Trotz Interview. Dem hiesigen DVD-Team ist der gelbe TCEC Indianer ins Auge gesprungen, macht Aufnahmen von mir und bittet um ein paar Worte: „Erzähl mal was“. Völlig überpulst erzähle ich irgendwas von Frankfurt und meinem Rücken und Mainz und lächle, was die Gebissschienen hergeben. Soll doch keiner merken, dass das hier anstrengend ist. Aber ich glaube, dass meine Geschichte keinen echten Sinn ergibt. Egal. Ich bin im Fernsehen, gebe Interviews und bin sogar noch etwas schneller als zuvor. Und habe mich auch gar nicht wirklich angestrengt. Vor Begeisterung schmeiße ich sogar mit meiner leeren Trinkflasche um mich und räume fast den Sportkameraden hinter mir ab. „Entschuldigung“. Er ist mir nicht böse. Windschattenfahrer, die hinter einem anderen kleben sind eher selten, auch wenn manche Mitstreiter auf den späteren Runden einem gemütlichen Plausch Schulter an Schulter nicht abgeneigt sind und sich herausstellt, dass die von Windschattenbox noch nicht mal was gehört haben. Das amüsiert mich zwar, sehe mich aber gezwungen, den Plausch durch mehr Tempo zu unterbinden, weil ich Michaela versprochen habe ohne Karte durchzukommen, ganz anders, als bei meiner früheren sportlichen Betätigung, dem Fußballspiel, wo ich grundsätzlich immer mindestens mit der gelben Karte vom Platz bin und manchmal auch früher mit gelbrot oder rot. Ob ein junger Sportkollege, der sich als Windschatten eine ebenfalls junge Sportkollegin mit attraktivem Gesäß vor sich ausgesucht hat ohne Karte bleibt werde ich nie erfahren, aber ich habe noch nie jemanden gesehen, der so penetrant und stur hinter einer weiblichen Radlerin dran bleibt und lutscht. Ich habe ihn Pussyklette getauft. Meinen freundlich gemeinten Hinweis hat er nicht verstanden. Ob die Kamera auch die beiden aufgenommen hat, werde ich mit Spannung beim Betrachten der Race-DVD verfolgen. Ich gebe gerne zu, wenn mir beim Laufen danach ist tendiere ich dann, wenn es sich anbietet, auch nach weiblicher Führung, aber beim Radfahren im Wettkampf verbietet das doch die sportliche Moral und der männliche Stolz. Auch ohne selbst eine Pussyklette zu sein, fahre ich Runde 3 ebenfalls unter 52 min. Jetzt mal langsam, Rainer. Die Worte meines Coachs Ute im Kopf „die 10 Minuten, die Du beim Radfahren schneller bist, kosten Dich beim Laufen eine halbe Stunde…“ lasse ich Runde 4 mit Pinkelpause und 56 min lockerer angehen und die Runde 5 genauso nur ohne pinkeln. Die Leute am Rand, ob mit Trommel, Rassel oder einfach nur so, stehen wirklich alle immer noch an den gleichen Stellen, feuern mich an und wirken schon wie alte Bekannte. Auch mein brauner Freund auf der Koppel hat noch ein Auge für uns Radler. Irgendwann stupst mich ein Bekannter vom Frühstück leicht in die Seite. „Weiter so“, ruft er mir zu. Ein 65jähriger Sportkollege, der ebenfalls im Landhaus Riebe mit uns genächtigt und gefrühstückt und mir dabei noch unheimlich wichtige Tipps gegeben hat, die ich aber auch wirklich gar nicht mehr hören wollte während er sich kiloweise den letzten Honig auf sein Brötchen schaufelt. Wir überholen uns ab und an gegenseitig, was recht nett und abwechslungsreich ist. Aber nachdem der Gute mich und den, den ich gerade ordnungsgemäß links überhole an einer der angesprochenen Engstellen vor Glücksburg RECHTS überholt und der von beiden Seiten düpierte verschreckt nach links, also in meine Richtung zuckt und ich wiederum den schmalen Grünstreifen zwischen Straßengraben und Asphalt teste, habe ich genug und lasse den Irren ziehen. Hinterher erfahre ich, dass er kurz drauf in der sagenhaften „270 Grad“ Kurve selbst Asphalt-Kontakt hat, was mich 9

nachträglich doch wieder milde stimmt. Zwischendrin steht irgendwo die blonde Maus vom CEP-Stand und bejubelt jeden, der die Socken ihres Arbeitgebers trägt. Zum Glück habe ich genau die und nicht die anderen Strümpfe von 2XU an. Pünktlich zur letzten Runde fängt es leicht an zu tröpfeln. Kein wirklicher Regen, eher kleine schmale Bindfäden, die angenehm im Gesicht kühlen, aber dafür die Straße klitschig erscheinen lassen. Ausprobieren, ob der Untergrund tatsächlich rutschig ist will ich aber lieber nicht. Ich habe meinem Stevens versprochen heil mit mir zurückzukommen und bremse daher noch artiger als zuvor an den einzelnen kritischen und auch an den weniger kritischen Stellen. Das ist sicher ein Grund warum ich mit knapp 59 Minuten die langsamste Runde am Schluß fahre. Dafür habe ich neue Erkenntnisse: Das liebe Pferd betrachtet gar nicht die Radfahrer, sondern nur einen freundlichen Schäferhund am Straßenrand. Und wenn es nur leicht regnet packt der Musiker an der Ostsee sein Schifferklavier ein und verzieht sich nach drinnen, die Jugendgang ebenso. Dafür halten mir Dorfschönheit und Mädchen mit Rassel die Treue. Die meisten Zuschauer trotzen tatsächlich dem kleinen Schauer und ich bedanke mich artig bei allen am Rand und auch bei dem Verpflegungsteam. Ich bin schon jetzt total sentimental und könnte heulen bei jedem „Tschüß und vielen Dank für alles“, auch, wenn meine Oberschenkel die letzten 30 km nicht mehr gebraucht hätten. „Und jetzt soll ich noch einen Marathon laufen?“ Unglaublich! Noch unglaublicher ist das Thema ESSEN für mich. Ich war im Vorfeld begeistert von meinem Ernährungsplan, den Vorgaben, wann ich wie viel zu essen und zu trinken habe und wann ich die Salztabletten einwerfen soll. Allerdings ist das ganze schon nach Rad-Runde 3 Makulatur, weil ich viel früher Hunger und Verlangen nach fester Nahrung habe, als auf dem Plan vorgesehen ist. Und auf dem Plan steht nichts davon, dass ich schon nach 5 Stunden keine Lust mehr auf die eklig süßen Powerbars oder unreife Bananen habe. Die High5Gels möchte ich erst gar nicht ausprobieren und so bleibt mir nichts als die noch vor 3 Stunden so lecker verzehrten Riegel mit Widerwillen herunter zu schlucken; Verschlucken mit eingeschlossen. Allein bei dem Gedanken an dieses „Essen“ dreht sich mein Magen und ich muß tief Luft holen um einer Eskalation zu widerstehen. Ich frage mich, wie ich das noch einmal genauso lange aushalten soll. Unglaublich. Widerlich. Der Gedanke an Salzgebäck auf der Laufrunde an VP 2 lässt mich allerdings ein wenig auf Besserung hoffen. Auf der anderen Seite denke ich gar nicht mehr über die Tatsache nach, dass ich jetzt schon soweit geradelt bin, wie noch nie zuvor in meinem Leben, und das NACHDEM ich die längste Strecke meines Lebens im Wasser schwimmend zurückgelegt habe. Unglaublich. Auf meiner letzten Radrunde begegnen mir schon die ersten Läufer, die schon km 4 passieren. „Antal mein Tiger“ scheint auch noch auf dem Rad unterwegs zu sein, denn seine weibliche Fan-Begleitung hält weiterhin erwartungsfroh ihr Papp-Schild vor sich, feuert mich aber dafür seit Runde 3 so laut an, als hätte Sie mich zum Ersatztiger erkoren. „Tiiiger“. Das Tour-Gefühl am letzten Anstieg hat dann was von Zugend(t)e am Rosenmontag, irgendwie traurig, hier ist fast nix mehr los. Das macht es leichter meinen treuen Carbon-Begleiter nach einem guten 33er Schnitt den überaus freundlichen Helfern in der Wechselzone zu überlassen. Meinen Beutel finde ich dieses Mal doch gleich und auch die Bank im zweiten Zelt ist einsam und verlassen. Ich staune, was ich wieder alles in den Beutel gesteckt habe, sortiere erstmal eilig alles und starte dann mit ärmellosem Radtrikot. Immerhin dauert dieser Wechsel „nur“ 3 Minuten. Auf dem Weg Richtung Marathon stopfe ich mir noch meine Windweste in die Rückentasche zu den 3 Powergels, die ich vorher mit Hingabe geschmacklich sortiert habe: Vanille, Strawberry-Banana und noch was Beeriges mit Koffein. Mit Schwung geht’s auf die erste von fünf 8,44 km Runden und nach nicht 10

mal 1 km gebe ich irgendjemandem meine nervige Windweste für die es viel zu warm ist und die beim Laufen unangenehm in der Rückentasche hin und her wackelt. „Ich hole die später wieder ab“. Dann geht’s über eine kleine Holzbrücke zur nächsten Wasserstelle am Campingplatz. Dort werde ich gleich nach dem ersten Kilometer vom Sprecher als „Rainer Schultheis aus Mainz“ der ein „auch guter Maratahonläufer ist“ lautstark übers Mikrofon begrüßt. Prompt verschlucke ich mich an meinem Wasser. Ich kann einfach nicht beim Rennen trinken und dann macht der Mensch noch solche Witze. Ich grinse mich Richtung Wendepunktstrecke, hier geht’s weiter am Ufer entlang auf einem engeren Pfad mit Gegenverkehr der Vorausgeeilten. Hier heißt es laut Veranstalter Rücksicht nehmen, aber gerade die Staffelläufer waren wohl nicht auf der Wettkampfbesprechung. Ich bin schon gespannt, wie die Laufstrecke so ist, denn die hab ich mir im Vorfeld nicht mehr komplett angeschaut. Wendepunkt mit der nächsten Verpflegungsstelle und da sind Sie meine Salzbrezeln. Lecker? Nicht wirklich. Eher pappig und fest. Egal, immer schön im Rhythmus bleiben und die 5:30 halten, was mir trotz Trinkpausen an den Verpflegungs-stellen gelingt. Wieder schnell am Sprecher vorbei und ab Richtung Ortsmitte, die mit einer ersten kleinen Steigung beginnt. Hier wird’s dann zunächst etwas einsamer, auch wenn sich einzelne Grüppchen gemütlich bei Kaffe und Kuchen in ihren Vorgärten versammeln und uns aufmuntern. Ich wundere mich über die vielen Staffelläufer mit blauer Startnummer, die mich einer nach dem anderen überholen, obwohl ich doch wirklich gut unterwegs bin. Bis mir auffällt, dass ich auch eine blaue Startnummer habe, vergehen etliche Kilometer auf dieser ersten Runde. Gut ist nicht immer gut genug. Ich halte trotzdem meinen Rhythmus und die 5:30, auch wenn die Strecke jetzt immer wieder mal knackig hoch zur Kurpromenade ansteigt. Ich laufe trotzdem weiter und hebe mir die Spaziergänge für später auf. Ich kann nicht glauben, dass scheinbar alle anderen schon eine Kordel um den Hals tragen. Unglaublich! Wo und wann gibt’s denn endlich meine erste Kordel? Oben im Ort angekommen führt der romantische Weg runter Richtung Glücksburger Wasserschloß durch den Schlosspark und dann wieder kurz und heftig über uraltes Kopfsteinpflaster hoch auf das Niveau der Haupstrasse, wieder weg von dieser vorbei am Schloßsee Richtung Meer. Da hat man dann nach angenehm leicht abschüssiger Strecke noch mal 100m bergauf eine Wende eingebaut. Dafür stehen da 4-5 verrückte „Weiber“ und schreien und grölen und jubeln für jeden was das Zeug hält. Den Schwung der Damen runter Richtung Meer nimmt man locker mit, bevor es dann knapp 1 km weiter geht und sich die Flensburger Förde in aller Pracht zeigt. Den Yachthafen zur linken geht es wieder über eine noch schickere, längere Holzbrücke auf die letzten 650m. Hier bekomme ich dann meine erste Kordel, die ich stolz wie Oskar umhänge. Grün ist die Hoffnung. Grün-schwarz meine Kordel. Unglaublich, nur noch vier! Runde 1 in knapp 47 min. Dafür gönne ich mir bei VP 1 im Stehen eine Cola und wenige Meter weiter gibt’s Salzletten von einem der vielen Privatversorger. Die sind viel besser als die Brezeln, aber leider bekomme ich nur 3 Stück ab. Irgendwo zwischen Wasserschloß und den verrückten Weiber habe ich Michaela zugerufen sie solle doch bitte meine Laufweste bei km 1 holen gehen unten am Meer…eine wirklich sehr knappe Beschreibung und ich muß dort tatsächlich feststellen, dass sie die Weste noch nicht geholt hat. Also bedanke ich mich artig bei der Garderobiere und ziehe das Teil wohl oder übel an. Apropos übel. Mir wird immer schlechter und der Gedanke an die Laugenbrezel, die sich in meinem Mund zu Kieselsteinen formen verstärkt dieses Gefühl. Das Verlangen nach Nahrung verstärkt sich ebenso. Ich stecke in einem Dilemma und steuere auf die VP 2 zu in dem 11

Wissen, dass das komplette Essens-Angebot gerade mal gar nicht an mich geht und gehe an den einzelnen Leckereien vorbei und lasse alles liegen. Die dargebotene Brühe erweckt mein Interesse, schließlich ist mir eh schon schlecht und ich beschließe nach einem kurzen mündlichen Abgleich über die Inhaltsstoffe- bloß keine Hühnerbrühe- einem skeptischen ersten Schluck damit noch ein paar Salzbretzelchen herunterzudrücken, was mir auch gelingt. Leider muß ich diese Ration erstmal verdauen, die Konsequenz ist, dass ich erstmal nur noch gehen kann. Aber auch so folge ich dem Weg zum Ziel, denn der Weg ist ja bekanntlich selbiges. Wenn Du es eilig hast, gehe langsam. Schließlich begebe ich mich doch wieder in die Laufbewegung, vorbei an einer Mitdreißigerin am Rand, die ihre besten Tage hinter sich zu haben scheint, aber dafür ihre letzten Energien ins Anfeuern mittels Klatschkastaniette steckt. Das ist doch sehr nett und ich schenke ihr ein krampfiges Lächeln. In Wirklichkeit beiße ich die meiste Zeit beide Zahnschienen aufeinander und denke mir nur „tu es einfach“ und „einfach immer weiter machen“. Ein paar hundert Meter weiter meint einer zu seinem Kumpel am Rand „guck mal, der grinst ja noch“. Schein und sein…wenn der wüsste, wie es mir wirklich geht. Schnell vorbei an Mikro und Sprecher geht’s wieder auf den weniger gemütlichen Teil der Runde. Mein Schnitt ist auf jeden Fall dahin und ich habe keine Ahnung mehr, wie schnell oder vielmehr langsam ich gerade bin. Die Tafeln am Rand zeigen auch nicht mehr die aktuellen Kilometer, sondern nur noch 5km Abstände, so dass ich nur noch schätzen kann. Pro km 6 Min. bis 6:30!? Egal, die Runde wird eh nicht besser. Ich beschließe eine weitere Pinkelpause einzulegen, was mitten im Ort unentdeckt nicht so einfach ist. Eine Straßenverengung mit viel Grünzeug mitten auf der Piste scheint mir wie gelegen zu kommen, zumal um mich herum gerade wenig los ist. Ausgerechnet jetzt kommt mir die Michaela entgegen. Das sage ich ihr auch und dabei muß ich doch wieder mal lachen. Sie versteht diese plötzliche Heiterkeit weniger und fragt verzweifelt nach der Weste, die ich ihr wortlos in die Hand drücke. „Mir ist ziemlich schlecht“ quäle ich aus mir heraus und ihr Blick verrät mir, dass ihr das wirklich nicht gefällt. „Nee, oder“, was soviel heißen soll, wie“jetzt stell Dich mal nicht so an, ich bin immerhin genauso lange auf wie Du und jetzt auch kilometerweise hier rumgerannt wegen dieser blöden Weste und Du machst hier einen auf Weichei!“. Ich habe verstanden und verzieh mich weiter Richtung Ortsmitte. „Ich trink´ erstmal eine Cola!“. Ich quäle noch mal ein Grinsen in mein Gesicht und halte Ausschau nach VP 3; die ist nicht mehr weit. Ich weiß nicht, ob ich Michaela richtig interpretiert habe, aber etwas mehr Mitgefühl, wäre schon angebracht gewesen, wie ich finde. Zum Glück hab ich ihr nicht auch noch mitgeteilt, dass sich mein Rücken auf einmal auch meldet und es wieder heftig zieht und kneift in Region Lende. Meine Beine werden auch immer schwerer und zu allem Überfluß löst sich bei meinem tollen neuen Brooks-Wettkampf-Laufschuh die Ferse. Das Problem hatte ich bereits zuhause, aber mein Gonsenheimer Schuster hat mir versichert, dass er den Schuh geklebt und gepresst hat und dass das jetzt über 100 km hält. Ich bin aber erst bei km 11. Wenn ich allerdings die Autofahrt mit hinzurechne, hat er Recht gehabt. Es ist nur eine lockere Lasche, die mich aber bei jedem Schritt leicht unangenehm abbremst. Zumindest fühlt es sich so an. Abreißen will ich die Lasche aber auch nicht, schließlich soll der Schuh ja noch bei Wolff´s zurückgenommen werden. Lusche oder Lasche, das ist hier die Frage. Über den Schuh vergesse ich Magen, Rücken , Beine und durch die Cola wird mir auch wirklich wieder besser. Auf geht’s Rainer, hol Dir die 2. Kordel. Um mich herum scheint nämlich jeder wieder mehr Kordeln als ich zu haben. Die steilen Stellen nach oben auf die Waldstrasse gönne ich mir noch im Walkingschritt und dann lasse ich es wieder laufen. Mit einer weiteren Cola im 12

Magen wieder mehr schlecht als recht am Meer angelangt, muß ich mich wirklich besinnen. Hier soll ich heute morgen tatsächlich im Wasser gewesen sein? Die Bojen sind alle weggeräumt, die Kanus sind weg, kein Mensch scheint im Wasser und die Sonne strahlt von der anderen Seite. Still ruht der See. Herrlich. Eigentlich. Hallo Rainer! Du verwirklichst gerade Deinen Traum! Das ist herrlich! Und außerdem läufts wieder. Es ist erstaunlich, aber diese Uferpromenade hat eine unglaubliche Anziehungskraft. Die Menschen hier stehen genauso hinter mir, wie auf der Radrunde. Sie lächeln und klatschen und feuern mich an. Reden gut zu. Herzig, herzlich, herrlich. Und ich bekomme meine 2. Kordel, diesmal in rot. Damit habe ich die Hälfte geschafft. Also zumindest die Hälfte der Kordeln. Immerhin. Die 2. Runde in 52 min. Weiter geht’s auf die abwechslungsreiche Strecke. Abwechslungsreich ist auch der Belag auf dem wir unterwegs sind. Asphalt und Teer dominieren, gefolgt von Verbundpflaster, den Kieswegen rund ums Schloß und Kopfsteinpflaster in verschiedenen Variationen, die knapp 2 KM ausgetretenen Graspfad nicht zu vergessen und natürlich die beiden schmucken Holzbrücken. Hier heißt es bloß nicht müde werden und höchste Konzentration. Kaum runter von der Holzbrücke meldet sich der gute Sprecher wieder und teilt der trauten Campinggemeinde mit, dass „Rainer Schultheis aus Mainz“ mittlerweile „auch nicht mehr so gut aussieht“. Na, vielen Dank, das ist mir neu, was hätte der wohl vor 3 km gesagt? Bloß weg hier ab zur nächsten Suppe, die wirklich gar nicht so schlecht getan hat, vorbei an der Kastanietten Frau, die ihre Frequenz für mich erhöht. Vor der Brühe: Klatsch-klatschklatsch. Nach der Brühe: Klatsch-klatsch-klatsch. Wer hat hier einen an der Klatsche? Die Frage stelle ich mir allerdings gar nicht. Es gibt keine Frage, nur eine Antwort, 5 Runden laufen und ankommen. Ganz einfach ist das und ich habe keinen Zweifel daran, dass das klappt. Seit Butzbach weiß ich, Laufen ist gut, gehen okay, nur stehen bleiben bringt Dich nicht weiter. Tu was, aber tu es einfach. Just do it. Im September in New York werde ich mir ein Shirt im Niketown mit genau diesem Slogan kaufen. Just do it. Das hab ich mir in der Vorbereitung immer gesagt, wenn ich die Mückel-Pläne abgearbeitet habe. Beispiel Pfingstmontag: Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust, aber auf dem Plan stehen 3:30 Stunden Rad, 2:20 Stunden Laufen, 100km Rad, 25 km Lauf, ganz alleine, ich und der Wald und nur wenige Familien unterwegs beim Feiertagsspaziergang. Das durchzuziehen war Ironman. Die Pflicht. Heute ist Kür. Ute hat mir auf den Weg gegeben. „Du hast die letzten Monate Deinen Fettstoffwechsel trainiert, du kannst das!“. Also keine Fragen ob, wie oder warum: Just do it. Das Shirt wird knallrot sein! So ähnlich wie meine Gesichtsfarbe, die Sonne kommt raus und es wird wirklich heiß, aber die Luft am Meer ist jetzt sehr angenehm. Ausgerechnet geht’s jetzt in den Ort in die zwar baumreiche aber vor allem nach oben hin sehr warme Schwennau- strasse. Dafür stehen hier meine heimlichen Helden des Ortes. Die 10jährige mit dem hellen Stimmchen, die begeistert jeden der vorbei- kommt beklatscht und zuruft „Super, Ihr seid alle super“. Und die Mutter, die ihre 3-4 Kinder an ihrer privaten Verpflegungsstelle irgendwo downtown Glücksburg organisiert und Wasser sowie Gummibärchen anbietet. Ich habe die Bären probiert und mir erhofft das die die Lösung meiner Ernährungsprobleme ist, aber schon nach wenigen Bäumen, den feuchten Bären wieder die Freiheit geschenkt. Es bleibt mir ein Rätsel, wie man sich damit über die Runden retten kann. Die Geste an sich hat mir viel mehr gegeben. 20 Meter vor mir stürmt ein Hund auf die Strecke und bespringt fröhlich eine Mitstreiterin, „der macht nix“. Alles wie im echten Leben hier, aber wirklich nett. Die Leute rund ums Schloß sind genauso freundlich, beharrlich und auch hier freue ich mich auf den Ansporn jedes einzelnen, genauer gesagt erwarte ich schon jeden an seinem Platz mit seinem Blick, Hände- klatschen und seiner Aufmunterung für 13

mich. Ich kann Ihnen ALLEN nicht genug danken. In der Wilhelminenstrasse erinnert ein selbst gemaltes Schild: Nach dem Schmerz kommt der Stolz. Noch 2mal hier vorbei, dann stimmts. Michaela hab ich in der Runde nicht mehr getroffen. Dafür passiere ich eine private Gartendusche, die nette Leute direkt an der Strecke platzieren. Jeder, der hier „duscht“ wird kräftig bejubelt und dafür duscht fast jeder. Mittlerweile hat sich das Feld ganz schön auseinander gezogen. Ich kann mittlerweile mit meinen 2 Kordeln und kurz darauf mit meiner 3. Kordel um den Hals glänzen . Ich fühle mich besser und laufe langsamer. Das waren knapp 54 Minuten für die 8,44km. Nicht so toll, aber irgendwann unterwegs bin ich einer derjenigen mit den meisten Kordeln um den Hals. Um mich rum laufen allerdings jetzt auch mehr oder weniger immer die gleichen. Einen aus Koblenz, mit dem ich in meiner ersten Runde ein wenig geschwätzt habe, sammle ich allerdings mehrmals ein. Der hat wirklich Probleme mit dem Magen. Eine vielleicht 1,55cm kleine Mitstreiterin, die ihr feines Tempo unbeeindruckt von allem und allen einfach gleichmäßig durchläuft, während ich meine Ess- und Trink-Gehpausen brauche, begleitet mich seit längerem. Dafür hole ich einen eigentlich schnelleren Kollegen mit den neuen, schicken Wadenkompressionstulpen immer wieder beim Stretching eben seiner Waden an Bordsteinkanten und Straßenlaternen ein. Michaela treffe ich auch wieder! Sie kommt auf mich zugerannt, grinst mich an, „jetzt bring´s nach Hause, Schatz“ und gibt mir einen Klapps auf die linke Pobacke, der sich gewaschen hat. Meine völlig übersäuerte Muskulatur schreit Hurra. Wenn ich mal eine Bestandsaufnahme mache dann schmerzt mittlerweile sowieso alles. Mein Nacken, meine Arme, mein Rumpf und meine Beine sowieso, ach ja und jetzt auch links mein Hintern. 10 Minuten später spüre ich die Aufforderung noch immer. Ich bin sensibel, aber auch folgsam. Ja klar, ich brings nach Hause! Daran habe ich keine Zweifel. Auf dem Weg dahin muß ich mich allerdings noch zweimal setzen, da ich auf dem feinen Kiesgeläuf irgendwo einen kleinen Stein einsammle, der mich total nervt. Nach Runde 3 nehme ich mir die Zeit und setze mich mit einem tiefen Seufzer auf eine Bank. Genau in diesem Moment bemerke ich, dass ich hier seit Stunden auch beim Laufen die Radlerhose anhabe. Jetzt erinnere ich mich wieder an meinen prallen Wechselbeutel. Wie peinlich ist das denn. Ich renne hier mit Einlage durch die Gegend. Aber was bleibt mir nun übrig außer weitermachen? Ich ziehe den linken Schuh aus. Trotz mehrfachen Schütteln und Tasten finde ich nichts was mich stören könnte. Mein Banknachbar beobachtet mich genau und gibt mir einen freundlichen Klapps auf meine Pampers mit auf den Weg. Wirklich sehr viele nette Leute hier! Erstaunlich ist, dass ich hier heute kaum Marienkäfer sehe! In den Tagen zuvor hat es hier von dem Getier gewimmelt, so dass von Glückskäfer keine Rede mehr sein konnte, da überall zertretene Chitin-Panzer auf dem Boden rumlagen und zu befürchten war, dass die Wettkampfnahrung sehr einseitig wird. Mir begegnet nur ein einziger Käfer heute und den trage ich ein paar Kilometer mit mir, bis er in Schlossnähe den Abflug macht. Gut so. Kurz drauf muß ich meinen Schuh noch mal in einer Bushaltestelle sitzend umkrempeln, da der Stein noch immer zu nerven scheint. Ich finde zwar wieder nix, aber dafür läuft sich’s jetzt besser. Irgendwo unterwegs fährt das Führungs- fahrrad hart an mich von hinten ran und meldet aufmerksam: „Der Führende überholt Sie gleich.“ „Ja, ist recht, ich hab nix dagegen“. So geht auch die Runde 4 vorbei, nicht viel schneller als Runde 3 in knapp 54 Minuten. Beim Durchlaufen vergesse ich fast vor lauter Begeisterung die Kordel. Getragen von der Euphorie an der Promenade und rund ums Ziel bin ich auf einmal wie im Rausch und greife mir gerade noch so, als wäre ich gerade eben erst aufgewacht und komplett schlaftrunken die 4. Kordel in grün. Mist ich wollte eigentlich noch eine rot-schwarze. Passend eben. 2mal rot, zweimal grün. Jetzt laufe ich stattdessen mit dem 3:1 Ideal auf die letzte Runde. Nur noch 8,44km bis ins Ziel. 14

Unglaublich. Sogar die Tiiiger-Lilly zeigt sich noch mal und feuert mich an. Es beginnt leicht zu regnen, aber auch das ist wieder. Die Suppe ist alle, aber das ist mir egal. In dieser Runde bin ich nicht mehr so anspruchsvoll und bleibe bei Cola und Wasser. Mir geht’s gut! Ich verabschiede und bedanke mich wieder artig bei den netten Leuten am Rand der Strecke und fühle mich großartig. Letzte Runde. Unglaublich. Der Mann am Mikrofon greift plötzlich und unerwartet in meine Hochstimmung ein. „Rainer Schultheis aus Mainz möchte in 11:11:11 ins Ziel kommen, das wird er wohl nicht mehr schaffen“. Na, vielen Dank, das weiß ich auch, aber ich kann leider nicht schneller. Mein Puls ist beharrlich auf 130 eingestellt und jeder Versuch schneller zu werden scheitert an meinen Beinen, die genau dieses Tempo akzeptieren und alles, was schneller sein soll, einfach ignorieren. Ärgerlich, denn insgeheim, wollte ich natürlich unter 11 Stunden bleiben und jetzt schwimmen mir selbst die närrischen 11:11:11 davon. Dafür fusselt es nicht mehr. Oben am Schloß angekommen, lockern sich meine Beine merklich und nach der letzten mir zugedachten „la ola“ der lustigen Weiber an Wendepunkt 2 sind die vorherigen 224 km fast vergessen. Ich kann wieder laufen. Unglaublich. Auf Höhe der Sandwigstrasse steht ein Bus fast quer vor mir mitten auf der Laufstrecke, aber das kann mich nicht mehr ärgern. Meine letzte Runde wird eine schöne 51er. Ich könnte heulen und tue es fast auch und klatsche alles und jeden meiner Mitstreiter unterwegs begeistert ab und verteile nur die allerbesten Wünsche. Rainer in Glücksburg. Rainer im Glück. Beim Bedanken an der Uferpromenade bekomme ich den Kloß im Hals gar nicht mehr weg und meine Augen werden ganz feucht. Danke, Glücksburg, Ihr seid alle großartig! „ Die laufen alle auf einmal ganz anders“, höre ich hinter mir und es stimmt. Jetzt ist alles vergessen, jetzt ist alles nur ein Rausch, die Stimmung steigt, die Lautstärke auch. Kurz vor dem Ziel werde ich noch überholt und das ist mir so egal. Ich laufe glücklich und zufrieden alleine auf die Zielgerade und stehe dort nach 11:12:40 im Ziel. Unglaublich. 2 Meter weiter ist die Zeitbox, die mich nach 11:12:42 registriert. Der Moment im Ziel ist überwältigend, aber dann plötzlich auch sehr allein, wenn man die Welt anhalten und umarmen möchte, aber die Welt um einen rum sich einfach weiterdreht. Michaela hat sich einen guten Platz recht weit vorne gesichert und ich werde freudig begrüßt und ich bin froh, dass sie da ist. Unglaublich! Ich bin im Ziel. Rainer Schultheis 509 TCEC Mainz 1970 Platz 193 Gesamt Schwimmzeit: 01:12:53(Platz 40) Radzeit 05:42:17 (40)zusammen 06:55:10 (39) Laufzeit 04:17:31(38) Insgesamt 11:12:42 (Platz 40 AK 35)

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Rückblick 1: Am 17.08.2002 übernachten wir bei einer Freundin in Franfurt-Sachsenhausen nachdem wir Samstag abend in einem kleinen Äppelwoi- Garten 2-3 erfrischende Gläser zu uns genommen haben. Nach dem Frühstück am morgen werden wir von ihr mit dem netten Hinweis, dass sie ja, wie verabredet, „noch etwas vorhabe“, aus der Wohnung gebeten, „es sei aber heute der Ironman in Frankfurt, „wir könnten ja mal am Main gucken gehen“. Es war ein Bombenwetter mit sieben Sonnen am Himmel und wir gehen wirklich gucken und treffen zufällig genau da auf die Strecke, wo die Wechselzone Bike /Run ist. Ich weiß nicht mehr wie lange wir die Athleten, die dort ankommen beobachten, aber es waren sicher 2 Stunden. Ich bin fasziniert. Unglaublich, wie viele Menschen hier mitmachen, Männer und auch viele Frauen, große, kleine, sportliche, schlanke, muskulöse, aber auch kräftigere, eher auf den 2. Blick sportliche, manche auch dann noch nicht, junge, alte, jedermann und jederfrau. „Das mach ich auch mal“, sage ich mehr im Spaß, als im Ernst zu Michaela. „ Dann mach doch“, scherzt sie zurück. Wir laufen gemütlich an der Strecke entlang hoch zum Römer und bekommen sogar noch einen Sitzplatz auf der Tribüne und erleben den Einlauf der besten Männer:

IRONMAN GERMANY Triathlon, Frankfurt, 18 August 2002 - Ergebnis Men 1565 Klassierte 1. Leder Lothar, GER, 71, Darmstadt 8:21.31,1 (1) 2. Zäck Jürgen, GER, ??, Vallendar 8:30.07,2 (3) 3. Widmann Uwe, GER, 70, Hofheim 8:51.15,1 (34) Nach dem Einlauf dieser drei brechen wir auf, sind erschöpft von dem Zuschauen und der Hitze. Als wir gegen 16:30 Uhr zuhause in Mainz-Hechtsheim ankommen, sind die meisten noch auf der Strecke! Die Nr. 3 diesen Tages wird 2009 auf Mallorca mein Trainer sein! Unglaublich.

Rückblick 2: Mai 2003: Ich habe letztes Jahr mit dem aktiven Fußball aufgehört. Mir ist es nicht mehr wichtig, dass die Nr. 10 des Gegner ein Super-Techniker ist, dass man die brandgefährliche Nr. 9 bis auf die Toilette verfolgen muß und der Tormann seine Schwächen links unten und beim Rauslaufen hat. Ich will kein nächstes wichtigstes Spiel mehr haben, keine Manndeckung mehr, keine „Eckchen“, keine Schiedsrichter, keine Trainer, kein Training immer dienstags und donnerstags abends und wenn wir Sonntag verlieren, montags auch. Ich will nicht mehr bei jedem Wetter an jedem Sonntag um 13:00 Uhr Treffpunkt haben und um 12:30 Uhr bei Auswärtsspielen. Ich 17

lege meinen Spielerpass in meinen Nachttisch und da liegt er noch heute. Dafür entdecke ich, dass das Laufen ohne Ball auch seinen Reiz hat. Unvorstellbar eigentlich – ohne Ball -. Der Ober-Olmer Wald ist unser Areal. Hier lerne ich 5 km am Stück zu laufen, dann 7 km und unvorstellbar 10km in einem durch. Ohne Ball, unglaublich, manchmal sogar immer schneller. Unglaublich. Michaela meldet sich und mich mit dem WESTIMMOBANK-Team für den Halbmarathon in Mainz an und beim Umziehen in dieser Bank erzählt einer ihrer Kollegen von einem „Fun“-Triathlon im August in Mainz mit Schwimmen im Rhein, laufen und ach ja vorher Rad fahren. 500m Schwimmen mit der Strömung, 20 km Rad fahren und 5 km laufen. Ich melde mich noch in der gleichen Nacht an. Ich bin dabei! Letztlich bin ich durch Zufall 2002 in Frankfurt auf den Ironman und Triathlon aufmerksam geworden und ich war völlig fasziniert von dem Sport. Dieser zufällige Besuch einer Freundin in Frankfurt am Ironman-Tag hat bei mir den Funken gezündet. Nach mehreren Verletzungen, 3 Bänderrissen im linken Sprungelenk, 2001, 2002 und 2005 und danach Meniskuseinriss inklusive Innenbandriss 2006 im linken Knie durch das vereinslose Hobby Fußballspielen und dem Beenden eines Halbmarathons 2002, des 2/3 Marathons 2004 und des ganzen Marathonlaufes in 4:08:ebbes 2005 komme ich der harmlosen Idee eine Triathlon-Langdistanz zu finishen immer näher. 2007 olympische Distanz in Mainz, 2008 Halbdistanz 70.3 in Wiesbaden, 2009 Ironman Frankfurt, das ist der Plan. Nach dem erfolgreichen Finish in Wiesbaden im August 2008 in unter 5 1/2 Stunden und einem wesentlich besseren 2. Marathonfinish in Frankfurt Ende Oktober 2008 in 3:43:42 bereite ich mich seit Dezember 2008 für das unglaubliche Ziel vor: Ironman!

Letzter Rückblick: Dezember 2008: Ich beginne mit dem Training in New York und laufe bei minus 20 Grad 1 ½ Stunden am Hudson River entlang, da wo ein gutes halbes Jahr später eine Boeing notlanden wird, trainiere an Weih- nachten, Fastnacht, Ostern, Pfingsten, fahre zwecks 14 Tagen Training- slager erstmals alleine ohne Frau in Urlaub und halte mich streng und zu 99% an meinen Ute Mückel-Trainingsplan, der von ihr individuell nach meinen Termin-, Arbeits- und Zeitvorgaben erstellt wird. Krank bin ich nur 3 Tage in eben diesem Trainingslager. Das Ziel ist der 05.07.2009. Am 01.07.2009 habe ich meine letzte "längere" Koppel-Einheit, also 40 km Rad und 4 km direkt danach laufen. Alles war soweit gut, das Wetter, die Form, die Vorfreude, bis ich 100m vor unserem Haus plötzlich in meinem unteren Lendenwirbelbereich nach einen kleinen Hops auf den Bürgersteig einen schmerzhaften Stich spüre. Ich versuche das wegzulächeln, kann ja gar nicht sein, laufe aber keine 10Meter mehr weiter. Ich habe unglaubliche Schmerzen, schleppe mich ins Haus unter die Dusche und versuche durch Stretching oder so was die Sache zu bessern. Fehlanzeige! Ich bin dann noch zu meinem coolen Pysiotherapeuten Sebastian, der mich spontan terminlos behandelt und meinte mit Glück wäre es jetzt besser. Fehlanzeige! Somit gehe ich tagsdrauf zu einem Heilpraktiker, dem Wibelsäulenguru der Sonderklasse, hier im Nachbarort Hahnheim. Ich wußte nicht was und wo es überall an knacken kann. Aber es kann. Mit verschriebenen Schmerztabletten und Schmerz-Salbe und dem Rat am Sonntag nicht zu starten liege ich dann im Bett. Keine spontane Besserung in Sicht. Es dauere nun einmal 5 Tage bis der Nerv sich beruhigt, da der 18

nun einmal angegriffen ist. Fitspritzen als Lösung sei als nicht ständig medizinisch betreuter Vollprofi riskant und das Risiko den Nerv in den knapp 12 Stunden bei höchster Belastung total zu ruinieren sehr hoch. Also finde ich mich mit dem sonntäglichen DNS ab: Rainer Schultheis. ...DID NOT START... Michaela schickt mich noch zum Hausarzt, der mir eine Spritze setzt und mit sogar Mut für den Sonntag macht! Aber topfit war Mittwoch Mittag und Sonntag ist zu früh vor dem, was dazwischen passiert ist. Mein Rücken lässt mich von der Startidee abrücken! Wer hätte mir wohl aus dem Neo geholfen, die Strümpfe und die Schuhe an bzw. ausgezogen? Und dazwischen hätten ja auch noch ein paar Kilometer von allem gelegen. Ein Start in Frankfurt 2009, nein, das klappt leider nicht. Das Leben kann so hart sein! Ironman, ich! Dann wohl noch nicht! So bin ich am 05.07.2009 einer von 500.000 Zuschauern, der eben am Rand steht und, die, die mit mir trainiert haben anfeuert, damit Sie sich das holen, was ich auch gerne gehabt hätte. Das ist mein erster echter IRONman, anders als gedacht, aber auch wirklich richtig hart!

Die Lösung ist die einfache Erkenntnis: Ich bleibe positiv und dran am Thema: Just do it! 7 Monate Training und kein Start möglich! Schlimmer geht IMMER! Denn ICH rechne mit kurzfristiger Genesung! Für mich bedeutet das NACH VORNE SCHAUEN: Und das ist der OSTSEEMAN: Das Ergebnis ist heute bekannt: Ich habe meinen Traum an der Ostsee erfüll: JA, IM OSTEN GEHT DIE SONNE AUF! Jetzt gehöre ich auch zu den Finishern der legendären Langdistanz! Unglaublich! Übrigens: Die Quersumme von 11:12:42 ist ELF! DANKESCHÖN Mit diesem sehr persönlichen Rückblick möchte ich all denen danken, die mir auf meinem Weg zum Eisenmann geholfen und mich unterstützt und beraten haben, die mit mir unterwegs dahin dabei waren, ob in Gedanken oder persönlich, die mir Glück gewünscht und an mich geglaubt haben. Jeder möge sich das Stück vom großen Eisenmann-Kuchen abschneiden, welches ihm gebührt. Ich gebe euch gerne davon ab Die anderen lesen eh nicht bis hierhin! ☺ Ich hoffe, ich kann euch mit meinem Erlebnisbericht einen interessanten und abwechslungsreichen Einblick geben, was mir während meinem Wettkampf passiert, durch den Kopf gegangen ist und was mich alles in den vielen Stunden beschäftigt hat. Noch auf der 4. Runde hab ich zu mir gesagt: „Rainer, das machst Du nie mehr“, aber dann ist mir der Satz eines weniger bekannten Udenheimer Philosophen eingefallen der da lautet: „Wenn das Leben eines lehrt, ist´s, daß das Wörtchen nie nicht währt!“

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