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01/2016 Kontinuität — Jenseits des vertrauten Terrains / Heritage Heroes / Mit Teilhabe gegen Fanatismus / Innovatoren in Flora und Fauna / Vor dem S...
Author: Klara Becker
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01/2016

Kontinuität — Jenseits des vertrauten Terrains / Heritage Heroes / Mit Teilhabe gegen Fanatismus / Innovatoren in Flora und Fauna / Vor dem Sprung ein langer Marsch

by EY

„Tradition muss lebendig sein. Sonst ist sie nur eine Gewohnheit ohne Wert.“ Daniel Bloch Chocolats Camille Bloch SA

Magazin für unternehmerische Exzellenz

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Immer ein guter Kern – darauf setzt die traditions­reiche Chocolats Camille Bloch SA seit Jahrzehnten. Drum herum aber zeigt sich der Hersteller der bekanntesten Schweizer Schokoriegel aus­gesprochen beweglich. Bei seinen Produkten, aber auch in der eigenen Organisation. So hat sich das Familienunternehmen zu neuer Stärke aufgeschwungen.

Editorial

Disrupt – der Name ist Programm bei den mittlerweile weltweit wichtigsten Gipfeltreffen der digitalen Gründerszene. Die mehrtägigen Events finden auf Initiative des Online-TechnologieMagazins TechCrunch jährlich in San Francisco, New York, London und Peking statt. Ihr Logo ist ein zerreissendes Band. Störe die gewohnten Abläufe – der neue kategorische Imperativ? Hunderte von Entrepreneuren nehmen die Herausforderung an. Es ist eine ganz eigene Szene, die sich da entwickelt hat, die rasend schnell wächst und viele etablierte Unternehmen das Fürchten lehrt. Eine Branche nach der anderen, so prophezeien Marktstudien, werde sich in den kommenden Jahren durch die disruptive Wirkung der Digitalisierung vollkommen verändern. Und die kleinen, agilen Start-ups, die ohne historischen Ballast unterwegs sind, könnten dabei manchen Industrieriesen ins Wanken, wenn nicht gar zu Fall bringen. Also keine Rettung, nirgends? Doch! Ein Schlüsselwort in diesem Zusammenhang lautet Kontinuität – und das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Erfolgreiche Unternehmen haben sich auch in der Vergangenheit stets dadurch ausgezeichnet, dass sie sich ständig verändern und an neue Bedingungen anpassen, sich fortwährend häuten und neu erfinden, ohne dabei – und das ist entscheidend – ihren Kern aufzugeben. Wenn wir also diese Ausgabe des ENTREPRENEUR dem Thema „Kontinuität“ widmen, dann hat das nichts Rückwärtsgewandtes. Vielmehr wollen wir an vielen Beispielen zeigen, dass es zwischen Verdrängung und Aktionismus einen goldenen Mittelweg der permanenten Selbsterneuerung gibt.

passungsfähigkeit sieht auch Daniel Bloch, Chef der familieneigenen Schokoladenfabrik Chocolats Camille Bloch SA aus dem Berner Jura, als Klammer zwischen Vergangenheit und Zukunft seines Unternehmens. „Selbst in der untersten Medienbranche, wo es oft nur ums Tempo geht, ist Kontinuität gefragt“, sagt Roger de Weck, eine der bekanntesten Medienpersönlichkeiten der Schweiz – und bricht eine Lanze für den Qualitätsjournalismus. Markus Meili wiederum, CEO des Büroeinrichters Lienhard Office Group, räsonniert darüber, ob wir in Zukunft noch Büros brauchen und wie sie aussehen werden. Kontinuität bedeutet aber auch Durchhaltevermögen. Stefan Hell, Chemie-Nobelpreisträger von 2014, hätte ohne die Überzeugung von der Richtigkeit seiner wissenschaftlichen Thesen gegen jahrelange Widerstände weder den angesehensten Wissenschaftspreis der Welt gewinnen noch sein Unternehmen Abberior Instruments gründen können. Wenn Kontinuität also die Bereitschaft zu ständiger Veränderung beinhaltet, dann darf auch die Digitalisierung nicht als Bedrohung empfunden, sondern muss als völlig neue Entwicklungschance verstanden werden. Eine EYStudie zur Industrie 4.0 zeigt, dass die Mehrheit der Unternehmen dieses Potenzial inzwischen grundsätzlich erkannt hat. Nur wird es nicht reichen, bestehende Prozesse digital zu modernisieren. Vielmehr geht es darum, die Herausforderung mutig anzunehmen, mit Phantasie Chancen auszuloten und dabei über neue Geschäftsmodelle nachzudenken. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.

Wie man dabei proaktiv vorgeht und selbst zum Treiber der Entwicklung werden kann, zeigt etwa der Medizintechnik-Hersteller B. Braun Melsungen. Der Dialog zwischen Braun-CEO Heinz-Walter Große und dem tschechischen Wirtschaftswissenschaftler Tomáš Sedláček dreht sich um die dazu notwendige Geschmeidigkeit eines Unternehmens. Innovations- und An-

Bruno Chiomento CEO EY (Schweiz)

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Big World – Small Planet Wir sind mittendrin: im Anthropozän. In einer Ära, in der der Mensch das Klima und das Leben auf Erden massiv beeinflusst. Einer Ära, in der wir die Zukunft der Welt, wie wir sie kennen, und letztlich auch unser eigenes Schicksal in der Hand haben. Denn unser bisheriger Lebensstil könnte das hochkomplexe und bisher erstaunlich stabile System Erde an einen Punkt des Umkippens bringen, von wo es kein Zurück gibt. So lautet die wenig anheimelnde Ausgangsthese des im März erschienenen Buches „Big World, Small Planet. Wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten“ (Ullstein 2016) des schwedischen Nachhaltigkeitsforschers Johan Rockström, zu dem der Fotograf Mattias Klum eindrückliche Bilder beisteuerte, von denen einige auf diesen Seiten zu sehen sind. Doch Rockström, Direktor des Stockholm Resilience Centre an der Universität Stockholm und letztjähriger Träger des Deutschen

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Umweltpreises, ist durchaus kein Prophet des Weltuntergangs. Er lehnt die Vorstellung, Wohlstand sei nur auf Kosten der Umwelt zu haben, ebenso ab wie die Annahme, Nachhaltigkeit sei gleichbedeutend mit Verzicht. Rockström propagiert vielmehr ein drittes, sehr viel optimistischeres Credo vom Wachstum innerhalb der biologischen und physikalischen Grenzen des Planeten. Dies erfordere einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel, technologische Innovationen und – ja, auch dies – Änderungen unseres Lebensstils. Die düstere Zustandsbeschreibung und die Gefahren einer Überforderung der Resilienz sozialer und ökologischer Systeme beschreibt Rockström ebenso anschaulich wie viele Beispiele Mut machender Entwicklungen. Den notwendigen Paradigmenwechsel glaubt Optimist Rockström in jüngster Zeit in den führenden Köpfen von Wirtschaft und Politik auszumachen. Zunehmend erkenne man, so Rockström, „dass es nicht darum geht, eine Spezies oder ein Ökosystem zu retten. Es geht darum, uns selbst zu retten, und um die Fähigkeit der Menschheit, wirtschaftliche Entwicklung, Wohlstand und ein gutes Leben zu verfolgen. Es ist unsere Welt, die auf dem Spiel steht.“

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Thema  Kontinuität 01/2016

Kontinuität — Jenseits des vertrauten Terrains / Heritage Heroes / Mit Teilhabe gegen Fanatismus / Innovatoren in Flora und Fauna / Vor dem Sprung ein langer Marsch

by EY

Magazin für unternehmerische Exzellenz

„Tradition muss lebendig sein. Sonst ist sie nur eine Gewohnheit ohne Wert.“ Daniel Bloch Chocolats Camille Bloch SA

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Entrepreneure 08  Der Schrittmacher. Mit einer klugen Mischung aus Beharrungsvermögen und Vorwärtsdrang hat Daniel Bloch die familieneigene Schokoladenfabrik zu neuer Stärke geführt. 14  Zwischen zwei Welten. Mohed Altrad führt einen weltweit erfolgreichen Hersteller von Gerüsten und Baumaschinen. In seiner syrischen Heimat war ihm einst ein Leben als Viehhirte zugedacht. 18  Tanz der Moleküle. Abberior Instruments, Technologieführer bei extrem hochauflösenden Mikroskopen, ist ein junges Unternehmen – doch die Gründer schufen die Fundamente des Erfolgs bereits vor Jahrzehnten. 24  Loblied auf die Evolution. Seit mehr als zwei Jahrzehnten lenkt das gleiche Duo die Geschicke des niederländischen Logistik- und Grosshandelsunternehmens B&S. 30  Innehalten und Unsicherheit akzeptieren. Heinz-Walter Große, CEO des Pharmaherstellers B. Braun Melsungen, im Dialog mit dem tschechischen Ökonom und Gegenwartsdiagnostiker

Tomáš Sedláček über Kontinuität und Diskontinuität, Stillstand und Bewegung. 36  Neu interpretiert. Die Technologie-Expertin Adrienne Corboud Fumagalli stellt herausragende Projekte vor, bei denen historisches Erbe mittels modernster Technik neu gedeutet wird. 38  „Wir machen weiter!“ Das erste Medikament des amerikanischen Pharmaunternehmens Medivation war ein teurer Flop. Danach setzte Firmengründer David Hung alles auf eine Karte.

Expertise 41  Neuer Kompass. Gesellschaftlicher Wert und Unternehmenszweck als Grundlagen unternehmerischer Kontinuität. 46  „Eine zeitgemässe Bürowelt macht die Mitarbeiter stolz.“ Markus Meili, CEO der Lienhard Office Group, diskutiert mit EY-Partner Heinrich Christen über Veränderungen unserer Arbeitskultur. 52  Industrie 4.0 – das unbekannte Wesen? Die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf die Industrie aus der Sicht der Unternehmer.

Impulse 57  Sind wir Helden? Vielerorts kämpfen Menschen für den Erhalt bedrohter Welterbestätten. Eine Ausstellung erzählt einige ihrer Geschichten. 60  „Bildung ist wie ein Titan.“ Beharrlich setzt sich Königin Rania von Jordanien für sozialen Wandel, Toleranz und die Gleichberechtigung von Frauen in der arabischen Welt ein. 62  Der Fluch der Roten Königin. Im Laufe der Erdgeschichte setzten viele Lebensformen nicht auf Wandel um jeden Preis, sondern auf Kontinuität – und fuhren damit sehr gut. 70  Am Topf. Wie Maxime Ballanfat von der Novae Restauration SA mit gutem Geschmack Erfolge feiert. 72  Was war die wichtigste Lektion, die Sie gelernt haben? Zehn Fragen an den Publizisten Roger de Weck. 01/2016 Entrepreneur

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Ein Mann geht seinen Weg: Mit grosser Grad­linigkeit und der gebotenen Umsicht hat Daniel Bloch das elterliche Unter­nehmen in Courtelary so konsequent wie behutsam modernisiert.

Der Schritt­ macher Ohne Tradition geht es nicht. Das war Daniel Bloch klar, als er die Verantwortung für die familieneigene Schokoladenfabrik übernahm. Aber auch, dass er sich nicht auf der Tradition ausruhen darf. Mit einer klugen Mischung aus Beharrungsvermögen und Vorwärtsdrang hat er die Chocolats Camille Bloch SA zu neuer Stärke geführt. Und mit entschlossener Professional­isierung auch den Generationswechsel geschafft. Fotos Christian Grund

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ein, gibt Daniel Bloch unumwunden zu, am Anfang hätten sie ihm das nicht zugetraut, damals, 1997, als er den Vorsitz der Geschäftsleitung übernahm. Hatte er nicht eine Weile gezögert, bevor er sich dazu entschloss? War er nicht so ganz anders als sein Vater, der Patron alter Schule, der die Chocolats Camille Bloch SA 27 Jahre lang durchaus auch mit harter Hand führte? „Die erste Generation gründet ein Unternehmen, die zweite expandiert und konsolidiert, und die dritte Generation setzt alles in den Sand“, zitiert der 52-Jährige ein gängiges Klischee, „so urteilten damals diverse Bekannte und Wettbewerber über mich. Und auch in der Belegschaft war man skeptisch.“ Er lächelt ein wenig, erinnert sich. „Damals wollte ich den Leuten vor allem beweisen, dass ich das kann“, sagt Bloch schliesslich, „aber davon bin ich zum Glück längst weg.“

Denn diesen Beweis hat er längst erbracht. Unter seiner Führung hat sich Camille Bloch als eines der letzten unabhängigen Familienunternehmen der Schweizer Schokoladenindustrie zu neuer Stärke aufgeschwungen. Als Daniel Bloch antrat, beschäftigte der Produzent der quasi zum Schweizer Kulturerbe gehörenden Schokoriegel „Ragusa“ und „Torino“ knapp 160 Mitarbeiter – heute sind es 180, die auch dank moderner Technik deutlich mehr verarbeiten als ihre Vorgänger. Der Umsatz stieg von 42,3 auf zuletzt 64 Millionen Franken und statt knapp 2 300 Tonnen Schokolade produziert das Unternehmen heute über 3 700 Tonnen. In den letzten zehn Jahren hat Camille Bloch seinen Anteil am Schweizer Markt auf 5,1 Prozent beinahe verdoppelt. Und das, obwohl der Schokoladenkonsum im Land zuletzt sogar abnahm und der Anteil ausländischer Importe beständig wächst. Wie ihm das gelungen ist? Daniel Bloch antwortet nicht mit einem Bündel von Massnahmen, sondern mit einer Haltung: „Wissen Sie“, sagt er, „die Welt verändert sich so schnell und stark, genau deshalb muss man gewisse Dinge in ihrer Identität erhalten. Wir haben hier wirklich einmalige Produkte und eine einmalige Kultur – das ist ein Wert, den die Menschen zu schätzen wissen. Man muss sich sicherlich an die Zeiten anpassen. Aber man muss nicht allem folgen, nur weil es die anderen auch machen.“ Es geht eine tiefe Ruhe aus von Daniel Bloch. Ein eher kleiner Mann, der mit leiser Stimme spricht, und das auch nur, nachdem er eine Weile überlegt hat. Seine Gestik ist verhalten, aber immer wieder zeigt sich ein Lächeln auf seinem Gesicht. Und wie sein Chef präsentiert sich auch der Standort des Unternehmens ausgesprochen unaufgeregt. Das Dörfchen Courtelary im Berner Jura ist nicht viel mehr als eine lange Strasse mit ein paar Häusern dran, mittendurch schlängelt sich wie ehedem das Flüsschen Suze. In der Luft mischt sich der süsse Duft aus der Schokoladenfabrik neben dem Bahnhof mit dem herben Geruch der Kühe auf den satten Wiesen rechts und links. Seit 1935 produziert Camille Bloch seine Köstlichkeiten derart ab vom Schuss. Und es scheint, als wäre die Zeit stehengeblieben. Die Zeit – sie spielt eine wichtige Rolle für Daniel Bloch. Geronnen zu Tradition ist sie das Erbe, das er übernahm und woraus er seitdem stetig Zukunft baut. Dem Alten verpflichtet, zugleich dem Neuen zugetan. „Denn Tradition“, sagt Daniel Bloch, „sie ist wichtig, aber nicht der Mittelpunkt. Tradition muss lebendig sein, man muss sie mit Sinn füllen. Ansonsten ist sie nur eine Gewohnheit ohne Wert.“ Es ist eine Maxime, die zunächst ungewohnt war für das Unternehmen, als Daniel Bloch an die Spitze stiess. Denn er stieg in eine Firma ein, die wie ein Monolith in der Landschaft stand – stark, aber unbeweglich. Eben weil sie sich zu sehr auf ihre Tradition verliess. Dabei hatte Camille Bloch, der Firmengründer und Grossvater von Daniel Bloch, früh Wagemut bewiesen. Im Jahr 1929 beschloss er nach einigen Jahren als Süsswarenvertreter, selbst Chocolatier zu werden. Wenig später nahm er die gesamte Produktion von der rohen Kakaobohne bis zum fertigen Produkt in die eigenen Hände – und zog dafür von Bern in eine leerstehende Papierfabrik nach Courtelary. Vor allem aber schuf er 1942 mit „Ragusa“ ein völlig neues Produkt – den ersten Schweizer Schokoriegel. Damals, zu Kriegszeiten, war Kakao kaum mehr erhältlich, weshalb er die Schokolade auf zwei dünne Schichten reduzierte und für die Füllung eine Mischung aus gemahlenen und ganzen Haselnüssen erfand. Eine Idee, die er 1948 mit „Torino“ erneut anwendete, indem er nunmehr eine Haselnuss-Mandel-Masse mit Schokolade ganz umhüllte. Ragusa und Torino – sie wurden schnell zum Erfolgsrezept für die Chocolats Camille Bloch SA. Und sie trugen das Unternehmen durch die Jahrzehnte, auch in den Jahren ab 1970, als Daniel Blochs Vater Rolf das Zepter übernahm. Zwar produzierte er auch likörgefüllte Schokoladen und andere Spezialitäten, probierte es mit einem Getreideriegel und kalorienreduzierter Schokolade, doch mit den beiden Hauptmarken wurden drei Viertel des Umsatzes erzielt. Mit unveränderter Rezeptur, in jeweils nur einer Variante. Das ging jedoch nur gut, bis der Schweizer Schokoladenmarkt zu Beginn der 90er-Jahre

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liess, um in Frankreich seinen MBA zu machen. Erst nach intensivem Nachdenken kehrte er schliesslich 1997 doch wieder zurück, als Chef und auf Dauer. Damit stellte er sich einem „intensiven Abtastungs- und Abgrenzungs­ prozess“, der gut drei Jahre lang dauerte. Denn Daniel Bloch beginnt das Unternehmen zu verändern. Zunächst nicht nach aussen, etwa mit neuen Produkten und Märkten. Wohl aber innen, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen. „Ich bin kein Fürsorger und keine Vaterfigur“, beschreibt Daniel Bloch sein schon damaliges Führungsverständnis, „ich will auf Augenhöhe sein. Jeder hat sein Gebiet und ist dort verantwortlich – das ist das Ideal, das ich erreichen möchte.“ Entsprechend baut er erstmals ein Führungsteam auf, anfangs fallen Entscheidungen sogar nach dem Mehrheitsprinzip. Sie investieren in die Produktion, schaffen klare Zuständigkeiten, professionalisieren das Management – erstmals gibt es einen CFO. Sie eröffnen ein Factory Outlet und verpassen allen wichtigen Marken ein neues Design. All dies geschieht in engem Kontakt mit dem Vater, der viele Dinge zwar anders sieht, seinen Sohn aber nach durchaus mitunter heftigen Diskussionen weitgehend machen lässt. Bis er ihm schliesslich im Jahr 2005 mit dem Wechsel in den Verwaltungsrat endlich wirklich freie Bahn lässt, auch wenn ihm das ausgesprochen schwerfällt.

Alles im Fluss: Dank traditioneller Rezepte und moderner Technik entstehen bei der Chocolats Camille Bloch SA einzigartige Produkte. Den Schokoriegel „Torino“ gibt es seit 1948 unverändert. Mittlerweile allerdings deutlich mehr davon.

gesättigt war. Dann wurde Wachstum nur noch möglich durch Innovationen oder durch Exporte ins Ausland – zu beidem aber fehlte dem Unternehmen die Kraft. In dieser Situation trat Daniel Bloch sein Erbe an. Im Jahr 1994 wird der studierte Jurist zunächst Assistent seines Vaters, und er erinnert sich gut. Stark seien die Marken gewesen, so wie auch die Produktion und der Vertrieb. „Aber erfolgreiche Innovationen gab es nicht, vielmehr hatten wir uns mit unseren Spezialitäten deutlich verzettelt. Das kostete einfach zu viel Kraft. Grundsätzlich war Camille Bloch zu behäbig, war erstarrt in festen Gewohnheiten. Statt von einer Mannschaft wurde das Unternehmen im Grunde von einem Alleinherrscher geleitet, ohne wirkliche Einbindung der Führungskräfte. Mein Vater sortierte sogar noch jeden Tag die Post und brachte sie eigenhändig zu den Mitarbeitern.“ Geballte Macht, schnelle Entscheidungen, eine enge Führung auch der eigentlich Verantwortlichen – es war eine Art des Wirtschaftens, die Camille Bloch gut durch die Zeit geführt hatte, sich nun aber als immer weniger zeitgemäss erwies. Und dies war ein Grund, weshalb Daniel Bloch das Unternehmen noch einmal für ein Jahr ver-

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„Man muss nicht allem folgen, nur weil es die anderen auch machen.“ Daniel Bloch

Und dabei soll es auch bleiben.“ Was aber eben nicht heisst, dass sich Daniel Bloch auf seinen einmal etablierten Produkten ausruht. Ungewöhnlich ist allerdings, mit welcher Gelassenheit er sie erneuert und die Marken verjüngt, ohne sie zu verwässern. „Es kommt nicht darauf an, was man alles tun könnte“, sagt Daniel Bloch, „sondern darauf, sich klar auf seine eigenen Stärken zu besinnen.“ Für ihn sind das vor allem die beiden Marken Ragusa und Torino. Um sich voll auf sie konzentrieren zu können, hat er andere Produkte wie etwa Pralinen und Hohlfiguren aus dem Programm genommen. Lieber erweitert er seine beiden bekanntesten Marken und festigt den Ruf Camille Blochs als innovationsstarkes Unternehmen. Im Jahr 2005 lanciert er Torino Noir mit dunkler Schokolade, 2008 folgt Ragusa in derselben Variante – was die Presse damals als „Revolution“ bezeichnet. Im Jahr 2014 bringt er Ragusa Blond auf den Markt – die Pralinéfüllung diesmal mit einer Karamellnote, umhüllt mit heller Schokolade, die ebenfalls zart nach Karamell schmeckt. Wenig später zieht Torino nach, und bald wird

die in der Schweiz völlig neue Kategorie „Blond“ auch gern von Mitbewerbern kopiert. Im Jahr 2015 schliesslich präsentiert Bloch Ragusa Friends in einer besonders kleinen Verpackungsgrösse von 11 Gramm, die man wunderbar verteilen kann. „Jede dieser Innovationen war ein Erfolg“, sagt Daniel Bloch, „denn das Naheliegende ist oft das Beste.“ Auf die Idee zu einem 25-GrammRiegel etwa kam Bloch, als er seinem Kind beim Autofahren ein kleines Stück Ragusa geben wollte, es aber nicht schaffte, ein Teil des klassischen 50-Gramm-Riegels abzubrechen. Auch ist es doch logisch, dass nicht nur Privatleute etwas Besonderes naschen wollen – also hat Daniel Bloch das B2B-Geschäft erfolgreich ausgebaut. Dynamik bedeutet bei Bloch eben ausdrücklich nicht zwanghaftes Rotieren nur um der Bewegung willen. „Man muss sich von echten Bedürfnissen leiten lassen“, sagt er, „dann entstehen Dinge, die die Leute auch wollen.“ Und sie müssen bei Daniel Bloch ausdrücklich nicht Schlag auf Schlag entstehen. Wenig, aber gut – getreu dieser Philosophie hat er in seinem Unternehmen eine Kultur etabliert, die Zeit lässt, Ideen reifen zu lassen. Bloch hätte sich auch vorstellen können, einmal Filmregisseur zu werden, er lässt sich inspirieren „durch den Dialog mit Menschen von McKinsey bis Kunst“. Er war im Silicon Valley, aber vor Kurzem erst hat er auch ein Traumdeutungsseminar besucht. „Man muss raus aus dem Gewohnten“, sagt Bloch, „und selbst Träume sind wertvoll, auch wenn man das im Geschäftsleben nicht glaubt.“ Vor allem aber will er in seinem Unternehmen nicht alles vorgeben, weshalb er sich mit Menschen umgibt, die zwar klare Jobprofile ausfüllen, aber nicht in ihnen verharren müssen. So spielt bei Innovationen etwa die Chefin des Qualitätsmanagements eine ganz entscheidende Rolle, und

Es ist eine harte Zeit, aber Daniel Bloch möchte sie bis heute nicht missen. „Die Auseinandersetzung hat mir viel gebracht“, sagt er, „denn im Dialog entstehen die besten Entscheidungen.“ Etwa die grundlegende, die Blochs Unternehmen bis heute erfolgreich sein lässt: eine Firma zu sein, die Kontinuität und Erneuerung entschlossen in Einklang bringt. So tastet Daniel Bloch die traditionellen Werte des Unternehmens niemals an. Camille Bloch soll unabhängig bleiben, weshalb man sich nicht verschuldet, nicht verkauft, keine Teilhaber ins Boot holt. Gewinne werden überwiegend ins Unternehmen reinvestiert und nicht an die Familie ausgeschüttet. Die Rezepte des Grossvaters sind unantastbar, und auch bei den Verpackungen hält man etwa bei Ragusa selbstbewusst an den eingeführten Aluminiumfolien fest, auch wenn das heute beinahe altbacken wirkt. Aber die Seele des Unternehmens ist mitunter wichtiger als die reine Betriebswirtschaft, weshalb sich Camille Bloch bis heute auch eine eigene Rösterei für die Nüsse und Kakaobohnen leistet, obwohl sie vergleichsweise teuer kommt. Sie wollen es sich ausdrücklich nicht einfach machen bei Camille Bloch – auch der Enkel des Firmengründers steht dazu. Produktionsschritte auslagern, an den Verpackungen sparen – „Verlockungen zu widerstehen kostet durchaus Kraft“, sagt Daniel Bloch. Dazu gehört auch, sich nicht hetzen zu lassen, sich nicht hineinzubegeben ins mittlerweile wild gewordene Schokoladenkarussell, in dem Hersteller in immer kürzeren Abständen neue Sorten und Varianten auf dem Markt werfen, so vielfältig wie am Ende doch austauschbar. „Natürlich könnten wir auch noch einen Ragusa-Brotaufstrich machen“, sagt Daniel Bloch, „aber was soll das? Wir sind nicht beliebig, wir sind Schokolade.

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„Zahlen begeistern mich nicht. Ich will Geschichten produzieren und erzählen.“ Daniel Bloch

Daniel Bloch reklamiert für sich bewusst kein Entscheidungsmonopol. Beim Marketing ist es nicht anders. „Beschlüsse fallen bei uns im Gespräch“, sagt er, „und das klappt auch sehr gut, weil man schnell merkt, wo wirklich Musik drin ist“. So pflegt Daniel Bloch ausdrücklich eine „familiäre Austauschkultur fernab von technokratischem Expertentum, denn je mehr Spezialisten es in einem Unternehmen gibt, desto schwerer fällt die Kommunikation“. Eine gewisse Langsamkeit nimmt er dafür in Kauf, weil das, was am Ende herauskommt, auch wirklich funktioniert. Und weil nur so eine gemeinsame Konzentration aufs Wesentliche möglich ist – unabdingbar für ein mittelständisches Unternehmen, das in der Vergangenheit durchaus Lehrgeld zahlen musste, weil es sich mit einer Vielzahl von Produkten übernahm.

Das Auge isst mit: Wer verführt werden will, achtet nicht nur auf die inneren Werte. Weshalb man bei Camille Bloch auch bei der Aussen­wirkung auf guten Geschmack setzt.

Chocolats Camille Bloch SA Das in Courtelary im Berner Jura ansässige Unternehmen ist mit einem Umsatz von rund 64 Millionen Franken der fünftgrösste Schokoladenproduzent der Schweiz und einer der letzten unabhängigen Hersteller in Familienhand. Seine wichtigsten Produkte sind die beiden Riegel „Ragusa“ und „Torino“, die seit den 40er-Jahren in ihrer klassischen Form unverändert auf dem Markt sind. Traditionell fertigt das Unternehmen auch likörgefüllte Schokoladen und ist damit Marktführer in seinem Heimatmarkt. Die Geschichte der Firma reicht zurück bis ins Jahr 1926, als der Gründer Camille Bloch nach einer Lehre bei Chocolat Tobler in Bern sein eigenes Schokoladengeschäft aufbaute. Von 1970 bis 1997 übernahm sein Sohn Rolf die Führung, der danach als Präsident des Schweizer Fonds zugunsten bedürftiger Opfer des Holocaust auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Seit 1997 führt mit Daniel Bloch der Enkel des Firmengründers die Geschäfte, seit 2005 auch als Präsident des Verwaltungsrates. Der 52-Jährige studierte zunächst Rechtswissenschaft in Bern, arbeitete als Associate Lawyer in einer New Yorker Anwaltskanzlei, sammelte erste Industrieerfahrungen in der Schweizer Papierindustrie und machte schliesslich seinen MBA am Insead in Fontainebleau. Er ist verheiratet und Vater dreier Kinder.

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Auch deshalb gewinnt die Chocolats Camille Bloch SA seit Jahren zunehmend die Kraft, nicht nur Gutes zu tun, sondern auch darüber zu reden. Zwar hat das Unternehmen immer Anzeigen und TV-Spots geschaltet, 2011 aber hat sich die Marke „Ragusa“ mit der Skirennfahrerin Lara Gut ein eigenes, frisches Gesicht gegeben. Seit einigen Jahren erreicht Camille Bloch mit einer mobilen Schokoladenmanufaktur auf diversen Märkten und Messen Zehntausende Menschen, macht Strassenaktionen, wird im Wortsinne greifbar. Vor drei Jahren hat Daniel Bloch einen Social-Media-Manager eingestellt, der die Marken über die relevanten Community-Plattformen spielt. „Wir öffnen uns“, sagt Daniel Bloch, „und das wirkt auch.“ Von einem ist er fest überzeugt: Vom Produkt zu den Menschen – für einen eher kleinen Schokoladenhersteller, der einem sich immer mehr konzentrierenden Handel gegenübersteht, ist dieser Weg zwingend. Und die Erfolge der letzten Jahre geben dafür neues Selbstvertrauen. So sind die Exporte gestiegen – nicht zuletzt, weil sich Daniel Bloch in Deutschland und Österreich von Importeuren unabhängig machte und stattdessen eigene Vertriebsbüros gründete. Das vor sieben Jahren etablierte B2B-Geschäft entwickelt sich prächtig. Demnächst will Bloch auch in Frankreich den Vertrieb in die eigenen Hände nehmen. Entsprechend weisen die Zeichen bei der Chocolats Camille Bloch SA nun auch daheim im beschaulichen Courtelary auf Wachstum. Für Daniel Bloch stehen dabei aber nicht die Zahlen im Vordergrund, denn „Zahlen begeistern mich nicht“. Vielmehr wolle er „Geschichten produzieren und erzählen, wer wir sind und was wir machen“. Dafür baut sich das Unternehmen zurzeit mit „Authenti-Cité“ für rund 30 Millionen Franken einen neuen Standort. Nicht nur, um in Zukunft doppelt so viel Schokolade produzieren zu können wie heute. Integraler Bestandteil ist ein neues Besucherzentrum, ausgelegt für 100 000 Gäste pro Jahr. Sie sollen dicht heranrücken an das Unternehmen, können die Mitarbeiter treffen auf der gemeinsamen Terrasse, im Café, im Park drum herum. Ende 2017 soll alles fertig sein. Für Daniel Bloch ist es ein Meilenstein in der Entwicklung des Unternehmens. Zugleich aber ist es ein Zeichen der Kontinuität. Schon Vater Rolf musste mit Erweiterungsbauten in den 60er-Jahren die Produktionskapazität verdoppeln, weil der Betrieb aus allen Nähten platzte. Nun ist sein Sohn dran. Und wer weiss, vielleicht wird auch das einmal zur Tradition bei den Blochs.

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Mohed Altrad, EY World Entrepreneur Of The Year 2015, hat aus bescheidenen Anfängen einen weltweit erfolgreichen Hersteller von Gerüsten und Baumaschinen geformt. Dem in der Wüste Syriens aufgewachsenen Gründer der französischen Altrad-Gruppe war in seiner Heimat ein Leben als Viehhirte zu­ge­dacht. Diesem Schicksal hat Altrad sich mit aller Kraft widersetzt – sein ganzes bisheriges Leben lang.

Zwischen zwei Welten

M

Fotos Laura Stevens

ohed Altrad sollte nie im Leben eine Schule besuchen. Ein Dasein als Viehhirte, das war für ihn vorgesehen. Wie seine Väter und Grossväter würde er mit den Beduinen durch die Wüstenlandschaften im Norden Syriens ziehen und die Ziegen, Schafe und Kamele des Stammes hüten. Dazu brauchte man keine Schule, fand Moheds Grossmutter, die sich um den Jungen kümmerte. Viel wichtiger als Bücher waren der Wechsel der Jahreszeiten und der Regen, dem man mit der Herde folgte. „Ich weiss bis heute nicht, wie alt ich wirklich bin“, erzählt Mohed Altrad, Gründer und Präsident der nach ihm benannten französischen Unternehmensgruppe. Im Beduinenlager wurden keine Geburtsurkunden ausgestellt. „Als ich 1969 nach Frankreich kam, entschied ich mich für 1948 als Geburtsjahr.“

Vom Hirtenjungen aus der Wüste zum erfolgreichen Entrepreneur, zum „König der Baugerüste“, wie manche ihn respektvoll nennen – das klingt nicht nach einem Lebenslauf, der allzu viel Kontinuität aufweist. Und so ist es vor allem eine Konstante, die Mohed Altrads Leben seit früher Kindheit prägt: „Das Widerstreben, mein mir zugewiesenes Schicksal anzunehmen.“ Altrad sträubte sich dagegen, sein Leben von dem Diktat der überlieferten Traditionen bestimmen zu lassen. Er war entschlossen, es selbst in die Hand zu nehmen. Die Grossmutter verbot zwar den Schulbesuch – aber Mohed machte sich frühmorgens, wenn sie noch schlief, auf den Weg durch die Sanddünen hin zur Schule, wo er den Unterricht von draussen durch einen Riss in der Wand verfolgte. Dieser nie versiegende Drang, Architekt seiner eigenen Biografie zu werden, hat Mohed Altrad vor Jahrzehnten aus Syrien nach Frankreich geführt und ihn dort zu einem der angesehensten Unternehmer werden lassen, dessen Rat beispielsweise in der Integrationspolitik auch bei Staatspräsident François Hollande gefragt ist. Heute zählt die Altrad-Unternehmensgruppe weltweit zu den Marktführern bei Geräten und Anlagen für den Bausektor. Zum Produktportfolio des Unternehmens, das weltweit 17 000 Mitarbeiter beschäftigt, einen jährlichen Umsatz von rund 1,8 Milliarden Euro erwirtschaftet und Kunden in mehr als 100 Ländern beliefert, zählen Gerüste, Betonmischer, Schalungssysteme und Baumaschinen,

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Dem ersten Stück französischen Bodens, das er einst betrat, blieb Mohed Altrad treu. Die Zentrale der Unternehmensgruppe liegt in einem ruhigen Wohngebiet in Montpellier.

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aber auch vergleichsweise profanes Equipment wie Schubkarren. In den vergangenen Jahren hat sich die Vermietung insbesondere von Grossgerüsten zum zweiten Standbein entwickelt. „Wir wollen Weltmarktführer in allen Geschäftsbereichen werden, in denen wir tätig sind“, definiert der Unternehmensgründer selbstbewusst das Ziel. In Interviews weigert Altrad sich freundlich, aber bestimmt, Arabisch zu sprechen, auch wenn der Interviewer ihn in der Sprache seines Geburtslandes anspricht. Wo sind seine Wurzeln, wohin fühlt er sich zugehörig, wo ist Heimat? „Genau genommen gibt es kein Land, zu dem ich gehöre“, sagt er. Syrien? „Das ist nur noch ein Torso, um den sich verbrecherische Organisationen bekriegen.“ Da gibt es nichts, woran er erinnert werden möchte. Nichts, das ihm Orientierung vermittelt, kulturelle Traditionen etwa, ein Vermächtnis der Beduinenkultur, die er einst zurückliess. Seine Kindheit war ein einziges Trauma. Die Mutter lernte er nie kennen. Sie war selbst noch ein Kind, als sie den Jungen gebar, erst zwölf oder 13 Jahre alt, und da hatte sie schon einen Sohn. Vom Vater der beiden Söhne wurde sie zurückgewiesen und sie starb kurz nach Moheds Geburt. Der Vater, Führer ihres Beduinenstammes, misshandelte Moheds Bruder so schwer, dass er starb. Mohed selbst wurde von seinem Vater verstossen und wuchs bei der Grossmutter auf. Nachdem der Junge endlich die Schule besuchen durfte, avancierte er schnell zum Klassenbesten. „Es war purer Instinkt“, sagt er

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„Mir war schnell klar, dass nicht Frankreich mich akzeptieren musste, sondern ich Frankreich.“

heute. „Ich spürte, dass die Schule meine einzige Chance war.“ Er lernte so vorbildlich, dass die anderen Kinder bald von Neid gepackt wurden. Eines Tages, nach Schulschluss, packten sie ihn, gruben in der Wüste ein tiefes, enges Loch, in das er gerade hineinpasste, steckten ihn mit dem Kopf voran hinein und liefen weg. Mit letzter Kraft schaffte der Junge es, sich hinauszuwinden. Sein Glück war es, dass ein kinderloses Paar aus Rakka, heute eine Hochburg der IS-Terrormiliz, ihn aufnahm. Mit 17 legte er sein Abitur ab. Seine hervorragenden Leistungen brachten ihm ein Stipendium ein. In Frankreich. Mit 200 Francs in der Tasche kam Mohed Altrad an einem kalten Novemberabend des Jahres 1969 in Montpellier an, der Mini-Metropole an der französischen Mittelmeerküste. Dem ersten Stück französischen Bodens, das er betrat, blieb er treu. Heute noch beherbergt Montpellier die mit nur 25 Mitarbeitern extrem schlanke Zentrale der Holding, in einem ruhigen Wohngebiet in direkter Nachbarschaft zum Wohnanwesen Altrads gelegen. Als Altrad in Frankreich ankam, sprach er kein Wort Französisch. „Ich fand mich in einer völlig fremden Welt wieder“, erinnert er sich. „Und mir war schnell klar, dass nicht Frankreich mich akzeptieren musste, sondern ich Frankreich.“ Ein gewollt deutlicher Hinweis an die Zehntausende Flüchtlinge aus Syrien, die in den vergangenen Monaten nach Europa und auch nach Frankreich gekommen sind. Mohed Altrad spürte, dass Bildung Chancen verspricht. Er lernte schnell und begierig. Sein Streben nach Bildung, allen Widerständen zum Trotz, das ist auch so eine Konstante in seinem Leben. An der altehrwürdigen Universität von Montpellier studierte er Mathematik und Physik und promovierte in Computerwissenschaften. Danach arbeitete er einige Jahre für renommierte französische Unternehmen wie Alcatel und Thomson. Er war angekommen. Mohed Altrad erhielt die französische Staatsbürgerschaft. Später wurde er ob seiner Verdienste als Unternehmer zuerst zum Ritter, dann sogar zum Offizier der Ehrenlegion ernannt – eine der ranghöchsten Auszeichnungen, die der französische Staat vergibt. Aber trotz alledem bleibt bis heute ein „gewisses Gefühl der Fremdheit im Blut und im alltäglichen Leben“. Es beginnt immer wieder schon bei der Frage, was für ein Landsmann er ist. Franzose? Ja, natürlich, aber irgendwie auch nicht, jedenfalls nicht so richtig. „In den meisten Artikeln über mich heisst es: ‚Er ist Franzose syrischer Herkunft‘“, erzählt Altrad. „Warum müssen sie das immer erwähnen? Hin und wieder erinnern mich die Leute daran, dass ich kein ‚richtiger Franzose‘ bin.“ Seine innere Zerrissenheit hat Mohed Altrad vor Jahren in dem autobiografischen Roman

Altrad Group Die Altrad-Gruppe zählt weltweit zu den Marktführern im Gerüstbau sowie bei BaustellenEquipment wie Betonmischern und Schubkarren. Weltweit erwirtschafteten die 17 000 Beschäftigten im vergangenen Jahr einen Umsatz von rund 1,8 Milliarden Euro. 2015 wurde Firmengründer Mohed Altrad von EY als World Entrepreneur Of The Year ausgezeichnet.

Mohed Altrad

Von seinem Schreibtisch aus hat Mohed Altrad die Fotos seiner fünf Kinder stets im Blick.

„Badawi“, Arabisch für „Beduine“, aufgearbeitet. Das Buch, mittlerweile Lektüre an vielen französischen Schulen, ist die Geschichte eines Menschen, der zwischen zwei Welten seinen Weg durchs Leben sucht. Das Jahr 1985 markiert den Beginn der Unternehmerkarriere Altrads. Aus dem Bekanntenkreis ereilte ihn die Anfrage, ob er vielleicht am Erwerb einer insolventen Gerüstbaufirma mit 200 Mitarbeitern und passabler Auftragslage, aber einer Menge Schulden interessiert sei. Während einer vierjährigen, gut dotierten Tätigkeit für die staatliche Erdölgesellschaft in Abu Dhabi hatte Altrad einige hunderttausend Dollar beiseitegelegt; etwas Geld zur Sanierung war also da. „Du hast keinen Schimmer von Baugerüsten“, dachte sich Altrad, der seine unternehmerische Zukunft bis dato eher in der Computerbranche gesehen hatte. Andererseits – Gerüste werden überall gebraucht, bei jedem Bau, auf Flughäfen, in Raffinerien. Und warum sollte man das Sortiment nicht gleich ergänzen – um all die nützlichen Dinge, die Bauunternehmen benötigen, Betonmischmaschinen beispielsweise oder auch Schubkarren? Alles aus einer Hand. „Es war mehr eine Intuition, der drängende Wunsch, etwas zu wagen, als ein präzise ausgearbeiteter Plan“, erinnert sich Altrad. Er schaffte den Turnaround der Firma innerhalb eines Jahres. Auch durch Einsparungen, aber vor allem, indem er den Lebensgeist der Firma und ihrer Beschäftigten wieder erweckte. „Die Leute sahen: Da ist einer, der steckt seine gesamten Ersparnisse in unseren Laden. Der glaubt tatsächlich an uns. Also los, an die Arbeit!“ Von Beginn an richtet Altrad sein unternehmerisches Wirken auf Expansion aus – vor allem durch gezielte Akquisitionen. Kein anderes Unternehmen im europäischen Bausektor hat in den vergangenen 30 Jahren auch nur annähernd so viele Firmen gekauft. Anfangs standen vor allem notleidende, regional agierende Nischenplayer aus Frankreich im Fokus des Entrepreneurs; sie waren für

wenig Geld zu haben. Mit den Jahren wurden die Zukäufe aus dem In- und Ausland grösser – und Altrad entwickelte sich zum Mover & Shaker im Konsolidierungs- und Konzentrationsprozess der bislang vorrangig lokal ausgerichteten Branche. Vorläufiger Höhepunkt war die Übernahme des niederländischen Industriedienstleisters Hertel mitsamt 70 Auslandsniederlassungen Anfang vorigen Jahres. Allein durch diesen Merger konnte die Altrad-Gruppe ihren Umsatz nahezu verdoppeln. Altrad selbst räumt ein, dass sein Expansionsdrang nicht allein von der ökonomischen Ratio genährt wird. Wieder ist es seine Vergangenheit, die ihn antreibt. „Meine eigene Erfahrung“, erklärt er, „mein eigener Weg aus der Lebensfeindlichkeit der Wüste in die europäische Zivilisation haben mich gelehrt, welch immense Bereicherung es ist, einer bis dato fremden Kultur zu begegnen, sie zu respektieren und lieben zu lernen.“ So ist jede Akquisition für ihn bis heute ein kulturelles Abenteuer: Welche Identität hat das gekaufte Unternehmen? Was können wir von ihm lernen? Welche Werte und Traditionen müssen wir auf jeden Fall unangetastet lassen? Der Konzernchef lässt den übernommenen Unternehmen, wenn immer es geht, grösstmögliche Eigenständigkeit – auch dies ein Reflex der Zwänge und Konventionen, des Mangels an Freiheit seiner frühen Jahre. Das beginnt schon damit, dass die erworbenen Unternehmen grundsätzlich ihre angestammten Namen behalten. „Mit jeder Akquisition erwerben wir ein individuelles Wesen mit einer eigenen Persönlichkeit“, erklärt Altrad seine MergerPhilosophie. „Die meisten Unternehmen unserer Grösse zwingen die zugekauften Firmen in ihre bestehende Kultur und löschen alles aus, was an die frühere Unternehmenskultur erinnert. Diesen Weg lehne ich für unsere Gruppe strikt ab.“ Sein Unternehmensgefüge beschreibt er als weit verzweigte Familie – mit unternehmerisch weitgehend eigenverantwortlich agierenden Töchtern und Söhnen, Nichten und Neffen, die ihr Ohr stets am Puls ihrer angestammten Märkte haben. Ein für alle Familienmitglieder verbindlicher Wertekanon hält die Zentrifugalkräfte unter Kontrolle. Beachtliche 605 Seiten stark ist das Grundgesetz der Altrad-Gruppe, „Pathways to the possible“ genannt. Die zentralen Werte, so der frühere französische Kulturund Verteidigungsminister François Léotard, ein Freund Altrads, seien „anspruchsvoll, trocken und simpel“. Der Grundsatz der Subsidiarität findet sich dort genauso an vorderster Stelle wie ein klares Bekenntnis zu Respekt, Vertrauen, Eigenverantwortung, Solidarität und Teamfähigkeit. Gemeinsam an etwas und für etwas arbeiten – das ist für den Konzernchef eine absolut unverzichtbare Tugend. Die Werte bilden das unerschütterliche Fundament der Gruppe. „Sie sind die Garanten der Nachhaltigkeit“, sagt Mohed Altrad – und ist damit beim eigentlichen Ziel seines unternehmerischen Wirkens angelangt. Würde es ihm um persönlichen Reichtum gehen, hätte er längst alles verkauft, „und ich könnte ein sorgenfreies Leben in Wohlstand geniessen“. Nein, etwas ganz anderes sei massgeblich: der Wunsch, nach all den Widernissen seines Lebenslaufes etwas zu schaffen, „das meinen Namen trägt und Bestand hat – auch über meinen Tod hinaus“.

01/2016 Entrepreneur

Langläufer: In jahrelanger Forschungsarbeit fand Stefan Hell heraus, dass und wie man bestimmte Mole­ küle mit Laserstrahlen an- und ausschalten kann, und überwand damit die Beugungsgrenze des Lichts.

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Tanz der Moleküle Auch eine disruptive Technologie entsteht nicht aus dem Nichts, sondern ist oft das Ergebnis jahrelanger, kontinuierlicher Arbeit. Die junge Abberior Instruments GmbH in Göttingen, die sich anschickt, den Markt für extrem hochauflösende Mikroskope zu revolutionieren, ist selbst zwar erst wenige Jahre alt, doch ihre Gründer, darunter der ChemieNobelpreisträger Prof. Stefan Hell, schufen die Fundamente für ihre heutigen Erfolge bereits vor Jahrzehnten.

D Fotos Matthias Ziegler und Sigrid Reinichs

ie Versuchsanordnung: links eine ziemlich grosse schwarze Kiste mit kleinem orangen Namenszug, in der Mitte ein Mikroskop, rechts ein Rechner mit Monitor. Das Ensemble in einem fensterlosen, engen Raum im Gebäude des Göttinger Laser-Laboratoriums wirkt unspektakulär, hat so gar nichts vom cleanen Chic, der manche Hochtechnologie umgibt. Wo also steckt das Erfolgsgeheimnis? „Entscheidend“, klärt Dr. Gerald Donnert seine Besucher auf, „ist die schwarze Kiste.“ Unter deren Deckel verbirgt sich ein verwirrendes Labyrinth von Lasern, Linsen und Leitungen und zugleich – für den Laien nicht leicht erkennbar – eine wissenschaftliche Sensation, die sich inzwischen auch zu einer wirtschaftlichen Erfolgsstory entwickelt hat. Denn hier im kargen, kleinen Showroom von Abberior Instruments (AI) stehen die leistungsfähigsten Lichtmikroskope der Welt. Mit ihrer Hilfe kann man in das Innerste von lebenden Zellen blicken, selbst feinste Strukturen in bisher unerreichter Schärfe erkennen und den Zellen sogar bei der Arbeit zusehen – unschätzbare Vorteile für die Medizin oder die Pharmaforschung, die Lebenswissenschaften allgemein. „Wir können künftig beispielsweise an den Zellstrukturen erkennen, was gesund bedeutet und was krank“, beschreibt Donnert, Mitbegründer und Geschäftsführer von Abberior

Instruments, eine Einsatzmöglichkeit seiner Geräte. „Krankheiten sind ja oft nichts anderes als Abweichungen oder Veränderungen in der Struktur von Proteinen.“ Die junge AI, 2012 von sieben Wissenschaftlern gegründet, macht mit ihren Geräten inzwischen etablierten Firmen wie Nikon, Leica, Zeiss und Olympus Konkurrenz. Ihre Verfahren zur Hochauflösung erweisen sich zunehmend als disruptive Technologien, die die herkömmlichen Methoden ablösen. Auf 1 000 bis 1 500 Stück schätzen Experten den weltweiten jährlichen Bedarf für High-End-Mikroskope. Bis zu 700 000 Euro kann so ein Gerät kosten. Donnert nennt zwar weder aktuelle Absatz- noch Umsatzzahlen von Abberior Instruments, aber Ziel seines Unternehmens ist es, an diesem Zukunftsmarkt einen Anteil von 15 bis 20 Prozent zu erreichen. Und die Chancen dafür stehen sehr gut. Es brauchte allerdings einen langen Atem, kontinuierliche Forschungsarbeit und viel Durchhaltevermögen, um bis hierher zu kommen. Denn die wissenschaftlichen Grundlagen für die Hochauflösung legte Prof. Stefan Hell, einer der Mitbegründer von Abberior Instruments und Spiritus Rector der hochauflösenden Mikroskopie, schon vor Jahrzehnten. Bereits Ende der 80er-Jahre hatte der frisch promovierte Physiker die Idee, dass es möglich sein müsste, die scheinbar unüberwindlichen Grenzen der Lichtmikroskopie zu sprengen. Als Auflösungslimit für optische Mikroskope galt mehr als 100 Jahre die sogenannte Beugungsgrenze des Lichts, die der deutsche Wissenschaftler Ernst Abbe 1873 entdeckt hatte. Seither galt als unumstössliches Gesetz der Optik, dass nichts, das kleiner ist als eine halbe Lichtwellenlänge, also rund 200 Nanometer oder 0,2 Mikrometer, scharf erkennbar ist. Viren, Proteine und andere Moleküle, die etwa zehnmal kleiner sind, waren deshalb unter einem Lichtmikroskop nur als verschwommene Punkte zu sehen – ihre Feinstrukturen blieben dem Auge verborgen. Dieses Defizit liess Hell keine Ruhe. Er wollte den Molekülen beim Tanzen zusehen. Dabei ist der Physiker keineswegs der Typus des weltfremden Wissenschaftlers, der sich in eine fixe Idee verrennt und nicht mehr von ihr lassen kann. „Realitätssinn“ ist eines der Substantive, die Hell häufig und gern gebraucht. Und genau dieser Realitätssinn sagte ihm, dass es eigentlich unwahrscheinlich war, dass in einer so langen Zeit mit vielen physikalischen Weiterentwicklungen und Durchbrüchen ausgerechnet die Optik an eine Grenze gestossen sein sollte. „Ich habe mich gefragt, ob es dabei um fundamentale oder um technische Probleme ging“, erklärt Hell seinen wissenschaftlichen Ansatz heute. Er habe festgestellt, dass es eigentlich nur um Hürden technischer Art ging. Er musste also lediglich den richtigen Weg finden, die entscheidende Idee haben, um diese zu überwinden – oder besser zu umgehen. Und die hatte er 1993. „An der Optik konnte man nichts mehr verbessern, das war mir schnell klar“, stellt Hell fest. Licht liess sich nicht noch stärker bündeln, schärfer fokussieren. Wenn also die Physik nichts mehr hergab, vielleicht ging es auf einem anderen Weg? Den entdeckte der Forscher in den Molekülen, die man sich im Mikroskop letztendlich anschaute.

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Hell fand heraus, dass und wie man bestimmte Moleküle mit Laserstrahlen an- und ausschalten kann. Statt einer verschwommenen Masse treten nun wie auf einer Theaterbühne einzelne Strukturen, farbig markiert, nacheinander ins Spotlight. Mit diesem Trick gelang es dem Wissenschaftler, das Auflösungsvermögen des Fluoreszenzmikroskops von der Beugung des Lichts zu entkoppeln. Plötzlich waren Objekte erkennbar, die nur Bruchteile der Lichtwellenlänge gross sind; um das Zehnfache kleiner – und prinzipiell noch winziger. Hell hatte das Tor zur Nanoskopie aufgestossen. Es war ein wissenschaftlicher Sprung mit grosser Bedeutung auch für andere Wissenschaftsbereiche. Als Krönung seiner Forschungsarbeit erhielt Hell neben vielen anderen renommierten Ehrungen und Auszeichnungen dafür 2014 gemeinsam mit den US-Wissenschaftlern Eric Betzig und William E. Moerner, die anschliessend in verwandten Bereichen geforscht hatten, den Nobelpreis für Chemie. Doch vor dem grossen Sprung lag ein langer Marsch – einer, der vielleicht schon in Hells Jugend begonnen hatte. Denn Hell stammt als Sohn Banater Schwaben aus einem kleinen Dorf in Rumänien, kam erst als Teenager nach Deutschland. Zwar empfand er Deutschland nach den Repressalien des Ceaușescu-Kommunismus als grosse Befreiung, aber leicht hatte es der junge Spätaussiedler Ende der 70er-Jahre in der neuen Heimat auch nicht immer. Doch er war ein hervorragender Schüler, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern seinen Klassenkameraden deutlich voraus. Ohne diesen Hintergrund könne man ihn wahrscheinlich gar nicht verstehen, bemerkte Hell einmal in einem Interview. Vielleicht ist in diesem Werdegang tatsächlich die Wurzel zu suchen für Hells stilles Durchhaltevermögen, zurückhaltend zu

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„Als Berater habe ich ein Gefühl dafür bekommen, wie viele Fakten man braucht und wie viele Unsicherheiten akzeptabel sind, um eine unternehmerische Entscheidung zu fällen.“ Dr. Gerald Donnert

Dr. Gerald Donnert sein und dennoch resolut und unnachgiebig, was seine wissenschaftlichen Vorstellungen angeht. So liess sich Hell auch nicht davon entmutigen, dass seine revolutionäre Idee zunächst in Deutschland keine Unterstützung und damit keine Geldgeber fand. Stattdessen ergriff er die Chance, ein nicht sehr gut dotiertes Stipendium an der Universität Turku anzunehmen, weil er dort zugleich den Freiraum hatte, an seiner Grundidee der ein- und ausschaltbaren Moleküle weiter forschen zu können. Seine Arbeit finanzierte er durch den Verkauf von Patenten und Lizenzen an interessierte Unternehmen und Forschungsinstitute. Dabei kam er in Kontakt mit dem Max-Planck-Institut (MPI) für biophysikalische Chemie in Göttingen. Nach vier Jahren in Finnland konnte er dort als Leiter einer sogenannten Nachwuchsgruppe, die jungen Wissenschaftlern mit ungewöhnlichen Denkansätzen die Chance bot, ihre Ideen zu realisieren, das vom ihm entwickelte STED-Prinzip (STED: Stimulated Emission Depletion) endlich in die Praxis umsetzen. Im Jahr 2000 war das erste STED-Mikroskop fertig. Auch wenn bis zur Gründung des eigenen Unternehmens noch einige Jahre vergehen sollten, war Hell im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaftlern der wirtschaftliche Wert seiner Arbeiten sehr früh klar. Und nicht nur das: Er war ihm auch wichtig. Denn anders als viele Forscherkollegen sieht Hell durchaus Parallelen zwischen Wissenschaftler und Unternehmer. Beide brauchen aus seiner Sicht die Bereitschaft, mit offenen Augen und Realitätssinn ein gewisses Risiko einzugehen. „Man weiss viele Dinge nicht so genau, aber man versucht abzuschätzen, wie es laufen könnte – nicht zu pessimistisch, nicht zu optimistisch, um so das Risiko zu minimieren und dann sein Verhalten entsprechend anzupassen.“ Schon während seiner Promotion in Heidelberg hatte Hell im damaligen Start-up seines Doktorvaters miterlebt, wie man Forschungsergebnisse in marktfähige Produkte umsetzt – und was man dabei falsch machen kann. Mangelnder Praxisbezug etwa kann eine gefährliche, manchmal tödliche Stolperfalle sein. Als Hell gemeinsam mit einigen seiner Doktoranden die zunehmenden Anfragen interessierter Unternehmen im Göttinger Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, dessen Leitung er inzwischen übernommen hatte, nutzte, um 2011 ein erstes Start-up zu gründen, war ein Asset deshalb unabdingbar: betriebswirtschaftlicher Sachverstand. Und über den verfügte vor allem einer im Hause – Gerald Donnert. Der gebürtige Oberfranke hatte sich schon während des Studiums in Bayreuth nicht nur für Physik interessiert, sondern auch für Betriebswirtschaft, hatte sich während seiner anschliessenden Promotion bei Professor Hell in Göttingen nebenher an Businessplan-Wettbewerben beteiligt – und gewonnen. Gleich nach der Promotion wechselte Donnert für drei Jahre als Consultant zu McKinsey – eine Zeit, in der er, wie er selbst sagt, wertvolle Erfahrungen für das eigene Unternehmen sammelte, erlebte, nach welchen Kriterien Entscheidungen in Firmen getroffen werden. Nämlich ganz anders als in der Wissenschaft: Dort suche man – so Donnert – immer nach

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Nit praepra velende lestorrum quias et es eiunt, conseriaspid et quisit audion plibusm, sum qui cus as eventotasped quo evelent. aris ium de volessus et es enimi, sitashkjhpe, consed quis voluptus eum apit, sit officti

Gerald Donnert, Jahrgang 1977, hat in Bayreuth Physik studiert und kam 2004 als Doktorand an das Göttinger Max-Planck-Institut von Prof. Stefan Hell. Nach seiner Promotion wechselte Donnert für drei Jahre als Management Consultant zu McKinsey. Dort beriet er vor allem Unternehmen der Hightech-Industrie und hatte einen funktionalen Schwerpunkt in der strategischen Wachstumsberatung von Klienten in Europa und Asien. 2011 kehrte er nach Göttingen zurück und gründete zusammen mit seinem Doktorvater Hell und anderen Wissenschaftlern die Abberior GmbH und 2012 die Abberior Instruments GmbH. In beiden Unternehmen ist Donnert geschäftsführender Gesellschafter. Gemeinsam mit Stefan Hell wurde Gerald Donnert zum Entrepreneur Of The Year 2015 in der Kategorie Start-up gewählt.

Neueste Erkenntnisse aus Chemie, Biologie und Physik führen in den Hochauflösungsmikroskopen von Abberior Instruments zu immer weiteren Leistungssteigerungen.

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fast hundertprozentiger Sicherheit, während man in der Wirtschaft Unsicherheiten mit einkalkuliere. „Ich habe ein Gefühl dafür bekommen, wie viele Fakten man braucht und wie viele Unsicherheiten akzeptabel sind, um eine unternehmerische Entscheidung zu fällen“, sagt Donnert. Ausserdem hat er bei McKinsey gelernt, wie man in Teams arbeitet. Auch während seiner Beraterjahre in München hielt Donnert immer Kontakt zu seiner wissenschaftlichen Heimat Göttingen – und war von Anfang als geschäftsführender Gesellschafter mit dabei, als 2011 zunächst Abberior und 2012 Abberior Instruments gegründet wurde: Die ältere Schwester von Abberior Instruments hat sich auf die Herstellung von Fluoreszenzfarbstoffen spezialisiert, mit denen Moleküle für die mikroskopische Untersuchung mithilfe der AI-Geräte markiert werden. Sowohl Donnert als auch Hell sehen in der einzigartigen Kombination aus Farbstoffen und Hochleistungsmikroskopen einen deutlichen Wettbewerbsvorteil für beide Start-ups. Für die Anfangsfinanzierung ihrer Unternehmen, eine sechsstellige Summe, legten die Gründer ihre privaten Ersparnisse zusammen. Auch Hells Nobelpreisgeld floss in die Firmen. Alle weiteren Investitionen konnten die Gründer bisher aus dem Cashflow finanzieren – und sichern sich damit Beweglichkeit und Unabhängigkeit. Wenn es dem weiteren Wachstum des Unternehmens dienlich ist, ist aber auch fremdes Geld oder ein externer Investor kein Tabu. Wichtig sei bei solchen Überlegungen einfach, dass das Primat des technologischen Know-hows dabei nie gefährdet werde, sagt Hell.

Prof. Stefan Hell Stefan Hell, Jahrgang 1962, wuchs in der Nähe von Arad in Rumänien auf. 1978 übersiedelte seine Familie nach Deutschland. Ab 1981 studierte Hell Physik in Heidelberg und war nach seiner Promotion 1990 kurzzeitig als freier Erfinder tätig. Schon zu dieser Zeit beschäftigte er sich mit Möglichkeiten, Lichtmikroskope zu konstruieren, die eine höhere Auflösung ermöglichten als die bis dahin entwickelten. Doch für seine Idee der Überwindung der Beugungsgrenze des Lichts fand er zunächst in Deutschland keine Geldgeber. In der Abteilung für Medizinische Physik der Universität Turku, Finnland, gelang es ihm schliesslich, das Prinzip der STED-Mikroskopie (STED: Stimulated Emission Depletion) zu entwickeln und damit das Tor zur Nanoskopie aufzustossen. Hells Habilitation in Physik erfolgte 1996 in Heidelberg. 1997 übernahm Hell am MaxPlanck-Institut für biophysikalische Chemie eine sogenannte Nachwuchsgruppe und konnte dort das STED-Prinzip in die Praxis umsetzen. 2002 wurde Hell zum Direktor des MPI ernannt. Neben seiner Tätigkeit in Göttingen wurde er 2003 als ausserplanmässiger Professor an die Universität Heidelberg berufen und zudem Leiter der Abteilung „Hochauflösende Optische Mikroskopie“ am Deutschen Krebsforschungszentrum. 2014 wurde Hell als Krönung seiner Forschungsarbeit gemeinsam mit den US-Wissenschaftlern Eric Betzig und William E. Moerner der Nobelpreis für Chemie verliehen. Mit anderen MPI-Forschern sowie Wissenschaftlern des Deutschen Krebsforschungszentrums gründete Hell 2011 die Abberior GmbH. Das Start-up produziert Fluoreszenzfarbstoffe. Ein Jahr später folgte die Abberior Instruments GmbH, die sich auf superhochauflösende Lichtmikroskope spezialisiert hat. Die Schwesterunternehmen, beide mit Sitz in Göttingen, können eine optimale Kombination aus Farbstoff und hochauflösender Hardware anbieten. Mit dem RESOLFT-Mikroskop, einer Weiterentwicklung der STED-Mikroskopie, setzt sich das junge Unternehmen deutlich von der Konkurrenz ab. Keine andere Firma bietet heute diese Methode an. Das RESOLFTMikroskop benötigt deutlich weniger intensives Licht und ist deshalb besonders gut geeignet, um lebende Zellen über lange Zeiträume zu untersuchen. Insgesamt hat AI in zwei Jahren mehr als 20 hochauflösende Lichtmikroskope in Europa und Asien verkauft.

„Wir können diese neuen hochauflösenden Verfahren optimieren und brauchen keine beugungsbegrenzten Systeme zu bauen, nur weil wir die schon über Jahre verkauft haben.“ Prof. Stefan Hell

Zurzeit gehören knapp 25 Mitarbeiter zum Team. Gezielt sprachen Donnert und Hell ehemalige Institutswissenschaftler an, warben sie sogar aus dem Ausland zurück, um umfassende Expertise im Unternehmen zu versammeln: Physiker, Chemiker, Biologen. Stefan Hell berät heute beide Firmen weiterhin strategisch, hält sich aber aus dem operativen Geschäft heraus. Allerdings sehen er und Donnert sich mehrfach in der Woche und tauschen sich aus. Denn nachdem ihr Potenzial erkannt worden ist, entwickelt sich die Hochauflösung nun sehr schnell. „An allen wichtigen Instituten weltweit wird intensiv daran geforscht“, weiss Gerald Donnert. Etwa im Halbjahresrhythmus will AI mit eigenen Innovationen auf den Markt kommen. „Technologisch haben wir noch eine Menge in der Pipeline“, sagt der AIGeschäftsführer. Die Abberior-Mikroskope zeichnen sich vor allem durch hohe Flexibilität aus, die eine bestmögliche Anpassung an die spezifischen Bedürfnisse der Kunden in Laboren weltweit ermöglicht. Diese Flexibilität garantiert zudem, dass sich die AI-Mikroskope leicht auf den neuesten Stand aufrüsten lassen. Und damit die Leistungsfähigkeit der AI-Geräte kein Geheimtipp bleibt, haben Hell und Donnert mit ihrer Mannschaft eine aufwendige Roadshow konzipiert, mit der sie Universitäten und forschungsintensive Firmen besuchen. In einen Container haben sie dafür eine komplette Laborausrüstung eingebaut, in dem potenzielle Kunden die AI-Produkte bei sich vor Ort unter Praxisbedingungen testen und ausprobieren können. Davor, dass die etablierte Optik-Konkurrenz, die natürlich längst auch die Hochauflösung im Visier hat, die kleine, feine Göttinger Manufaktur mit Marktmacht und Finanzkraft aus dem Geschäft drängen könnte, ist Hell und Donnert nicht bange. Und sie kennen auch keine Berührungsängste. Die High-End-Mikroskopie sei ein Wachstumsmarkt, in dem noch reichlich Platz sei. Wenn es sinnvoll sei, könne man sich selbst Kooperationen mit den Konzernen vorstellen. Einen Vorteil, den Hell und Donnert für ihr junges Unternehmen sehen, sei, dass es keinen historischen Ballast mit sich schleppen müsse. Etablierte Firmen wie Zeiss, Leica, Olympus oder Nikon haben dagegen durch das gesamte 20. Jahrhundert hindurch Mikroskope entwickelt, haben Produktlinien, die sich immer relativ gut verkauft haben und im Markt akzeptiert sind, von denen sie sich nun nicht einfach trennen können, weil sie von ihren Stammkunden immer noch nachgefragt werden. „Wir können da viel radikaler agieren“, sagt Hell. „Wir können diese neuen hochauflösenden Verfahren optimieren und brauchen keine beugungsbegrenzten Systeme zu bauen, nur weil wir die schon über Jahre verkauft haben und es noch Kunden mit einer gewissen antiquierten Haltung gibt, die gar nicht einschätzen können, was die neuen Systeme eigentlich leisten.“ Da ist der Firmenname sozusagen Programm. Er ist ein Wortspiel aus dem Namen Abbe, dessen Gesetz die neuen Göttinger Sieben brachen, und dem Begriff „superior“ – „überlegen“. Ein bisschen klingt das ja auch nach Warrior – einem Krieger, der sich anschickt, einen traditionellen Markt zu erobern.

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Seit mehr als zwei Jahrzehnten lenkt das gleiche Duo die Geschicke des niederländischen Logistik- und Grosshandelsunternehmens B&S – ein fast schon antiquiert anmutendes Beispiel personeller Kontinuität. Dabei hatten Willem Blijdorp und Bert Meulman es nicht immer leicht miteinander; dafür sind die Führungsstile der beiden Eigentümer des traditionsreichen Dienstleisters einfach zu unterschiedlich. In einem waren sie sich allerdings stets einig: Die Interessen des Kunden sind die Raison d’Être des Unternehmens. „Wenn wir uns das nicht täglich zu Herzen nehmen würden“, sagt CEO Meulman, „dann gäbe es uns schon lange nicht mehr.“ Fotos Matthias Ziegler

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Loblied auf die Evolution

B&S-CEO Bert Meulman pflegt langjährige Beziehungen zu seinen Kunden, „Partnerschaften“ sagt er dazu. „Unsere Kun­den  fühlen sich wohl mit uns“, erklärt er, „sie sind treu, sie kehren uns nicht den Rücken.“

us der Sicht von Kreuzfahrtreedereien gibt es vor allem ein Qualitätskriterium für Hamburger. „Sie müssen überall gleich schmecken und gleich aussehen, egal wo auf der Welt sich das Schiff gerade befindet“, sagt Bert Meulman. „Die Kreuzfahrtlinien bestehen darauf“, erklärt der CEO des niederländischen Lebensmittellogistikers B&S, „weil die Urlauber an Bord nicht jeden Tag etwas anderes auf dem Teller haben wollen, das zufälligerweise den Namen Hamburger trägt – mal platt, mal rundlich, mal kross, mal labberig, mal scharf gewürzt und mal laff.“ Klingt einfach, ist aber kompliziert. Und: „Wenn Sie jedes Mal in einem Hafen, den Sie gerade anlaufen, das Fleisch für die Buletten vor Ort kaufen, funktioniert es überhaupt nicht.“ Hackfleisch aus Neapel und aus Kairo schmeckt in den seltensten Fällen gleich. Ausserdem lägen die Schiffe ja manchmal nur wenige Stunden im Hafen. „Genau in diesem Zeitfenster muss das Fleisch angeliefert werden.“ Jetzt ist Meulman vollends in seinem Element: „Es gibt keine Entschuldigung für den Fahrer, wenn er zu spät kommt.“ Ausserdem dürfe nichts angetaut sein, „sonst gibt es Probleme mit der Lebensmittelhygiene“. Vor allem in südlichen Ländern sei das mitunter ein Problem. Und natürlich müssen die Frachtpapiere in Ordnung und alle Zollformalitäten geklärt sein. Meulmans Argumentationskette nähert sich dem Finale. „Wenn Sie das als Lieferant vergeigen, und der Food & Beverages Manager des Schiffes steht ohne Hackfleisch da, wird die Reederei den Vertrag mit Ihrer Firma kündigen, und zwar sofort.“ Meulman blickt von seinem Schreibtisch auf. „Sie brauchen einen Lieferanten, auf den Sie sich absolut verlassen können“, sagt er und nimmt Mass. „Ich leite so ein Unternehmen. Wir können das.“ Tiefgekühlte Rindfleischbuletten sind nur eines von 40 000 Produkten, die B&S per Flugzeug, Schiff und Lastwagen rund um den Erdball transportiert. Fast alle grossen Kreuzfahrtlinien zählen zu den wichtigsten

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Kunden des Unternehmens, das im niederländischen Dordrecht beheimatet ist, in unmittelbarer Nähe zum Hafen von Rotterdam, dem grössten Port Europas. Die Belieferung von Schiffen mit Lebensmitteln und Getränken gehört schon seit der Gründungszeit des ältesten Unternehmensvorläufers vor fast 150 Jahren zum Kerngeschäft von B&S. Damals, im Jahr 1872 war’s, gab ein deutscher Kapitän namens August Köpcke für seine grosse Liebe das unstete Seemannsleben auf und eröffnete in Rotterdam einen Lieferservice für die Frachtschiffe, die im stetig schneller wachsenden Hafen ihre Ladung löschten. An Stelle des Geschäfts mit Pökelfleisch und Rum traten später die beliebten Butterfahrten, auf denen Tagesausflügler dem zollfreien Einkauf von Schnaps und Zigaretten frönten. Die meist feucht-fröhlichen Trips sorgten lange für prächtige Umsätze. In den vergangenen Jahrzehnten hat B&S sein Dienstleistungsportfolio stetig diversifiziert. Heute gehört das Unternehmen zu den Marktführern bei der Bordversorgung von Flugpassagieren mit Getränken, Snacks und kompletten Menüs; es beliefert die Arbeiter auf den Öl- und Gasfeldern in Algerien, Angola und Kasachstan mit Lebensmitteln und Feierabendbier und betreibt in eigener Regie Duty-free-Stores und Läden für Parfümeriewaren, Tabak, Spirituosen und Elektronikerzeugnisse in Flughäfen sowie auf grossen Fähren. Eine besondere logistische Herausforderung ist die Belieferung von Hilfskonvois nach Naturkatastrophen und von UN-Blauhelmtruppen in Krisengebieten. „Wir sind auch da, wo andere sich nicht hintrauen“, werben die Niederländer. Das Unternehmen, dessen Lagerhalle vor 30 Jahren kaum grösser war als eine Garage, ist zu einem global tätigen Dienstleister herangewachsen, dessen 1 400 Beschäftigte im Jahr 2014 einen Umsatz von rund 1,4 Milliarden Dollar erwirtschafteten. Jährlich werden Waren im Gesamtgewicht von 100 Millionen Kilogramm transportiert, darunter allein zwei Millionen Eier – das

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„Ich bin Verfechter einer evolutionären Entwicklung, viele kleine Veränderungen, Tag für Tag, aber wenn ich eines hasse, dann ist es Revolution.“ Bert Meulman

entspricht etwa 200 Lkw-Ladungen pro Tag. Bald wird Bert Meulman die nächste Wachstumsstufe zünden. In unmittelbarer Nachbarschaft der Firmenzentrale hat er ein Grundstück gekauft – gross genug für ein weiteres Kühl- und Lagerhaus. „Bei uns steht der Kunde im Fokus“ – dieser allzu modisch gewordene Spruch ist für die Logistikspezialisten von B&S keine pflichtgemäss heruntergeleierte Werbefloskel. Sie ist nicht mehr und nicht weniger als die Raison d’Être des Unternehmens. „Wenn wir uns das nicht täglich zu Herzen nehmen würden“, sagt der CEO, „dann gäbe es uns schon lange nicht mehr.“ Meulman pflegt langjährige Beziehungen zu seinen Kunden, gern spricht er von Partnerschaften. Der Kunde wünscht individuellen Service, massgeschneiderte Lösungen – kein Problem. Oder besser gesagt: Wenn es ein Problem gibt, müssen Meulmans Leute es lösen. Seine Gedanken kreisen unablässig um tatsächliche oder mögliche Kundenwünsche. „Für jeden unserer Kunden erstellen wir das aus seiner Sicht perfekte Sorti-

ment – und dann, wenn er die Waren benötigt, sorgen wir dafür, dass sie pünktlich zur Stelle sind.“ Die Buletten aus Rinderhack für die Hamburger beispielsweise lagern, zu mehreren hundert Stück verpackt, im Tiefkühlbereich des Dordrechter Lagerhauses, genannt Global Transit Center. Sobald in den Büros gleich nebenan die Order einer Kreuzfahrtlinie eingeht – der Einkäufer der Reederei wählt dabei aus einem Warenkatalog ähnlich wie der Kunde eines Online-Lebensmittellieferdienstes –, setzt B&S seine bestens geölte Logistikmaschine in Gang. Per Schiff, Lkw oder – wenn es schnell gehen muss, weil die Bulettenvorräte an Bord schneller weggebraten wurden als erwartet – per Luftfracht bringen bewährte Logistikpartner das Fleisch exakt zum gewünschten Zeitpunkt genau dorthin, wo der Reeder es benötigt: entweder in den Heimathafen, bevor das Schiff in See sticht, oder in einen der auf der Kreuzfahrtroute liegenden Häfen.

„Seid anpassungsfähig!“, lautet Meulmans Credo. „Seid immer bereit, euch auf neue Gegebenheiten einzustellen.“ Seine Mitarbeiter, glaubt er, haben das schon ganz gut verinnerlicht. „Man sieht doch ständig, was passiert, wenn Unternehmen zu statisch sind, unfähig zur Veränderung. Dann gehen sie unter wie Schlecker oder haben grosse Probleme wie Karstadt.“ Bert Meulman ist jemand, der sich lieber überlegt, wie man Fische fängt, anstatt darauf zu warten, dass jemand anders ihm pünktlich zur Essenszeit einen Fisch auf den Teller legt. Wobei das richtige Tempo der Veränderung mit entscheidend ist. Schritt für Schritt, so ist es richtig. „Bei all dieser Dynamik darf man sich selbst und seine Identität nicht verlieren“, ist der 48-Jährige überzeugt. „Ich bin Verfechter einer evolutionären Entwicklung, viele kleine Veränderungen, Tag für Tag, aber wenn ich eines hasse, dann ist es Revolution.“

Im Hafen von Rotterdam sind die Lieferfristen auf wenige Stunden zusammengeschmolzen: Was vor Mittag bestellt wird, kann noch am gleichen Tag geliefert werden – egal ob es sich um ein paar hundert Paletten Cola handelt oder eine einzige Packung Koriandersamen. „Die Wünsche unserer Kunden sind für uns Gesetz.“ Das beginnt schon damit, dass beispielsweise die deutschen Kreuzfahrtunternehmen Produkte aus deutschen Landen bevorzugen, weil die Mehrzahl der Passagiere auf ihren Schiffen Deutsche sind. Die trinken an der Bar nun mal lieber Beck’s als Heineken. Auf derartige Präferenzen stellt B&S sich vom ersten Moment einer neuen Geschäftsbeziehung an ein. Und der Dank für all dies? „Das ist ganz einfach“, sagt Meulman durchaus selbstbewusst. „Wenn du so kundenzentriert denkst und agierst, wird es dir äusserst selten passieren, dass du einen Kunden verlierst. Ich sage Ihnen: Unsere Kunden fühlen sich wohl mit uns, sie sind treu, sie kehren uns nicht den Rücken.“ Warum auch? Schliesslich sind sie doch – so der B&S-Werbeslogan – „in guten Händen“.

Bert Meulman weiss aus eigener Erfahrung, wie hoch der Preis sein kann, wenn man sich doch einmal zum beherzten Revoluzzen hinreissen lässt – oder die Evolution nicht sorgfältig genug plant. Eine Grossinvestition, mit der das Unternehmen eigentlich zu neuen Ufern aufbrechen wollte, stürzte B&S im Jahr 2000 in eine tiefe Krise. Damals zog man in das jetzige, grosszügig dimensionierte Hauptquartier mit angeschlossener grosser Lagerhalle um und erneuerte gleich auch die komplette EDV. Meulman war zu der Zeit schon Partner und

Bert Meulman hat ambitionierte Wachstumsziele vorgegeben. Das Global Transit Center am Firmensitz in Dordrecht ist das Herzstück des Unternehmens. Von hier aus gehen jährlich rund 16 000 Transporte in alle Welt. Die Bestellungen gehen in den Büros gleich nebenan ein.

Bis vor wenigen Jahren war B&S ein klassischer Grosshändler mit Logistik-Know-how. Mittlerweile betreibt das Unternehmen in eigener Regie auch Parfümerieläden und Duty-free-Stores.

Direktor in dem Unternehmen, das Projekt trug deutlich seine Handschrift. „Da gibt es auch aus heutiger Sicht nichts zu beschönigen“, erinnert er sich, „das neue Computersystem kam über Monate nicht richtig ans Laufen.“ Bestellungen blieben im EDV-Chaos unbearbeitet, Lieferungen wurden fehlgeleitet. Mal war kein Nachschub da, mal das Lager zu voll, dann wieder wurden die falschen Produkte geordert. „Innerhalb eines halben Jahres hatten wir etliche unserer wichtigsten Kunden verloren“, zieht der CEO Bilanz des Desasters. „Wir haben fünf Jahre gebraucht, um das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen.“ Der Umsatzeinbruch war derart gravierend, dass die Existenz des Unternehmens eine Zeitlang ernsthaft gefährdet schien. Seitdem legt Meulman grössten Wert auf Prozesssicherheit. „Und wir denken noch mehr darüber nach, wie wir uns unverzichtbar machen

„Anderswo würde es vielleicht heissen: Solange da oben die gleichen Leute sitzen, können wir einfach so weitermachen wie immer.“ Bert Meulman

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können.“ Dies gelinge nur dem, der proaktiv ständig den Bedürfnissen seiner Kunden auf der Spur sei, jeden ihrer Schritte beobachtet, mit ihnen in die Zukunft denkt, möglichst ohne dass sie es merken. So gelang es B&S, Amazon als strategischen Kunden zu gewinnen, ein grosser Coup. „Bevor auch nur einer unserer Wettbewerber auf die gleiche Idee kommen konnte, haben wir ein automatisiertes Lager gebaut“, erzählt Meulman. „Durch unsere Analysen wussten wir, dass für das schnelle und flexible Handling der vielen kleinen Pakete, in denen Amazon seine Parfümeriewaren verschickt, ein solches Lager gebraucht wird. Und wir haben richtig gelegen.“ Mit seiner Investition genau zum richtigen Zeitpunkt hat Meulman dem Unternehmen ein völlig neues Geschäftsfeld erschlossen – die passgenaue Kommissionierung von Waren für grosse Online-Versender. Bei den Parfümerieartikeln wird es vermutlich auf Dauer nicht bleiben. Dem Faktor Mensch misst der gelernte Personaler Meulman dabei erstaunlich wenig Bedeutung zu. Langjährige Geschäftsbeziehungen, Vertrauen von Mensch zu Mensch, von Manager zu Manager – „alles sehr schön, aber heutzutage selten“. Einen Grossteil seines Umsatzes erwirtschafte B&S im Geschäft mit grossen Unternehmen. „Da dominieren klassische Konzernstrukturen“, analysiert Meulman. „Die Leute, mit denen Sie heute noch zu tun haben, sind nächstes Jahr womöglich schon in eine andere Position gewechselt oder haben das Unternehmen verlassen.“ Heute hier, morgen fort – für die Spitze von B&S gilt das auf keinen Fall. Die beiden Lenker und Eigentümer, Willem Blijdorp und Bert

Meulman, bilden in unterschiedlichen Funktionen seit mehr als 20 Jahren das Führungsduo. Ein fast antiquiert anmutendes Beispiel personeller Kontinuität. Blijdorp stieg 1976 in das B&S-Vorgängerunternehmen Rederij Kamstra ein und übernahm in den folgenden Jahren Zug um Zug die Mehrheit der Firmenanteile. 1992 stiess Meulman, der gerade seinen Hochschulabschluss in Human Resources Management abgelegt hatte, zu dem damals noch sehr überschaubaren Unternehmen. „Sie sollten mich einstellen“, sagte er angeblich beim Vorstellungsgespräch zu Blijdorp. Der erkannte nicht nur, dass sein neuer junger Händler ein Verkaufstalent war, er witterte auch das unternehmerische Blut des Jüngeren. Schon nach drei Jahren machte er Meulman zum Partner und baute ihn allmählich zu seinem Nachfolger auf. Nachdem Meulman im Jahr 2004 den Vorstandsvorsitz übernommen hatte, zog Blijdorp sich aus dem operativen Geschäft in den Aufsichtsrat zurück. Bequemlichkeit, Selbstgenügsamkeit und Schlendrian haben sich bei B&S trotz der langjährigen Vertrautheit zwischen den beiden Männern an der Spitze nie breitmachen können. Blijdorp und Meulman hätten das auch nie zugelassen. „Anderswo würde es vielleicht heissen: Solange da oben die gleichen Leute sitzen, können wir einfach so weitermachen wie immer“, erzählt Meulman vergnügt. „Das gibt es bei uns nicht. Wir wollen zwar, dass unsere Mitarbeiter bei uns bleiben – aber dass sie sich in der Komfortzone einrichten, dulden wir nicht.“ Wo stünde denn das Unternehmen heute, wenn seine Händler auf seinem, Meulmans, Niveau von vor 20 Jahren arbeiten würden? „Damals war ich der beste Händler der Firma, aber heute sind die mir alle weit überlegen“, kokettiert er. „Da wäre ich nicht mal guter Durchschnitt.“ Die von ihm vorgegebenen Wachstumsziele sind ausserordentlich ambitioniert. In zehn Jahren soll B&S einen Umsatz von zehn Milliarden US-Dollar erwirtschaften – mehr als sieben Mal so viel wie heute. „Und ständig diskutieren wir mit den Mitarbeitern, was der Beitrag jedes Einzelnen ist, damit wir dieses Ziel erreichen.“ Mit Bert Meulman holte sich Willem Blijdorp keinen jüngeren Klon seiner selbst ins Chefbüro, sondern, wie sein Nachfolger es formuliert, „einen Menschen, der völlig anders denkt als er“. Blijdorp sei ein Geschäftsmann der alten Schule, dem Intuition wichtiger sei als nüchternes Zahlenwerk. „Er muss sich bei einer Entscheidung gut fühlen“, sagt Meulman. „Ich dagegen gehe sehr rational vor, ich lege vor a ­ llem Wert auf die harten Fakten, auf die Ergebnisse, die Bilanzen und Geschäftsverläufe.“ Es sei vorgekommen, dass Blijdorp beispielsweise eine Akquisition befürwortet habe, „weil er ein gutes Gefühl hatte. Und dann kam ich und sagte: ‚Moment mal, ich hab das durchgerechnet, das haut nicht hin.‘“ In solchen Fällen habe man das ausdiskutiert, „ehrlich, hart und offen“. Und sei – nach mitunter anstrengender Debatte – meist zu einem guten Resultat gekommen. Meist – aber nicht immer. Zwei Beispiele fallen Meulman ein, in denen er mit Blijdorp keinen Konsens fand, sondern der eine sich gegen den anderen durchsetzte. Beide Akquisitionen kamen das Unternehmen teuer zu stehen. Einmal sah die Sache von den Zahlen her durchaus vielversprechend aus; Meulman war zum Kauf entschlossen – gegen den Rat Blijdorps, der sich das Unternehmen angeschaut hatte „und mit einem schlechten Gefühl zurückgekehrt war“. In dem anderen Fall fand Blijdorp lobende Worte für die auserkorene Firma, während Meulman sich allen Ernstes fragte, „warum die Führungskräfte nicht in der Lage waren, mir in wenigen Sätzen aufzuschreiben, warum ihr Geschäftsmodell eine Zukunft haben soll. Für mich war das wie ein Sportwagen ohne Motor – hübsch anzuschauen, aber er fährt nicht.“ Beide Unternehmen wurden gekauft, beide Akquisitionen entpuppten sich als Flop. „Heute sind wir klüger“, sagt Bert Meulman. „Wir diskutieren das aus, aber wenn einer von uns beiden dann immer noch definitiv nicht will, dann lassen wir lieber die Finger davon.“

Bert Meulman Der heute 48-Jährige stieg gleich nach seinem Diplom in Human Resources Management 1992 in das von Willem Blijdorp geleitete Unternehmen Kamstra Shipstores ein, das sich auf die Versorgung von Schiffen mit Lebensmitteln spezialisiert hatte. Bald darauf ernannte Blijdorp Meulman zum Partner; 2004 trat Meulman die Nachfolge Blijdorps als CEO an. Blijdorp und Meulman haben das Unternehmen zum integralen Bestandteil der Lebensmittellieferkette vor allem für Kreuzfahrtlinien und Fluggesellschaften entwickelt. Ausserdem betreibt das heute unter B&S firmierende Unternehmen, an dem Blijdorp und Meulman sämtliche Anteile halten, in eigener Regie Shops an internationalen Flughäfen und auf grossen Fähren. Ein weiteres Geschäftsfeld ist die Versorgung heikler Missionen, beispielsweise von UN-Friedenstruppen und Hilfskonvois nach Naturkatastrophen. B&S ist heute in mehr als 100 Ländern tätig und erwirtschaftete 2014 mit 1 400 Beschäftigten einen Umsatz von 1,4 Milliarden US-Dollar. Das Umsatzziel für das Jahr 2025 hat Meulman bereits gesetzt: 10 Milliarden US-Dollar.

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Innehalten und Unsicherheit akzeptieren

Heinz-Walter Große und Tomáš Sedláček haben ja auf den ersten Blick wenig Gemeinsamkeiten: hier der gereifte Vorstandsvorsitzende des 176 Jahre alten deutschen Pharmaunternehmens B. Braun Melsungen, dort der bilderstürmende 38-jährige tschechische Ökonom und Gegen­wartsdiagnostiker. Aber: Gegensätze ziehen sich bekanntlich an. Kaum haben die Männer Platz genommen – übrigens vor Teilen der Original­apotheke, aus der B. Braun hervorging –, entspinnt sich ein lebhaftes Gespräch über Kontinuität und Diskontinuität, Wirtschaft und Unter­nehmen, Stillstand und Bewegung. Entrepreneur 01/2016

Fotos Matthias Ziegler

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Heinz-Walter Große: Herr Sedláček, der Begriff „Kontinuität“ ist für Unternehmer und Manager durchaus positiv besetzt. Gilt das für Ökonomen auch?

Tomáš Sedlácˇek Tomáš Sedláček (38) ist Volkswirt, Hochschullehrer, Autor und Agent Provocateur. Der Tscheche hat den Bestseller „Die Ökonomie von Gut und Böse“ geschrieben, unterrichtet an der Prager KarlsUniversität, war ökonomischer Berater von ExPräsident Václav Havel und arbeitet für die Bank ČSOB als Chefvolkswirt. Für „Die Ökonomie von Gut und Böse“ hat er in den Klassikern der Weltliteratur und in der Bibel nach den Gründen für die Finanzkrise gefahndet – und die Gier nach Wachstum als uraltes Menschheitstrauma ausgemacht. Sedláček liebt die bewusste Grenzüberschreitung: In seinen Büchern und Analysen mischt er lustvoll Topoi aus Ökonomie, Geschichte, Psychoanalyse und populärer Kultur.

Tomáš Sedláček: Kontinuität ist ein extrem interessantes Wort. Das Gegenteil aber auch: In Tschechien feierten wir ja gerade erst 26 Jahre der Diskontinuität vom kommunistischen Regime. Diskontinuität war gewissermassen das Mittel, um zur Demokratie und zur Marktwirtschaft zu gelangen. Sie können also etwas Neues erschaffen. So gesehen braucht man immer beide Seiten der Medaille: Kontinuität und Diskontinuität. Das ist eine dynamische Wechselbeziehung. Der grosse Psychoanalytiker Carl Gustav Jung war der Auffassung, dass sich ausserhalb einer Krise nichts und niemand verändern kann, am allerwenigsten der Mensch. Große: Menschen gehen gerne den einmal eingeschlagenen Weg weiter. Das gibt ihnen Stabilität und Sicherheit. Diskontinuität be-

deutet, innezuhalten und Unsicherheit zu akzeptieren. Ich beobachte das auch in unserem Unternehmen: B. Braun ist sehr erfolgreich. Im Grunde dauert unser Wachstum seit 176 Jahren an. Viele sagen deshalb: Warum machen wir nicht weiter wie bisher? Warum müssen wir ständig etwas ändern? Ich sage: Weil eine Organisation nur dann erfolgreich ist, wenn sie in Bewegung bleibt. Wenn sie permanent daran arbeitet, besser, effizienter und innovativer zu werden. Auf der anderen Seite muss man die Ängste vor Diskontinuitäten natürlich ernst nehmen und versuchen, sie den Menschen zu nehmen. Sedláček: Das erinnert mich an einen Gedanken des Philosophen und Mathematikers Alfred North Whitehead. Er schrieb: In der griechischen Tradition sind Stabilität und Vollkommenheit Attribute der Götter. Und weil deren Ordnung perfekt ist, muss und darf man sie nicht ändern. Aber wir sind keine Götter, Unternehmen erst recht nicht. Wir brauchen deshalb beides: Ordnung und Unordnung. Das Leben ist einem konstanten Schütteln und Zittern unterworfen. Diese Dynamik ist wichtig, auch wenn sie manchmal unangenehm sein kann und viele Menschen Ruhe und Bequemlichkeit schätzen. Große: Dazu kann ich ein Beispiel beisteuern: In unserem Verwaltungsgebäude am Stammsitz von B. Braun in Melsungen haben wir vor einigen Jahren damit begonnen, uns von der Idee des klassischen Büros zu verabschieden. Auch ich habe kein einzelnes Büro mit einer Tür, sondern eine Art Cockpit in einem grossen, offen angelegten Raum. Ich persönlich halte das für die beste Umgebung. Man ist den Kollegen nah, kann leicht mit ihnen sprechen, sich austauschen und begegnen. Und wenn man in Ruhe arbeiten will, geht man in sein Cockpit. Wenn ich nicht in der Firma bin, kann ein anderer Mitarbeiter in diesem Cockpit arbeiten. Wir rotieren gewissermassen, je nach Bedarf und Anwesenheit. Das schafft neue Freiräume, aber solche Veränderungen werden anfangs nicht von jedem begrüsst. Deshalb muss man für sie werben.

„Wir brauchen beides: Ordnung und Unordnung.“ Tomáš Sedláček

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Sedláček: Das klingt fast nach einem kleinen Comeback der vorindustriellen Zeit, bevor es Fabriken gab. Man lebte und arbeitete in einer Familie und in einem Dorf. Wände waren rar. Das erzeugte eine starke Gemeinschaft. Kombiniert man diesen Gedanken nun im 21. Jahrhundert mit den neuen digitalen Technologien, entstehen ganz neue Arbeitsräume und -möglichkeiten. Das kann durchaus inspirierend wirken … Große: …  aber nur dann, wenn im Unternehmen eine Kultur des Austauschs und des Dialogs herrscht. Das ist die Voraussetzung. Erst heute Morgen hatten wir ein Treffen mit Arbeitnehmervertretern. Wir sprachen auch über Vorschläge von Mitarbeitern, mit denen sich unsere internen Abläufe und Strukturen verbessern lassen. Dank dieser Ideen, die quasi aus dem Inneren von B. Braun kommen, realisierten wir im vergangenen Jahr Einsparungen in Höhe von 2,5 Millionen Euro. Wache Mitarbeiter, die sich einmischen, sind ein hohes Gut. Ich wünsche mir, dass Menschen mit ihren eigenen Initiativen Teil des Wandels werden. Und ich denke nicht, dass das immer mit einem lauten Knall erfolgen muss. Es sind oft die kleinen Dinge, die zählen. Sedláček: Vielleicht kann man diesen Gedanken sogar noch zuspitzen: Ein Unternehmen braucht nicht nur wache Mitarbeiter, sondern sogar Störer und Unterbrecher. Sind sie es nicht letztlich, die ein Unternehmen weiterbringen? Eben nicht jene, die alles so wie immer machen wollen und versuchen, mit einer „Copy and Paste“-Mentalität durchzukommen? Große: Vielleicht würde ich diese Personen nicht Störer nennen, eher Menschen, die etwas in Frage stellen und sogar Freude daran haben: Warum tun wir dieses und jenes? Warum machen wir es nicht anders? Besser? Gewiss, dieses Fragen und Bohren kann manchmal nerven, aber letztlich ist es für ein Unternehmen hilfreich und notwendig. Sedláček: Das heisst: Damit ein Unternehmen stabil und gleichzeitig frisch bleibt, braucht man innerhalb dieser Struktur immer auch destabilisierende, erneuernde Elemente. Und sie brauchen eine entsprechende Kultur im Unternehmen, damit solch eine Vielfalt Wertschätzung erfährt. Dazu fällt mir gerade etwas ein: Ich habe einen 8-jährigen Sohn und wir schauten uns kürzlich gemeinsam den Film „Ice Age“ an. Darin gelingt es einer Gruppe von Tieren in der Eiszeit, gemeinsam Probleme zu lösen und zu überleben. Das Besondere ist die seltsame Zusammensetzung der Gruppe: ein Mammut, ein Tiger, ein Nagetier. Auf den ersten Blick passen die gar nicht zueinander, aber genau darin liegt ihr grosser Vorteil: eine einzigartige Mischung an Talen-

ten und Fähigkeiten. Man sieht: Vielfalt ist eine wunderbare Sache. Große: Das Stichwort Vielfalt führt mich zu einem anderen Punkt. Wissen Sie, ich liebe Regeln. Denn wir können, ja müssen diese Regeln hin und wieder brechen. Wenn ich jemanden sagen höre, dieses und jenes können wir nicht tun, weil es nicht nach unseren Regeln ist – so etwas macht mich verrückt. Sedláček: Warum? Große: Weil man nicht immer einfach nur blind Regeln folgen darf. Man sollte immer den Umständen entsprechend handeln. Sehen Sie, wir produzieren ja nicht einfach Schreibstifte. Unsere Produkte sind für den Gesundheitsmarkt bestimmt und auf dem benötigen Sie 100 Prozent Qualität. Diese Top-Qualität steht fraglos immer an erster Stelle, aber manchmal lohnt es trotzdem, alte Regeln zu brechen. Ein gesundes Unternehmen benötigt erwachsene Menschen, die in der Lage sind, angesichts

Heinz-Walter Große Heinz-Walter Große wollte eigentlich Lehrer werden, aber sein Schulfreund Ludwig Georg Braun hinderte ihn erfolgreich daran. Große studierte zwar Wirtschaftspädagogik, trat dann aber im Jahr 1978 in das Unternehmen B. Braun ein. Es folgte eine Karriere über mehrere Stationen im In- und Ausland. In den Vorstand rückte der promovierte Betriebswirt 2005 auf. Seine Schwerpunkte: Finanzen und die Personalarbeit. Seit 2011 steht er an der Spitze von B. Braun – als erster Vorstandsvorsitzender, der nicht aus der Gründer­familie stammt. Der 1952 in Bad Emstal ge­borene Manager ist verheiratet und hat zwei Kinder. Große spielt in einem Posaunenchor und schwärmt für Joseph Haydns Sinfonien.

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einer Herausforderung zu unterscheiden und zu urteilen, ob es richtig ist, nach den bekannten Regeln zu handeln, oder ob etwas ganz anderes getan werden muss. Das ist es doch, was eine lebendige, innovative Organisation ausmacht. Dass dabei auch Diskussionen und Konflikte entstehen, gehört dazu. Wichtig ist nur, dass der Wille zu einer gemeinsamen Lösung obsiegt. Sedláček: Und wie verhält es sich in einem solchen Fall mit Rationalität und Irrationalität? Oder zugespitzt gefragt: Wie gehen Sie mit Situationen um, in denen Sie wissen, dass Fakten und Zahlen letztlich nicht hilfreich für eine Entscheidung sind? Große: Erfahrung, Bauchgefühl und Instinkt können ebenso wichtig sein wie Zahlen und Fakten. Am Ende geht es um einen offenen Dialog, in dem alle Fakten und Argumente zur Kenntnis genommen werden, und um Urteilskraft. Letztlich aber muss man natürlich eine Entscheidung treffen: Gehen wir nach links oder nach rechts? Und vielleicht ist das der Punkt, wo der Vorstand eine Entscheidung zu treffen hat. Manchmal auch der Vorsitzende des Vorstandes. Sedláček: Wie wichtig ist Ihnen das Ziel „Wachstum“? Große: Das lässt sich schwer pauschal sagen. Wachstum ist wichtig, aber nicht immer das primäre Ziel. Sedláček: Wachstum ist eines meiner Lieblingsthemen! Eine faszinierende Idee – ein Fetisch unserer Zeit. Ein Begriff, den man kritisch hinterfragen sollte, und dabei geht es auch um unser Hauptthema, nämlich inwiefern Kontinuität und Diskontinuität zusammenhängen. Ich habe nichts gegen Wachstum. Wachstum ist gut und schön, aber Wachstum ist kein Dauerzustand. Wachstum kommt und geht. Wir Ökonomen wissen das, denn wir beobachten Zyklen: Auf- und Abschwünge. Beides ist unumgänglich, nach guten Zeiten kommen schlechtere. Das aus den Augen zu verlieren, ist fahrlässig. Sehen Sie, in der Wirtschaft benutzen wir ja mitunter den Begriff „Wirtschaftsdepression“. Ich halte das für die falsche Diagnose. In Wirklichkeit ist unsere Wirtschaft manisch-depressiv. Und Manien können genauso gefährlich sein wie Depressionen, weil man sich total überschätzt. Was ich sagen will: Auch in den Phasen des Wachstums sollten wir uns bewusst sein, dass es nicht nur einfach ein Trend ist, sondern ein Zyklus, in dem auch wieder schlechtere Zeiten kommen werden, für die wir vorsorgen sollten. Große: Das ist ein interessanter Gedanke, aber bei B. Braun machen wir andere Erfahrungen.

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In unserer langen Unternehmensgeschichte gibt es nicht viele Jahre, in denen wir nicht gewachsen sind. Ich denke auch, dass Wachstum die Voraussetzung ist, um erfolgreich zu sein. In Asien zum Beispiel gibt es für uns einen Markt von vier Milliarden Menschen, den wir mit bislang einer Milliarde Umsatz nur teilweise erschlossen haben. Das ist ein gewaltiges Potenzial, das wir nutzen möchten – und müssen. Ein Beispiel: In diesem Jahr arbeiten 56 000 Menschen für B. Braun und wir verzeichnen einen Anstieg der Lohnkosten um 230 Millionen Euro. Ein grosser Teil davon beruht auf Gehaltssteigerungen. Und wenn wir derartige Zuwächse von Jahr zu Jahr haben wollen, dann geht das nicht ohne Wachstum. Sedláček: Ich denke, B. Braun ist eine Ausnahme. Eine Kombination aus Glück und gutem Management. Nicht vielen Unternehmen geht es dauerhaft so gut. Im Durchschnitt überwiegt der normale Konjunkturzyklus, sprich: Einige Jahre geht es aufwärts, dann wieder nicht. Wachstum ist wie gutes Wetter, und es ist unrealistisch, anzunehmen, dass es nie regnen wird. In der Politik ist es eine gefährliche Strategie, immer von gutem Wetter auszugehen. Denn wenn man versucht, durch geliehenes Geld permanent künstliche Wachstumsraten zu erzeugen, um die Wähler bei Laune zu halten, untergräbt man die gesellschaftliche Stabilität. Große: Was Sie da gerade beschreiben, ist ja das klassische „deficit spending“ à la Keynes: Eine Regierung leiht sich Geld und injiziert es in bestimmte Bereiche der Gesellschaft, um die Konjunktur anzukurbeln. Das kann gelingen – aber nur, wenn sie die Schulden irgendwann einmal zurückzahlt. Allzu häufig wird dies unterlassen und dann wird es auf lange Sicht gefährlich. Sedláček: Sie haben völlig recht. Man darf Stabilität nicht permanent einer ausgehöhlten Idee von Wachstum opfern, wie es zum Beispiel in Irland und Griechenland geschah, denn dann droht der Konkurs. Im Grunde müsste ja jeder den Unterschied zwischen Eigentum und Schulden verstehen. Wenn sich eine Regierung drei Prozent ihres Bruttosozialproduktes leiht und dies in Strassen, Gebäude und Bildung investiert, dann ist das eben kein natürliches und echtes, sondern ein künstliches, aufgeblähtes Wachstum. Ein Trick, weil er ein falsches Bewusstsein schafft und die Erwartung erzeugt, dass es kein Leben ohne Wachstum gibt. Große: Andererseits sind Schulden an sich ja nichts Schlechtes. Wenn Sie in die Bilanz von B. Braun schauen, werden Sie sehen, dass wir natürlich Finanzschulden haben. Ich halte das auch für unbedingt sinnvoll. Ent-

„Ich liebe Regeln vor allem aus einem Grund: Wir können, ja müssen sie hin und wieder brechen.“ Heinz-Walter Große

scheidend ist, dass man dieses Instrument klug und punktuell als Hebel einsetzt, um zum Beispiel Investitionen voranzutreiben. Die Rentabilität darf aber nicht darunter leiden. Man muss die Dinge im Gleichgewicht halten. Sedláček: Gleichgewicht ist ein gutes Stichwort. Mich würde abschliessend noch interessieren, wie Sie es persönlich mit den Themen „Kontinuität“ und „Diskontinuität“ handhaben? Dominiert einer der Begriffe Ihre Karriere? Große: Ich bin jetzt seit 38 Jahren bei B. Braun und das spricht natürlich für ein hohes Mass an Kontinuität. Andererseits: Ich wollte gar nicht unbedingt Karriere machen. Es ergaben sich meist recht reibungslose Übergänge zu neuen Aufgaben und Herausforderungen. Ich lernte immer wieder Menschen mit mehr Erfahrung kennen, die mir ermöglichten, zu lernen und Verantwortung zu übernehmen, zum Beispiel in den USA, als ich für Logistik und Materialkontrolle verantwortlich war. Meine Karriere war unterm Strich eine stetige, kontinuierliche Entwicklung. Wie war es bei Ihnen? Sedláček: Ich glaube, bei mir gibt es schon einige Facetten und auch innere Widersprüche. Ich bin ein Ökonom, aber ich bin nicht wirklich ein Wirtschaftswissenschaftler. Ich bin ein bisschen Banker, aber nicht nur. Ich bin ein Philosoph, aber irgendwie auch nicht. Meine intellektuelle Neugier ist recht breit und – ehrlich gesagt – immer auch grösser als mein tatsächliches Wissen. Gestern zum Beispiel hatte ich eine Diskussion in Wien über die Psychoanalyse der Wirtschaft. Heute rede ich mit Ihnen und morgen ist wieder etwas völlig anderes. Also, das Disruptive und Diskontinuierliche überwiegt schon bei mir. Hauptsache, es bleibt spannend und anregend, oder? Große: Dem stimme ich gerne zu. Man muss in Bewegung bleiben!

Fragen, deuten, erklären – und dabei immer in Bewegung: Heinz-Walter Große und Tomáš Sedláček auf ihrem Rundgang durch den Hauptsitz von B. Braun in Melsungen.

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Neu interpretiert

Natur Die Grande Cariçaie

Als ausgewiesene Technologie-Expertin hat Adrienne Corboud Fumagalli ihren Blick naturgemäss vor allem in die Zukunft gerichtet. Allerdings säumen immer wieder auch starke Einflüsse aus Geschichte und Sozial­ wissen­schaften ihren Karriereweg. Hier stellt sie herausragende Projekte aus ihrem beruflichen Umfeld vor, bei denen mo­dernste Technologie dabei hilft, historisches Erbe neu zu interpretieren und alte Mythen zu entschlüsseln.

Wenn es einen Ort in der Schweiz gibt, wo die Inspiration für mich geradezu greifbar ist, zum Einatmen und Ansehen, dann ist es die Landschaft am Süd- und Ostufer des Neuenburgersees, Grande Cariçaie genannt. Entstanden ist das grösste Seeuferfeuchtgebiet der Schweiz durch den Eingriff des Menschen in die Natur, nämlich durch die Absenkung des Seewasserspiegels im 19. Jahrhundert. Der ehemalige Seengrund war nun ein langer Schal aus Sumpfgebieten – und entwickelte sich zum Refugium für mehr als 10 000 Tierarten. „Alle Sinne auf Empfang!“, sei Besuchern empfohlen. Die Natur präsentiert sich hier als opulentes, vielstimmiges Orchester – mit schluchzenden Celli, weinenden Bratschen und schmetternden Holzbläsern. Und: Fernglas auf keinen Fall vergessen!

Adrienne Corboud Fumagalli Die 57-jährige Schweizerin und Italienerin hatte sich bei namhaften Schweizer Industrieunternehmen – unter anderem Swisscom und Kudelski – bereits einen Namen als Expertin für Medientechnologie gemacht, bevor sie 2008 Vizepräsidentin für Innovation und Technologietransfer an der renommierten Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) wurde. Die Zukunft der Region am Genfersee sieht sie in der Entwicklung zu einem dynamischen Technologie-Hub.

Strukturwandel Der Campus Biotech

Architektur Kengo Kuma Welch ein Gegensatz: Tokios ältester Tempel, der Sensō-ji, dessen Geschichte ins 7. Jahrhundert zurückreicht, fast unmittelbar daneben das Asakusa Culture Tourist Information Center, ein von dem Architekten Kengo Kuma entworfener Gebäudeturm aus sieben asymmetrisch aufeinandergesetzten Elementen. Doch Kumas Werk ist nicht eindimensional hypermodern: Die einzelnen Etagen erinnern an japanische Holzhäuser – eine Reinterpretation und Verneigung vor der traditionellen japanischen Bauweise. Ende des Jahres wird das von Kuma kon­ zipierte neue Herzstück des EPFL-Campus „Under One Roof“ fertiggestellt sein. Auch hier spielt der Architekt mit der Synthese von Tradition und Moderne. Der 260 Meter lange Bau, verspricht Kuma, soll „die Diskussion um Tradition und Innovation, Vergangenheit und Zukunft anregen“. Darauf freue ich mich.

Der Genfer Stadtteil Sécheron war in den vergangenen Jahrzehnten schon zweimal Zeuge des industriellen Paradigmenwechsels. Ehedem das Zentrum des Schweizer Lokomotivenbaus, diente das Fabrikareal dann dem Pharmahersteller Merck Serono als Welt-Hauptquartier. Nach dem Rückzug des Konzerns aus Genf im Jahr 2013 befürchteten viele bereits den beschleunigten Niedergang. Das Gegenteil ist geschehen: Der Campus Biotech, exakt auf dem früheren Merck-Serono-Standort gelegen, hat die Genferseeregion auf eine neue Entwicklungsstufe gehoben. Schon heute, ein Jahr nach Eröffnung, ist dort ein weltweit einmaliges Netzwerk der Neurowissenschaften und Biotechnologie herangewachsen, in dem sich akademische Exzellenz und der „entrepreneurial spirit“ von Start-ups gegenseitig befruchten. Erfolgreicher lässt sich Strukturwandel nicht gestalten.

Stadtgeschichte Das Projekt Zeitmaschine Die Idee ist mehr als kühn: Man müsste Facebook bis zurück ins Mittelalter durchforsten können. Oder sich von Googles Street View an eine Strassenecke in seiner Nachbarschaft führen lassen, so wie sie vor 300 Jahren ausgesehen hat. Genau das ist die Vision der „Venice Time Machine“, eines gemeinsamen Projekts der EPFL und der Universität Venedig. 80 „Papierkilometer“ Bücher, Landkarten, Akten, Zeitungen, Protokolle und andere Schriftstücken aus der venezianischen Geschichte werden digitalisiert und die daraus gewonnenen Informationen vernetzt, um eine historische und geographische Simulation der Stadt über 1 000 Jahre hinweg zu erstellen und Venedig, so wie es zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgesehen, wie man dort gearbeitet, gebaut, gegessen, gebetet und gerichtet hat, wieder auferstehen zu lassen.

Forschung Human Brain Project Musik Montreux Jazz Festival Das in diesem Jahr zum 50. Mal stattfindende Musikfestival ist weit mehr als eine Jazzkonzertreihe. Montreux – das ist eine Kultstätte, ein Mythos. Legenden wie Ella Fitzgerald, Miles Davis, Count Basie und Oscar Peterson gastierten hier, schufen in legendären Jam-Sessions Musik für die Ewigkeit. Es ist das Verdienst des vor drei Jahren verstorbenen Gründers und langjährigen Festivalleiters Claude Nobs, dass jede Note, die hier gespielt wurde, mit feinster Technik aufgenommen wurde. Das Archiv zählt zum Unesco-Weltkulturerbe. Nachdem die Masterbänder mehr als 40 Jahre lang in einer temperierten und kontrollierten Umgebung sicher aufbewahrt worden sind, werden die Konzert-Meilensteine, insgesamt mehr als 5 000 Stunden Musik, jetzt vollständig digitalisiert – und damit für alle Zeiten gesichert.

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Ein vollständiger Nachbau des menschlichen Gehirns im Computer – das klingt nach Science-Fiction. Ist es aber nicht. Im Human Brain Project (HBP), einem an der EPFL angesiedelten ForschungsFlaggschiffprojekt der EU-Kommission, arbeiten Wissenschaftler daran, bis zum Jahr 2023 mit Hilfe von Supercomputern und Datenbanken alles vorhandene Wissen in einer Simulation des Gehirns mit seinen fast hundert Milliarden Neuronen und Billionen von Synapsen zu bündeln. Ein ambitioniertes Vorhaben, das unter anderem zu einem besseren Verständnis von Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer beitragen soll, über deren neuronale Grundlagen man bislang noch recht wenig weiss.

Legenden Die Eigernordwand 1 800 Meter ragt sie empor, die Eigernordwand, und jede wichtige Kletterstelle ist mit einem Drama verbunden: der Schwierige Riss, der Götterquergang, die Spinne, das Todesbiwak. Im Jahr 1999 übertrug das Schweizer Fernsehen erstmals eine Nordwand-Durchquerung live. Vier Bergsteiger wurden dabei von 13 über die Route verteilten Kamerastandorten aus verfolgt, zusätzlich trugen sie eigens entwickelte lippenstiftgrosse Filmkameras am Helm. Die Aussichten sind faszinierend und furchterregend zugleich. Nach oben: steil und schier endlos. Nach unten: Abgrund. Rundfunktechnologie-Spezialisten der Swisscom hatten die Übertragungstechnik entwickelt und brachten so den Zuschauern am Fernseher den Mythos der Eigernordwand in die Wohnzimmer.

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David Hung, Gründer des Pharmaunternehmens Medivation, setzt bei der Entwicklung neuer Medikamente auf Tempo. Der Zeitfaktor ist für die betroffenen Patienten lebenswichtig.

„Wir machen weiter!“ David Hung hatte das Gefühl, dass er als Arzt nicht genügend Patienten helfen konnte. Er wollte die Spielregeln im Umgang mit Krankheiten wie Krebs und Alzheimer grund­sätzlich ändern – und gründete ein Pharma­­unternehmen. Doch das erste Medikament erwies sich als teurer Flop. Viele hätten nun aufgegeben. Doch Hung setzte alles auf eine Karte.

S

o konnte es nicht weitergehen. Eine seiner Patientinnen war an Brustkrebs gestorben, mit erst 28 Jahren. Und er, David Hung, Facharzt für Krebserkrankungen, hatte ihr nicht helfen können. „Wie oft werde ich das noch erleben müssen?“, fragte sich Hung damals, rund 20 Jahre ist das her. „Wie viele meiner Patienten werde ich noch sterben sehen, weil es gegen ihre Erkrankungen einfach noch keine wirksamen Therapien und Medikamente gibt?“ Wenn ein Patient mit einer schon weit fortgeschrittenen Krebserkrankung zu ihm kam, „fiel mir in der Regel nichts Besseres ein, als eine Chemotherapie zu empfehlen“, erinnert sich David Hung. „Ich wollte doch nicht den Rest meines Berufslebens frustriert sein über die begrenzte Wirksamkeit der Behandlungsmethoden, die ich anbieten konnte.“ Hung fasste einen

folgenschweren Entschluss. Er würde fortan nicht mehr als Arzt arbeiten, sondern sein Wissen und seine Erfahrung als Onkologe und Molekularbiologe in den Dienst der Entwicklung neuer Therapien und Medikamente gegen lebensbedrohliche, schwer heilbare Krankheiten stellen. Krankheiten wie Krebs im Spätstadium oder Alzheimer. Vielleicht würde er sogar selbst eine eigene Firma gründen, die solche Medikamente entwickelt. Neue, bessere Wirkstoffe, die den Schwerkranken, Leidenden und Todgeweihten Heilung versprechen oder zumindest den Gewinn einiger Lebensjahre. „Millionen Menschen leiden unter diesen Krankheiten, die derart fürchterlich sind, dass wir dringend einen Homerun brauchen, nicht nur ein paar Hits“, erklärt Hung seine damaligen Gedanken mit einer Analogie aus dem Baseball. „Meine Idee war und ist es, mit neuen Medikamenten die Spielregeln im Umgang mit diesen Krank-

heiten grundsätzlich zu ändern.“ Das nötige Business-Rüstzeug erwarb Hung bei einer grossen Biotechfirma. Dann stellte ein Start-up, das bis dato aus den zwei Gründern bestand, ihn als wissenschaftlichen Leiter ein. Schon bald übernahm Hung die Position des CEOs; gemeinsam entwickelte man ein neues Verfahren zur Früherkennung von Brustkrebs, das sich als sehr erfolgreich erwies. Als das Unternehmen im Jahr 2000 für 168 Millionen Dollar an ein grösseres Pharmaunternehmen verkauft wurde, stieg Hung aus. Finanziell hatte er jetzt ausgesorgt. Die nächsten drei Jahre verbrachte er viel Zeit mit seiner kleinen Tochter und auf dem Golfplatz. Sein einstiges Ziel geriet fast ein wenig in Vergessenheit. Doch dann fragte seine damals sechsjährige Tochter ihn, als er sie eines Morgens an der Schule absetzte: „Sag mal, Dad, hast du eigentlich nichts Besseres zu tun?“ Das war Anstoss genug. Im Jahr 2003 gründete Hung in San Francisco das Pharmaunternehmen Medivation; der Firmenname ist ein Wortspiel aus Medicine und Innovation. Hung und sein Team entwickeln neue Präparate, sie erwerben aber auch vielversprechend erscheinende Wirkstoffe anderer kleiner

Manchmal, wenn die Arbeit es zulässt, greift David Hung in seinem Büro mit Blick auf die San Francisco Bay zur Violine. Früher spielte er in einem Orchester.

Dr. David Hung

Fotos Jonathan Gayman

Der 58-jährige Onkologe und Molekularbiologe ist Gründer und Vorstandsvorsitzender des in San Francisco beheimateten Pharmaunternehmens Medivation Inc., das an der Technologiebörse Nasdaq notiert ist. Hung studierte Biologie und organische Chemie in Harvard; seinen Doktor der Medizin erwarb er an der University of California in San Francisco. Das 2003 gegründete Unternehmen hat sich auf die möglichst schnelle Entwicklung und Markteinführung von Therapien gegen lebensbedrohliche Krankheiten in fortgeschrittenem Stadium spezialisiert und zählt heute zu den führenden und innovativsten der Branche. Den Grossteil seines Umsatzes erwirtschaftet Medivation mit Xtandi, einem Präparat gegen Prostatakrebs. Allein in den USA wurden im vergangenen Jahr Xtandi-Packungen im Wert von mehr als einer Milliarde Dollar verschrieben. Eine Reihe weiterer Medikamente befindet sich derzeit im Stadium der klinischen Erprobung. Medivation beschäftigt rund 400 Mitarbeiter und erwirtschaftete im Jahr 2014 einen Umsatz von rund 710 Millionen US-Dollar.

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Expertise  Public Value 41

40  Entrepreneure  Report

Hersteller und führen sie durch die aufwändigen Testverfahren. Mit Medivation hatte Hung endlich die richtige Wirkungsstätte gefunden. „Die Arbeit für das Unternehmen ermöglicht es mir, weit mehr zu bewirken und mehr Menschen zu helfen, als es mir als Arzt jemals möglich gewesen wäre“, sagt er. „Als Onkologe hätte ich bis zum Ende meines Berufslebens vielleicht einige tausend Patienten erreicht. Mit Medivation, das hoffe ich zumindest, kann ich Medikamente entwickeln, die Millionen Menschen weltweit zugutekommen.“ Die erste Entwicklung des Medivation-Forscherteams war Dimebon, ein vielversprechendes Medikament gegen Alzheimer. Nachdem das Präparat die ersten beiden Phasen der klinischen Tests erfolgreich bestanden hatte, glaubten alle bereits an den grossen Durchbruch. Doch dann riss Dimebon die finale Hürde vor der Zulassung durch die US-Arzneimittelbehörde: In der dritten klinischen Testphase konnte das Medikament seine Wirksamkeit nicht beweisen. Innerhalb einer Stunde büsste Medivation eine Milliarde Dollar Marktwert ein. Hung musste einen grossen Teil seiner Mitarbeiter entlassen. Wie sollte er jetzt weitermachen? Mit der Produktion von Nachahmermedikamenten, nicht innovativ, aber einträglich? Das hätte das Überleben des Unternehmens gesichert. Doch David Hung und sein Team entschieden sich für den Weg ins Risiko. Sie waren entschlossen, die Durststrecke durchzustehen, arbeiteten fast rund um die Uhr. „Wir hatten das innovative Know-how an Bord“, sagt er heute. „Warum sollten wir das an ‚copycat drugs‘ verschwenden?“ Hung hatte noch ein weiteres Produkt in der Pipeline, ein Präparat zur Behandlung von metastasierendem Prostatakrebs. Und er hatte Erfolg: Die Neuentwicklung meisterte sämtliche klinische Tests mit Erfolg und wurde 2012 zugelassen. Xtandi, das bereits im Namen einen Hinweis auf seine lebensverlängernde Wirkung trägt, erhöht die durchschnittliche Lebenser-

„Unsere Mitarbeiter wissen, wie wichtig ihre Arbeit hier ist. Jedem ist klar, dass er nicht nur einen Job macht.“ David Hung

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Unter Zugzwang

Gerd Willi Stürz [email protected] EY Market Segment Leader Life Sciences, Healthcare & Chemicals für Deutschland, Österreich und die Schweiz

Seit Ende 2014 beobachten wir auf dem weltweiten Pharmamarkt eine lange nicht dagewesene Dynamik. Das Gesamtvolumen der Fusions- und Übernahmeaktivitäten (M&A) stieg im Jahr 2015 auf den Rekordwert von mehr als 300 Milliarden USDollar. Die Unternehmen fokussieren sich zunehmend auf Bereiche, in denen sie zur absoluten Spitze gehören, und stärken diese Kernkompetenzen durch Zukäufe, während sie ihre Randaktivitäten kontinuierlich zurückschneiden. „Win or divest“ lautet die Devise. Fast alle grossen Player sind an diesen Aufräumarbeiten beteiligt. So stärkte die amerikanische Merck mit der Übernahme des Wettbewerbers Cubist ihre Präsenz in der

wartung von Patienten mit fortgeschrittenem Prostatakrebs um fast fünf Monate; die Wahrscheinlichkeit, an dieser Krankheit zu sterben, sinkt um ein Drittel. Medivation brachte das Medikament in nur sieben Jahren vom Forschungslabor zur Zulassung; im Schnitt vergehen dafür 17 Jahre. „Der Zeitfaktor ist für die betroffenen Patienten überlebenswichtig“, erklärt David Hung die Produktentwicklung auf der Überholspur. „Wir haben es hier mit Menschen zu tun, die oft nur noch wenige Monate zu leben haben. Da können wir uns einfach nicht den Luxus leisten, uns alle Zeit der Welt zu nehmen.“ Ständig mache er seinen Mitarbeitern klar, „dass hier jeder mit absoluter Dringlichkeit arbeiten muss – so als würde bei seinem eigenen Kind Krebs entdeckt werden“.

Akutversorgung und veräusserte im Gegenzug ihr Consumer-Care-Geschäft an Bayer. Pfizer trennte sich von Randsparten wie der Babynahrung und brachte sein TiermedizinGeschäft an die Börse. GlaxoSmithKline (GSK) und Novartis wiederum tauschten im grossen Stil: Novartis kaufte von GSK das OnkologiePortfolio, während GSK die Impfsparte von Novartis erwarb. Durch die ersten grossen Transaktionen geriet der Rest der Branche stark unter Zugzwang. Das führte dazu, dass die folgenden Kauf- und Tauschgeschäfte ausserordentlich schnell realisiert wurden. Es ist nahezu sicher, dass sämtliche grossen Player im Vorfeld verschiedene M&A-Szenarien komplett durchgeplant hatten und dann – in Abhängigkeit von den Aktionen der First Mover – ihre eigenen Aktivitäten entsprechend platzierten. Kleine und mittlere Pharmaunternehmen wie etwa David Hungs Medivation spielen in den derzeitigen Fokussierungsstrategien der Konzerne eine wichtige Rolle. Alle grossen Player sind unablässig auf der Suche nach neuen Wirkstoffen und Produkten für die eigene Pipeline. Die kleineren Unternehmen betreiben ihre F&E oft mit grösserer Flexibilität und höherer Effizienz als die etablierten Konzerne; sie sind schneller und risikofreudiger. Für Novartis, Pfizer, Roche & Co. ist es daher eine interessante Option, sich die Kompetenz der kleineren, agilen Hersteller ins Haus zu holen – indem sie Partnerschaften mit ihnen eingehen und indem sie entweder die neu entwickelten Wirkstoffe oder gleich das ganze Unternehmen aufkaufen. Zum Weiterlesen: EY’s Firepower Index and Growth Gap Report 2016

Hin und wieder lädt Hung Patienten, die mit Xtandi behandelt werden, in das Unternehmen ein. „Dann erfährt jeder Mitarbeiter aus erster Hand, warum wir hier Druck machen müssen und wie wichtig unsere Therapie für das Leben von Menschen ist, die sich bereits aufgegeben hatten.“ Kürzlich war ein Xtandi-Patient zu Besuch, dem die Ärzte ursprünglich noch drei Wochen zu leben gegeben hatten. Heute, knapp vier Jahre später, gilt er als geheilt; er hat keine Metastasen mehr. „In der Zwischenzeit hat er die Hochzeiten seiner drei Kinder erlebt“, erzählt David Hung, „und er konnte sich über drei Enkelkinder freuen.“ Wenn die Leute aus seinem Team so etwas sehen, ist Hung überzeugt, „dann verstehen sie noch besser, dass es wichtig ist, was sie hier tun, dass es auf sie ankommt. Und dass sie nicht nur einen Job machen.“

Neuer Kompass Gesellschaftlicher Wert und Unternehmenszweck als Grundlagen unternehmerischer Kontinuität.

Von Markus Heinen, Robert Jung und Markus Thomas Schweizer

Im Herbst 2015 veröffentlichte das Global Center for Digital Business Transformation, eine Initiative der Schweizer Business School IMD und des Netzwerkspezialisten Cisco ­Systems, eine Studie, die die Reihenfolge der Branchen auflistete, die von der digitalen Disruption bereits erfasst worden sind oder in den kommenden Jahren davon vollkommen verändert werden. Zuerst erwischte es die Technologie­branche selbst. Es folgten Medien und Unterhaltungsindustrie, Handel und Telekommunikation. Und die Welle rollt weiter: Die Tourismusbranche, Finanzdienstleister und die produzierende Industrie sind die Nächsten. Etwa vier der bisher führenden Unternehmen pro Branche, so glauben zum Thema befragte Manager selbst, werden den Sturm nicht überleben. Geschäftsmodelle, die gestern noch stabile Umsätze und G ­ ewinne versprachen, werden fast über Nacht obsolet. Schlimmer noch, sie erweisen sich oftmals als schwerer Klotz am Bein, weil einstige ­Erfolge den Bruch mit der Vergangenheit ver- oder zumindest behindern. Ständige Veränderung und schnelle Anpassung sind also für die Unternehmen das Gebot der Stunde. Aber macht es tatsächlich Sinn, dem jeweils neuesten Digitalisierungshype atemlos hinterherzuhasten? Und es stellt sich auch die Frage – sowohl intern als auch extern –, wofür ein Unternehmen eigentlich steht, wenn es mehrfach hintereinander rigide Wechsel in seiner Ausrichtung vollzieht. Gibt es einen unveränderlichen Kern, einen übergeordneten Sinn seiner Existenz und Tätigkeit? Wie also könnte eine Klammer aussehen, die hohe organisatorische Beweglichkeit ermöglicht, Veränderung fördert und zugleich Kontinuität erlaubt? Eine einfache und bequeme Antwort darauf wäre, dass der einzige Zweck eines Unter-

nehmens als ökonomische Entität darin bestehe, Gewinne zu machen – je mehr, desto besser, egal wie. Doch dieses traditionelle und rein auf die wirtschaftliche Perspektive reduzierte Verständnis trägt heute nicht mehr. Und es stimmte ja eigentlich noch nie. Denn schon immer haben Unternehmen mit ihrer Tätigkeit, mit den getroffenen und unterlassenen Entscheidungen ihrer Füh­ rungen das Leben ihrer Mitarbeiter, ihre Kunden, ihre Partner und ihr soziales und ökologisches Umfeld beeinflusst. Nie zuvor aber sind sie dabei so kritisch beobachtet und bewertet worden wie heute. Diese öffentliche Beurteilung hat grossen Einfluss auf ihren wirtschaftlichen Erfolg. Langfristig sehr erfolgreiche Unternehmen haben deshalb nie nur den ökonomischen Aspekt ihres Tuns im Auge behalten, sondern viele andere Facetten, aus denen sie Daseinsberechtigung und Sinn definieren. So gelingt ihnen eine stete Erneuerung, sogar eine völlige Transformation, ohne dass sie ihr unternehmerisches Erbe aufgeben. Selbst Rückschläge können sie so meistern. Diese Haltung zeichnet auffallend oft erfolgreiche Familienunternehmen aus und verschafft ihnen intern und extern hohes Ansehen. Gerade die öffentliche Wertschätzung wird für Unternehmen zu einem immer wertvolleren Kapital. Entsprechend setzt sich für ­dieses Asset immer stärker ein Begriff durch, der zunächst zur Bewertung der Arbeit von öffentlichen Verwaltungen und Institutionen entwickelt worden ist: der Public Value oder gesellschaftliche Wert einer Organisation. Die renommierte Organisationswissenschaftlerin Rosabeth Moss Kanter, Professorin an der Harvard Business School, hat im Rahmen

ihrer Forschungstätigkeit festgestellt, dass im Selbstverständnis langfristig sehr erfolgreicher U ­ nternehmen Menschen und Gesellschaft nicht nach Nützlichkeitsgesichtspunkten oder als nachrangige Faktoren betrachtet werden, sondern Kern des Unternehmens­ zwecks sind. Diese Unternehmen haben einen Rahmen geschaffen, in dem der gesellschaftliche Wert ein wichtiges Entscheidungskriterium ist. Moss Kanter empfiehlt Unternehmen deshalb allgemein die Entwicklung einer „insti­tutionellen“ Perspektive. Denn wenn sich eine Firma auch als soziale Institution versteht, schafft sie sich nicht nur einen weiteren Horizont, der öffentliche Belange und eigene ökonomische Interessen miteinander ausbalanciert, sondern sie entwickelt zugleich eine kohärente Identität, gibt Führung und Mitarbeitern Orientierung im Umgang mit Unsicherheit und Veränderung und legt damit den Grundstein für Kontinuität und die eigene Dauerhaftigkeit. Wir haben es also mit zwei Begriffen zu tun: dem gesellschaftlichen Wert eines Unternehmens und einem daran orientierten Unternehmenszweck („purpose“). Doch wie lässt sich der gesellschaftliche Wertbeitrag eines Unternehmens erfassen, analysieren

Public Value Scorecard Wie ist der Public Value Ihres eigenen Unternehmens? Was sind Chancen, was Risiken? Laden Sie sich die PVSC App von EY herunter und machen Sie den Test mit der Public Value Scorecard! Oder besuchen Sie uns auf der EY Public-Value-Webseite: http://public-value-scorecard.ey.com/

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42  Expertise  Public Value

Ein am gesellschaftlichen Wert orientierter Unternehmenszweck führt zu einer Neu­ausrichtung des Denkens im Unternehmen, weil er die Perspektive der eigenen Betrachtung und Bewertung der Organisation grundlegend ändert.

und aktiv beeinflussen? Der Wissenschaftler Timo Meynhardt von der Universität St. Gallen hat sich intensiv mit den Faktoren befasst, die den öffentlichen Wert eines Unternehmens steigern oder senken können. Er hat den bisher eher gefühlten öffentlichen Wert messbar gemacht und mit der Public Value Scorecard (PVSC) ein geeignetes Instrument entwickelt (siehe Box), mit dem Unternehmen ihn erfassen und steuern können. Damit werden gleichzeitig die wirtschaftlichen und gesell-

Am Puls der Gesellschaft

Prof. Dr. Timo Meynhardt Managing Director Center for Leadership and Values in Society Universität St. Gallen

Unternehmen kennen leider oftmals ihren Public Value nicht. Alles und jedes wird gemessen, aber nicht die gesellschaftliche Wertschöpfung, die für Unternehmen immer wichtiger wird. Die bisherige Outside-

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schaftlichen Auswirkungen von Unternehmensentscheidungen transparent gemacht. Aber die PVSC zeigt nicht nur, ob und wie öffentlicher Wert durch bestimmte unternehmerische Entscheidungen geschaffen oder gemindert wird, sondern sie kann bei der ­Definition eines Unternehmenszwecks oder bei der Überarbeitung des vielleicht schon bestehenden unterstützend wirken – indiziert sie doch, welche Aspekte des Unternehmens-

in-Perspektive ist zu eng. Kundenzufriedenheitsumfragen und Stakeholderanalysen liefern wichtiges Feedback. Sie sagen aber nichts über den Puls der Gesellschaft. Wie reagiert diese auf eine Unternehmensakquisition? Worin besteht eigentlich der Public Value eines Produkts oder einer ganzen Unternehmung? Warum kommen unsere Aktivitäten in der allgemeinen Öffentlichkeit nicht an? Zwischen beabsichtigtem und realisiertem Public Value klafft oft eine eklatante Lücke. In diese stösst die Public Value Scorecard und macht für das Management sichtbar, wo die Chancen und Risiken einer strategischen Entscheidung liegen. Sie hilft, Selbst- und Fremdbild in Einklang zu bringen. Dies g ­ eschieht heute nicht mehr nur über Befragungen und Interviews, sondern auch über Social-Media-Analysen, die zu einer Scorecard führen. Den Nutzen dieses Ansatzes haben in den letzten Jahren schon der FC Bayern München und Fresenius M ­ edical Care, aber auch die Bundesagentur für A ­ rbeit für sich entdeckt. Mehr dazu auf YouTube, Stichwort: Public Value – Common Good and the Society

zwecks neu formuliert oder überdacht werden sollten, um die erwünschte öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung zu bewirken. Dabei enthält ein gut definierter und kommunizierter Unternehmenszweck nie nur sachliche und fachliche Motive, sondern ist immer auch emotional aufgeladen. Denn welchen gesellschaftlichen Wert die Waren, Dienstleistungen und anderen Aktivitäten des Unternehmens in den Augen der Öffentlichkeit haben, hängt nicht allein von objektiven Faktoren ab, sondern von der subjektiven Wahrnehmung des Publikums. Und die wird geprägt von der Erfüllung mehrerer psychologischer Grundbedürfnisse, die moralisch-ethische, soziale und emotional-ästhetische Dimensionen umfassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob das Bild des Unternehmens in den Augen der Öffentlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Wichtig ist, dass diese öffentliche Wahrnehmung aus Unternehmenssicht nicht als richtig oder falsch bewertet, sondern als Tatsache akzeptiert wird. Es geht also um drei Dinge: die richtigen Massnahmen, das richtige Verständnis dessen, was den Menschen im jeweiligen Umfeld wichtig ist, und die glaubwürdige Kommunikation, damit Aktivitäten auch positiv wahrgenommen werden. Eine wirksame Klammer dafür bildet ein gut formulierter und aktiv gelebter Unter-

Big World – Small Planet Feldsteinmauer zwischen Weiden in Öland, Schweden. Schafe und eine vielfältige Flora und Fauna prägen diese alte Kultur­ landschaft, die durch eine sich schnell wandelnde Umwelt in Gefahr ist (siehe Text auf Seite 5).

Expertise  Public Value 45

nehmenszweck. Dabei zeigt sich in der Praxis immer wieder: Wo ein am Gemeinwohl ausgerichteter Unternehmenszweck fehlt, bleibt auch der Public Value unter dem Durchschnitt. Doch Umfragen haben ergeben, dass bisher nur knapp die Hälfte der Unternehmen jenseits von Strategien und Visionen eine langfristige übergeordnete Zielsetzung ihrer Tätigkeiten für sich definiert haben. Rund 44 Prozent der befragten Unternehmen sind wenigstens dabei, einen solchen Zweck zu entwickeln. Dies bietet eine entscheidende Chance, den notwendigen ständigen Veränderungen bei Geschäftsmodell, Produkten und Prozessen e ­ inen ganz neuen Rahmen und Kompass zu geben, eine Klammer zu schaffen, die Flexibilität und Agilität mit Kontinuität und gesellschaftlicher Wertschätzung verbindet, sie zugleich fit macht für das digitale Zeitalter. Wir haben bei EY dafür eine neue Methodologie entwickelt, die Purpose Led Transformation (PLT), die Unternehmen helfen soll, einen Zweck zu entwickeln, der zu ihnen passt, und diesen in der strategischen Ausrichtung der Organisation sowie in ihren Prozessen, Strukturen und Führungsinstrumenten zu verankern. Damit ein solcher Zweck über lange Zeit seine Gültigkeit behält, sollte er so formuliert werden, dass er

Big World – Small Planet Oben: Nordlicht auf Spitzbergen, einer zu Norwegen gehörenden Inselgruppe am Rande der Arktis. Deren Eisdecke reflektiert Sonnenlicht und kühlt so die Erde. Unten: Tropische Mangrovenwälder sind Kinderstube für Fische und lebendiger Küstenschutz in einem – und durch das Anlegen von Garnelenzuchtfarmen weltweit gefährdet (siehe Text auf Seite 5).

Markus Heinen [email protected]

Robert Jung [email protected]

Markus Thomas Schweizer [email protected]

EMEIA Strategy Leader Partner EY Advisory Services/Strategy

Strategy Purpose Led Transformation

Managing Partner Advisory Services, Germany / Switzerland / Austria

• flexibel genug ist, um Veränderungen bis hin zu solchen des Geschäftsmodells zu erlauben; • anspruchsvoll und verbindlich genug ist, um intern zu motivieren und Orientierung zu geben; • klar genug ist, um das Unternehmen von anderen im Markt zu differenzieren und Kunden anzuziehen und zu binden. Die US-Heimwerkermärkte von Kingfisher etwa konnten sich mit ihrem neu formulierten Purpose „We help to build a better home“ deutlich von ihren Wettbewerbern a ­ bsetzen. Wie stark ein neu definierter Unternehmenszweck auch nach innen wirkt und hilft, das eigene Geschäftsmodell zu überdenken und anzupassen, zeigt das B ­ eispiel einer ebenfalls in den USA behei­mateten Drugstore-Kette. Neben Medikamenten hatte das Unternehmen traditionell immer auch Zigaretten verkauft. Der neu formulierte Unternehmenszweck „Gesundheitsförderung“ führte zum Verzicht auf den profitablen Geschäftszweig. Heute erzielt die Gruppe mit einem eindeutig am neuen Purpose ausgerichteten Produktportfolio weit höhere Umsätze und Gewinne. Die Formulierung eines am gesellschaftlichen Wert orientierten Unternehmenszwecks führt vor allem zu einer Neuausrichtung des Denkens im Unternehmen, weil sie die Perspektive der eigenen Betrachtung und Bewertung der Organisation grundlegend ändert. Das Unternehmen und seine Akteure sehen sich quasi selbst zu – und das auch noch mit anderen Augen. Dieser neue Blickwinkel und der grössere Rahmen, den etwa ein Unternehmenszweck wie der bei EY formulierte „To build a better working world“ gibt, bilden eine stabile Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer Organisation.

Statt als Bruch mit der Firmentradition können so selbst tiefgreifende organisatorische Ereignisse und Veränderungen wie etwa die Erschliessung neuer Märkte und Kundengruppen, die Beschleunigung von Wachstum und Innovation, die Veränderung der hauseigenen Marken und ihrer Kernaussagen oder die Integration bzw. der Zusammenschluss mit anderen Unternehmen als kontinuierliche Erneuerungsprozesse verstanden und bewältigt werden. Selbst ein völlig neues Geschäftsmodell stellt aus dieser Perspektive nicht mehr die Aufgabe alles bisher Gewesenen dar, sondern die Transformation des Unternehmens in eine erfolgreiche Zukunft. Die Wirkung des Unternehmenszwecks als wichtigen integrativen Bausteins wird inzwischen von immer mehr Führungskräften erkannt und verstanden, wie eine aktuelle Studie von EY Global bestätigt hat. So sind 89 Prozent der befragten Führungskräfte davon überzeugt, dass ein gemeinsamer Unternehmenszweck die Mitarbeiterzufriedenheit verbessert und ihre Loyalität erhöht. 84 Prozent der von EY befragten Manager meinen, dass Unternehmen Veränderungen leichter fallen, wenn sie ein Ziel verfolgen, das über die reine Gewinnabsicht hinausgeht. Und 80 Prozent glauben, dass sich ein gut formulierter und kommunizierter Unternehmenszweck, der den gesellschaftlichen Nutzen berücksichtigt, positiv auf die Kundenbindung auswirkt. Und nicht nur das: Weitere Untersuchungen zeigen, dass Menschen s­ ogar bereit sind, mehr für ein Produkt zu bezahlen, wenn der Hersteller einen hohen P ­ ublic Value besitzt. Damit sorgt also ein am gesellschaftlichen Wert orientierter Unternehmenszweck für in jeder Beziehung gute Geschäfte – und damit für Bestand und Dau­erhaftigkeit des Unternehmens.

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Expertise  Dialog 47

„Eine zeitgemässe Bürowelt macht die Mitarbeiter stolz und erhöht die Identifikation.“ Vom stählernen Schubladenschrank zum Smart Working Space: Bei der Lienhard Office Group beschäftigt man sich in der dritten Generation mit der Gestaltung von Arbeitsplätzen. Ausgehend von einer modularen Ablage für Werkzeuge entwirft man heute nonterritoriale Arbeitswelten. In einem Unternehmen, das den Wandel unserer Arbeitswelt begleitet hat, wird natürlich auch über die Zukunft nachgedacht. Sein CEO Markus Meili diskutiert mit Heinrich Christen, Partner bei EY, über Veränderungen unserer Arbeitskultur. Fotos Christian Grund

Heinrich Christen: Herr Meili, wenn man durch die Räume der Lienhard Office Group geht, sieht man keine persönlichen Arbeitsplätze mehr, sondern unterschiedlich eingerichtete Zonen, in denen sich die Mitarbeiter je nach Bedarf einfinden. Ihre Einrichtungen zielen auf Flexibilität und Reduzierung des Büroraums. Wenn ich das weiterdenke, frage ich mich, ob wir in Zukunft überhaupt noch Büros brauchen. Wäre das nicht die konsequente Weiterentwicklung? Markus Meili: Ich glaube nicht, dass es in Zukunft keine Büros mehr geben wird – aber sicherlich nennen wir sie anders und werden sie anders aussehen. Globalisierung und digitale Kommunikationstechnologien haben die Anforderungen schon jetzt massiv verändert: Wir benötigen nicht mehr so grosse Flächen, die allen Mitarbeitern jeden Tag einen festen Arbeitsplatz zur Verfügung stellen – zumal der Büroraum zunehmend teurer wird. Aber das Büro ist ganz klar Begegnungszone und wird es auch bleiben. Die neue Arbeitswelt lebt davon, dass wir Wissensarbeiter sind, und Wissen entsteht nicht, indem Sie isoliert Informationen beschaffen und korrekt ablegen lassen, sondern nur durch Austausch. Erst wenn ich mich in einem Team, das sich an einem Ort zusammenfindet, um ein Problem kümmere und sich eine Diskussion, vielleicht auch ein Streitgespräch entwickelt, werden Lösungen hervorgebracht. Christen: Sie nennen Ihre Bürokonzepte nonterritorial, sprechen von Smart Working oder Multifunktionszonen. Was verbirgt sich dahinter? Meili: Es gibt keine festen Arbeitsplätze mehr, sondern verschiedene miteinander verbundene Zonen mit mehreren Funktionalitäten. Nichts ist zugeordnet. Der Trick ist, dass die

Menschen die Freiheit haben, ihren Arbeitsplatz zu wählen. Deshalb ist es wichtig, dass im Grundangebot einer Fläche unterschiedliche Funktionalitäten von Arbeitsplätzen vorhanden sind. Nicht jeder hat zur gleichen Zeit die gleichen Anforderungen. Nonterritorial fängt damit an, dass der Raum, in dem wir gerade sitzen, nicht nur mein Büro ist. Auch meine Mitarbeiter können dieses Büro benutzen. Am Anfang haben sie das nicht gemacht. Aber seitdem sie erlebt haben, dass auch ich in anderen Bereichen arbeite, kommen sie hierhin, zum Beispiel wenn sie Besprechungen oder Workshops durchführen oder sehr konzentriert arbeiten wollen. Ich selbst bin gerne in den anderen Räumen bei den Kollegen. Dort führe ich ganz andere Gespräche, als wenn ich in meinem Büro quasi Chef spiele. Christen: Früher hatte das Büro mit seiner Grösse, Lage und Einrichtung eine wichtige Statusfunktion. Als ich zum Beispiel bei EY angefangen habe, war mir mein Büro wichtig. Als Chef hatte ich das Eckbüro vorne mit Balkon. Im Laufe der Zeit habe ich weniger Zeit im Büro und mehr Zeit beim Kunden verbracht, so dass mein Büro seine repräsentative Rolle verloren hat. Da hat sich schon in meiner Generation viel verändert. Meili: Status spielt bei der jungen Generation überhaupt gar keine Rolle mehr. Heute kommt es nur noch auf gute Tools und die richtigen Leute an, also auf ein passendes Umfeld. Schauen Sie, wie Projekte heute laufen: Hierarchie ist nicht mehr entscheidend. Es müssen sich die Leute zusammenfinden, die ein Thema bearbeiten können. Die junge Generation ist in der Crowd. Das muss man sich wie einen Fischschwarm vorstellen, der für jeden Job neu gruppiert wird. Die jungen

Menschen wollen teilen. Und sie wollen nicht für das honoriert werden, was sie darstellen, sondern für das, was sie gemacht haben. Ihre Belohnung besteht darin, dass sie ein tolles Projekt gestemmt haben, fünf Sterne hinter ihrem Profil und eine Empfehlung erhalten – aber nicht in einem grösseren Einzelbüro. Den nonterritorialen Arbeitsplätzen wird gerne vorgeworfen, sie würden den Menschen etwas Persönliches, Identitätsstiftendes wegnehmen. Aber sie gewinnen auch etwas, denn alles gehört allen. Die Mitarbeiter geben ihre persönlichen Schreibtische mit Fotos von Familie und Hund her. Dafür erhalten sie ein vielfältiges Büro als Ganzes. Christen: Wie wirkt es sich auf die Arbeitskultur aus, wenn die Menschen nicht mehr vereinzelt und auf zugewiesenen Plätzen arbeiten, sondern sich jeden Morgen ihren Ort neu suchen müssen und sich häufiger begegnen? Meili: Das ist ein wichtiger Punkt. Wir reduzieren nicht nur die Fläche um rund 25 Prozent, sondern setzen Impulse, indem wir Einzelarbeitsplätze durch Kommunikationsflächen ersetzen. Das führt zu einer offeneren Kultur mit mehr Transparenz – und setzt natürlich auch viel Vertrauen voraus. Das Spannende ist, dass unsere Konzepte auch einen selbstreinigenden Effekt haben, weil sie Sichtbarkeit schaffen. Wenn Sie in den offenen Bereichen herumhängen und nichts tun, ist es oft nicht der Chef, sondern ein Kollege, der fragt: „Sag mal, hast du denn nichts zu tun?“ Das ist auch ein Kulturwandel. Christen: Sehen Sie auch Effekte bei der Produktivität? Meili: Unbedingt. Kommunikation beschleunigt die Prozesse. Wir wissen, dass 20  Prozent

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Expertise  Dialog 49

„Die Büroeinrichtung kann eine Transformation durchaus beschleunigen.“ Markus Meili

Markus Meili

Markus Meili, Jahrgang 1955, ist CEO der Lienhard Office Group, des umsatzstärksten unabhängigen Anbieters von Büroeinrichtungen und Raumkonzepten im Schweizer Markt. Markus Meili ist ein ausgewiesener Marketing- und Vertriebsfachmann und bildete sich u. a. an der Harvard Business School in Boston in Generalmanagement weiter. Nach einer Tätigkeit bei 3M im Unternehmensbereich Medizin als Verantwortlicher für das Marketing wechselte er in die Marktforschung und strategische Marktberatung bei Nielsen. 1994 stieg er bei der Lista Degersheim AG als Geschäftsführer ein. Er gestaltete massgeblich die Entwicklung der 2008 aus der Lista hervorgegangenen Lienhard Office Group zu einem führenden Anbieter von Smart-Working-Konzepten.

Heinrich Christen

des Mitarbeiterengagements durch die physische Arbeitsplatzumgebung beeinflusst werden. Und aus realisierten Projekten wissen wir, dass Engagement und Zielerreichung signifikant verbessert wurden. Aber wir wissen auch, dass es die Produktivität steigert, wenn Menschen physisch zusammensitzen. 81 Prozent der Mitarbeitenden sagen, dass ein flexibel nutzbares Bürokonzept zu einer besseren Zielerreichung führt. Und was sich auch verändert, ist die Identifikation mit dem Unternehmen. Eine zeitgemässe Bürowelt macht die Mitarbeiter stolz und steigert die Identifikation. Christen: Sie sprechen von Kulturwandel und verbesserter Produktivität, die wir auch bei uns und bei einigen Klienten erlebt haben. Manchmal ist das ein Quantensprung. Ich kenne aber auch Unternehmen, bei denen das gar nicht funktioniert hat. Meili: Die Frage, ob das neue Konzept im Unternehmen angenommen wird, ist zuallererst an das Management zu richten. Wenn die Führungskräfte es nicht leben, werden die Mitarbeiter es auch nicht tun und dann hat es keine Chance. Einem potenziellen Kunden, der mir sagt: „Wir wollen von dieser neuen Bürowelt profitieren, und mein Büro ist dort um die Ecke, und das ist abgeschlossen“, muss ich von einem Multizonenkonzept abraten. Es muss damit anfangen, dass auch die Chefs bereit sind, sich in diese nonterritoriale Welt hineinzubegeben. Sie können dort nicht einfach schöne Möbel reinstellen und hoffen, dass die Mitarbeiter ihre Routinen ändern. Büroräume neu zu gestalten, heisst immer auch, an der Kultur zu arbeiten. Deshalb führen wir zu Beginn intensive Interviews. Wir interessieren uns für die räumlichen Gegebenheiten und die Vorstellungen unserer Auftraggeber. Aber wir sprechen auch über die Ziele des Unterneh-

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„Wird es denn in Zukunft die grossen Unternehmen noch geben, die ganze Zentralen einrichten? Ich vermute, dass die Unternehmenslandschaft sich stark fragmentieren wird. Vielleicht werden die Firmen ihre Einrichtungen selbst mit dem 3D-Drucker herstellen, um maximal flexibel zu sein?“

mens, seine strategische Ausrichtung, und versuchen, die Kultur des Unternehmens zu verstehen. Dabei involvieren wir die Geschäftsleitung und die Mitarbeiter. Meistens gehen die Vorstellungen der beiden um 180 Grad auseinander und müssen moderiert werden. Das ist immer ein Kulturveränderungsprozess, den ich allen Unternehmen empfehle, die in einem Wandel sind. Die Büroeinrichtung kann eine Transformation durchaus beschleunigen. Christen: Wie stark muss die Einrichtung denn die Arbeitskultur widerspiegeln? Ich denke zum Beispiel an das vielgepriesene Büro von Google mit Bistros, die wie Fussballbars oder Strassencafés ausgestattet sind. Meili: Es gibt eben nicht nur das eine Büro und nicht nur ein einziges Konzept, sondern stets das richtige Konzept für das jeweilige Unternehmen und den richtigen Arbeitsplatz für eine bestimmte Tätigkeit. Es ist ein grosser Unterschied, ob ich eine akademische Einrichtung wie die Universität St. Gallen, einen Internetkonzern oder eine traditionelle Schweizer Bank einrichte. Jede Kultur braucht ein anderes Büro. Für alle aber gilt: Wenn man nonterritoriale Arbeitswelten einführt, muss man den Mitarbeitern sehr hochwertige Arbeitsplätze anbieten. Wenn Sie das billig einrichten, ist das Projekt zum Scheitern verurteilt. Genauso wichtig ist, dass alle Arbeitsplätze gleich hochwertig sind. Keiner darf mindere Qualität haben. Christen: Was, wenn das neue Konzept trotzdem nicht angenommen wird?

Offene Raumkonzepte und ihre Effekte auf Produktivität, Kosteneffizienz und Motivation.

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50  Expertise  Dialog

Heinrich Christen Heinrich Christen ist Partner bei EY und leitet das Center of Excellence für Familienunternehmen in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein. Seit 1997 ist er bei EY tätig und verantwortet dort auch das Programm EY Entrepreneur Of The YearTM. Der Leiter des Sitzes von EY in St. Gallen hat Philosophie, Staats-, Völker- und Europarecht sowie Geschichte der Neuzeit an den Universitäten Zürich, Konstanz und Stanford studiert und besitzt einen Executive MBA der Universität St. Gallen. Er berät Familienunternehmen unter anderem in Fragen der strategischen Nachfolgeplanung und nimmt diverse Vorstandsaufgaben wahr, zum Beispiel beim Swiss Venture Club und beim Schweizer Institut für Auslandsforschung. [email protected] Partner, Leiter Center of Excellence Familienunternehmen Schweiz und Fürstentum Liechtenstein, EY Schweiz

Meili: Es empfiehlt sich immer, mit einem Prototyp zu starten, den ausgewählte Abteilungen ein halbes Jahr testen und der angepasst wird. Aber ist das Büro einmal eingerichtet, muss das Konzept – besonders in den Details – permanent weiter überprüft werden. Das sind meistens Kleinigkeiten: Eine Cafébar wird nicht verwendet, weil dort immer das Geschirr rumsteht. Das müssen Sie sich wie zu Hause vorstellen. Irgendwann muss man sagen: So, Kinder, aufräumen, und im Wohnzimmer gibt es keine Spielsachen! Oder man muss einen zusätzlichen Wagen hinstellen, um dort das dreckige Geschirr abzustellen. Es passiert auch, dass Mitarbeiter einen Platz besetzen wie Urlauber am Strand die Liege mit einem Handtuch. Hier müssen die anderen reagieren und auf die Spielregeln aufmerksam machen. Der grundsätzliche Vorteil an diesen Konzepten ist, dass sie flexibler sind und mehr atmen als traditionelle Einrichtungen. Das ist enorm wichtig, weil die Unternehmen, ihre Prozesse und Strukturen sich ja auch viel schneller verändern als früher. Ein Unternehmen, das heute nur wenige Projekträume hat, braucht morgen vielleicht mehr, weil die Entwicklung neuer Produkte schneller voranschreitet. Darauf muss die moderne Arbeitswelt viel flexibler reagieren können als gestern. Christen: Welche Veränderungen sehen Sie für die Zukunft? Wie steht es um die Anpassung der Einrichtung an die einzelnen Menschen? Heute haben wir ja Tische, die sich automatisch auf meine Grösse einstellen … Meili: … und wir werden bald ganze Umgebungen erleben, die sich wie von Geisterhand an unsere individuellen Bedürfnisse anpassen. Wenn wir in Zukunft einen Raum betreten, wird nicht nur automatisch die Tischhöhe modifiziert, sondern werden Einrichtung, Licht

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und Klima auf uns angepasst. Die Information stammt dann auch nicht von einem mobilen Gerät wie unserem Smartphone, das unsere Daten speichert und das wir mit uns herumtragen, sondern von einem Chip, der uns implantiert ist. Wir erleben gerade nur die ersten Entwicklungen: Heute lassen sich die Möbel modifizieren, und sie kommunizieren zum Beispiel über eine App mit uns, die uns hilft, das richtige Gleichgewicht zwischen Stehen, Sitzen und Bewegung zu finden. Christen: Und die Zukunft für das Geschäftsmodell der Büroeinrichtung? Wird es denn in Zukunft die grossen Unternehmen noch geben, die ganze Zentralen einrichten? Ich vermute, dass die Unternehmenslandschaft sich stark fragmentieren wird. Vielleicht werden die Firmen ihre Einrichtungen selbst mit dem 3D-Drucker herstellen, um maximal flexibel zu sein? Meili: In 50 Jahren wird wahrscheinlich kein Unternehmen mehr bei uns Möbel bestellen. Wir arbeiten schon heute daran, die digitalen Möglichkeiten für eine flexible Gestaltung zu nutzen: Unsere Vision ist, dass wir über die Messung von Bewegungsströmen genau wissen, wo sich die Menschen aufhalten, und die Flächen noch präziser kontinuierlich an den konkreten Bedarf anpassen können. Ich könnte mir vorstellen, dass Kunden in 50 Jahren nur noch für das zahlen, was sie wirklich gebraucht haben. Eine Möglichkeit wäre, dass wir den Firmen – Pay per Use – die nach ihren Bedürfnissen eingerichtete Fläche vermieten und nur die tatsächlich verwendeten Einrichtungen abrechnen. Christen: Viele Unternehmen setzen sich mit dem demographischen Wandel auseinander. Wie wird der steigende Anteil älterer Mitarbeiter unser Arbeitsumfeld verändern?

Meili: Wir haben eigentlich zwei Entwicklungen, auf die wir uns einstellen. Wir haben das spannende Thema, dass unterschiedliche Kulturen zusammenarbeiten. Die Chinesen haben andere Ansprüche als die Europäer, und die Amerikaner brauchen wieder etwas anderes. Nehmen Sie ganz einfach die Tischhöhe, denn die Chinesen sind im Durchschnitt viel kleiner, während die Holländer recht gross sind. Der demographische Wandel wird dazu führen, dass wir mehr Ruhezonen haben werden. Es wird dann viel stärker als heute erlaubt sein, sich zurückzuziehen, um sich zu regenerieren. Christen: Sie haben eingangs gesagt, das Büro sei ein Begegnungsraum. Bald werden wir die physische Begegnung durch holographische Treffen ersetzen können. Meili: Wenn wir die Möglichkeiten hätten, uns zu projizieren, wären Sie hier vermutlich holographisch am Tisch. Das wird natürlich auch die Büroräume verändern, papierlos mit gläsernen Projektionsflächen. Das klassische Büro wird es nicht mehr geben. Ein Grossteil der Bevölkerung wird über Crowdworking tätig sein. Viele Arbeiten werden wohl durch Roboter erledigt werden, doch die menschliche Interaktion können Roboter nicht ersetzen. Mit meinen direkten Mitarbeitern würde ich mich bei allen virtuellen Möglichkeiten persönlich treffen. Ich bin überzeugt davon, dass wir auch in Zukunft die menschliche Begegnung suchen werden.

Alles gehört allen. Das moderne Büro ist kein Ort der Vereinzelung, sondern der Begegnung.

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Expertise  Digitalisierung 53

Industrie 4.0 – das unbekannte Wesen? Die Sicht der Unternehmer

Grafik 1: Die Mehrheit hat die strategische Bedeutung von Industrie 4.0 erkannt Top-2-Box *

Nichts wird momentan in der Wirtschaft so heiss diskutiert wie die Digitalisierung und ihre Auswirkungen auf die Industrie. Dabei hat es einige Zeit gebraucht, bis die Unternehmen sich diesem Trend genähert haben. Wo stehen sie heute?

Von Stefan Bley, Dr. Christoph Kilger, Marcus Rübsamen und Prof. Dr. Jochen Vogel

Noch auf der Hannover Messe 2011, als sich mit „Industrie 4.0“ erstmals eine Initiative aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft im Rahmen der Hightech-Strategie der Bundesregierung präsentierte, beteiligten sich nur einige wenige ausgewählte Unternehmen wie Bosch, Festo, Trumpf und Siemens, während sich die meisten (mittelständischen) Unternehmen zurückhielten. Und das zu einem Zeitpunkt, da private Haus­ halte und Nutzer bereits eine Vielzahl der neuen internetbasierten Anwendungen für sich entdeckt hatten. Zwischenzeitlich hat sich auch in der Industrie die Erkenntnis weitgehend durchgesetzt, dass Industrie 4.0 und Digitalisierung wirkmächtige Trends sind, die die industrielle Realität prägen werden – und dabei Wertschöpfungsketten zur Erosion bringen wie auch neue Chancen bieten können. Bereits heute zeichnet sich ab, dass Industrie 4.0 und Digitalisierung keine rein unternehmensinternen Phänomene bleiben, sondern auch die Abläufe zwischen Marktteilnehmern verändern werden. Anhand der klassischen Dimensionen „Unternehmensebene“, „direktes Marktumfeld“ und „indirektes Markt­um­ feld“ kann jedes Unternehmen für sich selbst analysieren, wo sich welche Veränderungen durch Digitalisierung auswirken können:

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Unternehmensebene Hier geht es z. B. darum, ob und wie Industrie 4.0 zu einer Veränderung und Anpassung der unternehmensinternen Prozesse führen kann.

Direktes Marktumfeld Der Fokus liegt hierbei auf solchen Frageund Aufgabenstellungen, bei denen Industrie 4.0 eine Anpassung z. B. der Kunden- und Lieferantenbeziehungen mit sich bringt.

Indirektes Marktumfeld Hier sind bereits heute Standardisierungen in (teil-)regulierten Umfeldern wie gemeinsamen Plattformen und entsprechender Austausch Realität. Durch Digitalisierung eröffnen sich zahlreiche weitere Möglichkeiten, gerade für regulatorische Eingriffe der Staaten auf nationaler und supranationaler Ebene.

Zusammen mit dem Bitkom-Verband hat EY Unternehmer nach ihrer Einschätzung gefragt: Welche strategische B ­ edeutung messen sie Industrie 4.0 bei? Welche Vorteile sehen sie, welche Trends werden prägend sein, was sind die grössten Hürden? Die repräsentative Befragung von 554 Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes ab einer Grösse von 100 Mitarbeitern gibt ein differenziertes Meinungsbild. Dabei hat sie auf eine Differenzierung zwischen den verschiedenen Ebenen verzichtet und die Trends stattdessen immer in Bezug

auf den Gesamtmarkt erhoben. Ausgangspunkt der Betrachtung waren zunächst die Unternehmensebene und die daraus abgeleitete Sicht auf mögliche anstehende Veränderungen.

Gesamt

34 %

100 – 499 MA

32 %

500+ MA

41 %

Konsumgüter

29 %

Elektrotechnik

41 %

Automobilbau

31 %

Maschinenbau

36 %

Sonstiges verarbeitendes Gewerbe

33 %

45 %

15 %

46 %

6 %

15 % 43 %

7 % 10 %

54 %

11 % 41 %

12 %

49 %

15 %

50 %

10 %

41 %

0 %

20 %

18 %

40 %

60 %

79 % 78 %

5 %

84 %

5 %

83 %

7 %

82 %

5 %

80 %

4 %

86 %

7 %

80 %

74 % 100 %

  Sehr wichtig      Eher wichtig      Eher nicht wichtig      Überhaupt nicht wichtig Angaben (gewichtet) in Prozent, Basis: alle befragten Industrieunternehmen (n = 554). Rundungsbedingt ergeben die Summen nicht zwingend 100. * Top-2-Box = „sehr wichtig“ und „eher wichtig“.

Das Interesse wächst exponentiell Das aktuelle Meinungsbild in den befragten Unternehmen zeigt eine klare Richtung: ­Nahezu vier Fünftel der befragten Unternehmen schätzen Industrie 4.0 als strategisch wichtig für ihr Geschäft ein. Vor zwei Jahren waren es noch weniger als die Hälfte. Bei den grösseren Unternehmen (mindestens 500 Mitarbeiter) sind es sogar 84 Prozent. Ein Industrievergleich zeigt, dass die Erwartungen im Maschinenbau am höchsten sind (mit 86 Prozent an der Spitze), gefolgt von der Konsumgüterindustrie, der Elektrotechnik und dem Automobilbau. Über die potenziellen Vorteile von Industrie 4.0 herrscht bei den befragten Unternehmen überraschende Einigkeit: 62 Prozent der ­Industrieunternehmen erhoffen sich eine ­höhere Produktionsflexibilität. 57 Prozent ­er­warten eine schnellere Reaktion auf Kunden- und Marktanforderungen. Deutlich we­ niger Bedeutung messen sie einer möglichen Erhöhung der Gesamtanlageneffektivität, Produktinnovationen oder besserer Kundenunterstützung bei. Damit liegt der Fokus eindeutig auf einer Steigerung von Geschwindigkeit und Kosteneffizienz des bestehenden Geschäftes. Überraschend ist, dass nur eine Minderheit der befragten Unternehmen das Potenzial der Digitalisierung für disruptive Innovation und neue Geschäftsmodelle sieht.

Grafik 2: Nur zwei Vorteile von Industrie 4.0 werden mehrheitlich gesehen: Flexibilität und Reaktionszeit Gesamt

Konsumgüter

Elektrotechnik

Automobilbau

Maschinenbau

Sonstiges

Erhöhung der Produktionsflexibilität

62 %

58 %

58 %

60 %

67 %

63 %

Erreichen schnellerer Reaktionszeiten

57 %

52 %

42 %

61 %

62 %

61 %

Erhöhung der Gesamt­ anlageneffektivität

40 %

42 %

43 %

42 %

33 %

41 %

Entwicklung innovativer neuer Produkte

36 %

41 %

38 %

37 %

39 %

25 %

Kostenreduktion

30 %

30 %

33 %

Verbesserung der Kundenunterstützung

28 %

28 %

32 %

Entwicklung neuer Geschäftsmodelle

14 %

Ausweitung des existierenden Geschäftsmodells auf neue Märkte

7 %

10 % 0 %

14 % 0 %

Welche technologischen Trends werden als besonders wichtig erachtet? Die kontinuierliche Verbesserung der Abläufe im Unternehmen durch „Machine to Machine“ (M2M) gehört

26 %

9 %

16 %

12 %

16 %

0 %

Angaben (gewichtet) in Prozent, Basis: alle befragten Industrieunternehmen (n = 554)

Trendanalyse sieht „Machine to Machine“ klar vorn

30 %

31 %

21 %

9 %

9 % 0 %

26 %

unter den Megatrends zu den führenden Entwicklungen. M2M bezeichnet einen automatisierten Informationsaustausch zwischen Endgeräten untereinander oder über eine zentrale Kommunikationsschnittstelle. Im Bereich M2M agieren intelligente Maschinen, Lagersysteme oder Betriebsmittel, die auto-

0 %

29 % 17 % 7 % 0 % Quelle: EY

nom Daten miteinander austauschen, Fertigungsschritte veranlassen und sich gegenseitig steuern. Auf diese Weise steuert sich eine Produktion selbst. Dabei wandelt sich auch die Rolle der Mitarbeiter in der Produktion von der Ausübung direkter Tätigkeiten im Produktionsprozess hin zu indirekten Tätig-

01/2016 Entrepreneur

54  Expertise  Digitalisierung

Expertise  Digitalisierung 55

Im Zeitalter von Industrie 4.0 werden die Unternehmen die Rolle der Mitarbeiter neu definieren und zusammen mit der Politik entsprechende Ausbildungsberufe ent­wickeln müssen. Bereits heute zeichnet sich ab, dass Industrie 4.0 und Digitalisierung keine rein unternehmens­internen Phänomene bleiben, sondern auch die Abläufe zwischen Marktteilnehmern verändern werden. keiten wie Aufrechterhaltung des Systems, z. B. um neue Produkte in das automatisierte Produktionssystem einzufügen. Für unsere Trendanalyse wurden zusätzlich 72 Quellen, überwiegend Studien aus den Jahren 2013 und 2015, hinsichtlich der Häufigkeit bestimmter Begriffe analysiert. M2M taucht am häufigsten auf. Fast genauso oft wird „Big Data“ erwähnt. Das Ergebnis der Häufigkeitsanalyse spiegelt sich auch in der Befragung wider. Neben dem Thema IT-Sicherheit, das aufgrund der notwendigen Nutzung und Ver­ fügbarkeit von Daten alle Diskussionen im ­Bereich neuer digitaler Anwendungen überlagert, stuften die befragten Unternehmen mit 78 Prozent das Thema M2M als wichtig und wesentlich für ihr Geschäftsmodell ein. Die sinn­verwandten „Social Machines“, die den Menschen in die Kommunikation einbeziehen, werden ebenfalls als wichtiger Technologietrend eingeschätzt (70 Prozent). Wirtschaftliche Fertigung einer Losgrösse eins Die „Einbeziehung“ von Produkten in die Kommunikation während eines Fertigungsprozesses dank eingebauter Mikrointelligenz vom Rohling bis zum Fertigteil ist das, was die b ­ isherigen Abläufe einer Wertschöpfung revolutionieren könnte. Produkte werden dadurch in die Lage versetzt, dem Produktionssystem ihren aktuellen Standort und den a ­ ktuellen Stand ihrer Fertigstellung und ggf. mögliche Produktionsfehler mitzuteilen. S ­ olche Produktionsanlagen können extrem flexibel arbeiten und je nach Konzeption selbst die „Losgrösse eins“ wirtschaftlich fertigen – ein Aspekt, der in Zeiten zuneh-

Entrepreneur 01/2016

mender Individualisierung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Ein Praxisbeispiel findet sich im Werk von Bosch Rexroth in Homburg an der Saar. Auf seiner Fertigungslinie montiert das Unternehmen über 200 verschiedene Hydraulikventile aus mehr als 2.000 Komponenten. Die Werkstücke sind mit RFID-Funkchips versehen, die ihren „Steckbrief“ enthalten. Anhand dieser Information erkennen die intelligenten Stationen der Linie, wie das fertige Produkt zusammengestellt sein muss und welche Arbeitsschritte dazu notwendig sind. Displays zeigen den Mitarbeitern die zugehörigen Arbeitsanweisungen für die jeweils zu bearbeitende Variante. Im Extremfall kann jedes Ventil anders ausfallen. Weitere Megatrends: „Big Data Analytics“ und „Cloud“ Weiterhin auf den vorderen Plätzen der nach ihrer Bedeutung eingeschätzten Trends ­befinden sich „Big Data Analytics“ (63 Prozent) und „Cloud“ (61 Prozent). „Big Data Analytics“ steht für die Analyse grosser Datenmengen unterschiedlicher Art, die neue Korrelationen und Informationen ermöglichen, mit denen sich Wettbewerbsvorteile erzielen lassen. Schon heute werden auf Unternehmensebene zahlreiche Datenmengen in Produktionsprozessen (z. B. über Sensoren zu Temperaturen, Förderströmen oder Energiedaten) gesammelt. Mittels hochkomplexer Analysewerkzeuge lassen sich diese Daten in Echtzeit zu ihrer Erhebung und Erfassung nutzen, so dass zum Beispiel Korrekturen an der Produktion noch im laufenden Prozess vorgenommen werden

können. Tauchen zum Beispiel zwei gleiche Fehler in kurzer Folge auf, kann das System das zuständige Werkzeug überprüfen und bei Bedarf austauschen lassen. „Big Data Analytics“ hängt eng mit dem Thema „Cloud“ zusammen. Dieser externe vir­ tuelle Speicher, ein Pool nicht lokalisierbarer und von überall nutzbarer Speicherressourcen, bietet sich als schnelle und sichere Speichervariante gerade für riesige Datenmengen an. Dort könnten auch Analyse-Tools ­extern vorgehalten werden, zumal Big Data Analytics noch nicht zu den Kernkompetenzen produzierender Unternehmen gehört. Das könnte sich in dem Moment ändern, in dem die Auswertung von „Big Data“ dem auswertenden Unternehmen detaillierte ­Informationen über das Anwendungs- und Nutzungsverhalten der Endnutzer verschafft. Der „Herr über die Daten“ könnte im Zuge der weiteren Digitalisierung und Vernetzung der verschiedenen Bereiche einer Wertschöpfung hin zum „Internet der Dinge“ ­möglicherweise Dienstleistungen anbieten, bei denen der Hersteller einer Maschine oder einer sonstigen Hardware komplett verdrängt wird. Ein mögliches Beispiel stammt aus der Landwirtschaft, wo jahrzehntelang die Maschinenanbieter wichtige Ansprechpartner für die Landwirte waren. In nicht allzu ferner Zukunft könnten Anbieter mit den notwendigen Datenanalysen und daraus abgeleiteten Empfehlungen zu Wetter, optimaler Menge Saatgut, Dünger, günstigem Ausbringungszeitpunkt und geeigneten Maschinen die Landwirte für sich gewinnen und Komplettpakete anbieten – zu denen auch die Landmaschinen gehören. Die Lieferanten der

Grafik 3: Meistgenannte Hemmnisse für Industrie 4.0 sind Investitionsbedarf und Fachkräftemangel Gesamt

Konsumgüter

Elektrotechnik

Automobilbau

Maschinenbau

Sonstiges

Zu hoher Investitionsbedarf

64 %

70 %

57 %

67 %

60 %

64 %

Zu wenig qualifiziertes Personal

57 %

57 %

58 %

58 %

54 %

57 %

Mangelnde Standards

50 %

49 %

54 %

58 %

60 %

45 %

Sicherheitsbedenken

46 %

42 %

42 %

55 %

52 %

45 %

Unklarer wirtschaftlicher Nutzen

38 %

34 %

40 %

37 %

43 %

37 %

Mangelndes IT-Know-how bei Kunden

37 %

51 %

42 %

39 %

25 %

Unklare Geschäftsmodelle

0 %

19 % 0 %

18 % 0 %

29 % 28 %

0 %

Angaben (gewichtet) in Prozent, Basis: alle befragten Industrieunternehmen (n = 554)

Nutzfahrzeuge gerieten dann in eine B2BBeziehung mit hoher Austauschbarkeit. Strategien für morgen – Auswirkungen auf Geschäftsmodelle Es liegt auf der Hand, dass der Weg zur hoch automatisierten und intelligenten Fabrik auch Veränderungen zahlreicher Geschäftsmodelle mit sich bringen wird. Die Abgrenzungen im direkten Marktumfeld verschieben sich oder weichen zumindest auf, unternehmensinterne Prozesse werden enger mit Prozessen innerhalb des direkten Marktumfelds verzahnt.

Unternehmer sollten analysieren, ob und in welchem Ausmass ihr eigenes Geschäftsmodell von der Entwicklung betroffen sein könnte: • Welchen Einfluss erwarten sie zum Beispiel von den neuen digitalen Anwendungen für die eigene Wertschöpfungskette, für ihr direktes und indirektes Marktumfeld? • Welche technischen Neuerungen werden angeboten? Was ist best-in-class? • Kann das Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben, ohne zumindest Teile der eigenen Wertschöpfung auf Industrie-4.0-Technologien umzustellen? • Kann das Unternehmen sich eine investitionsintensive Umstellung überhaupt leis-

34 % 26 %

32 % 0 %

0 % Quelle: EY

ten oder muss es ein neues Geschäftsfeld finden – möglicherweise bis hin zur teilweisen Einstellung des Betriebs? • Ist der Aufbau der notwendigen Kompetenzen aus eigener Kraft zu schaffen oder sollte die Innovationskraft eines Start-ups eingebunden werden? Der Wettbewerb wird in Zukunft schärfer werden – trotz der Einbettung der Unternehmen in Netzwerke und auch wenn zahlreiche Gemeinschaftsinitiativen von Politik und Wirtschaft eine hochkooperative Industrie- und Unternehmenslandschaft suggerieren. Denn auch unter dem Schirm von Industrie 4.0 bleibt der Markt kompetitiv – und das umso

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56  Expertise  Digitalisierung

Impulse  Engagement  57

Sind wir Helden? Stefan Bley [email protected]

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Prof. Dr. Jochen Vogel [email protected]

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mehr in einem globalen Umfeld. Schliesslich ist die Initiative Industrie 4.0 eine Reaktion auf die Konkurrenz aus China und den USA. Und die zunehmende Datenfülle von Big Data führt zwangsläufig zu immer höherer Transparenz über Unternehmens- und Landesgrenzen hinweg. Nach wie vor wird es also darum gehen, die eigene Firma zu schützen und ihr spezifische Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Jeder Unternehmer muss sich fragen, wie er sich in und gegenüber den für ihn relevanten Netzwerken positioniert. Dem Maschinenbau wird es dabei um die Erweiterung seines Netzwerks gehen. Er könnte zum Beispiel seine Bearbeitungszentren vollständig als Plug-andPlay-Maschinen für betrieb­liche Netzwerke konzipieren, so dass er in K ­ ooperation mit anderen Maschinenbau­ern statt einer einzelnen Maschine komplette Fertigungslinien anbietet. Ein Automobilzulieferer, seit jeher eng mit der Supply Chain seiner Lieferanten und Abnehmer verbunden, wird sich eher fragen, wie er es schafft, seine Produktionsprozesse autonom zu gestalten. Elektronikhersteller hätten die Möglichkeit, die Rolle eines Spezialisten für die Machine-to-Machine-Kommu­ nikation anzunehmen und so eine vollständige Palette kompatibler Sender, Empfänger und Leser für sämtliche Fertigungsprozesse zu offerieren. Einstiegshürden: hohe Kosten und Mangel an qualifiziertem Personal Die befragten Unternehmen sind sich der finanziellen Einstiegshürden für Investitionen in Industrie 4.0 voll bewusst. Nahezu zwei Drittel von ihnen nennen den hohen Investi­ tionsbedarf als primäres Hemmnis. Bei den

Entrepreneur 01/2016

befragten Maschinenbauern sind es noch 60 Prozent. Die zweite Einstiegshürde ist nach Einschätzung von 57 Prozent der Mangel an quali­ fiziertem Personal. In der Tat wird die vernetzte Produktion die Anforderungen an Qualifikation weiter erhöhen. Denn neben Ingenieuren werden speziell qualifizierte Mitarbeiter mit Know-how im Bereich der Hardware ebenso wie in der Software be­ nötigt. Einfache Hilfstätigkeiten für nicht oder gering qualifizierte Arbeitnehmer fallen zunehmend weg. Doch für angelernte Fachkräfte wird genügend Arbeit bleiben, wenn sie sich flexibel auf die digitale Welt einlassen. Beim Automatisierungsspezialisten Festo AG zum Beispiel wird, sobald eine Kundenbestellung vorliegt, ermittelt, wie viele Mitarbeiter mit welchen Qualifikationen bis wann benötigt werden. Die Mitarbeiter werden dann per App angefragt und können auf diesem Weg ab- oder zusagen. Im Zeitalter von Industrie 4.0 werden die Unternehmen die Rolle der Mitarbeiter neu ­de­finieren und zusammen mit der Politik entsprechende Ausbildungsberufe entwickeln müssen: Voraussetzung dafür ist, dass auf den Führungsebenen eine klare Vorstellung über Industrie 4.0 herrscht. Eine Frage mangelnder Standards – und unzureichender Sicherheit Als weitere Einstiegshürde werden von der Hälfte der Befragten (im Maschinenbau 60 Prozent) mangelnde Standards genannt. Deutschland könnte aufgrund der grossen Normenerfahrung seiner Industrie hier eine internationale Führungsrolle übernehmen. Doch 62 Prozent der Befragten rechnen damit,

dass sich kein eindeutiger Standard durchsetzen wird, 22 Prozent verlassen sich darauf, dass Kooperationsinitiativen aus der Industrie hier erfolgreich voranschreiten werden. Sicherheitsbedenken stehen mit 46 Prozent der Nennungen im Übrigen erst an Position vier der „Einstiegshürden“. Ganz anders beurteilen das die Anbieter aus den Bereichen Software, IT-Services und Telekommunikation, sozusagen die Experten für vernetzte Systeme. Gut drei Viertel sehen in Sicherheitsbedenken das grösste Hindernis für die Einführung von Industrie-4.0-Anwendungen. Mangelnde Standards sehen zwei Drittel von ihnen bereits an zweiter Stelle der Hemmnisse. Dass etwas mehr als die Hälfte der Systemanbieter einen Mangel an IT-Know-how bei ihren Kunden als Hindernis monieren, signalisiert akuten Handlungsbedarf. Damit korreliert die Selbsteinschätzung der Industrie, dass es ihr an qualifiziertem Personal mangelt. Keine Frage: Auf dem Weg zur praktischen Umsetzung von Industrie 4.0 sind noch einige Hürden zu nehmen. Dass man – ungeachtet der noch fehlenden Reife des Gesamtsystems – die Aufgabe in betrieblichen Teilbereichen schon anpacken kann, illustrieren einzelne Beispiele. Entscheidend dürfte für jedes Unternehmen die Erarbeitung einer geeigneten Strategie für die eigene Industrie4.0-Zukunft sein – im Sinne eines proaktiven Auslotens der sich bietenden Chancen der Digitalisierung, und zwar über die bestehenden Geschäftsmodelle hinaus.

In vielen Ländern der Erde kämpfen unerschrockene Menschen für den Erhalt von Welterbestätten, die von der Zerstörung durch Kriege, Raubbau, Natur­katastrophen und Fanatismus bedroht sind. „Heritage Heroes“ nennt die Unesco sie. Ein Recherche­team aus Deutschland hat im vergangenen Jahr einige von ihnen an ihren Wirkungsstätten auf­gesucht. Resultat der Expedition in fünf Erdteile ist eine Ausstellung, die viel über bedrohte Natur- und Kulturerbestätten erzählt – aber noch mehr über den wagemutigen Einsatz der couragierten Aktivisten.

M

aría Mercedes Mendoza Chavarría war das alles furchtbar peinlich. Waren diese Leute wirklich nur für sie aus Deutschland nach Peru gekommen, in die Einöde der Ruinenstadt Chan Chan, um sie bei der Arbeit zu fotografieren? Um Himmels willen. Und dann würden die Fotos auch noch in einer Ausstellung zu sehen sein, in Deutschland? „Anfangs mussten wir sie regelrecht überreden, für ein Foto zu posieren“, erzählt die Kölner Fotografin Astrid Piethan, die María Mercedes Mendoza Chavarría im Frühjahr vergangenen Jahres im Auftrag der Deutschen Unesco-Kommission an ihrer Wirkungsstätte in der Ruinenstadt Chan Chan besuchte. Im Interview traute sich die Mutter von acht Kindern kaum, etwas zu sagen. Sie war doch keine Heldin, ach was, sondern nur eine einfache Frau aus dem Volk, die seit Jahren unbeirrt, Tag für Tag, mit Spatel und Wasserspritze gegen die fortschreitende Zerstörung der historischen Bauten durch Regen, Wind und Sturm ankämpft – damit Chan Chan nicht vollends versinkt in einem Meer aus Sand. „Am Anfang war es für mich sehr hart, weil schon so viel zerstört war“, lautete einer der wenigen Sätze, die sie zu Protokoll gab, „aber jetzt bin ich sehr stolz, das Erbe meiner Vorfahren wiederherzustellen.“

Die um 1300 erbaute ehemalige Hauptstadt des Chimú-Reiches, fünf Kilometer westlich der Stadt Trujillo an der peruanischen Pazifikküste gelegen, ist mit Zehntausenden Gebäuden die weltweit grösste gänzlich aus sonnengetrockneten Lehmbausteinen errichtete Stadt. Seit 1986 zählt Chan Chan zum Unesco-Weltkulturerbe – und wurde sofort auf die Liste der akut bedrohten Welterbestätten gesetzt. Das seit Anfang der 80er-Jahre verstärkt auftretende Klimaphänomen El Niño brachte an der peruanischen Küste

Mit einfachem Werkzeug kämpft die 61-jährige Peruanerin María Mercedes Mendoza Chavarría gegen die Zerstörung der weltweit einzigartigen Ruinenstadt Chan Chan durch die Erosion. „Ich bin sehr stolz, das Erbe meiner Vorfahren wiederherzustellen“, sagt sie. (Foto: Astrid Piethan)

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58  Impulse  Engagement

Starkregen, Überschwemmungen und heftige Stürme mit sich, die Chan Chan sukzessive in eine Mondlandschaft verwandelten. Viele der Mauern und kunstvollen Ornamente aus Lehm wurden bereits weggewaschen und abgeschliffen; zurück blieben blankgefräste kahle Lehmfassaden, die sich kaum noch von der Umgebung abheben. Die Rote Liste der Unesco ist mittlerweile auf 48 Natur- und Kulturerbestätten angewachsen, bedroht durch Kriege, ethnische Konflikte, Raubbau, Naturkatastrophen, Besiedlung und religiöse Fanatiker. „Einzigartige Urwälder werden abgeholzt, Naturgebiete sind durch Wilderei, Verschmutzung oder Klimaerwärmung gefährdet“, bilanziert das Unesco-Welterbe-Komitee. „Bewaffnete Konflikte haben verheerende Auswirkungen auf die Zeugnisse jahrtausendealter menschlicher Zivilisation, zerstören kulturelle Identitäten.“

Impulse  Engagement  59

Moscheeruinen auf der Insel Kilwa Kisiwani. Und was wäre von der historischen Altstadt von Dubrovnik übrig geblieben, hätten 1991 nicht 20 Feuerwehrmänner einen Grossteil der durch Granatenbeschuss in Brand gesetzten Bauten unter Lebensgefahr vor der Zerstörung durch die Flammen gerettet?

gemacht haben, „die Kultur- und Naturschätze der Welt vor der Vernichtung zu schützen und dabei sogar Risiken für Leib, Leben, Freiheit oder Karriere auf sich nehmen“. Als Projektleiterinnen gewann man die Kölner Kunsthistorikerin und freie Kuratorin Maria Wildeis sowie die Produktdesignerin und Projektmanagerin Tatjana Krischik. Zweierteams aus Interviewer und Fotograf sollten die Heritage Heroes an ihren Wirkungsstätten besuchen, sie interviewen und fotografieren. In enger Abstimmung mit den Projektpartnern der Unesco und des Auswärtigen Amtes begaben sich die Teams an die Arbeit. Besonders die Expeditionen in abgelegene Regionen – beispielsweise in die tasmanische Wildnis oder in den ugandischen Regenwald – mussten gut vorbereitet werden. Und nicht zuletzt war zu entscheiden, wer überhaupt als Heritage Hero in Betracht kam. Aspiranten gab es viele; „manche drängten

Mitunter gewannen die Expeditionsteams vor Ort einen kleinen Eindruck von den widrigen Bedingungen, unter denen die Heritage Heroes arbeiten. So war die Sicherheitslage ausgesprochen heikel, als der Kölner Fotograf Albrecht Fuchs nach Mali reiste, wo er in Timbuktu drei Kulturwissenschaftler treffen wollte, die 2012 einzigartige Bibliothekssammlungen und Kunstwerke vor der Zerstörung und Plünderung durch islamistische Extremisten in Sicherheit gebracht hatten. Die Gotteskrieger hatten zuvor bereits mehrere zum Welterbe zählende denkmalgeschützte Grabstätten verwüstet. Zum Zeitpunkt von Albrechts Expedition war an ein Durchkommen nach Timbuktu allerdings nicht zu denken. Nachdem es erneute Überfälle islamistischer Milizen gegeben hatte, zerschlug sich auch die vage Hoffnung auf den Transport in einer Militärmaschine der UN. Das Treffen mit den Heritage Heroes kam schliesslich in der vergleichsweise sicheren, 1 000 Kilometer südwestlich von Timbuktu gelegenen Hauptstadt Bamako doch noch zu Stande.

Abdoulaye Boncana (links) rettete im Jahr 2012 Kunstwerke aus dem Sahel-Museum im malischen Gao vor Plünderungen und der Zerstörung durch islamistische Extremisten. Aldiouma Yattara (rechts) mobilisierte die einheimische Bevölkerung, das berühmte, aus dem 15. Jahrhundert stammende Grabmal von Askia zu schützen. (Foto: Albrecht Fuchs)

María Mercedes Mendoza Chavarría ist fast täglich an ihrem Arbeitsplatz in Chan Chan zu finden. Durch einen weiten Umhang gegen die grelle Sonne geschützt, ringt sie mit geradezu stoischer Geduld der Erosion Zentimeter um Zentimeter ab, befreit mit dem Spachtel Gebäudeteile von Sandund Salzschichten, schält Ornamente heraus und sprüht eine schützende Glasur aus destilliertem Wasser und Kaktussaft auf die fragilen Lehmmauern. Die Besucherinnen aus Deutschland, Astrid Piethan und die Berliner Rechercheurin Ruth Wolter, waren beeindruckt von der „Hingabe und Leidenschaft, mit der diese einfache, bodenständige Frau sich ganz in den Dienst dieser Aufgabe gestellt hat“. „Sie braucht niemanden, der ihr sagt, wie wichtig ihre Tätigkeit ist“, sagt Ruth Wolter, die sich mit der 61-Jährigen über ihre Arbeit unterhielt, „sie sieht es ja jeden Tag, wenn sie das Areal betritt.“ Da es an Geld für genügend professionelle Restauratoren mangelt, sind die wenigen Archäologen von Chan Chan auf Unterstützung durch freiwillige Aktivisten aus den umliegenden Dörfern dringend angewiesen. María Mercedes Mendoza Chavarría wiederum gibt die Fertigkeiten, die sie sich im Laufe der Jahre bei den Profis abgeschaut hat, an Frauen ihres Stadtteils weiter – und auch an eine ihrer Töchter, die jetzt ebenfalls fast täglich in Chan Chan im Einsatz ist. Menschen wie sie „nehmen ihre Mitverantwortung als Weltbürger wahr“, lobt die Deutsche Unesco-Kommission. Genau solche Persönlichkeiten, die Unesco prägte für sie den Begriff „Heritage Heroes“, standen im Mittelpunkt einer Ausstellung, die vom 28. Juni bis 8. Juli vergangenen Jahres anlässlich der Konferenz des Welterbe-Komitees in Bonn zu sehen war. Gemeinsam hatten die deutsche Unesco-Kommission und das Auswärtige Amt die Idee entwickelt, einige jener couragierten Menschen vorzustellen, die es sich zur Aufgabe

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Tessei Shiba kämpfte in den 60erund 70er-Jahren erfolgreich für die Rettung des einzigartigen Ökosystems auf der japanischen Insel Yakushima, indem er Universitäten, Medien und Parteien mobilisierte. Einer der ältesten Wälder der Erde war dort durch Abholzung bedroht. (Foto: Michael Schaab)

sich geradezu auf“, erinnert sich Maria Wildeis. Der eine oder andere schied aus, weil man bei allem Engagement doch auch eigennützige Motive sah. So hoffte ein Kandidat, als Heritage Hero sein gerade erschienenes Buch besser promoten zu können, ein anderer wollte mittels der Ausstellung seine politische Karriere vorantreiben. Als Destillat mehrwöchiger Recherchen entstand eine finale Liste mit Welterbe-Aktivisten aus zwölf Staaten und allen fünf Kontinenten. Zu finden ist dort beispielsweise der Biologe und Nashorn-Forscher Rudi Putra, ein engagierter Kämpfer für die durch Rodung, Bergbau und Wilderei bedrohte Tier- und Pflanzenwelt des Gunung-Leuser-Nationalparks auf Sumatra. Mwajuma Mbalawa und Rehema Htibu, zwei Frauen aus Tansania, überzeugten mit ihrem Einsatz für die Erhaltung der aus dem 13. und 14. Jahrhundert stammenden Festungs-, Palast- und

Die Dimension der Herausforderung, mit der die Heritage Heroes sich konfrontiert sehen, wurde den Teams meist erst vor Ort bewusst – im Angesicht einer vom Verfall bedrohten mittelalterlichen Festung, eines Urwaldgebietes in Erwartung der anrückenden Kreissägen oder beim Gespräch mit ehemaligen Wilderern, die zu Wildschützern bekehrt worden waren. „Als wir nach Japan aufbrachen, wussten wir kaum etwas über die Heritage Heroes, die wir dort aufsuchen wollten“, erzählt Maria Wildeis. „Es gab nicht einmal einen Zeitungsartikel über sie.“ Masahary Hyodo und Tessei Shiba, heute beide über 80 Jahre alt, hatten in den 60er- und 70er-Jahren erfolgreich für die Rettung des einzigartigen Ökosystems auf der abgelegenen Insel Yakushima gekämpft. Dort war einer der ältesten Wälder der Erde mit bis zu 3 000-jährigen Yakusugi-Zedern durch Abholzung bedroht. „Ihr jahrzehntelanges Engagement, ihre Leidenschaft und Beharrlichkeit – all das versteht man erst, wenn man vor einem solchen mächtigen Baum steht“, sagt Maria Wildeis. Der Baum ist vermutlich älter als die Geschichte der menschlichen Zivilisation auf dieser Insel. Ihn zu fällen kostet dagegen nur wenige Stunden. „Es ergreift einen ein Gefühl der Ehrfurcht, wenn man dort steht und sich vergegenwärtigt, dass dieser Wald längst nicht mehr existieren würde, wenn nicht zwei Männer vor mehr als 40 Jahren beschlossen hätten, der Zerstörung dieses einmaligen Naturerbes durch den Menschen Einhalt zu gebieten.“

01/2016 Entrepreneur

Impulse  Statement  61

„Bildung gibt Menschen die Kraft, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen.“ Unbeirrbar streitet Jordaniens Königin Rania für Toleranz und die Rechte insbesondere von Frauen und Kindern im arabischen Raum.

Beharrlich setzt sich Königin Rania von Jordanien für sozialen Wandel, Toleranz und die Gleichberechtigung von Frauen in der arabischen Welt ein. Ihr Plädoyer für eine Bildungsoffensive ist gleichzeitig eine klare Kampfansage an die islamistischen Extremisten. Für ihr langjähriges gesellschaftspolitisches Engagement wurde sie kürzlich mit dem renommierten Walther-Rathenau-Preis ausgezeichnet.

„Bildung ist wie ein Titan“ Es war mit Sicherheit einer der klügsten Einwürfe, den die Welt bis dato zum Vordringen des islamistischen Terrorismus vernommen hatte. Woher all die fanatisierten Radikalen und ihre Gefolgschaft kommen? „Sie kommen aus unseren Klassenzimmern, in denen man den Kindern das Denken und das Fragenstellen abgewöhnt hat. Sie kommen aus Gesellschaften, in denen die Hälfte aller jungen Menschen arbeitslos ist.“ Gesagt hat das niemand Geringeres als Jordaniens Königin Rania. Mit ihrer aufrüttelnden Rede, gehalten ungefähr vor Jahresfrist beim Mediengipfel in Abu Dhabi, führte die Monarchin ihr ureigenes Thema, die dringende Notwendigkeit einer Bildungsoffensive in den arabischen Staaten, mit der aktuellen Bedrohung durch den religiösen Fundamentalismus zusammen. Nur wer der jungen Generation Arbeit, Teilhabe und vor allem Bildung vermittelt, so die Botschaft Ranias, bietet ihr eine echte Alternative zu den Verheissungen der Dschihadisten. Religiöse Fanatiker, schloss die Ehefrau des jordanischen Herrschers Abdullah II., könnten nicht mit Waffengewalt besiegt werden. „Es gilt, der Sieger auf dem philosophischen Schlachtfeld zu werden.“ Die denkwürdige Rede hallt bis heute nach – weil sie nicht nur eine aufgeklärte Professorenschaft und elitäre Debattierzirkel erreicht hat, sondern die normalen Leute auf der Strasse. Vor allem über die sozialen Medien hat Rania, die auf Facebook und Twitter jeweils 3,5 Millionen Anhänger hat, ihr Credo verbreitet. Auf Twitter charakterisierte Rania sich einmal als „Mutter und Ehefrau mit einem echt coolen Tagesjob“. Dieser „coole Tagesjob“ dreht sich immer wieder um ein grosses Thema: das Recht auf Bildung und die Gleichstellung von Frauen in den arabischen Gesellschaften. „Bildung ist wie ein Titan“, erklärt die Königin wieder und wieder. „Sie gibt Menschen und insbesondere Frauen die Kraft, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie ist die Voraussetzung für ihre Selbstbestimmung und Selbstentfaltung, für ihre Gesundheit, ihr eigenes Fortkommen und ihr Glück.“ Mit Bildung, so die Königin, lässt sich die Welt bewegen: „Bildung und Erziehung führen Länder und Gesellschaften aus der Armut in den Fortschritt und Wohlstand. Das Fundament dafür liegt in jedem einzelnen Kind, das gelernt hat, zu denken, zu entscheiden und die Welt in eine bessere Richtung zu lenken.“ Hier schliesst sich der Kreis – zwischen den gesellschaftspolitischen Grundüberzeugungen Ranias und der Suche nach Antworten auf den Terror des „Islamischen Staates“.

Das kontinuierliche Engagement der Regentin gegen Ehrenmorde, für Mädchenbildung und für ein besseres Miteinander von Orient und Okzident hat viel Beachtung gefunden – nicht nur bei ihren Followers, die Sätze wie diesen in das Blog der Königin schreiben: „Es ist bewundernswert, mit welcher Kraft Sie sich weltweit für die Rechte der Frauen einsetzen und dafür kämpfen, dass auch sie ihre Träume wahr machen können. Sie sind für alle Frauen ein grosses Vorbild.” Seit der Thronbesteigung ihres Mannes im Jahr 1999 hat sich Ihre Majestät Königin Rania Al Abdullah vom Haschemitischen Königreich Jordanien, so der offizielle Titel der Monarchin, zum Sprachrohr für politische und religiöse Toleranz, für Frieden und Völkerverständigung und insbesondere für die Rechte von Frauen und Kindern gemacht. Sie rief die Madrasati-Initiative (My School Initiative) ins Leben, mit der sie das jordanische Schulsystem verbessern will, engagiert sich in der Jordan River Foundation, die sich um sozial benachteiligte Familien und insbesondere deren Kinder in Jordanien kümmert, und ist eine der treibenden Kräfte der Arab Sustainability Leadership Group, die sich für ein nachhaltiges Denken und Handeln im Nahen Osten starkmacht. Auch international ist die Monarchin bestens vernetzt. So ist sie Mitglied der Clinton Global Initiative und zählt zum Vorstand des World Economic Forum. Im vergangenen September wurde sie mit dem renommierten Walther-Rathenau-Preis für herausragendes aussenpolitisches Engagement ausgezeichnet. Königin Rania habe ihre herausgehobene Stellung dazu genutzt, gesellschaftliche Veränderung zu bewirken, hob Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Laudatio hervor. Sie sei eine wahre „Brückenbauerin“ zwischen Kulturen und Religionen. Stets bewegt sich die bekennende Muslimin stilsicher und authentisch zwischen den verschiedenen Kulturen, egal ob sie mit jordanischen Kindern in deren Schulklasse, mit internationalen Managern in Davos oder mit Michelle Obama im Weissen Haus diskutiert. Den Zeugnissen des Terrors setzt sie entschiedene und bewegende Bilder der Humanität entgegen – etwa wenn sie die Witwe eines jordanischen Kampfpiloten, den die Terroristen des Islamischen Staates bei lebendigem Leib verbrannt hatten, still umarmt.

Die Monarchin Rania von Jordanien wurde 1970 in Kuwait als Tochter eines palästinensischen Arztes geboren. Zusammen mit ihren beiden Geschwistern, der älteren Schwester Dina und dem jüngeren Bruder Magdy, wuchs sie auf der Westseite der Bucht von Kuwait auf. Nach dem Besuch der New English School in Kuwait City schrieb sie sich an der American University in Kairo für Betriebs­ wirtschaftslehre ein, wo sie 1991 ihren Bachelor machte. 1993 heiratete sie Prinz Abdullah von Jordanien. Mit ihm zusammen hat sie vier Kinder.

01/2016 Entrepreneur

Impulse  Evolution  63

Der Fluch der Roten Königin

Ein Schwertschnabelkolibri geht fremd: Während der Vogel auch an anderen Blumen (in diesem Fall eine Engelstrompete) Nektar trinkt, setzen einige Passionsblumen seiner südamerikanischen Heimat in Sachen Bestäubung allein auf ihn.

Im Ausleseprozess der Evolution besteht, wer sich besser anpasst. Das bedeutet durchaus nicht immer Wandel um jeden Preis. Im Laufe der Erdgeschichte setzten viele Lebensformen auf Kontinuität – und fuhren mit dieser Politik der ruhigen Hand auch nicht schlecht.

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Ebatimium ferbefat. Quam. Irte, mande ac in se atuam in restrun cenaturo eo tus res servivi rmius addum abulis erum inte es los mo cae crica voliam oc, diuroraedem diem si senique tato ad iam tatus sen Etra, contem ipte cenaturouste.

anchmal muss man einfach zur richtigen Zeit am richtigen Platz sein. Das wusste auch Marjorie Courtenay-Latimer. 1931, im Alter von nur 24 Jahren, hatte die Tochter eines Bahnhofsvorstehers und angehende Krankenschwester aus East London, Südafrika, eine interessante Stellenausschreibung in der Zeitung entdeckt. Das eben erst gegründete Naturkundemuseum ihrer Heimatstadt suchte einen Kurator für seine noch in den Anfängen steckende Sammlung. Die Tiere und Pflanzen ihrer Heimat waren seit Kindertagen die ganz grosse Leidenschaft der jungen Miss Latimer, also versuchte sie trotz des Fehlens einer formalen Ausbildung ihr Glück – und überzeugte mit ihrem profunden Fachwissen den Museumsvorstand, dass sie die Richtige für den Job war. Zur rechten Zeit am rechten Ort war sie auch sieben Jahre später, am Morgen des 22. Dezember 1938 – in diesem Fall war es einfach ihr Arbeitsplatz im Museum. Die 31-Jährige sass gerade beim Präparieren eines Reptilienfossils, da klingelte das Telefon. Am Apparat einer ihrer gut gepflegten Kontakte: Hendrik Goosen, Kapitän des Fischkutters „Nerine“. Er sei eben von einer Fangfahrt zurückgekehrt und habe einige interessante Fische angelandet – ob sie mal einen Blick darauf werfen wolle? Miss Latimer wollte. Sie nahm ein Taxi zum Hafen, der Rest ist Wissenschaftsgeschichte: „Aus dem Haufen von Fischen ragte eine blaue, rundliche Flosse hervor“, erinnerte sie sich später an den Augenblick, der ihr Leben verändern sollte. „Vorsichtig

entfernte ich den ganzen Schleim und Schlamm und fand darunter den schönsten Fisch, den ich je gesehen hatte. Er war anderthalb Meter lang, in der Färbung blau mit hellen Flecken, und seine harten Schuppen strahlten in einem bezaubernden, silbrig schimmernden Blaugrün. Er hatte vier Flossen, die an Gliedmassen erinnerten, und einen merkwürdigen, gelappten Schwanz. Da lag ein wunderschöner Fisch vor mir – wie auf Porzellan gemalt –, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, welcher Art er angehören könnte.“ Weil das geheimnisvolle Tier nach Stunden an Deck bereits ziemlich müffelte, weigerte sich der Taxifahrer zunächst, den Fund für weitere Untersuchungen zum Museum zu transportieren. Doch die zarte, aber resolute Wissenschaftlerin setzte sich durch. Im Labor erbrachten allerdings auch ihre Fachbücher keinerlei Hinweis auf die Identität des Fischs. Der Vorsitzende des Verwaltungsrats tat ihn als abnormen Zackenbarsch ab und verabschiedete sich in den Feierabend. Verzweifelt wandte sich Courtenay-Latimer in einem Brief an ihren Bekannten J. B. L. Smith, Chemiker und passionierter Fischkundler an der Rhodes University im 160 Kilometer entfernten Grahamstown. Doch Smith war leider nicht am rechten Ort, sondern bereits in den Weihnachtsferien. Er erhielt den Brief erst am 3. Januar 1939. Doch dann schlug er ein wie eine Bombe. „Höchst wichtig. Erhalte Skelett und Kiemen des Fischs“ lautete sein sofort auf den Weg gebrachtes Telegramm. Doch zu diesem Zeitpunkt waren

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„Er hatte vier Flossen, die an Gliedmassen erinnerten, und einen merkwürdig gelappten Schwanz. Da lag ein wunderschöner Fisch vor mir – wie auf Porzellan gemalt –, aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, welcher Art er angehören könnte.“ Marjorie Courtenay-Latimer

die Innereien des seltsamen Lebewesens längst auf dem Müll gelandet: Das Tier war im südafrikanischen Hochsommer rasend schnell in Verwesung übergegangen und das Formalin war knapp. Alles, was Courtenay-Latimer und ein befreundeter Hobby-Tierpräparator hatten retten können, waren seine schuppige Haut und der knochige Kopf. Am Ende reichten Latimers Skizzen des frisch gefangenen Tiers und drei per Eilpost gesendete Schuppen, um Smiths unglaublichen Verdacht auch aus der Ferne zu bestätigen: Bei dem Tier handelte sich um einen Quastenflosser, einen Vertreter einer nur in Form von Fossilien bekannten und für längst ausgestorben gehaltenen uralten Gruppe von Fischen. Ihre nächsten noch lebenden Verwandten sind die Lungenfische der Tropen, mit denen sie die archaische Klasse der Fleischflosser bilden. Seit dem Erdaltertum gehörten Quastenflosser mit vielen Arten zur Stammbesetzung der Urmeer-Fauna, in ihre nähere Verwandtschaft gehörten auch jene amphibienartigen Fische, die vor 380 Millionen Jahren erstmals das Land eroberten und die Vorfahren aller Landwirbeltiere wurden. Ein Erfolgsmodell der Evolution, sollte man denken. Doch vor gut 66 Millionen Jahren verschwanden die Quastenflosser sang- und klanglos aus der fossilen Überlieferung – zeitgleich mit den ebenfalls lange dominierenden Dinosauriern. Aber waren sie wirklich alle von der Erde verschwunden? Nein, in isolierten Lebensräumen in den Tiefen tropischer Meere hatten offenbar ein paar unbeugsame Quastenflosser den Untergang ihrer fleischflossigen Verwandtschaft überlebt und bis heute nicht aufgehört, dem Aussterben Widerstand zu leisten – eine Erkenntnis, die wir der Geistesgegenwart und Unbeirrbarkeit von Marjorie Courtenay-Latimer verdanken. Ihr zu Ehren taufte Smith das Tier auf den wissenschaftlichen Namen Latimeria chalumnae, heute auch bekannt als Komoren-Quastenflosser. Es dauerte 14 Jahre, bis 1952 ein zweites Exemplar an den Haken ging, erst 1987 gelang es dem deutschen Biologen und Tauchpionier Hans Fricke, in mehr als 100 Metern Tiefe unter grossen Felsüberhängen lebende Komoren-Quastenflosser zu filmen und die versteckte Lebensweise der trägen Fischriesen zu dokumentieren. Zehn Jahre später dann sorgte die Entdeckung des Manado-Quastenflossers (Latimeria menadoensis), einer zweiten, nahe verwandten Art, für Furore, der 10 000 Kilometer von seinen afrikanischen Vettern entfernt nördlich der Insel Sulawesi lebt. Was Wissenschaftler wie Smith am meisten an den modernen Quastenflossern verblüffte, war ihr augenscheinlicher Mangel an Modernität: Anatomisch gleichen die beiden heute bekannten

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Fast schon niedlich: Marjorie Courtenay-Latimers (ganz links) erste Skizze ihres Quastenflossers, die sie ihrem Brief an J. B. L. Smith (links unten) beifügte. Trotz aller Anstrengungen und einer hohen Belohnung sollten 14 Jahre vergehen, ehe im Dezember 1952 ein zweites Exemplar an den Haken ging, diesmal bei der Inselgruppe der Komoren. Dem herbeigeeilten Smith (unten, mit Hand am Fisch) gelang es mit Hilfe der südafrikanischen Luftwaffe, das Tier in seine Heimat zu verfrachten, sehr zum Ärger Frankreichs, zu dessen Kolonien die Komoren damals noch gehörten.

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Arten in allen wesentlichen Merkmalen ihrer fossilen Verwandtschaft aus der Zeit der Dinosaurier. „Lebendes Fossil“ nannte schon Charles Darwin solche Tierarten, deren Evolution Äonen lang scheinbar stillstand. Das ist gar nicht so selten: Auch von Ginkgo, Schachtelhalm und Baumfarn, Rüsselspringer, Nautilus und Knochenhecht gibt es uralte Fossilien, die den heute lebenden Arten zum Verwechseln ähnlich sehen. Mit dem „Urzeitkrebs“ Triops, dessen Eier früher dem Gimmick-Magazin „Yps“ beilagen, schaffte es ein lebendes Fossil sogar bis in die Kinderzimmer Deutschlands. Steht dieser zumindest äusserliche Stillstand nicht im Widerspruch zur Darwin’schen Theorie vom „Survival of the Fittest“, dem ewigen Kampf ums Dasein, in dem nur besteht, wer sich anpasst? Oder, wie es der amerikanische Evolutionsbiologe Leigh van Valen ausdrückte: Gilt für biologische Arten nicht das

Viktoriasee

Tanganyikasee

Malawisee

Spielwiese der Evolution: In den grossen Seen des ost­ afrikanischen Grabenbruchs entwickelten sich innerhalb evolutionär kurzer Zeit aus wenigen Vorläufern Hunderte Arten von Buntbarschen. Jede von ihnen hat ihre eigene kleine Nische zum Überleben gefunden – fürs Erste. Denn Forscher staunen, in welchem Tempo die Evo­lution in „Darwins Traumtüm­peln“ noch immer voranschreitet.

Diktum der Roten Königin aus dem Kinderbuchklassiker „Alice hinter den Spiegeln“ von Lewis Caroll: „Hierzulande musst Du so schnell rennen, wie Du kannst, wenn Du am gleichen Fleck bleiben willst“? Als „Red Queen’s race“ hat es van Valens Hypothese längst in die Lehrbücher der Evolution geschafft. Und tatsächlich liefert die Vielfalt des Lebens auf der Erde zahllose Beispiele für den ewigen Wettlauf zwischen konkurrierenden Spezies. Besonders seltsame Blüten hat er im Falle einiger Arten von Passionsblumen aus den Hochlagen der Anden getrieben. Ihr Nektar sitzt am Ende extrem enger, fast zehn Zentimeter langer Blütenkelche und bleibt so für Bienen oder Schmetterlinge unerreichbar. Die Passionsblume hebt sich für ihren einzig wahren Bestäuber auf: den Schwertschnabelkolibri. Mit seinem mehr als die Hälfte seiner Gesamtlänge ausmachenden Schnabel erreicht er den Blütengrund gerade so, allerdings nicht ohne seinen Kopf zwischen den Staubgefässen der Blume mit Pollen einzupudern und damit die nächste Blüte zu bestäuben. Ein unsinnig erscheinender Aufwand auf beiden Seiten. Tatsächlich gehen Forscher davon aus, dass das seltsame Paar aus Blume und Bestäuber seinen Ursprung in wesentlich bescheidener bestückten Vorfahren hat. Längere Schnäbel machten es den Kolibris leichter, an Nektar zu kommen, die Langschnäbel hatten geringfügig mehr Nachkommen und setzten sich nach und nach in der Population durch, so die Theorie. Das aber war für die Bestäubung kurzkelchiger Blüten von Nachteil, was wiederum die Pflanzen mit längeren Blüten begünstigte. Es entspann sich ein für beide Seiten nicht unbedingt vorteilhafter, vermutlich bis heute andauernder evolutionärer Wettlauf darum, wer den Längeren hat. Während die Geschichte von der Blume und dem Kolibri letztlich doch von einer Koevolution zu gegenseitigem Nutzen erzählt, zeugen andere Beispiele von einem Wettrüsten im Kampf ums blanke Überleben. Ob Gepard und Gazelle, Kuckuck und Teichrohrsänger, Malariaerreger und menschliches Immunsystem: Solche evolutionären Rennen enden meist in einem labilen Gleichgewicht der Kräfte, in dem sich keine der beiden Seiten auf ihren Lorbeeren ausruhen kann – die Rote Königin lässt grüssen. Aber nicht nur der klassische Kampf ums Überleben kann in der Evolution zu rasanten Veränderungen führen. Auch sich bietende neue Möglichkeiten befördern einen Schub von Wandel und Diversifikation. Klassisches Beispiel sind die Darwinfinken der Galapagosinseln. Als ihre südamerikanischen Vorfahren vor gut zwei Millionen Jahren durch einen Zufall auf den weitab im Pazifik gelegenen Inseln landeten, fanden sie einen Lebensraum ohne Feinde oder Konkurrenz vor. Allerdings waren auch die Ressourcen knapp, was sie vor neue Herausforderungen stellte. Innerhalb evolutionär kurzer Zeit fächerte sich die Gründerart in die heute bekannten 14 Spezies von Darwinfinken auf. Jede von ihnen hat ihre ganz bestimmte Nische gefunden: Es gibt dicke Körnerfresser mit besonders kräftigen Schnäbeln, schlanke Insektenfresser mit spitzen Schnäbeln und zwei Arten, die mit Hilfe von Kakteenstacheln Maden aus totem Holz pulen – eine Nahrungsquelle, die andernorts Spechte anzapfen. Einzigartig unter Vögeln ist der nur auf den besonders abgelegenen Inseln Wolf und Darwin vorkommende Vampirfink. Er ernährt sich unter anderem vom Blut dort brütender Seevögel, denen er mit seinem spitzen Schnabel kleine Wunden zufügt. Auf diese Weise deckt er auf den wasserlosen Inseln in Dürrezeiten seinen gesamten Flüssigkeitsbedarf. Darwins Finken verblassen vor der Innovationsfreude der Buntbarsche in den ostafrikanischen Grabenseen: Innerhalb weniger zehntausend Jahre entwickelte sich beispielsweise im Viktoriasee aus einer Handvoll Vorläuferarten eine

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unübersehbare Formenvielfalt aus Hunderten von Spezies, die sich wie die Finken auf Galapagos jeweils ihre ganz eigene Nische suchten. Evolutionäre Radiation nennen Biologen eine solche schnelle Ausbreitung und Diversifikation in neue Lebensräume. Doch selbst in solchen Phasen des Umbruchs kommt das Prinzip Kontinuität zum Zuge. Denn auch in der Evolution gilt: Von nichts kommt nichts. Neue Strukturen wie der nussknackende Schnabel des Grossgrundfinken der Galapagosinseln entstehen durch Abwandlung bereits bestehender. So lassen sich die Gliedmassen von Mensch, Pferd, Fledermaus und Vogel trotz extremer äusserer Unterschiede sämtlich auf einen gemeinsamen Grundbauplan zurückführen, der sich bereits bei den Fleischflossern des Urmeeres findet. Und selbst die blutrünstige Ernährungsweise des Vampirfinken hat vermutlich einen Vorläufer in der wesentlich erfreulicheren Angewohnheit mancher Festlandsverwandten, anderen Tieren Parasiten aus Fell und Federn zu picken. Als vermeintliche Krone der Schöpfung sind auch wir Menschen letztlich das Produkt einer massiven Radiation: jener der Säugetiere, die vor 66 Millionen Jahren begann. Bis dahin hatten sich Säugetiere zu Füssen der Dinosaurier aus reptilienähnlichen Vorfahren zu einer wenig bedeutenden Gruppe maus- bis katzengrosser Tiere entwickelt. Dann kam es zur globalen Katastrophe. Forscher diskutieren noch, ob es der Einschlag eines Meteoriten, gigantische Vulkanausbrüche oder eine Kombination aus beidem war – jedenfalls machte sie den Dinosauriern und mit ihnen etwa drei Vierteln aller damals lebenden Tierarten an Land und im Meer den Garaus und markierte das Ende der Kreidezeit. Einige Säuger überlebten und fanden sich nach Jahrmillionen im Schatten der Dinos plötzlich im Rampenlicht der Evolution und auf einer Erde der unbegrenzten Möglichkeiten wieder. Es begann eine Phase der Expansion, in der Säuger die frei gewordenen Nischen neu besetzten und innerhalb erdgeschichtlich kurzer Zeit zu einer nie dagewesenen Formenvielfalt und Dominanz aufliefen. Während all dieser Umwälzungen machten die überlebenden Quastenflosser einfach so weiter, als wäre nichts geschehen – und das erfolgreich bis heute. Innovation um ihrer selbst willen war offenbar ihr Ding nicht. Wozu auch? Die Lebensbedingungen in ihren unterseeischen Höhlen waren vermutlich sehr stabil, Räuber hatten sie angesichts ihrer Grösse und kräftigen Schuppen kaum zu fürchten. Uns Menschen als evolutionär blutjungen Emporkömmlingen mag das reaktionär erscheinen. Doch im Spiel des Lebens ist Fortschritt kein Selbstzweck: Erlaubt ist, was sich bewährt – und sei es auch ein Bauplan aus grauer Vorzeit. Ohnehin sind Äusserlichkeiten nicht alles: In einer 2013 im Wissenschaftsmagazin Nature veröffentlichten Analyse seines Erbgutes zeigte sich, dass Evolution durchaus auch beim Quastenflosser stattfand – wenn auch langsamer als bei vielen anderen Tiergruppen und offenbar eher auf biochemischer Ebene wie in den Molekülen des Immunsystems, über die uns Fossilien naturgemäss keine Auskunft geben können. Ganz ohne Bewegung geht es also selbst für lebende Fossilien nicht, andernfalls hätten sie sich wohl bald in die Masse der ausgestorbenen Arten eingereiht. Schätzungen gehen davon aus, dass 99 Prozent der jemals auf der Erde existenten Arten früher oder später wieder ausstarben, so gesehen sind die sehr grob geschätzt 10 Millionen heute lebenden Tierarten nur eine Momentaufnahme der Evolution. Ob nun Kontinuität oder Wandel der Schlüssel für diese momentan auf der Welle des evolutionären Erfolgs schwimmenden Arten ist, ist die falsche Frage – beide Prinzipien haben ihren Stellenwert. Und wie man heute weiss, legten selbst die grössten Innova-

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toren unter den Tier- und Pflanzengruppen in der Evolutionsgeschichte unter stabilen Bedingungen immer wieder mal eine Pause ein, in der sich über Jahrmillionen wenig tat. Innerhalb dieses Kontinuums zwischen Umbruch und Stillstand gehört der Quastenflosser vielleicht doch eher zu den Postmaterialisten des Tierreichs und hält es mit dem Fischer aus Heinrich Bölls „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“: Darin malt ein übereifriger Tourist dem in seinem Boot dösenden südländischen Fischersmann aus, wie er mit vermehrter Anstrengung zu grossen Reichtümern kommen, sich schliesslich zur Ruhe setzen und dann in aller Ruhe aufs wunderschöne Meer blicken und dösen könnte. „Aber das tue ich ja schon jetzt“, lautet die Antwort. Die könnte uns auch der Quastenflosser geben – wenn er es denn für evolutionär nötig befunden hätte, sprechen zu lernen.

Georg Rüschemeyer Jahrgang 1970, mag Fische. Sein Jugendzimmer war voller Aquarien, in denen auch ostafrikanische Buntbarsche schwammen. Später studierte er Biologie und wurde schliesslich freier Wissenschaftsjournalist, unter anderem für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung sowie die Magazine mare und GEO. Er lebt mit seiner Familie im englischen York.

Schnäbel machen Finken: Darwin selbst erkannte die Bedeutung der nach ihm benannten Finken für die Evolutionstheorie erst Jahre nach seinem Aufenthalt auf den Galapagosinseln. Heute gelten sie als Paradebeispiel für die Artbildung durch unterschiedliche Spezialisierung.

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Am Topf Wie Maxime Ballanfat von der Novae Restauration SA mit gutem Geschmack Erfolge feiert.

Unternehmertum • Ein Unternehmer ist ein Schöpfer • Ein erfolgreiches Unternehmen ist ein Abbild des Unternehmers • Mit seinen Emotionen, seinem Verlangen, seinen Werten • Sich bei jeder Entscheidung davon leiten lassen, auch wenn sich über Jahre Routine einstellt • Mit vollem und dauerhaftem persönlichem Einsatz

Persönlich • Durch Pflichtgefühl und Gewissenhaftigkeit geprägt • Fest in seinen Wurzeln und seiner Geschichte verankert • Vertrauen in die eigenen Werte • Mag Menschen und die Arbeit im Team • Geniesser und Erneuerer

Beziehungen

Das Unternehmen • Das stete Ziel: das Schöne mit dem Guten vereinbaren • Werte schaffen: gesund für den Menschen, nachhaltig für die Umwelt • Bewusste Selbstbegrenzung: Konzentration auf französischsprachige Schweiz, für anspruchsvolle Kunden • Von jeher im Fokus: die Arbeit mit leidenschaftlichen Mitarbeitern

THEMA

Kontinuität

Führung • Entscheidend: Werte und Wertschätzung • Schätze Ausdauer und die Kraft, niemals aufzugeben • A nerkennung auch wirklich zeigen – bewundere echtes Können und Persönlichkeit •N  icht unnahbar werden – sich berühren lassen, wenn einem etwas Gutes widerfährt, gerade von Mitarbeitern • Immer versuchen, gerecht zu sein • Wettbewerb und Herausforderungen – aber mit klaren, verbindlichen Regeln

• Entscheidend für den Unternehmenserfolg • Müssen und sollen lang­ fristig sein • Nach aussen: mit Kunden, Erzeugern, Handwerkern, Zulieferern – am liebsten aus der Region •N  ach innen: zu langjährigen Mitarbeitern •M  öglich durch gemeinsame Werte: Qualität, Vertrauen, Loyalität, Offenheit •M  üssen gepflegt werden: kontinuierliche Weiter­ bildung der Mitarbeiter, Fairness gegenüber Lieferanten

Für eine gegrillte Dorade mit gutem Olivenöl und etwas Salz könne er sterben, sagt er. Und er erinnert sich gut an seine Kindheit in Petit-Bornand, einem kleinen Dorf in Hochsavoyen, wo er Pilze sammelte in den umliegenden Wäldern, Forellen fing in den Flüssen und auf die Jagd ging mit den Erwachsenen. Gut im Gedächtnis sind ihm auch die Mahlzeiten, immer gemeinsam mit der ganzen Familie.

19-jährigen Karriere bei einem Grossgastronom. Aber er wollte heraus aus einer Kochmaschine, in der das Geld oft eine grössere Rolle spielte als der Geschmack, wollte zurück zu den Ursprüngen. Gesunde Qualität zu einem guten Preis, dachte Ballanfat, das muss doch auch in der Gemeinschaftsgastronomie möglich sein. Wenn man sich entsprechend konzentriert.

Gutes Essen muss nicht kompliziert sein, wenn die Zutaten hervorragend sind. Und Essen ist immer auch ein Erlebnis – die entscheidenden Lektionen hat Maxime Ballanfat, Gründer und CEO des Cateringdienstleisters Novae Restauration aus Gland, früh gelernt. Seit der 53-Jährige sein Unternehmen 2003 gründete, hat er sie konsequent angewendet, und so ist es vielleicht kein Wunder, dass er sich eine grosse Portion des Marktes für Gemeinschaftsverpflegung sichern konnte. Gut zwölf Jahre nach dem Beginn ist Novae Restauration heute mit 700 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von zuletzt 114 Millionen Schweizer Franken die Nummer 3 in der Westschweiz. Ballanfat bewirtschaftet über 70 Restaurants, vorrangig in Unternehmen und Schulen, aber auch in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Klassische Cateringdienste runden das Portfolio ab.

So wie er selbst es tut. Von Beginn an setzt Ballanfat auf anspruchsvolle Kunden, die Gutes auch wirklich zu schätzen wissen. Schnell gewinnt er renommierte Banken oder auch Uhrenhersteller für sich, ganz entschieden nur in der Westschweiz, denn kurze Wege sichern Frische und damit Qualität. Dafür knüpft Ballanfat mit der Zeit ein engmaschiges Netz aus rund 150 lokalen Lieferanten, der Frischeanteil bei den Zutaten erreicht bald eine Quote von über 80 Prozent. Der Unternehmer sorgt dafür, dass aus all diesen Dingen wirklich leckeres Essen entsteht – auch durch Kooperationen mit bekannten Köchen. Und weil ihm Nachhaltigkeit wichtig ist, legt er Wert darauf, dass grundsätzlich möglichst wenig weggeworfen wird – so werden bei Novae Restauration ausdrücklich ganze Tiere verarbeitet und nicht nur die Edelteile.

Ein Marktanteil von 20 Prozent – ein grosser Bissen für den gelernten Koch, der das Wagnis einer Neugründung nicht wirklich nötig hatte, nach einer

Man könnte auch sagen: Es wird noch gekocht bei Novae Restauration. Heute profitieren jeden Tag rund 27 000 Menschen davon. Über Geschmack lässt sich eben doch nicht immer streiten.

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Sie sind Sohn eines Bankiers, Ihre Vorfahren waren Regierungsräte, Richter und Militärs. Warum haben Sie sich für den Journalismus entschieden? Seit ich fünf war, stand das fest. Und heute stehe ich durchaus in der familiären Tradition, in meiner Arbeit finden Geld, Geist und Dienst am Gemeinwesen zusammen. Es geht um Betriebswirtschaft, Kreativität und darum, dass das öffentliche Radio und Fernsehen die Chancen des digitalen Zeitalters nutzt.

Roger de Weck

Der Journalist Roger de Weck (geb. 1953 in Freiburg/Fribourg) gehört zu den renommiertesten Medienpersönlichkeiten der Schweiz. Der Sohn eines Bankiers und studierte Volkswirt arbeitete zunächst als Wirtschafts- und Politikredakteur, etwa bei der Weltwoche und der deutschen Wochenzeitung „Die Zeit“, bevor er ab 1991 als Chefredakteur den „TagesAnzeiger“ zu neuer Stärke führte. Nach einem Streit um Sparmassnahmen wechselte de Weck 1997 an die Spitze der „Zeit“, die er 2001 wieder verliess. Bis 2010 arbeitete de Weck als freier Publizist und TV-Moderator der Reihe „Sternstunde Philosophie“ und verschaffte sich Gehör als europafreundlicher Geist, der sich auch bei Migrationsfragen oft gegen die Mehrheitsmeinung stellte. Im Januar 2011 übernahm Roger de Weck den Posten des General­direktors der Schweizerischen Radiound Fernsehgesellschaft (SRG), die er seitdem sowohl inhaltlich als auch finanziell erfolgreich reformiert. Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern, lebt in Zürich und Bern.

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Sie sind in Ihrem Beruf nie einem Streit aus dem Weg gegangen. Inwiefern ist gerade die öffentliche Auseinandersetzung ein Motor für Ihr Wirken? Streit ist blosser Schlagabtausch und deshalb nicht meine Sache. Aber ich debattiere gern. In einer Debatte entfaltet sich die sanfte Macht des besseren Arguments. So erwächst Erkenntnis. Sie sagten einmal, die Tiefpunkte Ihrer Laufbahn seien die eigentlichen Höhepunkte gewesen. Was meinen Sie damit? Dank Niederlagen wurde ich mehr Mensch. Geschichte, Wirtschaft, Integration, die Schweizer Mentalität – Ihre Interessen sind vielfältig. Was ist die Klammer, die sie zusammenhält? Die Politik, denn „Polis“ bedeutet zugleich „Stadt“ und „Gemeinwesen“. Weiss sich ein Gemeinwesen so zu ordnen, dass seine Mitglieder halbwegs zufrieden sind und sich nicht nur für eigene Belange verantwortlich fühlen, herrscht Zivilisation. Es geht immer

Konzept und Redaktion: Ernst & Young AG Maagplatz 1 Postfach, CH-8010 Zürich Telefon +41 58 286 31 11 Telefax +41 58 286 30 04 Bildnachweise:

um den Ausgleich der Interessen. Ohne Kompromisse gibt es lauter Konflikte, die in Gewalt oder Lähmung münden.

Die Medienbranche ist unstet geworden, oft geht es nur noch um Tempo. Ihre Begeisterung ist trotzdem ungebrochen. Was treibt Sie an? In der Medienrevolution ist auch Kontinuität gefragt. Die Kriterien für guten Journalismus ändern sich nicht: Informationen suchen, prüfen, einordnen, gewichten, erklären. Wird eine dieser Aufgaben vernachlässigt, fehlt es an Qualität.

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Bei Ihnen paart sich thematische Vielfalt mit klaren Worten – welchen Werten folgen Sie? Mein Grundwert bleibt die Neugierde, denn schlichte Meinungen zu komplexen Verhältnissen sind zwar angesagt, aber unbrauchbar. Und je älter ich werde, desto vergnügter misstraue ich der eigenen Meinung. Ich setze auf Gespräche mit gescheiten Menschen, das macht meine Meinung nuancierter. Die Auseinandersetzung mit kontroversen Fragen ist immer auch ein Lernprozess. Was war die wichtigste Lektion, die Sie gelernt haben? Dass es keine Sachprobleme gibt. Hinter jedem Problem steht ein Mensch, den es auf dem Lösungsweg mitzunehmen gilt. Rein sachliche Ansätze funktionieren schlecht. Sie waren immer ein Mann des Wortes, ein Denker. Als Generaldirektor der SRG übernehmen Sie nun vor allem Managementaufgaben. Blutet Ihnen nicht das Herz? Nein! Noch nie habe ich so viel nachgedacht wie jetzt als Chef. Und ich führe, indem ich einbringe, was mir der Journalismus beibrachte: Lage analysieren, Herausforderungen auf den Punkt bringen, handfeste Schlüsse ziehen, das Vorgehen abstecken – und kommunizieren, kommunizieren. Trotzdem bedeutet Kontinuität bei Ihnen auch Veränderung. Welche Vorbilder sehen Sie für sich? Ein Vorbild bleibt mein langjähriger Chef bei der „Zeit“ in Hamburg, Helmut Schmidt. Er wurde fast 97, weil er immer etwas weiter dachte, also ziemlich lang ziemlich jung blieb. Mit 62 haben auch Sie noch einige Jahre des Wirkens vor sich. Was wollen Sie noch erreichen? Später, nach meiner Zeit bei der SRG? Gut leben – und nicht zu schlecht schreiben.

S. 36 unten: BBP / EPFL 2014, S. 37 oben: Stefan Kummer, S. 37 Mitte rechts: Archivio di Stato in Venice, S. 37 Mitte links: Campus Biotech / NZZ, S. 37 unten: picture-alliance /  dpa, S. 60: REUTERS / Naser Ayoub, S. 62: Mark Jones /  Minden Pictures / National Geographic Creative, S.  64 / 65: South African Institute for Aquatic Biodiversity, S. 66: www.pisces.at, S. 67: Getty Images / Planet Observer, S. 68: Corbis, S. 69: Susan Middleton, S. 70: Thierry Porchet, S. 72: SRG SSR / Danielle Liniger

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