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Klausurenkurs Osnabrück Klausur Nr. 16xx, Seite 1

Abs. 2 VwGO klagebefugt ist2. Zu beachten ist hier, dass einstweiliger Rechtsschutz letztlich nicht weiterreichen kann, als Hauptsacherechtsschutz.

Lösung Klausur Nr. 16xx Gutachten zur Entscheidung des VG Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes A.

im

Grundsätzlich ist die Möglichkeit einer Rechtsverletzung des Antragsstellers zu bejahen, sofern es sich bei ihm – wie hier der Fall - um den Adressaten eines belastenden VA handelt. Vorliegend ist aber die Besonderheit zu beachten, dass es sich bei der Gemeinde um eine juristische Person des öffentlichen Rechts handelt. Als insofern Grundrechtsverpflichtete kann die Gemeinde sich ihrerseits grundsätzlich nicht auf die Verletzung von Grundrechten durch andere Hoheitsträger, auch nicht auf Art. 14 I GG, berufen, da es an einer grundrechtstypischen Gefährdungslage fehlt. Dies gilt auch dann, wenn das Eigentum gerade nicht der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dient3.

Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs Vorliegend handelt es sich um eine Streitigkeit auf dem Gebiet des öffentlichen Sicherheitsrechts und damit um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. Da auch keine anderweitige Rechtswegzuweisung besteht, ist der Verwaltungsrechtsweg gem. § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet.

B.

Zulässigkeit des Antrags

I.

Statthaftigkeit des Antrags

Bei Hoheitsträgern kann sich ein die Klagebefugnis begründendes subjektives Recht aber aus einfachrechtlichen Rechtspositionen ergeben4.

Es handelt sich um einen Antrag im vorläufigen Rechtsschutz. In Betracht kommt deshalb sowohl ein Verfahren gem. §§ 80 Abs. 5, 80 a VwGO als auch gem. § 123 VwGO. Gem. § 123 Abs. 5 VwGO ist dabei das Verfahren nach §§ 80 Abs. 5, 80a VwGO vorrangig.

Im konkreten Fall kann sich die Gemeinde Wathlingen daher zur Begründung ihrer Antragsbefugnis auf eine mögliche Verletzung des in §§ 903 ff ausgestalteten Eigentumsrechts an ihrem Grundstück berufen. Die Gemeinde ist daher antragsbefugt.

Letzteres ist dann einschlägig, wenn in der Hauptsache eine Anfechtungsklage die richtige Klageart wäre und das Begehren des Antragstellers auf eine Beseitigung eines Sofortvollzuges gerichtet ist1.

Anmerkung: Da die Gemeinde hier nicht aufsichtsrechtlich in ihrer Eigenschaft als Hoheitsträger mit eigenem Wirkungskreis betroffen, sondern polizeirechtlich als Grundstückseigentümerin im fiskalischen Tätigkeitsbereich, kommt es auf eine Abgrenzung eigener / übertragener Wirkungskreis nicht an.

Im vorliegenden Fall wurde eine sicherheitsrechtliche Anordnung, bei der es sich um einen VA i.S.d. § 1 Abs. 1 NVwVfG i. V. m. § 35 VwVfG handelt, für sofort vollziehbar erklärt. Gegen den VA wäre damit in der Hauptsache eine Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1, 1. Alt. VwGO statthaft. Anmerkung: Im Gegensatz zu den meisten Fällen, in denen eine Gemeinde gegen Maßnahmen einer übergeordneten Behörde vorgeht, handelt es sich hier ersichtlich nicht um eine Aufsichtsmaßnahme (sondern um polizeirechtliches Vorgehen), so dass die Streitigkeit, ob es sich bei einer solchen um Verwaltungsakte handelt, hier nicht angesprochen werden muss. Der Antrag der Antragstellerin richtet sich demnach gem. § 80 Abs. 5 S. 1 2. Alt VwGO auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs vom 27. Mai 2004.

Vertretbar wäre es im übrigen wohl auch gewesen, für eine mögliche Rechtsverletzung nicht auf den einfachgesetzlichen Eigentumsschutz, sondern auf das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinde aus Art. 57 NV ab-zustellen und zu argumentieren, dass auch fiskalisches Tätigwerden der Gemeinde davon erfasst sei. III. Rechtsschutzbedürfnis 1.

Das Rechtsschutzbedürfnis könnte bei nicht fristgerechter oder völlig unterbliebener Erhebung einer Anfechtungsklage fehlen, da in diesem Fall eine aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 1 VwGO niemals hergestellt werden konnte.

2

Hemmer/Wüst/Christensen, Verwaltungsrecht III, Rd. 136. BverfGE 61, 80, 108. Kopp/Schenke, VwGO, § 42, Rn. 127; NVwZ-RR 1990, 128, 129.

II. Antragsbefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO analog Auch ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist nur zulässig, sofern die Antragsstellerin analog § 42

3 1

vgl. Hemmer/Wüst/Christensen, Verwaltungsrecht III, Rd. 73 ff, 130

4

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Juristisches Repetitorium hemmer Gegen den Bescheid des Landkreises Celle vom 30. April 2013 wurde jedoch bereits am 27. Mai 2013 und damit innerhalb der Monatsfrist des § 74 Abs. 1 VwGO Klage erhoben, so dass dieser Punkt einer Anordnung der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nicht entgegensteht. 2.

Eine vorherige Antragstellung zur Behörde nach § 80 Abs. 4 VwGO ist nach dem eindeutigen Wortlaut des § 80 Abs. 6 VwGO, der ein solches Vorgehen auf die Fälle des § 80 Abs. 2 Nr. 1 beschränkt, nicht erforderlich.

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Gem. § 80 Abs. 2 S. 2 Nr. 4 VwGO ist der Landkreis als die Behörde, die den VA erlassen hat, für die Vollzugsanordnung zuständig. 2.

Verfahren

a)

Die Vollzugsanordnung wurde ordnungsgemäß begründet gem. § 80 Abs. 3 VwGO (vgl. Sachverhalt)5.

b)

Anhörung Fraglich ist, ob vor Erlass einer Vollzugsanordnung eine Anhörung analog § 28 Abs. 1 VwVfG erforderlich ist, wie zum Teil gefordert wird6. Darauf käme es jedoch nicht an, wenn die fehlende Anhörung - etwa analog § 45 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG - noch nachgeholt werden könnte.

Anmerkung: Bei Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO sind die beiden oben genannten Aspekte regelmäßig kurz anzusprechen, vgl. ausführlich hierzu Hemmer/Wüst/Christensen, Verwaltungsrecht III, Rn. 136 ff. Auf den Streit zur Erforderlichkeit der Einlegung eines zulässigen und nicht offensichtlich unbegründeten Widerspruchs war hier nur kurz einzugehen, da ein solcher vorliegt.

Hier kommt der besondere Charakter des Verfahrens gem. § 80 Abs. 5 VwGO zum Tragen, bei dem es sich nach h.M. um eine eigene Ermessensentscheidung des Gerichts handelt. Deshalb spielt das behördliche Verfahren vor Anordnung des Sofortvollzuges in der Regel keine Rolle. Die fehlende Anhörung, in der der Betroffene seine Gegenargumente zu Gehör bringen können soll, kann demnach vor Gericht nachgeholt werden7. Auf das Fehlen kommt es deshalb nicht an.

Achtung: In Niedersachsen hat sich der Streit um die Notwendigkeit der vorherigen Rechtsbehelfseinlegung durch die weitestgehende Abschaffung des Widerspruchsverfahrens in vielen Bereichen erledigt.

IV. Richtiger Antragsgegner Aufgrund des systematischen Zusammenhangs zur Anfechtungsklage ist hier eine analoge Anwendung des § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO angebracht. Danach ist der Landkreis Celle richtiger Antragsgegner.

III. Interessenabwägung In materieller Hinsicht hat eine umfassende Interessenabwägung stattzufinden8. Der Antrag ist hierbei begründet, soweit das Interesse des Betroffenen an der Aussetzung der sofortigen Vollziehung (Suspensivinteresse) gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung (Vollzugsinteresse) überwiegt. Diese Interessenabwägung richtet sich vor allem nach den Erfolgsaussichten in der Hauptsache. Deshalb ist zu prüfen, ob der vom Landkreis erlassene VA vom 30. April 2013 rechtmäßig war.

C. Begründetheit des Antrags Der Antrag gem. § 80 V VwGO gerichtet auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist begründet, soweit die Anordnung der sofortigen Vollziehung formell rechtswidrig ist und/ oder im Rahmen einer umfassenden Interesenabwägung das Aussetzungsinteresse des Bürgers das Vollzugsinteresse der Behörde überwiegt.

Anmerkung: Es entspricht der Praxis, wenn hier nicht noch einmal Zulässigkeitsfragen abgehandelt werden, sondern sofort auf die Rechtmäßigkeit des sofort vollziehbaren VA und damit auf die

In den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 1-3 VwGO tritt die sofortige Vollziehbarkeit kraft Gesetzes ein. Die Begründetheit des Antrags kann sich daher nur aus materiellen Gesichtspunkten ergeben. II. Formelle ordnung

Rechtmäßigkeit

der

Vollzugsan-

5

6

1.

Zuständigkeit

7 8

vgl. zur Bedeutung dieser Begründung BayVGH BayVBl. 1999, 465. Eine Nachholung ist nach h.M. nicht möglich. vgl. Kopp/Schenke, VwGO, § 80 Rd. 82 BayVGH vom 24.1.1992, 8 CS 91.01233 u.a. Hemmer/Wüst/Christensen, Verwaltungsrecht III, Rd. 173. RA Dr. Uwe Schlömer/ RA Christian Pope

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Begründetheit der Klage in der Hauptsache eingegangen wird9. Alle Zulässigkeitspunkte wurden ja bereits angesprochen! Einstweiliger Rechtsschutz kann nicht weiter reichen, als Hauptsacherechtsschutz. 1.

Rechtsgrundlage Nach dem Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes bedarf ein belastender VA einer gesetzlichen Grundlage. Der Landkreis wurde bei der Verfügung an die Gemeinde, ein Gutachten anfertigen zu lassen, zur Gefahrenabwehr tätig. Mangels einschlägiger speziellerer sonderordnungs-rechtlicher Vorschriften kommt als Rechtsgrundlage nur § 11 NdsSOG in Betracht.

2.

Formelle Rechtmäßigkeit, Zuständigkeit

a)

Gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 1, 2 NdsSOG nehmen sowohl die Gemeinden als auch die Landkreise als allgemeine Verwaltungsbehörden Aufgaben der Gefahrenabwehr wahr. § 101 Abs. 2 NdsSOG konkretisiert diese Aufgabenzuweisung aber dahin, dass grundsätzlich die Gemeinden für die Gefahrenabwehr zuständig sind. Daher könnte der Landkreis hier schon gar nicht zuständig gewesen sein. Vorliegend soll die Gemeinde aber gerade als Störerin in Anspruch genommen werden. Ein eigenes Tätigwerden gegen sich selbst kommt daher nicht in Betracht, zumal das materielle Ordnungsrecht nicht unmittelbar zwischen Störer (also der Gemeinde) und Gestörtem (also Stefan Stoffel) gilt. Daher muß die Zuständigkeit des Landkreises als der übergeordneten Behörde grundsätzlich bejaht werden.

ist. Nach dem sog. Annexgedanken (in seiner formell-rechtlichen Bedeutung) hat jede Verwaltungsstelle den ihr zugewiesenen Aufgabenbereich umfassend und eigenständig durchzuführen. Treten so wie im vorliegenden Fall Gefahren für die öffentliche Sicherheit auf, so stellt sich ihre Bewältigung als Annex des dem Verwaltungs-träger zugewiesenen Kompetenzbereiches dar, mit anderen Worten: Die Gemeinde Wathlingen wäre als Hoheitsträger (und nicht erst infolge des § 101 Abs. 2 NdsSOG) selbst für die Beseitigung der in ihrem Bereich, also auch ihrem Grundstück, auftretenden Gefahren zuständig. Dies hat zugleich zur Folge, dass die an sich zuständige Ordnungsbehörde, also der Landkreis, unzuständig wird. Aus der Sicht des Landkreises bewirkt der Annexgedanke folglich eine Zuständigkeitsbeschränkung10. Allerdings erscheint es angebracht, die Kompetenzbeschränkung in Verbindung mit dem Annexgedanken auf solche Fälle zu beschränken, in denen die hoheitliche Tätigkeit des betroffenen Verwaltungsträgers betroffen ist. Insbesondere wenn der „störende“ Hoheitsträger durch die polizei-rechtlichen Maßnahmen nur im fiskalischen Bereich betroffen ist, erscheint eine Zuständigkeitsbeschränkung anderer Hoheitsträger nicht erforderlich11. Die Maßnahmen des Landkreises richten sich gegen ein unbenutztes Grundstück der Gemeinde. Hoheitliche Aufgaben der Gemeinde werden daher durch die konkrete Verfügung nicht betroffen. Der Annexgedanke schränkt daher die Zuständigkeit des Landkreises als Gefahrenabwehrbehörde nicht ein.

insbesondere

An dieser Stelle hätten Sie die Zuständigkeit des Landkreises mit dem Hinweis auf den eindeutigen Wortlaut des § 102 Abs. 2 NdsSOG auch ablehnen können. Grundsätzlich hätte der Landkreis nämlich nicht polizeirechtlich, sondern aufsichtsrechtlich gegen die Gemeinde vorgehen müssen (näher dazu unten.). Die jeweilige Behörde kann jedoch die Art ihres Vorgehens selbst wählen, wenn ihr mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Bei einer Verneinung der Zuständigkeit des Landkreises hätten Sie in jedem Fall aber entsprechend der Aufgabenstellung die weiteren Fragen hilfsgutachtlich behandeln müssen. b)

Bedenken gegen eine Zuständigkeit des Landkreises könnten sich allerdings daraus ergeben, dass auch die Gemeinde ein Hoheitsträger

9

vgl. Pietzner/Ronellenfitsch, Rd. 34f

Sofern der „störende“ Hoheitsträger in hoheitlichen Tätigkeiten betroffen ist, kann die übergeordnete Behörde zwar nicht mit polizeirechtlichen Mitteln vorgehen, sie kann aber in jedem Fall aufsichtsrechtliche Maßnahmen ergreifen, vgl. §§ 127 ff NGO. c.) Da der Landkreis zuständig ist und bezüglich Verfahren und Form keine Bedenken bestehen, insbesondere die Gemeinde vor Erlass des VA gem. § 1 I NVwVfG i.V.m. § 28 Abs. 1 VwVfG angehört, ist der VA formell rechtmäßig ergangen. 3.

Materielle Rechtmäßigkeit

a)

Als Tatbestandsvoraussetzung setzt § 11 NdsSOG das Vorliegen einer Gefahr i.S.d. § 2 Nr. 1a NdsSOG voraus.

10

dazu und allg. zum Annexgedanken: Hemmer, Verwaltungsrecht Besonderer Teil – Niedersachsen, S. 77 ff. OVG Lüneburg, OVGE 43, 311, 312; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, 9. Aufl., S. 243.

11

Assessorexamen,

§ 57

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Juristisches Repetitorium hemmer Problematisch ist zwar, dass die Sicherheitsbehörde noch gar nicht genau weiß, in welchem Umfang die Felsgruppe sanierungsbedürftig ist. Es handelt sich hier dennoch nicht um einen sog. (bloßen) Gefahrenverdacht im engeren Sinne, bei welchem die grds. Einordnung als Gefahr i.S.d. Generalklausel problematisch ist12. Ein solcher läge nur dann vor, wenn der Sicherheitsbehörde derart gravierende Unsicherheiten bei der Diagnose des Sachverhaltes oder der Prognose des Kausalverlaufes bewusst sind, dass ihr gerade deshalb die Entscheidung über die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts erschwert wird. Ihr ist beim Gefahrenverdacht also (anders als bei der sog. Anscheinsgefahr) bewusst, dass ihr momentanes Wissen aus ihrer Sicht noch nicht ausreicht, um überhaupt einen Schaden mit dem erforderlichen Grad an Wahrscheinlichkeit zu prognostizieren. Beim Gefahrenverdacht ist also zweifelhaft ob überhaupt eine Gefahr vorliegt. Hier ist aber nur der Umfang der Gefahr und nicht auch deren Vorliegen als solches fraglich. Aufgrund der Vorgänge in der Vergangenheit ist klar, daß eine Sanierung erforderlich ist. Nur deren Umfang ist noch streitig. Eine Gefahr liegt damit vor, der Tatbestand der Generalklausel ist insoweit erfüllt. Anmerkung: Eine Gefahr im Rechtssinn stellt beim Gefahrenverdacht nach h.M. nur ein durch Tatsachen erhärteter, sog. begründeter Gefahrenverdacht dar13, so dass dieser quasi zu einer Gefahr mit geringerer Wahrscheinlichkeit wird14. b)

Maßnahme zur Gefahrenabwehr § 11 NdsSOG setzt voraus, dass die Maßnahme getroffen wird, um eine Gefahr abzuwehren. Hier handelt es sich jedoch aufgrund der Unsicherheit hinsichtlich des Umfangs lediglich um eine sog. Gefahrerforschungsmaßnahme (hier in Form der Gefahrbestimmungsmaßnahme). Es soll durch die Erstellung des Gutachtens nicht die Gefahr beseitigt, sondern lediglich deren Umgang geklärt werden. Fraglich ist also, ob eine solche Gefahrerforschungsmaßnahme überhaupt von § 11 NdsSOG getragen werden kann. Zu diesem Problem werden verschiedene Lösungsansätze vertreten.

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aa) Nach einer Ansicht soll ein Gefahrerforschungseingriff stets unzulässig sein15; allenfalls eine Duldungsanordnung soll zulässig sein (d.h. Anordnung, eine behördliche Inanspruchnahme des Grundstückes zu Untersuchungsmaßnahmen zu dulden). Zur Begründung hierfür wird der im Verwaltungsverfahren gemäß § 24 VwVfG geltende Amtsermittlungsgrundsatz herangezogen: Danach habe die Behörde zu ermitteln, ob und in welchem Umfang eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit vorliege. Bei diesen Ermittlungen seien die Beteiligten nur zu den nach § 26 II VwVfG bestimmten Mitwirkungshandlungen verpflichtet. Die Beseitigung der so festgestellten Gefahr unterliege (erst) dann vorrangig dem Verantwortlichen. bb) Hiergegen ist jedoch einzuwenden, dass die Anordnung von Gefahrerforschungsmaßnahmen im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit meist die einzige in Betracht kommende Maßnahme ist. Auf welche Befugnis soll dann aber diese einzige in Betracht kommende Maßnahme gestützt werden? § 26 VwVfG enthält eine so weitreichende Befugnis nicht. Eine solche Befugnis wäre aber u.U. selbst dann nötig, wenn die Behörde selbst ermitteln wollte, etwa um eine Duldungsverfügung durchsetzen zu können. Konsequenz wäre also, dass die Sicherheitsbehörden ihre Aufgabe der effektiven Gefahrenabwehr nicht wirksam erfüllen könnten16. cc) Hauptargument gegen die grundsätzliche Ablehnung der Zulässigkeit eines Gefahrerforschungseingriffes ist aber, dass die vorgenommene strikte Trennung zwischen Maßnahmen der Sachverhaltsermittlung und der Gefahrenabwehr dem (praktischen) Umstand kaum gerecht werden kann, dass die im konkreten Fall vorgenommene Handlung meist gar nicht eindeutig einem dieser Bereiche zugeordnet werden kann. Daher geht die Gegenauffassung davon aus, dass die Gefahr- und Ursachenforschung als notwendige Vorstufe der Gefahrenbeseitigung von der Generalbefugnis mitumfasst ist17. Nach dieser Ansicht wäre die Anordnung hier also insoweit möglich gewesen.

15 12

13 14

Weiß, NVwZ 1997, 737 [739]; nach BayVGH BayVBl. 1997, 406 sollen im Falle des ”Ob” einer Gefahr - wenn also zweifelhaft ist, ob überhaupt eine Gefahr vorliegt allein Amtsermittlungen gem. Art. 24 VwVfG zulässig sein. BVerwGE 39, 190ff. De Wall in JuS 1993, 939 [940] (m.w.N.); vgl. auch Weiß, NVwZ 1997, 737 [743]

16 17

Breuer in Gedächtnisschrift für Martens (1987), S.342; Papier in DVBl 85, 873ff.; VGH Kassel NVwZ 1992, 498; OVG Koblenz NVwZ 1992, 500 f.; OVG Münster NWVBl. 1990, 159. De Wall a.a.O.; OVG Münster DVBl. 1982, 654; BVerwGE 39, 190 [195] VGH Mannheim in DÖV 85, 687; Schink in DVBl 89, 1187; de Wall a.a.O.; VGH Mannheim, VBlBW 1993, 301; NuR 1995, 547 RA Dr. Uwe Schlömer/ RA Christian Pope

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dd) Im Hinblick auf eben diese Abgrenzungsschwierigkeiten vertritt der BayVGH eine vermittelnde Auffassung18: Danach soll die Entscheidung zwischen beiden Vorgehensweisen (selbst ermitteln / Heranziehen eines Dritten) im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde stehen.

sich ein Großteil der absturzgefährdeten Felsformation befindet, und zugleich dessen Eigentümerin. Daher ist sie gem. § 7 Abs. 1 und 2 verantwortlich für die von diesem Grundstück ausgehenden Gefahren. Damit kann ihre Zustandsstörereigenschaft grundsätzlich bejaht werden.

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Bei dieser Entscheidung soll die Behörde berücksichtigen, welche der Maßnahmen für den Betroffenen den geringeren Eingriff bedeutet, ob die Maßnahme leichter durch die Behörde durchzuführen ist und wo der Schwerpunkt der Maßnahme liegt19.

Anmerkung: Eine Besonderheit zur Zustandsstörereigenschaft findet sich in § 4 VI BBodSchG. Danach kann auch ein früherer Eigentümer in Anspruch genommen werden21. Eine beachtenswerte Neuerung in diesem Zusammenhang stellt § 24 II BBodSchG dar, der in Abkehr von der bisherigen BGH-Rspr. einen Ausgleichsanspruch der Sanierungspflichtigen untereinander enthält.

Auch nach dieser Meinung konnte die Maßnahme auf § 11 NdsSOG gestützt werden. Eine Erstellung des Gutachtens durch die Behörde ist im Hinblick auf die mögliche Kostentragungspflicht (vgl. § 1 Abs. 1 NVwKostG) nicht notwendigerweise die für die Gemeinde weniger belastende Maßnahme.

Die Zustandsstörerhaftung könnte aber dadurch ausgeschlossen sein, dass es sich bei dem Felsabbruch um ein Naturereignis handelte.

Die Gemeinde kann ebenso wie der Landkreis einen einschlägigen Sachverständigen mit der Durchführung der Arbeiten beauftragen.

Es ist grundsätzlich darauf zu achten, dass jedenfalls die Zustandshaftung nicht zu einer konturenlosen Billigkeitshaftung für jegliches Ereignis auf einem Grundstück werden darf22.

Unbestritten steht auch fest, dass von der Felsgruppe eine Gefahr ausgeht. Deshalb kann die Erstellung des Gutachten hier als erster Schritt zur Gefahrenabwehr angesehen werden.

In der zivilrechtlichen Rechtsprechung führte dieser Gedanke dazu, dass kein Anspruch des Nachbarn nach § 1004 Abs. 1 BGB besteht, wenn dieser ein Grundstück in der Nachbarschaft einer derartig gefährlichen Stelle hat. Vielmehr soll derjenige, der sich an einer gefährlichen Stelle ansiedelt, dort auch selbst für seinen Schutz sorgen. Es wäre unbillig, vom Grundstückseigentümer umfangreiche Sicherungsmaßnahmen für den neuen Nachbarn zu verlangen. Sollte sich eine Gefahr realisieren, könne dies nicht dem Verantwortungsbereich des 23 Grundstückseigentümers zugerechnet werden .

Zwischenergebnis: § 11 NdsSOG kann infolgedessen als Rechtsgrundlage für die Gefahrerforschungsmaßnahme herangezogen werden20. Anmerkung: Die Problematik des Gefahrerforschungseingriffs ist mittlerweile z.T. spezialgesetzlich geregelt. Im Fall von Altlasten oder sonstigen schädlichen Bodenveränderungen kann die Behörde gemäß § 9 II BBodSchG Untersuchungsanordnungen gegenüber den Sanierungspflichtigen erlassen. Daneben kann die Behörde den Sachverhalt gemäß § 9 I BBodSchG auch selbst ermitteln. c)

Allerdings ist zu beachten, dass im Sicherheitsrecht die schnelle und effektive Gefahrenbeseitigung im Vordergrund stehen muss24. Das öffentliche Sicherheitsrecht kann deshalb nicht zulassen, dass eine durch natürliche Einflüsse entstandene Gefahr unbehoben bleibt, sondern muss im öffentlichen Interesse für ihre Abwehr sorgen. Der Störerbegriff ist deshalb weiter als im Zivilrecht zu fassen, auf eine Verursachung kommt es gerade nicht an. Dies ist der Zustandshaftung

Störerauswahl durch den Landkreis nach §§ 6 ff NdsSOG Die Gemeinde wurde als Störerin herangezogen; daher ist zunächst zu klären, ob sie diese Eigenschaft überhaupt besitzt.

aa) Die Antragstellerin könnte Zustandsstörerin gemäß § 7 NdsSOG sein. Sie ist Inhaberin der tatsächlichen Gewalt über das Grundstück, auf dem 18

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BayVGH in BayVBl 86, 590 [592] BayVGH BayVBl. 1997, 406: Ist das ”Ob” einer Gefahr unklar, muß die Behörde zunächst selbst ermitteln vgl. allgemein zum Problem des Gefahrerforschungseingriffes auch Weiß, NVwZ 1997, 737 ff.; VGH Kassel, DVBl. 1992, 43; OVG Hamburg, NJW 1992, 524

21 22 23

24

Vgl. zu dieser Ausdehnung der Haftung Spieth/Wolfers in NVwZ 1999, 355 (Heft 5) BVerwG DöV 1986, 287 BGH NJW 1985, 1773ff; vgl. auch Köpfer/Kaltenegger, Wen trifft die Pflicht zur Gefahrenbeseitigung?, BayVBl 1992, 260 BayVGH BayVBl 1997, 502 RA Dr. Uwe Schlömer/ RA Christian Pope

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gerade wesensgemäß, andernfalls wäre bereits die Handlungsstörerhaftung zu bejahen25.

cc) Die Eigenschaft der Gemeinde als Hoheitsträger könnte es aber nach dem Annexgedanken ausschließen, dass sie zum Adressaten einer sicherheitsrechtlichen Anordnung gemacht wird. Diese Frage korrespondiert mit dem Problem der Kompetenzbeschränkung des Landkreises aufgrund der Eigenschaft der Gemeinde als Hoheitsträgerin. Bejaht man dort die Zuständigkeit des Landkreises, da die Anordnung die Gemeinde nicht in hoheitlichen Tätigkeiten berührt, so muss man aus demselben Grund konsequenter Weise auch die Störereigenschaft der Gemeinde annehmen Damit besteht grundsätzlich die Möglichkeit der Inanspruchnahme der Gemeinde als Störerin.

Es verbleibt demnach bei der unbegrenzten Haftung des Zustandsstörers. bb) In Betracht kommt aber auch eine Verhaltenshaftung der Gemeinde als Handlungsstörerin nach § 6 Abs. 1 NdsSOG. Verhaltenshaftung bedeutet Verantwortlichkeit für die Verursachung von Gefahren für die öffentliche Sicherheit durch menschliches Verhalten, also durch Tun oder Unterlassen, unabhängig von einem Verschulden26. Ein Unterlassen kann die Verantwortlichkeit dabei aber nur auslösen, wenn es eine Pflicht zum Handeln gab. Eine solche kann für einen Grundstückseigentümer entstehen, wenn von seinem Grundstück eine von ihm un-erwünschte Gefahr ausgeht. Wenn daher von einem höhergelegenen Grundstück Felsabbrüche drohen, dann entsteht die Pflicht für den Inhaber der tatsächlichen Gewalt, die tiefergelegenen Häuser durch Einrichtung von Schutzanlagen vor Steinschlag zu bewahren27. Nach den Sachverhaltsfeststellungen ist mit weiteren Felsabgängen zu rechnen. Dieser Zustand war der Antragstellerin seit mehreren Jahren, spätestens seit den Verhandlungen mit Schlamper infolge der Felsabgänge in den Jahren 2006, 2009 und 2011 bekannt. Zumindest als die Antragstellerin erwogen hatte, gegen Schlamper selbst als Sicherheitsbehörde tätig zu werden, war ihr die Gefahrensituation bewusst. Dadurch entstand die oben beschriebene Handlungspflicht, die vorwerfbar unterlassen wurde28. Die Gemeinde war somit auch Handlungsstörerin gem. § 6 Abs. 1 NdsSOG. Anmerkung: Damit werden allerdings die Grenzen zwischen Handlungs- und Zustandsstörerhaftung verwischt. Auf der Grundlage der zitierten Gerichtsentscheidungen kann jetzt vertreten werden, dass bei einem besonders gefährlichen Zustand, von dem der Grundstückseigentümer weiß, immer sofortige Sicherungsmaßnahmen angebracht sind. Werden diese dann nicht durchgeführt, wird der Zustands- automatisch zum Handlungsstörer.

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26 27 28

BayVGH BayVBl 1996, 437 sowie 1997, 502; OVG Koblenz, NJW 1998, 625 = Life&Law 1998, 258; BVerwG, NJW 1999, 231; Beinhofer/Heimrath, Wen trifft die Pflicht zur Gefahrenbeseitigung bei drohendem Felsrutsch ?, BayVBl 1992, 748ff BayVGH BayVBl 1997, 502 BayVGH BayVBl 1997, 502 sowie BayVGH BayVBl 1996, 437 BayVGH aaO

dd) Eventuell war jedoch die vom Landkreis getroffene Störerauswahl ermessensfehlerhaft. Dies wäre dann der Fall, wenn es zunächst weitere Störer gäbe und es zudem einen zwingenden Grund gäbe, diese vorrangig heranzuziehen. (1) Insoweit kommen zunächst der Grundstücksnachbar, d.h. der Eigentümer der Fl. Nr. 4716, Herr Siegfried Schlamper bzw. sein Sohn als Rechtsnachfolger, in Betracht. Deren Störereigenschaft kann von vornherein aber nur für die vom Grundstück Fl. Nr. 4716 ausgehenden Beeinträchtigungen gelten, nicht aber für Maßnahmen auf dem Grundstück der Gemeinde. Zwar konnte nicht festgestellt werden, von welchem Grundstück der Felsbrocken am 3. Januar 2013 abgestürzt ist, jedoch spielte dies für das sicherheits-rechtliche Tätigwerden letztlich keine Rolle. Entscheidend ist, dass von beiden Grundstücken Gefahren des weiteren Felsabbruchs drohten. Jeder Eigentümer ist für sein Grundstück polizeipflichtig. In bezug auf die vom Grundstück der Gemeinde ausgehenden Gefahren kommt Schlamper daher nicht als Störer in Betracht. (2) Möglicherweise musste aber der geschädigte Grundstückseigentümer Stoffel selbst vorrangig als Störer zur Gefahrenbeseitigung herangezogen werden. (a) Eine Inanspruchnahme als Zustandsstörer kam nicht in Betracht, da Stoffel nicht Eigentümer eines Grundstücks ist, von dem selbst eine Gefahr ausgeht, da die Zustandshaftung voraussetzt, dass die Sache selbst die Gefahrenquelle ist29. (b) Stoffel könnte aber Handlungsstörer nach § 6 Abs. 1 NdsSOG gewesen sein. Die Handlung, die zu 29

Hemmer, Verwaltungsrecht Besonderer Teil – Niedersachsen, S. 104. RA Dr. Uwe Schlömer/ RA Christian Pope

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einer Störung führen konnte, könnte das Errichten von Gebäuden im Gefahrenbereich der Felsformation gewesen sein. Als Handlungsstörer ist jedoch grundsätzlich nur der anzusehen, dessen Verhalten eine Gefahr oder Störung unmittelbar setzt, nur mittelbare Verursachungen scheiden grundsätzlich aus dem Begriff der Gefahrverursachung aus30. Die Gefahr geht hier unmittelbar von der Felsformation aus, sie ist nicht erst durch die Errichtung von Gebäuden entstanden oder erhöht worden. Die Frage nach der bauordnungsrechtlichen Genehmigungsfähigkeit der vom Eigentümer des unterliegenden Grundstücks durchgeführten Baumaßnahmen hat im Hinblick auf die Störereigenschaft der Antragstellerin keine Auswirkungen, weil die Gefahrenquelle unabhängig vom Umfang dieser Bebauung besteht. Die Felsstürze und die Umbaumaßnahmen stehen in keinerlei sachlichem Zusammenhang, sie führen nicht zur Umkehr der Pflicht zur Beseitigung der Gefahrenlage31. Schließlich ist Stoffel auf seinem Grundstück auch dann gefährdet, wenn er sich im Freien befindet. Die Gefahr ist völlig losgelöst von dem Schwarzbau. Dass es sich bei der beschädigten Garage des Stoffel um einen Schwarzbau handelt, könnte also höchstens im Rahmen von Schadensersatz- bzw. Entschädigungsansprüchen des Stoffel relevant werden. (c) Selbst wenn aber eine Störereigenschaft des Stoffel bejaht werden könnte, so ist dabei zu beachten, dass es sich bei der Frage nach der Störerauswahl um eine Ermessensentscheidung handelt, die nur in den engen Grenzen des § 114 VwGO überprüft werden konnte. Fehler, die danach zur Beanstandung der Entscheidung hätten führen können, waren nach dem oben gesagten nicht festzustellen. d.

Da sich nach der summarischen Prüfung keinerlei Erfolgsaussichten für die Klage der Antragstellerin ergaben und die Folgen des Sofortvollzuges für die Antragstellerin nicht unzumutbar sind, ist der Antrag unbegründet.

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Hemmer, Verwaltungsrecht Besonderer Niedersachsen, S. 109. BayVGH BayVBl 1997, 502 [503]

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Teil



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