Helmut Breuer und Maria Weuffen

Vorwort Schulisches Lernen ist sprachliches Lernen. In diesem Buch stehen aus pdagogischer Sicht zwei Aspekte der Sprache des Vorschulkindes und Sch...
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Vorwort

Schulisches Lernen ist sprachliches Lernen. In diesem Buch stehen aus pdagogischer Sicht zwei Aspekte der Sprache des Vorschulkindes und Schulanfngers im Mittelpunkt. Der eine betrifft das Wahrnehmen von Sprache, der andere lautsprachliche Grundfertigkeiten. Das Wissens- und Kommunikationspotenzial eines Kindes, seine intellektuellen Fhigkeiten und seine soziale Kompetenz sind in diesen sprachlichen Grundlagen verwurzelt. Von ihnen hngt der Erfolg beim Lernen im Anfangsunterricht, besonders beim Schreiben- und Lesenlernen maßgeblich ab. Hauptanliegen des Buches ist es, den fr die Entwicklung der Kinder im Vorschulalter und im frhen Schulalter Verantwortlichen zu helfen, Defizite in den genannten sprachlichen Grundlagen rechtzeitig zu erkennen und Frdermglichkeiten aufzuzeigen. Die vorgestellten Orientierungshilfen dienen dazu, das individuelle Sprachwahrnehmungsniveau und das Niveau der Lautsprache bei Kindern zwischen vier und acht Jahren mit altersentsprechenden Leistungen zu vergleichen. Im Ergebnis zahlreicher und umfangreicher Lngsschnittuntersuchungen konnten fr die in diesem Buch dargestellten Verfahren die erforderlichen psychometrischen Gtekriterien sicher erreicht werden (Breuer und Weuffen 1990). In der Regel ist es der zustndige Pdagoge, der die Konsequenzen aus den Diagnosebefunden praktisch zu realisieren hat. Deshalb wurde bei der Entwicklung der Verfahren von den beruflichen Kompetenzen und Mglichkeiten der Pdagogen und Therapeuten ausgegangen. Es geht den Verfassern darum, mit den Diagnosebefunden gleichzeitig mglichst konkrete pdagogische Zugriffsstellen und Mglichkeiten fr eine Frhfrderung aufzuzeigen. Mit dieser Zielstellung wurden die hier angebotenen Screenings als frderdiagnostische Verfahren entwickelt. Die mit ihrer Hilfe gewonnenen Informationen dienen der Entscheidungshilfe fr Pdagogen. »Solche diagnostischen Prozesse spielen sich nicht im Testzimmer des Psychologen ab, sondern sind untrennbar verknpft mit jeder Handlung des Lehrers, Erziehers oder Therapeuten.« (Straßer 1997, S. 14) Der Nutzen einer prophylaktisch-frderdiagnostischen Strategie konnte durch internationale Vergleichsuntersuchungen besttigt werden (u.a. Ruoho und Komonen 1990). Dazu wurden die Verfahren fr Kinder mit anderer Muttersprache adaptiert. Auf diese Weise ließ sich die grundstzliche Bedeutung der 9

ausgewhlten sprachlichen Parameter auch fr andere Sprachen und ihre relative zeitliche Unabhngigkeit nachweisen. Am Zustandekommen dieses Buches waren viele Lehrer, Kindergrtnerinnen, Wissenschaftler, Vertreter von Schulamtsbehrden und technische Mitarbeiter beteiligt. Sie alle haben maßgeblichen Anteil daran, dass so breit angelegte und umfangreiche Untersuchungen kontinuierlich ber viele Jahre hinweg ablaufen und interdisziplinr begleitet werden konnten. Wir danken besonders den Mitgliedern der Forschunggruppe »Prophylaktische Einschrnkungen von Lernschwierigkeiten im Anfangsunterricht«, die von 1975 bis 1990 an der ErnstMoritz-Arndt-Universitt Greifswald gearbeitet hat, ebenso den Fachberaterinnen fr den Anfangsunterricht und Herrn OSTR. H.-F. Rahn vom Schulamt Greifswald. Frau Dr. Waltraud Lehmann-Breuer danken wir fr die Durchsicht des Manuskripts, Pierre und Jan Pan-Farr fr die Hilfe bei der technischen Realisierung des Manuskripts. An Hinweisen, Erfahrungen und kritischen Einwnden sind die Autoren sehr interessiert.

Helmut Breuer und Maria Weuffen Februar 2000

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1. Lernschwierigkeiten im Anfangsunterricht und lautsprachliche Voraussetzungen des Schulanfngers Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknpfen nicht zurecht. (Goethe) Fr einen Schulanfnger und seine Eltern ist es eine große Enttuschung, wenn am Schulanfang die erwarteten Erfolge beim Schreiben- und Lesenlernen ausbleiben, zumal dann, wenn es in der bisherigen Entwicklung des Kindes dafr keinerlei Anzeichen gab. Von unerwarteten Misserfolgen am Beginn ihrer Schullaufbahn sind relativ viele Kinder betroffen (siehe Abb. 2, S. 19). In diesen Fllen bemhen sich die Lehrer und Eltern liebevoll und ausdauernd gemeinsam mit den Kindern, die Lernschwierigkeiten zu berwinden. Bei einigen Kindern gelingt das und die anfnglichen Lernprobleme werden als kurzzeitige Episoden bald vergessen. Doch bei etwa 15% der Schulanfnger werden trotz aller Bemhungen die angestrebten Lernerfolge nicht erreicht. Das belastet zunehmend die gesamte Befindlichkeit der betroffenen Kinder, ihre Lernfreude, Lernaktivitt und Einstellung zur Schule. Wie lassen sich diese unerwarteten, fr den Schulanfnger frustrierenden Situationen berwinden, am besten vermeiden? Diese Frage lsst sich nur beantworten, wenn man davon ausgeht, dass jedes Entwicklungsproblem, auch das der unerwarteten Lernschwierigkeiten am Schulanfang, eine Geschichte hat, also in vorhergehenden Etappen der Entwicklung verwurzelt ist. Darauf zu warten, bis sich die Lernschwierigkeiten deutlich und lange genug zu erkennen geben, ehe man dem Kind konkret hilft, ist pdagogisch nicht zu verantworten. Trotzdem herrscht diese Vorgehensweise gegenwrtig in der pdagogischen Praxis vor. Selbst in beispielhaften Untersuchungen mit beeindruckenden Ergebnissen einer schulischen Frhfrderung und LRSStrategie (Kultusministerium 1998, Ministerium 2002) wird auf die Notwendigkeit und die unersetzbaren entwicklungsfrdernden Mglichkeiten einer vorschulischen Frderung nicht hingewiesen. Es muss der Eindruck entstehen, die Einschrnkungen unerwarteter Lernschwierigkeiten am Schulanfang obliege allein pdagogischen Experten der Schule, als sei der Schreib-Leselernprozess allein ein schulisches Problem, unabhngig von der vorschulischen individuellen Biographie des Kindes. 11

Man muss die Ausgangspunkte, die Wurzeln des Problems kennen und so zu beeinflussen versuchen, dass es erst mglichst nicht zu den Lernschwierigkeiten kommt. Fr einen erfolgreichen Schulstart sind neben der Qualitt der pdagogischen Arbeit des Lehrers vor allem zwei Lernvoraussetzungen entscheidend. Sie betreffen einmal die Einstellung des Kindes zur Schule, seine Lernmotivation und Lernbereitschaft. In dieser Hinsicht kann bei den Schulanfngern insgesamt von guten Voraussetzungen ausgegangen werden. Fast alle freuen sich auf die Schule und wollen gut Lernen. (Tab. 1, S. 17). Eine andere, sehr wesentliche Lernvoraussetzung betrifft die lautsprachlichen Fhigkeiten des ABC-Schtzen. Hier gibt es zwischen den Kindern am Schulanfang enorme Unterschiede (siehe Tab. 19, 20, 21 und 22, S. 189ff.). Das ußert sich u. a. auch darin, dass z. B. Stamm, M. (1998) unter 2711 schweizer Schulneulingen 266 Kinder ermittelte, die in ihren Lese- und/oder Rechenfertigkeiten gegenber dem Lehrplan einen Vorsprung von mindestens einem Jahr hatten. hnliche Tendenzen treten auch in unseren Schulen auf. Das unterstreicht, mit welch außerordentlich großen Unterschieden im Niveau ihrer sprachlichen Lernvoraussetzungen die Schulanfnger in der Schule starten und vor welchen komplizierten pdagogischen Aufgaben die LehrerInnen in den Anfangsklassen stehen. Weil sich schulisches Lernen in erster Linie sprachlich vollzieht, sind diejenigen Kinder im Nachteil, die gegenber ihren Altersgefhrten lautsprachliche Rckstnde haben. Sie beginnen mit einem großen Handicap ihre Schullaufbahn. Das Niveau der Lautsprache formt sich im Ergebnis von physiologischer Reifung und sozial bedingten Anregungen und Aktivitten fr Ttigkeitsinhalte und Sprechen im Vorschulalter aus. Deshalb ist eine prophylaktische, vor- und frhschulische Frderung der lautsprachlichen Lernvoraussetzungen ein entscheidender Ansatz zur Vermeidung bzw. Einschrnkung von Lernschwierigkeiten am Schulanfang. Wenn das Kind beginnt, schreiben und lesen zu lernen, kann es normalerweise bereits gut sprechen. Um das gesprochene bzw. gehrte Wort in ein geschriebenes umzuwandeln, muss das Kind in der Lage sein, die Lautstruktur des Wortes zu analysieren. Ein unverzichtbarer Ausgangspunkt dafr ist ein intaktes phonematisches Gehr. Um die einzelnen Elemente der Lautstruktur zu unterscheiden, ist eine saubere Artikulation erforderlich (Luria 1970, 1982). Sie bildet die motorische Komponente fr die Lautanalyse und besitzt fr den Erfolg beim Schreiben- und Lesenlernen große Bedeutung. Das kommt beim ABC-Schtzen auch darin zum Ausdruck, dass er beim Schreiben und stillen Lesen nicht nur die Augen, Ohren und Hnde arbeiten lsst, sondern dass er dabei auch vor sich hinspricht (Piaget 1969). Gleichzeitig mit der Lautanalyse und der Analyse der Lautfolge muss sich das Kind die graphomotorischen Entsprechungen fr die Laute, also die Buch12

staben aneignen. Nur wenn die Analyse der phonematischen und optischen Ausgangsdaten przise erfolgt, ist eine flssige Synthese mglich, d.h., das Schreiben und Lesen luft immer geschmeidiger und automatisierter ab. Intakte Sprachwahrnehmungen bilden das unersetzbare Fundament fr die Ausformung sowohl der lautsprachlichen als auch der schriftsprachlichen Grundfertigkeiten. Beim Lesen ist die Graphemstruktur in eine Artikulationsstruktur bzw. in eine Phonemstruktur umzuwandeln. Das optische Schriftbild bietet dafr die Orientierung. Zu Problemen beim Schreiben- und Lesenlernen kommt es oft, weil bereits auf der ersten Stufe der Informationsverarbeitung (Radigk 1986), dem Sprachwahrnehmungslernen, die sinnlich wahrnehmbaren Merkmale der Sprache ungenau oder unvollstndig erfasst werden. Darauf aufbauende Analyse- und Syntheseprozesse knnen dann zwangslufig nicht fehlerfrei ablaufen. Dieser Ausgangspunkt fr Schreib- und Leselernschwierigkeiten bleibt in der Lerntherapie oft unbeachtet, weil die Ursachen fast immer nur in Analyse- und Syntheseschwierigkeiten vermutet werden. In der Lerntherapie wird dann der zweite Schritt oft vor dem ersten getan. Dabei wird vermutet, dass das Kind Analyseund Syntheseschwchen durch ein entsprechendes Training bald berwinden wird. Wenn aber die primren Ursachen fr diese Schwchen nicht berwunden werden, knnen Frdererfolge ganz ausbleiben. Neben einem altersentsprechenden Sprachwahrnehmungsniveau sind eine normgerechte Artikulation, ein ausreichender Wortschatz, ein normales Sprachgedchtnis und die Fhigkeit, Gedanken in logisch richtigen Stzen zu formulieren fr die aktive Beteiligung am Unterrichtsgeschehen wichtig. Von diesen lautsprachlichen Fhigkeiten hngt es ab, ob der Lehrer und die Mitschler verstanden werden und wie sich der Schler selbst am Unterricht beteiligen kann. Nur was man sprachlich zu formulieren vermag, wird im Langzeitspeicher des Gedchtnisses bewahrt und kann knftig als Wissen genutzt werden. Wenn im Anfangsunterricht unerwartet Lernschwierigkeiten auftreten, setzt gegenwrtig eine spezielle Frderung der betreffenden Kinder leider immer erst dann ein, wenn sich die Symptome des drohenden Versagens verdichten und ber einen lngeren Zeitraum hinweg unbersehbar zu erkennen geben. Das Kind muss praktisch immer erst in den Brunnen gefallen sein, ehe man ihm aus seiner misslichen Lage herauszuhelfen versucht. Dabei geht viel Zeit verloren. Dieses abwartende Verhalten begnstigt den Verlust der am Schulanfang auch bei diesen Kindern ausgeprgten optimistischen Lernmotivation und widerspricht in fataler Weise der Erkenntnis, dass jedes Entwicklungsereignis – auch das der unerwarteten Lernschwierigkeiten am Schulanfang – eine Vorgeschichte hat, also in vorhergehenden Etappen der Entwicklung verwurzelt ist. Und »… die beste Zeit, ein Problem zu lsen, ist die Zeit vor seiner Entstehung« (R. Freimann). Wenn nur das Problem betrachtet wird, aber nicht seine Ursachen, bleiben alle Versuche es zu lsen, mehr oder weniger vom Zufall abhngig. 13

Die Ablehnung einer gezielten prophylaktischen Frderung noch verborgener, sich erst allmhlich auswirkender Entwicklungsdefizite wird u.a. wie folgt begrndet: Eine gezielte Frderung im Vorschulalter bzw. bald nach Schulbeginn wrde den Kindern die Unbeschwertheit nehmen. Es wird dabei bersehen, dass zu diesem Zeitpunkt dem Kind das Erlebnis des Versagens nicht bewusst ist und dass Frderung natrlich den Charakter eines lustbetonten Spiels haben kann. Frderung will sptere Enttuschungen abwenden und nicht vorverlagern. Ein anderes Argument gegen eine vor- bzw. frhschulische Frderung lautet, sie wrde zur Stigmatisierung der Kinder und ihrer Eltern fhren. Tatschlich geht es einer prophylaktischen Einschrnkung von Lernschwierigkeiten aber darum, die mit dem schulischen Versagen zwangslufig verbundene Stigmatisierung zu vermeiden. Auch die defensive Feststellung, »… vorschulische Einflussnahme (i.S. einer prventiven Frderung, die Verf.) ist aufgrund der Trennung von Kindergarten und Schule durch die geltenden schulischen Gesetze nicht mglich« (Behrndt, Steffen, Becker 1996), widerspricht letztlich den Interessen der vom Schulversagen bedrohten Kinder. Chancen vor allem zur Freisetzung ihrer sprachlichen Entwicklungspotenzen bleiben dadurch ungenutzt. Darauf weist Franke (1997) besonders im Zusammenhang mit der Therapie von Sprachstrungen nachdrcklich hin. Sie bedauert, dass das Thema Prvention bei der Ausbildung von Logopden eher ausnahmsweise eine Rolle spielt. Es ist nicht zu verstehen, dass bei der Durchsetzung des gesetzlich verbrgten Rechts auf einen Kindergartenplatz vorwiegend finanzielle Aspekte diskutiert werden. Die Mglichkeiten, auf diesem Wege knftigen Lernschwchen vorzubeugen, bleiben meist unbeachtet. ber entsprechende neue pdagogische Konzepte wird ebenfalls kaum reflektiert. Obwohl die außergewhnliche Lernfhigkeit der Kinder in den ersten Lebensjahren außer Zweifel steht, lsst man wichtige Abschnitte des Vorschulalters pdagogisch praktisch brachliegen. Verborgene Defizite in der Entwicklung bleiben dadurch unerkannt. In der Schule muss man sich aber mit ihren Folgen auseinander setzen. Nachteile entstehen daraus besonders jenen Kindern, die durch geeignete Anregungen fr Spielinhalte, fr kommunikative Kompetenz usw. ihre Startvoraussetzungen fr die Schule wesentlich verbessern knnten. Eine solche Frderung im Vorschulalter hat absolut nichts mit der Vorverlagerung von Schule in den Kindergarten zu tun. Ihr Sinn ist es, mglichst allen Kindern einen guten Schulstart zu sichern. Diesem Anliegen soll das Buch dienen. Die positiven Auswirkungen einer guten vorschulischen und frhschulischen Betreuung und Frderung auf den weiteren Bildungsweg sind national (Behrndt, Steffen, Becker 1999; Kossow 1996; Hoffmann und Koschay 1996, Ministerium 2002, Therwalt 1991) und international unstrittig und empirisch belegt. Der Anteil von Kindern mit defizitren lautsprachlichen Grundlagen und Grundfertigkeiten zeigt im internationalen Vergleich eine hohe bereinstimmung (Ruoho 1990 a, 1997; Kemenyn-Gyimes 1989). Das hngt damit zusam14

men, dass sich die Reifung der neurophysiologischen Grundlagen der Sprache im Verlaufe der ersten fnf bis sechs Lebensjahre bei allen Kindern insgesamt unabhngig von der jeweiligen Muttersprache im Wechselspiel mit dem sprachlichen Entfaltungsangebot der Umwelt vollzieht (Spitz 2000). Spezifische Eigenarten, wie sie u.a. in intonatorisch-rhythmischen und sprechmotorischen Besonderheiten der jeweiligen Lautsprache oder in optisch-graphomotorischen Nuancen der Schriftsprache zum Ausdruck kommen, zeigen im internationalen Vergleich im Sprachwahrnehmungsprofil fnf- bis sechsjhriger Kinder nur geringfgige tendenzielle Unterschiede. Das von einem Schulanfnger erreichte Sprachwahrnehmungsniveau (s. Abschnitt 2) drckt sich – unabhngig von der jeweiligen Muttersprache – im Erfolg beim Erwerb der schriftsprachlichen Kompetenz deutlich aus. Diese allgemein gltige Beziehung wiederholt sich beim Erwerb einer Fremdsprache in diesem Alter (Ruoho 1990; KemenynGyimes 1989). Nachfolgend werden in Auswertung langjhriger Verlaufsuntersuchungen in Großpopulationen durch die Forschungsgruppe »Prophylaktische Diagnostik« einige Aspekte besprochen, die die Notwendigkeit und die Mglichkeiten prophylaktischer (vorschulischer und frhschulischer) Frderstrategien zur Vermeidung bzw. Einschrnkung unerwarteter Lernschwierigkeiten im Anfangsunterricht belegen. (Behm 1982; Behrndt 1985; Bombowski 1983; Berndt 1984; Breuer/Weuffen 1990; Breuer/Petschaelis 1982; Eder 1976; Feller 1982; Gentes 1988; Große-Thie 1977; Haby 1989; Lehmann 1982; Ruoho 1997; Schaal 1982; Steffen 1985; Thewalt 1991; Wurm-Dinse 1994, Zllner 2002).

1.1 Lernerfolge sind fr den ABC-Schtzen Lebenserfolge Fragt man knftige ABC-Schtzen, ob sie sich auf die Schule freuen oder ob sie lieber noch ein Jahr zu Hause bzw. im Kindergarten bleiben mchten, fllt ihre Antwort fast immer zugunsten der Schule aus. Sie wollen endlich ein Schulkind sein! Dafr nennen sie auch Grnde: »In der Schule lerne ich lesen, schreiben und rechnen, dann bin ich kein kleines Kind mehr und kann schon etwas, was die Großen knnen.« Sie wissen aber auch von lteren Geschwistern, von ihren Eltern, von Spielgefhrten und vom Fernsehen her, dass manche Schler gut, andere weniger gut lernen. Daraus entsteht eine gewisse Unsicherheit, da jeder ein guten Schler sein mchte. Kaum ein Kind rechnet mit grßeren Misserfolgen in der Schule. Auch seine Eltern nicht. Whrend sich fr die Mehrzahl der Kinder die optimistischen Erwartungen an das Lernen in der Schule erfllen, gelingt es einigen nicht, mit dem Gros der Klasse beim Lernen Schritt zu halten. Das wird ihnen bald bewusst. Sie registrieren unterschiedliche Reaktionen der Lehrer. Am meisten jedoch trifft es sie, wenn sie spren, dass sie die Erwartungen ihrer Eltern enttuschen. Auch deshalb kommt es bei Kindern mit unerwarteten Lernschwierigkeiten auf eine ver15

trauensvolle Zusammenarbeit des Lehrers mit den Eltern des Schlers besonders an. Nur unter dieser Voraussetzung gelingt es, dem Kind wirklich zu helfen (Firnhaber 1990). Wenn die Eltern von der Frsorge des Lehrers fr ihr Kind berzeugt sind, werden sie auch gern seine Ratschlge befolgen. Sie untersttzen damit nicht nur die Entwicklung ihres Kindes, sondern auch die Arbeit des Lehrers. (Hinweise zur Zusammenarbeit von Elternhaus und Lehrer s. S. 120 ff.) Die grßten Sorgen hat der Lehrer eigentlich mit jenen Eltern, die der schulischen Entwicklung ihres Kindes gleichgltig gegenberstehen oder die eine Zusammenarbeit mit der Schule und den Lehrern ablehnen. Ihrer Einstellung liegen entweder einseitig verallgemeinerte schlechte Erfahrungen aus der eigenen Schulzeit zugrunde, oder das Bildungsniveau der Eltern reicht nicht aus, um den Nutzen dieser Zusammenarbeit zu erkennen. In einigen Fllen wird das Angebot des Lehrers zur Zusammenarbeit abgelehnt, weil damit eine Einmischung in die Intimsphre der Familie befrchtet wird. Selbstverstndlich erlebt jedes Kind bereits vor Schuleintritt Enttuschungen. Wnsche blieben unerfllt, unangenehme Forderungen mussten befolgt werden, es gab Streit mit Spielgefhrten, es gab Niederlagen oder das Kind hat sich durch Unachtsamkeit Schmerzen zugefhrt. Auch in der Schule gibt es fr alle Schler gelegentlich rger. Diese gelegentlichen unangenehmen Erlebnisse unterscheiden sich aber prinzipiell von permanenten Lernschwierigkeiten im Anfangsunterricht. Whrend erstere mehr oder weniger episodisch auftreten und durch nachfolgende positive Erlebnisse schnell vergessen werden, wirken bestndige schulische Misserfolge frustrierend. In diese Situation geraten in jedem Einschulungsjahrgang fast 15% aller Schler (s. Tab. 2, S. 18). Bei Kindern mit Sinnesschden (Sehschwache und Blinde, Schwerhrige und Gehrlose), Kindern mit einer hochgradig verzgerten Sprachentwicklung oder bei geistig Behinderten sind die Eltern zumeist auf mgliche Lernschwierigkeiten und die Notwendigkeit spezieller Lernhilfen vorbereitet. Ob in einem solchen Fall die Frderung in einer Regelschule oder in einer Sonderschule erfolgen soll, wird von Fall zu Fall sorgfltig zu prfen sein. Die wichtigste Orientierung bei jeder Schullaufbahnentscheidung ist das Wohl des Kindes in Gegenwart und Zukunft. Hier darf nur das fundierte Urteil von Experten den Ausschlag geben. Anders ist die Situation bei jenen Kindern, die vor Schuleintritt unauffllig waren und sich bisher altersentprechend verhielten. Weder in der Sinnesttigkeit noch in intellektueller Hinsicht, weder im Sozialverhalten noch in der Motorik haben sich bei diesen Kindern sptere Lernschwierigkeiten deutlich angekndigt. Fr die Eltern kommt es vllig berraschend, wenn bei ihrem Kind in der Schule pltzlich Lernprobleme auftreten. Fr die Lehrer sind solche Situationen nicht neu, sie sind darauf vorbereitet. Die Eltern aber fragen sich, warum ihr Kind mit den anderen Kindern nicht Schritt halten kann. Dummheit oder Faulheit des Kindes schließen sie aufgrund bisheriger Erfahrungen aus. Andere Ur16

Tab. 1: Emotionale Beziehungen von Schulanfngern (n = 48) gegenber der Schule (Angaben in %)

1. Befragung Schule wird erlebt

2. Befragung

1. Schulwoche Nach dem in der 1. Kl. 1. Schulhalbjahr

3. Befragung

4. Befragung

Ende Klasse 1

1. Schulwoche in der 2. Kl.

97,5

75,0

50,0

80,0

2,5

25,0

30,0

8,0





20,0

12,0

(Nach Breuer/Kasten 1985)

sachen sind ihnen nicht bekannt. Es liegt nahe, dass es deshalb zu ungerechtfertigten Schuldzuweisungen an den Lehrer kommt. Die Eltern argumentieren: Wenn die Entwicklung des Kindes bisher problemlos verlaufen ist, dann knnen die jetzigen Schwierigkeiten nur mit der Schule zusammenhngen. Und die Schule ist fr sie der Lehrer. Diese Auffassung kann zum Ausgangspunkt fr Konflikte zwischen Eltern und Lehrer werden. Aus Untersuchungen zur emotionalen Befindlichkeit von Schlern in den ersten beiden Schuljahren geht hervor, dass ihre Einstellung zum Lernen und zur Schule anfangs eindeutig positiv ist (s. Tab. 1). Sie wird zunchst nicht von den Lernergebnissen beeinflusst. Entscheidend ist, wie sich der Schler vom Lehrer angenommen fhlt. Etwa ab der dritten Klasse, wenn die Lernergebnisse mit Zensuren bewertet und von den Schlern untereinander zunehmend konkurrierend verglichen werden, bestimmt der Lernerfolg immer eindeutiger das schulbezogene Selbstbild (Krause 1990, 1997). Von ihm hngen das Wohlbefinden und die Eigenaktivitt des Kindes beim Lernen ab. Befragungen in zwei Anfngerklassen wenige Tage nach Schuleintritt, dann ein halbes Jahr spter und (in der Frage abgewandelt) einige Tage nach Beginn des zweiten Schuljahres besttigen dies. Die Kinder wurden von einer ihnen vertrauten Person gefragt, wo es ihnen besser gefllt, im Kindergarten oder in der Schule, in der ersten oder zweiten Klasse. Alle befragten Kinder hatten einen Kindergarten besucht, sie sprachen von ihren Erzieherinnen mit sprbarer Zuneigung. Warum dennoch diese eindeutige Entscheidung fr die Schule? Darin zeigt sich ihre Vorfreude auf das Lesen-, Schreiben- und Rechnenlernen und den damit verbundenen neuen Sozialstatus. Die Schule hat fr alle Kinder zu diesem Zeitpunkt etwas Faszinierendes. Mit ihrer Entscheidung lehnen sie den Kindergarten nicht ab. Sie ist eindeutig als Seismograph fr die durch Kindergarten und Elternhaus erfolgte positive Einstimmung der Kinder auf die Schule zu werten. So wie sich ein Vorschulkind darauf freut, ein Schulkind zu werden, freut sich der Schulabgnger auf seine 17

Berufsausbildung, der Abiturient auf das Studium, der Student auf die berufliche Bewhrung. Dieses Zukunftsstreben ist ein großer Vorzug, ein Wesensmerkmal der Jugend. Daraus entsteht die Bereitschaft, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Im Unterschied zur ersten entscheiden sich bei der dritten Befragung am Ende der ersten Klasse deutlich weniger Kinder fr die Schule. Die einschrnkungslos positive Beziehung ist inzwischen verloren gegangen. Fast jeder dritte Schler ußert ambivalente Gefhle, jeder fnfte ein deutliches Unbehagen. In der vierten Befragung, die kurz nach den großen Schulferien zu Beginn der zweiten Klasse durchgefhrt wurde, sind berraschend 80% aller Schler der Meinung, in der zweiten Klasse wrde es besser sein als in der ersten. Diese optimistische Erwartung nach den großen Schulferien drckt Hoffnung aus und kommt einem Vertrauensvorschuss gleich. Die einen erwarten auch knftig Lernerfolge. Weniger erfolgreiche Schler hoffen in der zweiten Klasse auf bessere Ergebnisse als in der ersten. Einige Schler (12%) haben offensichtlich den Mut schon verloren. Mit diesen unterschiedlichen Befindlichkeiten hat der Lehrer bei seinen Schlern zu rechnen. Befragungen in nachfolgenden Schuljahren zeigen leider eine zunehmende Polarisierung in der Einstellung zur Schule. Whrend erfolgreiche Schler fast immer gern zur Schule gehen, breiten sich bei Schlern mit geringen Lernerfolgen verstrkt Schulunlust, Gleichgltigkeit, Resignation oder auch Aggressivitt aus. Solche Vernderungen im psychischen Erleben der Schler zeigen sich nicht immer in spektakulren Symptomen, doch sie vollziehen sich stetig. Sucht man z.B. bei Schlern, die in den oberen Klassen sitzen bleiben oder andere Lernprobleme haben, anamnestisch nach ersten Anzeichen fr ihre schulischen Schwierigkeiten, so lassen sich bei mehr als 90% von ihnen schon im Anfangsunterricht Signale dafr erkennen. Fast immer gehren diese Schler zu jenen, die bereits beim Schreiben-, Lesen- und Rechnenlernen auf eine besondere Hilfe angewiesen waren. Sie konnten von Klasse zu Klasse oft nur mit Bedenken versetzt werden. Ihre schriftsprachlichen Mngel »schleppten« sie gewissermaßen von einer Klassenstufe zur anderen mit. Das erschwerte es ihnen, sich solide Kenntnisse in den darauf aufbauenden Fchern anzueignen. Jeder Lehrer weiß, dass eine Klassenwiederholung in den oberen Schuljahren meist mehr Konflikte bei den betreffenden Schlern entstehen lsst, als damit gelst werden sollen. Der Schler erlebt in diesem Alter das Sitzenbleiben fast immer als eine soziale Degradierung, die er nur schwer verwinden kann. In unteren Klassen stellt eine Klassenwiederholung in der Regel einen kurzzeitigen Schmerz dar. Er wird berwunden, wenn der Schler dadurch in den Grundfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen sicherer wird. Das wirkt sich langzeitlich positiver aus.

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1.2 Lernschwierigkeiten treten relativ hufig und unerwartet auf – die LRS schon in der Zuckertte? Die Frage, wie viele der eingeschulten Kinder es im Anfangsunterricht unerwartet mit Lernschwierigkeiten zu tun bekommen, ist deshalb von großer Bedeutung, weil damit neben der persnlichen Tragweite auch die gesellschaftliche Dimension dieses Problems berhrt wird. Wrden Lernschwierigkeiten nur selten und sporadisch auftreten, wre eine spezielle Betreuung der Kinder, auch aus finanziellen Grnden, eher mglich. Tatschlich handelt es sich aber nicht um Einzelschicksale. Die Angaben zu ihrer Hufigkeit schwanken zwischen 12 und 25%. Diese Differenzen ergeben sich aus den unterschiedlichen Maßstben und Kriterien sowie daraus, wie lange die Lernprobleme anhalten. Manche Lernschwierigkeiten kann der Lehrer mit Untersttzung der Eltern bald berwinden. Bei anderen dagegen stßt er an die Grenzen seiner beruflichen Kompetenz. Die Schwierigkeiten erweisen sich als hartnckig und bestndig. Tabelle 2 gibt die Ergebnisse von zwei umfangreichen Befragungen wieder, die dazu durchgefhrt wurden. In der Befragung A gaben 925 Lehrer, die in den beiden Anfangsklassen 23 454 Schler unterrichteten, den Anteil von Schlern mit Lernschwierigkeiten an. Es blieb den Lehrern berlassen, an welchen Kriterien sie sich dabei orientierten. In einer anderen Befragung B wurden 40 Lehrer, die 1.059 Schler in den ersten beiden Klassen unterrichteten, aufgefordert den Anteil von Kindern zu nennen, die trotz intensiver Frderung kaum Fortschritte machen. Aus beiden Befragungen geht eindeutig die gesellschaftliche Tragweite der unerwarteten Lernschwierigkeiten im Anfangsunterricht hervor. Wenn man bedenkt, dass in Deutschland jedes Jahr fast 1 Million Kinder eingeschult werden, dann bedeutet das, dass alljhrlich bei weit ber 100 000 Kindern und ihren El-

Tab. 2: Anteil von Kindern mit Schwierigkeiten beim Schreibenund Lesenlernen im Anfangsunterricht Befragung A Von 23 454 Schlern der Klassen 1 und 2 hatten Lernprobleme (unterschiedlicher Intensitt)

26,5%

davon sind Mdchen

39,0%

davon sind Jungen

61,0%

Befragung B Von 1 059 Schlern der Klassen 1 und 2 hatten lang andauernde, intensive Lernprobleme

14,2%

davon sind Mdchen

38,0%

davon sind Jungen

62,0%

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tern mit der Einschulung eine Zeit der Sorgen und Enttuschungen beginnt. Die Auswirkungen dieses Problems werden fast ausschließlich aus der Sicht persnlicher Betroffenheit diskutiert. Die gesellschaftliche Tragweite, schulpolitische und pdagogische Konsequenzen bleiben leider fast unbeachtet. Neben der großen Zahl der betroffenen Schler ist die berreprsentation der Jungen unter ihnen auffllig. Das entspricht tendenziell auch dem Anteil der Jungen in anderen Risikogruppen (Lernbehinderungen, Sprachstrungen, Verhaltensaufflligkeiten usw.). Dafr sind biologische, aber auch soziokulturelle Faktoren verantwortlich, die z.B. aus der geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Rollenzuteilung huslicher Aufgaben bereits im Vorschulalter resultieren. Mdchen werden z.B. im Durchschnitt pro Woche um etwa eine halbe Stunde lnger zur Erledigung kleiner huslicher Pflichten herangezogen. Die dabei erlebten positiven Sanktionen frdern die Bereitschaft, Aufgaben auch bei Schwierigkeiten fleißig und ordentlich zu erledigen. (Schmidt-Kollmer und R. Neubert 1975)

1.3 Lernschwierigkeiten im Anfangsunterricht haben oft eine negative Langzeitwirkung Wenn Schler der Anfangsklassen ihre Lernschwierigkeiten trotz spezieller Frderung nicht wie gewnscht berwinden, belasten diese ihre gesamte Schullaufbahn (s. Tab. 3). Viele Schler erleben Tag fr Tag, Woche fr Woche, von Zeugnis zu Zeugnis unvorstellbare Drangsale durch unerfllte Ansprche, durch Enttuschungen, Misserfolge und damit zusammenhngende Demtigungen. Dieser Teufelskreis nimmt im Anfangsunterricht seinen Ausgang. Er kann sich in den nachfolgenden Schuljahren immer mehr verstrken und treibt viele Kinder ins psychosoziale Abseits, denn nicht jedem Kind stehen in dieser schwierigen Situation verstndnisvolle und engagierte Eltern und Lehrer zur Seite. Die negative Langzeitwirkung von Lernschwierigkeiten am Schulanfang kann außerdem durch gut gemeinte Vertrstungen in Gang gesetzt werden. Auch Fachleute ußern gegenber den Eltern leider hufig die Meinung, die Schwierigkeiten wrden sich bald »auswachsen« und ganz von allein im Verlaufe der Zeit verschwinden. Geduld sei angezeigt. Die Realitt beweist, dass damit falschen Hoffnungen das Wort geredet wird. In vielen Fllen kommt es zur Verschrfung des Konflikts. Tatschlich verbessern sich nmlich nur wenige Schler (etwa 8%) whrend des Anfangsunterrichts in den Grundlagenfchern. 68% der Schler halten ihren Leistungsstand, aber etwa 25% der Schler verschlechtern sich mehr oder minder nach der ers20

Tab. 3: Schulabschlsse nach 10-jhrigem Schulbesuch bei Schlern mit guten bzw. schwachen Lernergebnissen im Anfangsunterricht Lernergebnisse im Anfangsunterricht Abschlussergebnis nach Klasse 10 ausgezeichnet

gut (n = 34)

schwach (n = 56)

8,8%



sehr gut

17,6%

5,4%

gut

58,8%

16,1%

befriedigend

11,8%

21,5%

3,0%

17,9%



39,1%

bestanden nicht bestanden bzw. »Ausreißer«

ten Klasse. Bei ihnen besteht die Gefahr, dass sie ihre anfangs positve Lernmotivation verlieren (Soremba 1995). Besonders deutlich wird die negative Langzeitwirkung eines schwachen Schulstarts, wenn man den Schulerfolg von Schlern in den Anfangsklassen mit ihrem Schulerfolg am Ausgang der Schulzeit vergleicht. In Tabelle 3 werden aus einer Gesamtpopulation von 648 Schlern nach Klasse 10 die Schulabschlsse von Schlern verglichen, die im Anfangsunterricht ausschließlich gute (n = 34) bzw. besonders schwache Lernergebnisse (n = 56) erreicht hatten. Zwischen dem Schulerfolg im Anfangsunterricht und den Ergebnissen der Schullaufbahn liegen also annhernd 10 Jahre. In dieser langen Zeit sind die Kinder den verschiedensten Einflssen ausgesetzt. Das betrifft die Untersttzung und Lernmotivierung durch das Elternhaus, die fachliche und berufsethische Qualifikation ihrer Lehrer, ihre Freundschaften und Rivalitten im Klassenverband, ihre gesundheitliche Stabilitt u.v.a.m. All das kann das Lernverhalten und die Lernergebnisse beeinflussen. Whrend alle Schler mit guten Lernergebnissen im Anfangsunterricht – unabhngig von den genannten individuellen Lernbedingungen – planmßig den Abschluss der Klasse 10 erreichten, 85% von ihnen mit guten und sehr guten Ergebnissen, verloren fast 40% der Schler mit Lernschwierigkeiten am Schulanfang spter den Anschluss an die Schullaufbahn ihrer Altersgefhrten. Sie blieben entweder mindestens einmal sitzen, wechselten in die Schule fr Lernbehinderte, verließen vorzeitig die Schule usw. Dieser Vergleich nach 10 (!) Jahren zeigt, wie folgenschwer insgesamt der Schulstart eines Kindes fr seine gesamte Schullaufbahn ist. Welche praktischen Schlussfolgerungen lassen sich aus diesen zweifelsfreien Zusammenhngen zwischen Schulstart und Schullaufbahn ziehen? Anliegen der Pdagogik muss sein, jedem Kind den bestmglichen Schulstart zu sichern. Da21

zu ist es notwendig, die Voraussetzungen zu kennen, die fr erfolgreiches Lernen am Schulanfang unbedingt bentigt werden. Zwei Ausgangspunkte sind praktisch fr jede Art erfolgreichen Lernens verantwortlich: Einmal kommt es darauf an, dass man lernen will, also auf die Lernmotivation. Zum anderen darauf, dass man lernfhig ist und lernen kann, also auf die Kognition. Was bedeuten Wollen und Knnen fr einen Schulanfnger? Hinsichtlich des Wollens, also der Lernmotivation, erfllen praktisch alle Schulanfnger die notwendigen Voraussetzungen (s. Tab. 1). Die pdagogische Zugriffsstelle fr eine Frderung muss demnach im Knnen des Kindes gesucht werden. Weshalb dabei den sprachlichen Lernvoraussetzungen eine Schlsselstellung zukommt, wird im nchsten Abschnitt behandelt.

1.4 Die Schriftsprache baut auf der Lautsprache auf Es ist sicherlich kein Zufall, dass praktisch alle Kinder der Welt zwischen dem fnften und siebenten Lebensjahr damit beginnen, die schriftliche Form ihrer Muttersprache, also das Lesen und Schreiben zu erlernen. Dieser Zeitpunkt ist deshalb optimal, weil nun die reifungsbedingten neurophysiologischen und sensomotorischen Grundlagen fr das Sprechen ausgeformt sind und fr das Lesenund Schreibenlernen eine sichere Grundlage bilden (Becker und Sovak 1975; Behrndt 1985; Berndt 1984; Feller 1982; Lehmann 1982; Steffen 1985; Grimm 1997; Zimmer 1988 u.a.). Außerdem beherrscht das Kind zu diesem Zeitpunkt die mndliche Form seiner Muttersprache auf der Laut-, Wort- und Satzebene. (s. Abschnitt 3). Je sicherer das Kind am Schulanfang die Lautsprache beherrscht, desto leichter fllt ihm das Schreiben- und Lesenlernen. Kinder mit schwacher lautsprachlicher Kompetenz, mit einer verzgerten Sprachentwicklung oder mit Sprachstrungen bzw. mit leichten, unbemerkten Sinnesschden machen das Gros unter den Kindern mit Lernschwierigkeiten aus. Das trifft auch dann zu, wenn die lautsprachlichen Defizite, etwa das Stammeln, durch sprachtherapeutische Maßnahmen bis zum Schuleintritt symptomatisch berwunden werden konnten. Restdefizite in basalen Funktionen bleiben trotz Sprachtherapie oft bestehen. Beim bergang in die nachfolgende Ebene des hierarchisch gegliederten Systems der Sprache – in die Schriftsprache – wirken sich diese Defizite wieder aus. Im lautsprachlichen Niveau drckt sich der erreichte Entwicklungsstand eines Kindes besonders sensibel aus. Sprachliche Frderung gehrt deshalb zur Basisfrderung bei fast allen Arten einer Behinderung und bei Risikokindern. Nur aus dem Bezug zur jeweiligen Altersnorm knnen sachliche Wertungen des Entwicklungsstandes und Frderkonsequenzen formuliert werden. Weil Eltern 22

und oft auch Fachleuten auf diesem Gebiet der Bezug zur Altersnorm fehlt, kommt es immer wieder zu Fehleinschtzungen. Die Qualitt der Lautsprache eines Schulanfngers drckt sich – vereinfacht dargestellt – in zwei Merkmalen aus. Zum Ersten darin, wie das Kind am Ende des Vorschulalters die Lautsprache und spter die Schriftsprache in ihrer realen Daseinsweise, d.h. in ihren sinnlich-wahrnehmbaren Modalitten zum Zwecke der Kodierung und Dekodierung, zu erfassen und zu imitieren vermag. Diese Fhigkeiten hat der Mensch im Ergebnis seiner Anthropogenese immer weiter vervollkommnet. In der LRS-Diskussion wird leider oft bersehen (von Suchodoletz 1999), dass es sich dabei um ein Ensemble sprachbezogener Wahrnehmungen handelt. Meist werden einseitig visuelle oder phonologisch-auditive Funktionen als Ursachen fr Schreib-Lese-Lernschwierigkeiten betont. Von auditiv-rhythmischen, auditiv-melodischen oder kinstetisch-sprechmotorischen Basisfunktionen ist kaum die Rede. Sprache lsst sich nur nutzen, wenn man die Fhigkeit besitzt, sie umfassend, den historisch entstandenen Konventionen gemß sensomotorisch zu verarbeiten. Dieses Ensemble basaler verbo-sensomotorischer Fhigkeiten wird im Abschnitt 2 in seiner pdagogischen Relevanz unter dem Aspekt der Frherkennung und Frhfrderung behandelt. Das zweite Merkmal des lautsprachlichen Niveaus eines Schulanfngers zeigt sich darin, ob er die lautsprachlichen Grundfertigkeiten altersentsprechend beherrscht. Um Lautsprache in Schriftsprache und umgekehrt umsetzen zu knnen, muss er fhig sein, normgerecht zu artikulieren. Er muss außerdem ber einen altersentsprechenden Wortschatz und ein normales Sprachgedchtnis verfgen sowie ausreichend Satzbildungsregeln beherrschen, um Gedanken verstehen und kommunikationsgerecht formulieren zu knnen. Diese lautsprachlichen Voraussetzungen fr schulisches Lernen, ihre Diagnose und Frderung werden im Abschnitt 3 behandelt.

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