HEINRICH HAHN DIE CHRISTLICHE LIEBE IN DER KATHOLISCHEN KIRCHE

HEINRICH HAHN DIE CHRISTLICHE LIEBE IN DER KATHOLISCHEN KIRCHE CHRISTLICHE SOZIALETHIK IN QUELLENTEXTEN Herausgegeben von Peter Schallenberg HEIN...
Author: Stefan Hofmann
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HEINRICH HAHN DIE CHRISTLICHE LIEBE IN DER KATHOLISCHEN KIRCHE

CHRISTLICHE SOZIALETHIK IN QUELLENTEXTEN

Herausgegeben von Peter Schallenberg

HEINRICH HAHN

DIE CHRISTLICHE LIEBE IN DER KATHOLISCHEN KIRCHE

Herausgegeben von

Johannes Bündgens, Arnd Küppers

2014

Ferdinand Schöningh

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2014 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen Printed in Germany Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn ISBN 978-3-506-77877-2

INHALTSÜBERSICHT

ERZBISCHOF LUDWIG SCHICK Vorwort........................................................................................................

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JOHANNES BÜNDGENS Vorbemerkungen zur Edition und Hinführung zur Lektüre ........................

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ARND KÜPPERS Heinrich Hahn – Vorläufergestalt der katholischen Soziallehre ..................

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HEINRICH HAHN Die christliche Liebe in der katholischen Kirche gegenüber den sittlichen Gebrechen der Menschen aus dem religiösen, sozialen und politischen Gesichtspunkte ...................................................................

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ERZBISCHOF LUDWIG SCHICK

VORWORT

Wie steht es um die Kirche in Deutschland? Die Antworten auf diese Frage gehen erheblich auseinander. Die einen, vor allem in Deutschland selbst, sagen: Mit der Kirche in unserem Land geht es zu Ende; der deutsche Katholizismus befindet sich in einer existenzbedrohenden Krise; er ist ein Auslaufmodell. Dagegen ist für Betrachter von außen die katholische Kirche in Deutschland oft ein bewundertes Vorbild. Die meisten weltkirchlichen Akteure sehen in uns einen starken Wunschpartner. Das hat mit unserer Stellung und unserem Wirken in der Gesellschaft zu tun, konkret mit dem exzellenten Ruf unserer katholischen Hilfswerke, deren Aktionsradius in alle Regionen der Weltkirche reicht. Zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung besteht also eine große Diskrepanz, mit der wir leben müssen. Beide Seiten haben recht. Beklagenswert ist, dass die Kirche in Deutschland ihre missionarische Kraft ad intra und ad extra immer noch nicht wiedergefunden hat. Es gab Zeiten, in denen es ganz anders war. Die missionarische Bewegung kam aus der Mitte der Ortskirche, angestoßen von selbstbewussten und mutigen Laien, die genauso gut auch auf den Gebieten der Caritas und der Weitergabe des Glaubens engagiert waren. Die bescheidenen Ursprünge von missio, des ältesten der kirchlichen Hilfswerke, liegen bei einer Gruppe von Katholiken, die nach der Französischen Revolution und der napoleonischen Säkularisation unter großen Mühsalen eine Neugeburt der Kirche im damaligen Preußen einleiteten. Der Aachener Arzt Heinrich Hahn ist einer der profiliertesten Vertreter dieser Erneuerungsbewegung. In späteren Jahren trat der Mitbegründer von missio als Autor der ersten deutschsprachigen Missionsgeschichte hervor. Zuvor hatte er sich in der Mitte seines Lebens in einer Schrift über seine geistliche Motivation Rechenschaft gegeben. Dieses bisher unveröffentlichte Werk über „die christliche Liebe“ wird mit der vorliegenden Edition erstmals zugänglich gemacht. Es erlaubt bei aller Zeitbedingtheit der Sprache und der Theologie einen wertvollen Einblick in die religiöse Vorstellungswelt eines herausragenden Exponenten der katholischen Erneuerung und der Missionsbewegung. Dank gilt allen, die diese Edition ermöglicht haben: dem Hilfswerk missio, dem Heinrich-Hahn-Verein und dem Bistum Aachen, der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach und dem SchöninghVerlag Paderborn. Die Herausgeber wünschen sich, mit dieser Schrift eine wichtige Quelle zugänglich zu machen und viele Leser für die facettenreiche Persönlichkeit Heinrich Hahn und für die Frühgeschichte der Missionsbewegung in Deutschland zu interessieren.

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ERZBISCHOF LUDWIG SCHICK

Ich wünsche dem Buch eine weite Verbreitung und viele interessierte Leser. Möge es nicht zuletzt der Erneuerung des missionarischen Engagements der Kirche in Deutschland und weltweit dienen. Bamberg, 27. Januar 2014

Dr. Ludwig Schick Erzbischof von Bamberg Vorsitzender der Kommission Weltkirche der Deutschen Bischofskonferenz

JOHANNES BÜNDGENS

VORBEMERKUNGEN ZUR EDITION UND HINFÜHRUNG ZUR LEKTÜRE

I) Autor und Text Der Verfasser Der Aachener Arzt Dr. Heinrich Hahn (1800-1882) begründete den Franziskus-Xaverius-Verein und steht damit direkt am Ursprung von missio, indirekt an dem der anderen katholischen Hilfswerke in Deutschland. Seit dem Jahr 2000 betreibt das Bistum Aachen für ihn den Seligsprechungsprozess. 2003 wurde die diözesane Phase abgeschlossen und 2012 die Positio1 erstellt. Die letzte große Biographie von Heinrich Hahn erschien 1930; eine neue ist in Arbeit. In den letzten Jahren, u.a. im Zusammenhang mit dem 175-jährigen Jubiläum (2007), hat missio die Gestalt des Gründers wieder stärker ins Bewusstsein gerückt. Der 2001 gegründete Heinrich-Hahn-Verein setzt sich die Pflege seines Andenkens und die Verfolgung seiner Anliegen zum Ziel – alles Indizien für ein im 21. Jahrhundert neu erwachtes Interesse an seiner Gestalt.

Hahn als Schriftsteller Heinrich Hahn war nicht nur als Arzt, Kommunal- und Landespolitiker aktiv sowie als Ehrenamtler in vielen katholischen Vereinigungen engagiert, sondern er entfaltete auch eine ansehnliche schriftstellerische Tätigkeit, und das unter großen persönlichen Opfern: Sein Umfeld bezeugt, wie der viel beschäftigte Dr. Hahn eine eiserne Zeitdisziplin praktizierte und jede freie Stunde am Abend, in der Nacht und am frühen Morgen am Schreibtisch zubrachte. Zahlreiche Veröffentlichungen beziehen sich auf die beiden großen Bereiche medizinischer Abhandlungen (angefangen mit der Genter Doktorarbeit von 1823) und missionsgeschichtlicher Werke (viele Artikel in den Jahrbüchern, die fünfbändige Missionsgeschichte, eine Monographie zur China-Mission). Daneben gibt es eine reichhaltige Korrespondenz (z.B. mit Angehörigen der Familie, mit der Lyoner Zentrale des Missionswerks, mit Kirchenvertretern in Deutschland und Europa), die in direkter oder indirekter Bezeugung großen1

Beatificationis et canonizationis servi Dei Henrici Hahn, christifidelis laici et patrisfamilias (1800-1882) positio super vita, virtutibus et fama sanctitatis, Roma 2012.

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teils noch zugänglich ist, auch wenn viele Originaldokumente durch Kriegseinwirkung für immer verloren sind. Es gibt jedoch nur ein einziges Werk Hahns, das uns ausführlicher Einblick in seine religiöse Gedankenwelt vermittelt. Das bisher noch unveröffentlichte Manuskript über die christliche Liebe soll mit dieser Edition einem interessierten Leserkreis zugänglich gemacht werden.

Der Titel Der volle Titel des Werkes „Von der christlichen Liebe in der katholischen Kirche gegenüber den sittlichen Gebrechen der Menschen, aus dem religiösen, sozialen und politischen Gesichtspunkte“ klingt im Stil der Entstehungszeit literarisch gestelzt eher nach einer umständlichen Arbeitsüberschrift, gibt aber der Sache nach präzise nicht nur den Inhalt, sondern auch die Grundthese des Werkes wieder. Die geistesgeschichtliche Leistung Hahns besteht darin, dass er wissenschaftliche Methode, aufgeklärtes Denken und christliche Glaubensüberzeugung in einem visionären Gesellschaftsentwurf verbindet. Er hat seinen Platz im Prozess der Konsolidierung und Transformation der katholischen Kirche, in dem sie erheblich an gesellschaftlicher Relevanz und Gestaltungskraft gewinnt.

Das Schicksal des Manuskripts Im Archiv von missio Aachen findet sich das Manuskript in Form einer losen Sammlung von Heften und Blättern2. Hahns Biograph Baeumker hat darum gewusst und in seinem Lebensbild (1930) gelegentlich darauf angespielt, ohne ihm jedoch besondere Beachtung zu schenken. Die grundlegende Bedeutung des Werkes für die religiöse Gedankenwelt Hahns kommt bei Baeumker leider nicht zur Geltung. Fraglich ist, ob in den folgenden Jahrzehnten überhaupt noch jemand Notiz davon nahm. In den Bemühungen der 1950er und 60er Jahre um eine Seligsprechung Hahns findet sich jedenfalls kein Echo. Das Manuskript findet jedoch Erwähnung in Hahns Kurzbiographie (1973) von Gisbert Kranz3, der noch persönlichen Kontakt zu Franz Baeumker hatte.

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Die Aussage von B. Vosberg, o.c., S. 9 Anm. 24: „Das Original befindet sich im Privatbesitz Dr. Peter Wehrhahns, Aachen.“ ergibt keinen Sinn und beruht wohl auf einer Reihe von Missverständnissen. Kranz, Gisbert, Sie lebten das Christentum, 28 Biographien, Augsburg 1973. – Die HeinrichHahn-Kurzbiographie daraus wurde neu gefasst und erweitert veröffentlicht, in: Kranz, Gisbert, Zehn Nothelfer, Biographien Band III, St. Ottilien 1999. Erwähnung der „Christlichen Liebe“ dort S. 122. In der Fußnote 10 äußert Kranz die optimistische Einschätzung: „Es (das

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Dort las davon der Kölner Kinderarzt Dr. Peter Werhahn, ein Ururenkel Hahns, der damals anfing, sich mit seinem Vorfahren zu befassen und der bis heute viele Erkenntnisse zu Hahn auch über Baeumker hinaus zutage gefördert hat. Auf seine Anregung hin hat sich in den 1990er Jahren im Auftrag von missio Ursula Schleiden-Hecking der mühevollen Arbeit einer Entzifferung und Übertragung unterzogen. Die vorliegende Fassung geht ganz auf ihre unersetzliche buchstabengetreue Transkription zurück. Gelegentliche Konsultationen des Originals durch den Herausgeber ergaben keine Abweichungen und führten auch bei zweifelhaften Lesarten nicht weiter. Möglicherweise hat die Lesbarkeit des Originals (großenteils mit Bleistift geschrieben) in den letzten 20 Jahren noch einmal deutlich gelitten, was den Wert der Rekonstruktion noch einmal steigern würde. Bei Unstimmigkeiten im jetzt vorgelegten Text ist also schwer zu unterscheiden, ob sie auf den Herausgeber, auf die Transkription oder auf den Verfasser selbst zurückgehen. Bei realistischer Betrachtungsweise lässt sich keine der drei möglichen Fehlerquellen ausschließen. Die Textbasis ist aber immer sicher genug, um den gedanklichen Inhalt zweifelsfrei wiederzugeben. Mit „Unstimmigkeiten“ sind z.B. unterschiedliche Schreibweisen zeitgenössischer Namen gemeint, die heute nicht immer eindeutig zu verifizieren sind.

Zur vorliegenden Edition Möglichkeiten und Grenzen dieser Edition ergeben sich aus der skizzierten Quellenlage. Das Manuskript bietet alles andere als eine druckreife Vorlage. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Zitierweise sind vom Autor nicht am Standard einer wissenschaftlichen Publikation ausgerichtet. Bis zur vorliegenden Form durchlief der Editionsprozess mehrere Phasen. Die Orthographie wurde modernem Deutsch angepasst. Es wurde darauf verzichtet, alle Autoren und Werke, auf die Hahn sich in den Fußnoten bezieht, im Einzelnen zu verifizieren. Viele dieser Referenzen sind heute schwer auffindbar, und wenn einmal ein Einzelfund gelingt, ist der Erkenntniswert eher gering, da Hahn vornehmlich an historischen Einzelbeispielen für seine Thesen interessiert ist. Die benutzten Werke sind gleichwohl hilfreich zum Verständnis des geistigen Horizonts, in dem Hahn sich bewegt.

Innere Proportion der Textteile Von der Grundanlage her hat Hahns Werk in der uns vorliegenden Form eine übersichtliche und gut nachvollziehbare Gliederung. Und wenn man einmal Manuskript ‚Christliche Liebe‘) wird demnächst gedruckt erscheinen.“ Offensichtlich wusste er 1999 um die Transkription und rechnete mit einer baldigen Veröffentlichung.

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die letzten drei Abschnitte (II 5, II 6, II 7) außer Betracht lässt, hat es mit vertretbaren Schwankungen auch ausgewogene Proportionen: eine Einleitung und zwei Hauptteile von vergleichbarem Umfang und ähnlichem innerem Aufbau4. Dagegen sprengen die Abschnitte II 5 (karitative Orden) und II 6 (Schulorden) alle Dimensionen. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass ausgerechnet diese langen Abschnitte keinerlei innere Gliederung haben. Sie bestehen aus einer losen Aneinanderreihung langer Ausführungen zu den aufgezählten Orden (133 Seiten) und bleiben unvollendet5. Auch Versuche, den Text nachträglich zu gliedern, bleiben unbefriedigend. Der neue Anlauf im Abschnitt II 7 (Missionsorden) legt dann zwar wieder eine übersichtliche und detaillierte Gliederung (geographisch nach Orient und Okzident, chronologisch nach Jahrhunderten) vor, bricht jedoch nach nur 23 Seiten ebenfalls mitten im Text ab, augenscheinlich ganz früh im angepackten Vorhaben (nämlich bei der römischen Mission im 7. Jahrhundert)6. Es gibt noch weitere Hinweise auf eine problematische Sonderstellung der letzten Abschnitte (ab II 4). Im Abschnitt II 6 behauptet Hahn bei der Behandlung der Schulorden an einer Stelle, er habe die Maristen schon bei der Behandlung der Missionsorden erwähnt7. Er will sich daran erinnern, in einem „Artikel“ über die Maristen als Missionsorden geschrieben zu haben; allerdings finden sie in der „Christlichen Liebe“ weder vorher (wie behauptet) noch nachher (also im an sich zuständigen 7. Abschnitt über die Missionsor4

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Seitenumfänge: Einleitung 4 Kapitel / 51 Seiten I. Teil 4 Abschnitte / 71 Seiten 1. Abschnitt / 2 Kapitel / 34 Seiten 2. Abschnitt / 3 Kapitel / 18 Seiten 3. Abschnitt / (ohne Kap.) / 4 Seiten 4. Abschnitt / 4 Kapitel / 7 Seiten II. Teil 7 Abschnitte / 223 Seiten 1. Abschnitt / 2 Kapitel / 12 Seiten 2. Abschnitt / 2 Kapitel / 10 Seiten 3. Abschnitt / 2 Kapitel / 39 Seiten 4. Abschnitt / (ohne Kap.) / 7 Seiten 5. Abschnitt / (ohne Kap.) / 57 Seiten 6. Abschnitt / (ohne Kap.) / 76 Seiten 7. Abschnitt / 6 Kapitel / 23 Seiten S. 323 bricht der 6. Abschnitt (Schulorden) ab. Es werden Textteile über die Basilianer und andere Orden, die an Mittel- und Hochschulen unterrichten, angekündigt, von denen in der Folge jedoch keine Spur zu finden ist. Die Überschrift des Kapitels II 7,6 auf der vorletzten Seite 344 kündigt Ausführungen zu den Missionen in England, Bayern, Franken und Friesland an; es folgt jedoch nur noch eine halbe Seite über die missionarische Rolle des Benediktinerordens. S. 319: (Maristen) Die Gesellschaft der Marienpriester von Lyon, deren wir bereits im Artikel über die katholischen Missionen rühmlich gedacht haben, errichtete im Jahre 1816 eine Gesellschaft Schulbrüder, welche den Namen Marienbrüder führen.

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den) Erwähnung. In der „Christlichen Liebe“ gibt es „Abschnitte“ und „Hauptstücke“, aber keine „Artikel“. Für den Leser der „Christlichen Liebe“ ist dieser Verweis also wenig hilfreich. Könnte sich das „bereits im Artikel über die katholischen Missionen“ Gesagte auf einen Artikel in den „Jahrbüchern der christlichen Mission“ beziehen oder aber auf parallel schon längst laufende Arbeiten an der großen Missionsgeschichte? Eine ähnliche Ungereimtheit findet sich unweit dieser Stelle kurz vor dem ersten Textbruch (S. 3238): ein schwer einzuordnender Hinweis auf eine „bereits in dem vorhergehenden Artikel“ erfolgte Behandlung bestimmter Missionsorden, die auch Unterricht erteilen. Auch dies ist in der „Christlichen Liebe“ nicht zu verifizieren. Diese Brüche in der Gliederung könnten gut durch einen Zusammenhang mit der Planung anderer Veröffentlichungen erklärt werden: Die Abschnitte II 4, II 5 und II 6 (Orden im Allgemeinen, karitative Orden, Schulorden) wären demnach als Artikel für die „Jahrbücher“ (mit versehentlich stehen gebliebenen Hinweisen auf „vorhergehende Artikel“) konzipiert worden, Abschnitt II 7 als eine Art Vorarbeit zur „Geschichte der katholischen Missionen“. Zum Ende der Arbeit am Manuskript der „Christlichen Liebe“ war Hahn offensichtlich immer stärker von dem Gedanken an gedruckte Veröffentlichungen umgetrieben und schließlich ganz davon in Anspruch genommen. Offen bleibt die Frage, wie solche Vorarbeiten nahtlos Eingang in das Manuskript der „Christlichen Liebe“ finden konnten; denn die erwähnten Brüche sind zwar inhaltlich deutlich erschließbar, nicht jedoch am äußeren Erscheinungsbild des Manuskripts erkennbar: Auf derselben Seite, wo der Abschnitt II 6 (Schulorden) unbefriedigend abbricht, beginnt äußerlich nahtlos der Abschnitt II 7 (Missionsorden). Das Manuskript ist ja offensichtlich von Hahn eigenhändig geschrieben9. Wenn er wirklich längere Passagen aus eigenen Veröffentlichungen oder Vorarbeiten dazu abgeschrieben hätte, hätten ihm solche Brüche doch bewusst sein müssen. Ganz wird sich das Rätsel um das finale Schicksal des Manuskripts wohl nicht mehr lösen lassen. Am ehesten wird man an eine biographische, familiäre oder berufliche Stresssituation denken, durch die leider eine sorgfältige Endredaktion der „Christlichen Liebe“ verhindert wurde. Im Abstand von 160 Jahren kann das Manuskript aber auch in der vorläufigen Form, die für seinen Verfasser damals unbefriedigend war, ans Licht der Öffentlichkeit treten. Denn hier liegt wohl auch der Grund dafür, dass Hahn selbst eine Veröffentlichung der „Christlichen Liebe“ nicht weiter betrieben hat. Nachdem ihm die Darstellung der katholischen Ordenslandschaft (in II 4-7) konzeptionell 8

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Die angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf das ursprüngliche Manuskript Heinrich Hahns. In der vorliegenden Ausgabe sind diese ursprünglichen Seitenzahlen in eckigen Klammern im laufenden Text angezeigt. Die Hypothese, dass Hahn eine seiner im Haus lebenden Töchter beauftragt hätte, Artikel aus den „Jahrbüchern“ abzuschreiben und in das Manuskript der „Christlichen Liebe“ einzufügen, lässt sich am äußeren Erscheinungsbild nicht sicher erhärten.

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aus den Fugen geraten war, hat er sie an zwei Stellen einfach abgebrochen. Er bekam die Fülle des von ihm gesammelten Materials im bisherigen literarischen Rahmen nicht mehr bewältigt und begann daher in direktem Anschluss ein neues Opus, die Geschichte der katholischen Missionen. Mit deren Abfassung und Drucklegung war Hahn dann in den folgenden gut zehn Jahren so sehr beschäftigt, dass er auf die „Christliche Liebe“ später nicht mehr zurückkam. Wer am religiösen Denken Hahns interessiert ist, kann das nur bedauern. Hahn selbst nahm irgendwann die Wertung vor, arbeitsökonomisch sei nun für ihn die Arbeit an der Missionsgeschichte vordringlich. Man könnte die „Christliche Liebe“ als (unveröffentlichten) „Band 0“ der fünfbändigen Missionsgeschichte ansehen, oder umgekehrt: Die Missionsgeschichte ist die logische und notwendige Fortführung der „Christlichen Liebe“, nachdem Hahn klar wurde, dass er sein ursprüngliches Vorhaben in dem selbst gesteckten literarischen Rahmen nicht verwirklichen konnte.

Fragmentarischer Charakter des Manuskripts Der bedauerliche Fragmentcharakter des Manuskripts ist vermutlich noch gravierender, als die Sinnlücken und Abbrüche am Ende des zweiten Hauptteils erschließen lassen: In der ursprünglichen Konzeption hatte Hahn wohl noch einen dritten Hauptteil vorgesehen, der dann gar nicht mehr zur Ausführung kam. Dass der Verfasser ursprünglich nicht zwei, sondern drei Hauptteile geplant hatte, ist allerdings nur aus einer einzigen kurzen Zwischenbemerkung an einer Nahtstelle zwischen Einleitung und erstem Teil zu erschließen. Dann läge in der uns zugänglichen Fassung der erste Teil vollständig vor, der zweite wäre unvollendet geblieben (wiewohl zum großen Teil erhalten) und der dritte fehlte komplett. Die angekündigte Thematik lässt nur ahnen, worum es im dritten Hauptteil hätte gehen sollen: „die Bedingungen, unter welchen die christliche Liebe zum Vorteil der bürgerlichen Gesellschaft die reichlichsten Früchte trägt.“10 10

Am Anfang des „ersten Hauptteils“ S. 52 hatte der Verfasser schon eine erste Überschrift für diesen genannt: „Von der christlichen Liebe in der katholischen Kirche und von deren Wirksamkeit zur Begründung und Befestigung der Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft.“ Auf S. 53 holt er noch einmal aus und erklärt seinen Redaktionsplan: „Um größere Klarheit in unsere Darstellung zu bringen, werden wir unsere Arbeit in drei Teile einteilen. Im ersten Teil werden wir zeigen, wie die Kirche durch die zweckmäßigsten Mittel die drei göttlichen Tugenden, insbesondere die christliche Liebe, im Herzen eines jeden ihrer Kinder fortwährend erzeugt und wie sie dadurch alle sittlichen Tugenden in demselben zur Entwicklung bringt; im zweiten werden wir die sozialen Früchte der zur Tätigkeit gelangten christlichen Liebe näher in Betracht nehmen; im dritten endlich werden wir die Bedingungen erforschen, unter welchen die christliche Liebe zum Vorteil der bürgerlichen Gesellschaft die reichlichsten Früchte trägt.“ Danach setzt er noch einmal neu an und gibt dem nun folgenden ersten Teil eine leicht veränderte Überschrift: „Von der Wirksamkeit der katholischen Kirche zur Einpflanzung der christlichen Liebe in die Herzen der Menschen“.

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Heinrich Hahn – ein „Laientheologe“? Im zeitgenössischen Frankreich treten erstmals Laien als theologische Schriftsteller in Erscheinung, etwa Léon Bloy und Charles Péguy. Von hier führt in den letzten hundert Jahren der Weg zu den heutigen „Laien“-Theologen, denen sich, da sie nicht durch Weihe in das kirchliche Amt eingebunden sind, die Möglichkeit eröffnet, ganz im eigenen Namen und auf eigene Verantwortung theologische Ideen zu entwickeln. Wenn man Heinrich Hahn als Laientheologen bezeichnen will, dann offensichtlich in einem anderen Sinn. Er hat keine Theologie studiert und betreibt nicht von Berufs wegen Theologie als Wissenschaft. Er bemüht sich stets um treue Kirchlichkeit und steht immer in enger Tuchfühlung mit seinen Seelsorgern. Der Gedanke eines Freiraums oder einer kritischen Distanz zur Lehre der Kirche wäre ihm ganz fremd. Trotzdem ermöglicht ihm der Ansatz bei seiner beruflichen Erfahrung als Mediziner und Kommunalpolitiker überraschende, originelle Durchblicke auf theologische Zusammenhänge. Aus der Feder eines Berufstheologen (und das heißt im 19. Jahrhundert automatisch eines geweihten Amtsträgers) wäre ein Text wie „Die christliche Liebe ...“ nicht vorstellbar.

II) Der Kontext Warum setzt sich ein praktischer Arzt, der beruflich und familiär, im Ehrenamt und in der Kommunalpolitik bereits extrem eingespannt ist, auf dem Höhepunkt seiner Lebenskurve über mehrere Jahre lang hin und verfasst ein umfangreiches Manuskript zum Thema der „Christlichen Liebe“, ohne es schließlich zu veröffentlichen? Welches ist sein spezifischer Ansatz und Beitrag zu einem Thema, zu dem es auch zu seiner Zeit schon nicht an theologischen und spirituellen Veröffentlichungen fehlte?

Liebe als Thema in der zeitgenössischen Dichtung und Philosophie „Die christliche Liebe in der katholischen Kirche“ – das so betitelte Werk ist die Rekapitulation dessen, was Hahn als katholischer Christ glaubt, und die religiöse Begründung dafür, warum er sich für die Kirche und ihre Erneuerung einsetzt. In ihrer praktischen Ausrichtung auf die Liebeswerke der Kirche ist

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es ein „katholischer Gegenentwurf zum aufgeklärten Utilitarismus der staatlichen Armen- und Krankenfürsorge in der Restaurationszeit“11. Hahns ganzes Leben als Arzt und Christ ist bestimmt von der lebenspraktischen Auseinandersetzung mit den sozialen Nöten seiner Zeit. Er gehörte zu jenem Teil der katholischen Eliten, die sich im romantischen Zeitalter einer echten spirituellen Erneuerung unterzogen. Seit den 1830er Jahren wandten sich katholische Autoren vermehrt sozialen Themen zu.12 Aachen, die erste industrialisierte Stadt Deutschlands, gehörte zu den Orten, wo sich diese Entwicklung am frühesten vollzog. Heinrich Hahn ist der wachste Exponent unter den katholischen Laien im zeitgenössischen Aachen. „Mit der philosophisch-literarischen Bewegung, die als ‚Sturm und Drang‘ begann und als Romantik zu Ende ging, rückte der Begriff der Liebe in den Mittelpunkt.“13 Autoren wie W. Humboldt, Schleiermacher, Hamann, Fichte, Schelling, Baader, Schiller, Schlegel oder Novalis kreisen in ihren Werken um die Liebe als thematisches Zentrum. Ihren Höhepunkt findet diese Bewegung bei zwei so verschiedenen Autoren wie Hegel und Kierkegaard. Auf diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund zeigt Heinrich Hahn seine Eigenart: Er ist trotz seiner umfassenden Bildung kein Intellektueller; er ist als Mann der Tat sogar bewusst das genaue Gegenteil. Er schreibt über die Liebe als Praktiker, ohne explizit Bezug zu nehmen auf die weltanschauliche oder poetische Liebesliteratur. Aber die Entstehungszeit seines Werkes lässt aufhorchen: 1848, also zur selben Zeit, als Heinrich Hahn sich an die Abfassung seines Werkes macht, verhöhnte Karl Marx die christliche Tugend der Liebe und erklärte sie für utopisch und ungeeignet zur Lösung der sozialen Frage. Pauline von Mallinckrodt, die ihre Jugend im Aachen Heinrich Hahns im Kreis der Freundinnen Clara Fey, Franziska Schervier und Auguste von Sartorius verbrachte, nannte ihre 1849 gegründete Genossenschaft „Schwestern von der christlichen Liebe“. Die Programmatik dieser Namensgebung auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des Revolutionsjahres 1848 ist verschiedentlich beobachtet worden. Sie gilt analog für das Werk Heinrich Hahns. Hahn stellt die christliche Liebe als Grundmotivation für gesellschaftliches Handeln der Philanthropie der Aufklärung gegenüber 14. Die aufgeklärte Men11

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So der Titel der Magisterarbeit, die Barbara Vosberg im April 2010 an der KatholischTheologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum eingereicht hat. Anleiter war Prof. Dr. Wilhelm Damberg, der u.a. als Gutachter im Seligsprechungsprozess tätig war. Für einen Überblick vgl. Gatz, Erwin (Hg.), Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Band V, Caritas und soziale Dienste, Freiburg 1997. Artikel „Liebe“ in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 5, Darmstadt 1980, c. 310. Ein Zeitgenosse Hahns, der diese Position in einer Schrift von 1847 formuliert, ist z.B. Salomon Neumann, ein engagierter Armenarzt in Berlin; vgl. Balkhausen, Irmtraud, Der Staat als Patient. Rudolf Virchow und die Erfindung der Sozialmedizin von 1848, Marburg 2007. Ausdrückliche Bezugnahme auf Neumann ist bei Hahn nicht nachzuweisen.

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schenliebe handelt aus freiem, gutem Willen und aus rationaler Einsicht in das Gute. Weil alle Menschen die gleiche Würde und das gleiche Recht auf Gesundheit, Bildung und Pflege haben, sind alle einander zur Solidarität verpflichtet. Hahn dagegen betont das gottebenbildliche Geschaffensein und das göttliche Gebot der Liebe. Der Mensch muss sein Handeln am Willen Gottes, nicht am eigenen guten Willen ausrichten. Die Barmherzigkeit ist kein einforderbares Recht des Notleidenden, sondern eine gottgeschuldete Pflicht des Gläubigen, der sein Heil nicht aus eigener Kraft bewirken kann. Die in der säkularen Gesellschaft staatlich verordnete Philanthropie wird durch ihren mangelnden Gottesbezug unwirksam gemacht. Die Probleme der Armen- und Krankenfürsorge wachsen der Gesellschaft über den Kopf. Massenarmut und Seuchen sind mit medizinischen und gesellschaftspolitischen Mitteln nicht mehr in den Griff zu bekommen. Die Zentralstellung der Liebe für das Christentum ist durch „Deus caritas est“, die erste Enzyklika von Papst Benedikt XVI., noch einmal eindrucksvoll herausgestellt worden. Als Leser geistlicher Literatur hat man die überraschende Wahl des Themas „Liebe“ für die programmatische Antrittsenzyklika im ersten Moment nicht für sehr originell gehalten; umso erstaunlicher ist dann die Beobachtung, dass das Lehrschreiben vom 25.1.2006 das erste in der zweitausendjährigen Geschichte päpstlicher Verlautbarungen ist, das sich explizit mit diesem Thema befasst. Der Autor hat hier sehr diskret eine Lücke erkannt und geschlossen und eine Schuld der Geschichte abgetragen, in der sich die Päpste zu allem Möglichen geäußert haben, zu diesem zentralen Thema jedoch noch nicht. Die Enzyklika „Caritas in veritate“ (2009) schreibt das Thema auf die sozialethischen Fragen hin fort. Hintergrund der päpstlichen Lehrschreiben ist wohl die neuzeitliche Entwicklung in der Geschichte des menschlichen Helfens, in der (Nächsten-)Liebe durch Solidarität oder Humanität ersetzt wurden. In der Verkündigung von Papst Franziskus bleibt das Thema der barmherzigen Liebe ein roter Faden, auch in der ersten Enzyklika Lumen Fidei15.

Solidarität – der moderne Ersatz für Liebe? Die romantische Stilisierung der Liebe provoziert dann aber auch eine kritische Gegenbewegung, die bei Autoren wie Schopenhauer, Marx und Nietzsche erkennbar ist. Für Marx ist die Liebe, zumal in der Gestalt der bürgerlichen Ehe, eine frühe Produktionsform, „eine Form des exklusiven Privateigentums“; sie steht ganz im Zeichen der Kapitalvermehrung. Der Proletarier ist davon wegen seiner Trennung von den Produktionsmitteln ausgeschlossen. Liebe hat als gesellschaftlicher Entwurf ausgedient; an ihre Stelle tritt die Solidarität der Arbeiterklasse. 15

Besonders in Lumen Fidei (29.6.2013) 16-21.

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Der Begriff „solidarité“ bekommt zum ersten Mal klares Profil bei Pierre Lerou († 1871), der den Ausdruck von August Comte († 1857) übernahm16. In „De l’humanité“ (IV. Buch über die „gegenseitige Solidarität der Menschen“) fordert er explizit, sie solle die christliche Liebe ersetzen, damit die Menschheit das Christentum hinter sich lassen kann: „Das Christentum ist die größte Religion der Vergangenheit; aber es gibt etwas Größeres als das Christentum: die Menschheit.“ Die Überwindung der christlichen Liebe sei nötig, da diese selbst gescheitert sei, in der Praxis und in der Theorie. „Drei verschiedene Gegenstände – Gott, der Nächste, Ich – die nach dem christlichen Gebot zu lieben sind, durch Addition und Bündelung zusammen zu ziehen, führt zu Durcheinander und begründet eine Gegnerschaft zwischen ihnen.“ Eine neue Philosophie muss diese Irrtümer und Widersprüche des Christentums überwinden. Gott muss aus der wahren Formel der Nächstenliebe ausgeklammert werden. Wenn sich einer dem Mitmenschen liebevoll zuwenden will, dann ist Gott nur hinderlich. Gott entfällt; übrig bleibt nur die wechselseitige Solidarität der Menschen. Aus der diffusen Dreigliedrigkeit wird klar geordnete Bipolarität. Das Prinzip der gegenseitigen Solidarität wird von Lerou durchaus als religiöses Prinzip angesehen; aber es kommt ohne Gott und ohne die Kirche auf. Die Kirche ist überflüssig; sie „kann aufhören zu bestehen.“ Man kann in diesen Überlegungen also beobachten, wie aus der christlichen Wurzel Nächstenliebe eine nicht-christliche, ja pointiert antichristliche Bedeutung von Solidarität konstruiert wird. Ferdinand Lassalle († 1864) und Friedrich Engels († 1895) verbreiten diesen Begriff politisch. In dessen „Pariser Kommune“ bezeichnet die sozialistische Vokabel „Solidarität“ die Verpflichtung aller gegenüber allen. Sie gilt als der höchste Inbegriff von Kultur und Moral. Sie wird zu einem antichristlichen Kampfbegriff: „Nein, nichts mehr von Liebe, Mitleid und Barmherzigkeit. Das kalte, stahlharte Worte Solidarität aber ist in dem Ofen des wissenschaftlichen Denkens geglüht.“ (Kurt Eisner, † 1919) Es war ein mühsamer Prozess, den sozialistischen Kampfbegriff Solidarität christlich wieder salonfähig zu machen. Durch Charles Peguy, Hans Urs von Balthasar, die Solidarnosç und die Sozialenzykliken Johannes Paul II. bis zum Katechismus der katholischen Kirche und dem Kompendium hat er heute einen festen Platz in der katholischen Soziallehre. Peguy etwa verwendet „Solidarität“, um den Anspruch der Liebe von Heuchelei frei zu halten17. Trotzdem bleibt Wachsamkeit gegenüber diesem Begriff angesagt. Der Gottesbezug darf nicht ausgeklammert werden aus der Hinwendung zum bedürftigen Nächsten, erst recht nicht in der Arbeit der kirchlichen Hilfswerke. Obwohl der Marxismus als politische Praxis gründlich gescheitert ist, wirkt sein subtiler Stimulus 16 17

Der folgende Abschnitt nach Cordes, Paul Josef, „Deus caritas est“ und die Liebestätigkeit der Kirche, Vatican Magazin April 2007. „Weil sie nicht des Menschen sind, glauben sie, Gottes zu sein. Weil sie niemand lieben, glauben sie, Gott zu lieben.“ (Nota coniuncta, Wien 1956, 167)

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noch weiter. „Deus Caritas est“ sagt zusammenfassend in 28b: „Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen abzuschaffen.“ Das Kommunistische Manifest von 1848 erklärt apodiktisch, die christliche Liebe sei ungeeignet und unfähig, die gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Durch die Verbindung der Kirche mit den Kräften der Reaktion und der Ausbeutung sei das Christentum ein Hindernis für Gerechtigkeit und Solidarität geworden. Ob Hahn seine genau zu diesem Zeitpunkt entstehende Schrift als Apologie gegen die marxistisch-sozialistische Fundamentalkritik versteht, kann man nur vermuten. Wenn man an die frühe publizistische Tätigkeit von Karl Marx in Köln denkt, in der er scharfzüngig gegen die unnütze, letztlich schädliche „christliche Liebe“ polemisiert, ist ein solcher Zusammenhang durchaus denkbar. Auch die Rivalität zwischen Köln und Aachen könnte eine Rolle spielen: In der Rheinmetropole fanden die marxschen Ideen zeitweise erheblichen Anklang; in der Dreiländerstadt stießen sie auf geschlossenen Widerstand, von dem Hahn ein wichtiger Pfeiler war. Entsprechend gab es in Köln gewalttätige revolutionäre Unruhen mit vielen Todesopfern, während die Proteste in Aachen, sicher unter dem wachen Auge christlicher Bürger wie Hahn, gewaltlos verliefen.

Zeitgeschichtlicher Hintergrund: das Erbe von Aufklärung und Revolution Als Hahn auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft diesseits und jenseits des Alters von 50 Jahren die „Christliche Liebe“ verfasste, blickte er auf die bewegten Jahrzehnte seiner bisherigen Biographie zurück. Als geistig wacher Katholik bemühte er sich, die Zeichen dieser Zeit zu deuten. Das Jahrhundert, in dessen Mitte er stand, hatte begonnen im Zeichen Napoleons, der sich als Erbe der Französischen Revolution begriff. Das anschließende Projekt der Restauration war von Anfang an zum Scheitern verurteilt: Die auf ihre Throne zurückgekehrten absoluten Herrscher versuchten vergeblich, das Rad der Zeit zurückzudrehen und die Verhältnisse des ancien régime wieder herzustellen. Immer neue politische Bewegungen versuchten, die Werte von „1789“ zu aktualisieren. Das revolutionäre Ferment in der Gesellschaft blieb unterschwellig virulent. Die Grundfrage, die nachdenkliche Menschen um 1850 umtreibt, ist also: Warum musste die Französische Revolution scheitern: im Terror, in der napoleonischen Diktatur, in der Restauration? Manche Begründungen greifen eindeutig zu kurz: weil sie schon früh den Weg der Gewalt beschritt, weil sie die legitimen absoluten Herrscher vertrieb, weil das Kriegsglück Napoleon nicht ewig treu bleiben konnte. Wer tiefer schaute wie Heinrich Hahn, erkannte: Die Französische Revolution scheiterte, weil sie Verrat übte an sich selbst, an ihrem eigenen Entwurf. Sie war zwar als Befreiungsbewegung der Laien („3. Stand“) mit beträchtlicher Unterstützung des progressiven gallikanischen Kle-

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rus („2. Stand“) geboren und hatte durchaus christliche Wurzeln im Naturrechtsdenken als Begründung für die demokratische Staatsform; aber dann verband sie sich mit dem nationalistischen und imperialistischen Machtwahn und vertraute ihr Geschick dem militärischen Talent Napoleons an. Im deutschen Sprachraum lässt sich schon dem frühen Fichte, ganz vom revolutionären Aufklärertum geprägt, diese Art von Nihilismus vorwerfen: Das revolutionäre Denken kreist um einen leeren Kern. Weil es im Innersten hohl ist, bleibt es steril, kann es z.B. die Spannung von Einheit und Vielheit nicht fruchtbar werden lassen. Die drei Hauptströmungen des 19. Jahrhunderts sind Erben dieser Haltung: Liberalismus, Nationalismus, Sozialismus. Alle drei bergen die dramatischen Konflikte der kommenden Jahrzehnte potentiell schon in sich: Kulturkampf, Nationalkriege, Sozialrevolution. In allen drei Richtungen gibt es starke säkularistische Züge. Alle drei sehen die Kirche als Feindin. Hier setzen die katholischen Denker der Zeit Hahns an und bemühen sich um eine Neubegründung des Naturrechtsdenkens. Schon die mittelalterliche Auffassung vom Naturrecht hatte die absolutistischen Ansprüche der kaiserlichen Herrschaft kategorisch zurückgewiesen. Das Naturrecht darf nicht rein technisch und normativ aufgefasst werden, sondern der Begriff von „Natur“, auch der von den Romantikern verwendete, kann und muss inhaltlich gefüllt werden. Hahns Gedankenführung zur christlichen Liebe bewegt sich auf zwei Ebenen: einer ethisch-normativen und einer lebenspraktisch-empirischen. Auf der ersten Ebene verteidigt er das christliche Weltbild gegen seine Infragestellung durch säkulare Konzeptionen. Auf der zweiten Ebene gibt er ansatzweise sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen Raum. Er konfrontiert sich schonungslos mit den gesellschaftlichen Tatsachen der frühen Industrialisierung und der Eskalation der sozialen Frage. Er analysiert die Zusammenhänge und provoziert die Verantwortlichen in Gesellschaft und Kirche zu wirksamen Maßnahmen. Seine eigene biographische Erfahrung, dass eine gute Ausbildung gesellschaftlichen Aufstieg und gehobenen Lebensstandard ermöglicht, übersetzt er in die Forderung nach einer breiten bildungspolitischen Offensive für alle. Die Freiheit der Kirche und der Orden auf dem Gebiet der Erziehung gegenüber einem staatlichen Monopolanspruch ist dabei von zentraler Bedeutung. Nur konfessionelle Schulen garantieren, dass die Bildungsgüter dem Monopol der Eliten entrissen und breiten Bevölkerungskreisen zuteil werden können.

Gesamteindruck und Aussageabsicht Den Großteil von Hahns Abhandlung nimmt die Schilderung der Tätigkeit der katholischen Orden und Vereinigungen ein. Darin zeigt sich Hahns eminent praktische Einstellung, die jeder politischen Rhetorik und jedem abstrakten Theoretisieren über Gesellschaftsentwürfe abhold ist: Die Antwort auf die Sorgen der Menschen und die Probleme der Gesellschaft besteht nicht in Ideo-

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logien und Reformkonzepten, sondern in mühsamer, geduldiger Kleinarbeit der konkreten Zuwendung zu den einzelnen Leidenden und Bedürftigen. Durch ihr breit gefächertes und ständig sich weiter entwickelndes Vereinsund Ordenswesen ist die katholische Kirche besser als andere Kräfte in der Gesellschaft für diese Herausforderung gewappnet. Umgekehrt ist Hahns Werk auch in die Kirche hinein gesprochen: Sie muss sich den gesellschaftlichen Herausforderungen tatsächlich stellen, und zwar – so der hohe Anspruch und die Erwartungshaltung des Verfassers – jederzeit und umfassend, auch wenn es sich um so schwierige Krisensymptome wie das ausufernde Proletarierelend oder den sittlichen Niedergang, das Überhandnehmen der Prostitution und des Alkoholismus handelt. Sie muss für die Herausforderungen der Gegenwart, v.a. die sozialen Missstände im Arbeitermilieu, ihre bewährten Kräfte besser und umfassender in Stellung bringen und neue Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart entwickeln. Uns überrascht die Geschlossenheit eines modernen Bildes von Kirche, in dem sie sich vor keiner gesellschaftlichen Herausforderung in eine spirituelle Nische zurückziehen kann.

III) Inhaltliche Beobachtungen Verhältnis Einleitung – Hauptcorpus: negativ – positiv Die „Christliche Liebe“ mit ihrem breiten inhaltlichen Spektrum macht es dem heutigen Leser nicht leicht, das wahre Anliegen des Verfassers sofort zu erkennen. Für eine erste Annäherung hilft ein Blick auf den groben Gesamtaufbau. Die Einleitung greift in ihrer Überschrift aus dem umständlich formulierten Titel („Von der christliche Liebe in der katholischen Kirche gegenüber den sittlichen Gebrechen der Menschen, aus dem religiösen, sozialen und politischen Gesichtspunkte“) den Ausdruck „sittliche Gebrechen“ auf und entfaltet das Thema in vier Kapiteln: Die sittlichen Gebrechen: religiös, sozial, politisch 1. Laster, Ursprung und Wirkung 2. Prostitution 3. Zeugnisse der Geschichte 4. Unzulänglichkeit des Staates In der Einleitung zeigt der Autor die Aktualität seines Themas auf und lässt dazu sein Werk mit einer längeren Darstellung der zeitgenössischen gesellschaftlichen Problematik beginnen. Sie wird aus der Perspektive und in der Sprache des Glaubens auf die „sittlichen Gebrechen“ bzw. „Laster“ zurückgeführt.

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Das Kriterium zwischen Einleitung und Hauptcorpus ist: negativ – positiv. Die negative Folie (Gebrechen, Laster) wird in der Einleitung breit dargelegt, um dann im Hauptcorpus umso besser die positive Wirkung der christlichen Liebe in den kirchlichen Einrichtungen darstellen zu können. Die Überlegungen Hahns zu dieser Materie kann man der Vorgeschichte dessen, was eine Generation später als katholische Soziallehre formuliert wird, zuordnen. Deren terminologisches Instrumentarium zum Verständnis der gesellschaftlichen Zusammenhänge stand Hahn leider noch nicht zur Verfügung, so dass uns manche seiner Darlegungen sehr abstrakt erscheinen, etwa wenn er die Problematik der Prostitution („Unzucht“) hauptsächlich unter moralischem Aspekt begreift, während er die gesellschaftlichen Umstände und Umwälzungen, die zu seinen Lebzeiten zur Verschärfung dieser Problematik führten, nicht in seine Darstellung mit einbezieht, obwohl er sie beständig vor Augen hat. Ethik ist für Hahn vorrangig individuelle Ethik; dass Soziallehre eine ethische Normativität hat, ist erst in späterer Zeit bewusst geworden. Im Vergleich zu den fast zeitgleich entstehenden gesellschaftsanalytischen Werken etwa von Karl Marx bewegt sich die Sozialkritik Heinrich Hahns in ganz anderen Bahnen. Er geht davon aus, dass die gesellschaftlichen Probleme mit herkömmlichen Mitteln wie einer konzertierten Anstrengung aller kirchlichen Kräfte und der paternalistischen Wohltätigkeit katholischer Fabrikanten in den Griff zu bekommen sein müssten. Allerdings lässt er immer auch einen starken Appell mitschwingen, dass diese Aufgabe nun dringend angepackt werden muss, also wohl auch einen leisen Zweifel, ob auf diesen Wegen wirklich eine gerechte, menschliche und solidarische Gesellschaft am Entstehen ist, und eine implizite Kritik am unsolidarischen Verhalten der Begüterten.

Das Elend der Gesellschaft, negative Folie des kirchlichen Liebeswirkens (Vorbemerkung S. 3) Der Autor kündigt in der kurzen Eröffnung an, er werde bei der unerfreulichen, aber notwendigen Darstellung des Negativen mit schonungslosem Realismus vorgehen. Er beruft sich für den krassen Wirklichkeitsgehalt seiner Darstellung auf seine eigene lange und vielfältige persönliche Erfahrung als Arzt und Familienvater. (1. Hauptstück S. 3 ff.) Die Eröffnung des ersten Kapitels lässt ein Thema der theologischen Anthropologie anklingen: die Erbsündenlehre, ausgehend vom einschlägigen Schriftbeleg Röm 7,23-25. Dieses Menschenbild wird in der katholischen Theologie entfaltet in der Lehre von den „Lastern“, zunächst von den drei biblischen Hauptlastern nach 1 Joh 2,16 („Begierlichkeit des Fleisches, Begierlichkeit der Augen, Hoffart des Lebens“), dann gemäß der traditionellen Aufzählung der Hauptlaster. Der Autor beginnt mit der Völlerei, es folgen Unzucht, Habsucht, Hoffart, Trunksucht und Spielsucht, um am Ende noch einmal ausführlicher auf die Unzucht zurückzukommen. Eine syste-

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matische Vollständigkeit der herkömmlich genannten sieben Kapitalsünden ist also offensichtlich nicht beabsichtigt. (2.-4. Hauptstück S. 13 ff.) Der „Unzucht“ gilt eindeutig das Hauptinteresse. Das sich anschließende 2. Kapitel ist denn auch ganz überschrieben: die Prostitution; sie bildet des Weiteren auch den Gegenstand des 3. Kapitels, das die geschichtlichen Hintergründe aufhellen will, und des 4. Kapitels, in dem das Ungenügen der staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Prostitution dargelegt wird.

Verhältnis der beiden Hauptteile zueinander: ad intra – ad extra Der ausführlichen Einleitung (51 Seiten) folgen die beiden Großteile des Hauptcorpus. Dabei kreist der erste Hauptteil (71 Seiten) um das innere Leben der Kirche („Disziplin“), während der zweite (223 Seiten) die Auswirkungen des kirchlichen Handelns nach außen in die Gesellschaft hinein („soziale Früchte“) im Blick hat. Das Kriterium der Zweiteilung ist also: innen und außen. Wenn man will, kann man in dieser Unterscheidung das Spannungsverhältnis der beiden Konstitutionen des II. Vatikanischen Konzils über die Kirche wieder erkennen: Lumen gentium behandelt das Geheimnis der Kirche ad intra, Gaudium et spes ihr Wirken ad extra im Verhältnis zur „Welt“. Viele nachkonziliare Lehramtsdokumente, besonders die postsynodalen Lehrschreiben, greifen durchgängig diese Zweiteilung in ihrer Gliederung („Wesen und Sendung“) auf. Für den Titel des ersten Teils legt Hahn mehrere schwankende Formulierungen vor; der Inhalt lässt sich in folgender These zusammenfassen: Die christliche Liebe in der katholischen Kirche begründet die Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft. Er erhärtet diese Grundthese, indem er die innere Disziplin der Kirche darstellt. Bei der Darstellung des Wirkens nach außen im zweiten Teil legt er den Hauptakzent auf die Tätigkeit der Orden.

Tugendbegriff als Scharnier zwischen kirchlicher und weltlicher Sphäre In scholastischer Terminologie ist die Hauptthese Hahns, dass die theologischen Tugenden die sittlichen Tugenden begründen, indem sie notwendige und hinreichende Voraussetzung dafür sind. Verkürzt gesagt: Wenn jemand seinen christlichen Glauben treu praktiziert, dann ist er auch ein guter Staatsbürger. Der Staat müsste darum ein vitales Interesse am Blühen der Religionsgemeinschaften haben. Der Tugendbegriff schafft also die für Hahn so wichtige direkte Verbindung zwischen der religiösen und der zivilen Sphäre.

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Die systematische Bezeichnung von Glauben, Hoffnung und Liebe als „Tugenden“ findet sich seit der Scholastik des 12. Jahrhunderts. Thomas von Aquin († 1274) entfaltete diese Lehre zu einem Kernelement seiner Dogmatik. Zu Hahns Zeiten ist sie auf breiter Front rezipiert und in popularisierter Form in die Katechismen eingedrungen. Die heutige Theologie steht dem Tugendkonzept eher zurückhaltend gegenüber, weil es mit einem personalistischen Verständnis von Gnade und Offenbarung weniger gut vereinbar erscheint. Man betont, dass das Lehramt weder in Trient noch im II. Vatikanum die Tugendlehre als glaubensmäßig verbindlich erklärt. Hahn setzt einfach voraus, dass der Tugendbegriff im theologischen und im philosophischen, im kirchlichen und im zivilen Bereich univok gebraucht wird. Ob das legitim ist, wurde selbst in der Theologie damals wenig reflektiert. Auf allen Seiten der „Christlichen Liebe“ ist jedenfalls der Argumentationsschritt klar und kurz: Die christliche Tugend Liebe mündet unmittelbar und konkret ein in gesellschaftlich erwünschte und förderliche Haltungen und Handlungen.

Zeitgenössischer Hintergrund: medizinischer Fortschritt und soziales Elend Heinrich Hahn stellt seine Überlegungen genau um die Mitte des 19. Jahrhunderts an, zu einer Zeit immenser Umwälzungen in Gesellschaft und Wissenschaft. Die Medizin, wie er sie eine gute Generation zuvor an der Universität Gent gelernt hatte, war wissenschaftlich im Grunde schon völlig überholt; und Heinrich Hahn verfolgte die aktuelle medizinische Entwicklung mit so großer Wachsamkeit, dass ihm dieser Zusammenhang nicht verborgen blieb. Als christlicher Arzt stand er vor der Herausforderung, die neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über klinische Zusammenhänge mit seinem Glauben in Einklang zu bringen. An seinem aufrichtigen Willen und leidenschaftlichen Bemühen, mit vollem ärztlichem Engagement und allen erdenklichen diagnostischen und therapeutischen Mitteln auf der Höhe der Zeit das Leid der Patienten zu lindern, die manifesten Defizite der Hygiene, der Prophylaxe und der Krankenpflege zu überwinden und v.a. die epochalen Krankheitsgeißeln wie Cholera, Tuberkulose und Meningitis zu bekämpfen, besteht nicht der geringste Zweifel. Andererseits hält er daran fest, dass das moralische Verhalten des Menschen Auswirkungen auf seine Lebensqualität hat. Das in der klassischen Lasterlehre erfasste Fehlverhalten wie sexuelle Zügellosigkeit, Trunksucht, Habsucht, Prunksucht usw. wirkt sich an Leib und Seele des Menschen aus. Krankheiten können nach dieser Sicht Mahnungen zur Umkehr und Strafen für sündhaftes Verhalten sein. An dieser aus Altertum und Mittelalter ererbten Auffassung, nach der Krankheit nicht nur eine medizinische, sondern auch eine metaphysische und moralische Bedeutung hat, wie auch umgekehrt ein

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gläubiges, Gott wohlgefälliges Leben zu gesundheitlichem Wohlbefinden, ja zu körperlicher Heilung führen kann, hält Heinrich Hahn grundsätzlich fest. Er sieht sich darin durch zahlreiche historische Beispiele und seine eigene ärztliche Erfahrung bestätigt. Auf der theologischen Seite entspricht dem ein Gottesbild, in dem Elemente wie Zorn, Strafandrohung, Bußaufruf, Sühneleistung, Stellvertretung und Gebetserhörung eine Rolle spielen. In Hahns bürgerlicher Umwelt ist man der Auffassung, dass die Armen ihr Elend einschließlich der hohen Anfälligkeit für die furchtbaren Infektionskrankheiten durch ihren sündhaften Lebenswandel selbst mitverschuldet haben. Von dieser Denktradition her kommend, stellt Hahn als christlicher Arzt und Politiker Differenzierungen an. Er hält zwar grundsätzlich am Zusammenhang zwischen Sittenlosigkeit und Anfälligkeit für Krankheiten fest, bewertet aber die Ausgrenzung und Isolierung armer Kranker nicht als geeignetes Mittel. Er nimmt die Oberschichten in die Pflicht gesellschaftlicher Verantwortung und sozialer Fürsorge. Das Elend darf nicht marginalisiert werden. Durch karitative Vereine, religiöse Belehrung und demonstrative Frömmigkeitspraxis soll die ganze Bevölkerung im Kampf gegen das soziale Elend mobilisiert werden. Interessanterweise verspricht sich Hahn eine durchgreifende Besserung nicht von einer Professionalisierung des Gesundheitssystems und der Krankenpflege, sondern im Gegenteil von einer Abkehr vom unbefriedigenden bisherigen System bezahlter „Krankenwärter“ hin zu einem Netzwerk moderner Pflegeorden barmherziger Schwestern, die die Kranken grundsätzlich nur unentgeltlich und „ehrenamtlich“ pflegen. Zeitlebens hat sich Hahn nicht nur als Gesundheitspolitiker, sondern auch als Bildungspolitiker engagiert. Die Chancen, durch gute Schulbildung das sittliche Niveau der verwahrlosten proletarischen Massen zu heben, beurteilt er optimistisch. Den Anteil der christlichen Schulen und des Religionsunterrichts bei diesem Vorhaben veranschlagt er natürlich besonders hoch.

Anlass der Abfassung: Einführung der Gute-Hirt-Schwestern in Deutschland Beim Einstieg in die Lektüre kommt dem Leser die Frage: wieso das eindeutige und einseitige Schwergewicht des Interesses auf der Prostitution? Sie wird vom historischen, soziologischen, medizinischen, kriminalistischen und theologischen Standpunkt her ausführlich beleuchtet. Sie steht für Heinrich Hahn in engem Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung: Die Geschichte der Französischen Revolution ist für ihn nicht vorstellbar ohne die Komponente der Prostitution. Der schamlose Sittenverfall der führenden Schichten bei Hof und in der Hauptstadt führte zur Auflösung des Wertekonsenses, auf dem die gesellschaftliche Ordnung beruhte. Sicher spielt

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also bei dieser starken Akzentuierung die Sorge eines bürgerlich gesinnten Familienvaters, Arztes und Politikers eine Rolle. Es wäre aber abwegig, an eine morbide Fixierung des Autors auf Themen der Sexualmoral zu denken. Vielmehr kommt hier wohl direkt der konkrete Anlass für die Entstehung des Werks ins Spiel: Dem Verfasser stand bei der Niederschrift von Anfang an in besonderer Weise die Kongregation der Schwestern vom Guten Hirten vor Augen, die als eine ihrer Hauptaufgaben die Bekehrung und Wiedereingliederung von Prostituierten sahen. Heinrich Hahn gehörte zu der Gruppe weitsichtiger katholischer Männer, die sie gegen den Widerstand der staatlichen Stellen mit der Gründung einer Niederlassung in Aachen zum ersten Mal in Deutschland / Preußen ansässig machen wollten. Als das schließlich gelang, war es eine Pioniertat: Zum ersten Mal in preußischer Zeit wurde die Niederlassung eines ausländischen Ordens erlaubt. Mit Blick auf diese beabsichtigte Ordensniederlassung verfasste Heinrich Hahn in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Großmanuskript (345 Seiten) eine stark gekürzte zweite Fassung (nur 13 Seiten), die im leicht geänderten Titel ausdrücklich die Absicht nennt, für die Errichtung einer Niederlassung der Schwestern vom Guten Hirten in Aachen zu werben. Die vollständige Überschrift dieser Kurzversion lautet: „Von der christlichen Liebe gegenüber den sittlichen Gebrechen der Menschen, insbesondere von dem geistlichen Orden des Guten Hirten – Eine vom Gesichtspunkte der Staatswirtschaft und zum Zwecke der Errichtung einer Anstalt des Guten Hirten bearbeitete und zum Besten derselben herausgegebene Abhandlung von Dr. H. Hahn, praktischem Arzte“. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hier um eine gekürzte und bearbeitete Fassung handelt. Auch dieser Titel prunkt nicht mit schriftstellerischer Eleganz, zeugt aber von großer Klarheit und Ehrlichkeit. Der Vergleich der Titel in der Lang- und Kurzform lässt erkennen, dass Hahn sich der konfessionellen Problematik bewusst ist (Weglassung von „… in der katholischen Kirche“ in der Kurzfassung), die Kontroverse mit den Protestanten aber nicht in den Mittelpunkt stellen will. Die Erwähnung des Gute-Hirte-Ordens macht die konfessionelle Einschränkung „in der katholischen Kirche“ überflüssig. Von den drei Gesichtspunkten der Langfassung („religiös, sozial und politisch“) unterstreicht Hahn in der Kurzfassung allein den dritten („vom Gesichtspunkt der Staatswirtschaft“). Die umfangreiche Abhandlung über die Prostitution im Hauptwerk begründet der Autor mit der Absicht, die „Schwierigkeiten zu ermessen, welche sich der christlichen Liebe entgegenstellen, wenn sie es unternimmt, auch den Unglücklichen, die im Zustande der Prostitution leben, eine rettende Hand zu reichen.“ (S. 12) Ohne dass die Gute-Hirt-Schwestern direkt genannt werden, ist hier offensichtlich auf ihre „rettende Hand“ angespielt. Solange eine sichere äußere Bezeugung nichts Gegenteiliges zutage fördert, erscheint aus inneren Kriterien also etwa folgende Situation für die Abfassung des Werks vorstellbar: Heinrich Hahn erkannte als engagierter katholischer Arzt mit politischem und sozialem Gespür die Notwendigkeit, dass die katho-

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lische Kirche sich unter dem Eindruck der katastrophalen Missstände im frühindustriellen Aachen nach dem Schicksalsjahr 1848 den gesellschaftlichen Fragen zuwandte, besonders auch der Bekämpfung der Prostitution; denn deren Ausbreitung war Hauptursache für den gesellschaftlichen Niedergang. (Ähnliche Bemühungen sind zu Hahns Lebzeiten aus anderen katholischen Großstädten wie Neuss und Koblenz bekannt.) Die in Aachen ansässigen deutschen Schwesternkongregationen, auch die neu gegründeten lokalen ArmenSchwestern vom heiligen Franziskus und die Schwestern vom armen Kinde Jesus, taten sich mit dieser undankbaren Aufgabe verständlicherweise schwer. Franziska Schervier, die Gründerin der erstgenannten, erkannte zwar durchaus auch die besondere Notwendigkeit und bemühte sich sogar persönlich in der Angelegenheit, musste aber erkennen, dass sie für diese Aufgabe nicht die geeigneten Mittel besaß. Ihr Ordenscharisma richtete sich primär auf die Situation himmelschreiender Armut, in der sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der Großteil der städtischen Bevölkerung befand; diese Armut wollten Franziska Scherviers Schwestern im Geist des hl. Franziskus teilen und lindern. Nachdem Heinrich Hahns Bemühungen schließlich von Erfolg gekrönt waren und die Schwestern vom Guten Hirten dann wirklich ihre Arbeit in Aachen aufnahmen, begleitete Franziska Schervier persönlich ihre bisherigen Schutzbefohlenen in das neue Haus und übergab sie der Obhut der neuen Oberin. Die Schwestern vom Guten Hirten waren die einzige Kongregation, die für die delikate Aufgabe des Umgangs mit bisherigen Prostituierten gut gerüstet schien. Sie hatten in Frankreich, v.a. in Paris selbst, schon eine Menge Erfahrung mit diesem Apostolat gesammelt und konnten auf anfängliche Erfolge beim mühsamen Geschäft der gesellschaftlichen und kirchlichen Wiedereingliederung ehemaliger Prostituierter verweisen. Ein Zweig ihres Ordens („Magdalenen“) bot Frauen mit entsprechendem Hintergrund eine berufliche und biographische Perspektive. Die Idee, sie in Aachen ansässig zu machen, stieß aber auf den Widerstand der staatlichen Stellen, v.a. wohl aus Misstrauen gegen einen ausländischen, zumal französischen Orden, der sich nicht exklusiv der Krankenpflege widmete. Diesen Widerstand möchte Heinrich Hahn in seinem Werk argumentativ brechen oder wenigstens die Bedenken zerstreuen. So stellt er sich als Gesprächspartner seiner Abhandlung einen wohlwollenden oder zumindest neutral und objektiv urteilenden preußischen Beamten protestantischen Bekenntnisses vor, dem er vom katholischen Standpunkt aus die Notwendigkeit und Nützlichkeit einer solchen Ordensniederlassung erklärt. Die Hauptthese wird gleich zu Beginn formuliert: Der Staat ist doch von sich aus unfähig, die Probleme der Gesellschaft zu lösen. Das gilt gerade gegenüber dem Anspruch des modernen preußischen Staates auf Allzuständigkeit. Der Beitrag der Kirche mit ihrer Erfahrung, ihrer weltweiten Vernetzung und den Werten ihrer Tradition ist unerlässlich. Heinrich Hahn denkt hier pluralistisch. Auf keinem Gebiet, weder bei der Armenfürsorge noch bei der Krankenpflege noch in der schulischen Erziehung, behauptet oder fordert er ein

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Monopol der Kirche, wohl aber ihre Freiheit und ihr Recht, auf diesen Gebieten tätig zu werden. Diese apologetische Grundhaltung durchzieht das ganze Werk, ohne Polemik gegen andere Glaubensrichtungen. Als hypothetischer Leser des Werks und Gesprächspartner des Autors ist also näherhin ein Vertreter der Gegenthese vorzustellen: Der moderne (preußische) Staat ist in der Lage und besitzt alle nötigen Mittel, mit den gegenwärtigen Defiziten des menschlichen Zusammenlebens aufzuräumen. Die Reformansätze aus einer humanistisch gewendeten Aufklärung enthalten alle nötigen Antworten auf die sozial-, gesundheits- und bildungspolitischen Herausforderungen. Der Staat ist dafür keinesfalls auf die Hilfe der Kirche angewiesen. Deren Zeit ist spätestens mit der napoleonischen Säkularisation abgelaufen, mindestens was ihre gesellschaftliche Wirksamkeit angeht. Im Gegenüber zu solchen laizistischen Vorstellungen entwirft Heinrich Hahn die Vision einer Kirche, die den sozialen Herausforderungen der Gegenwart nicht nur gewachsen ist, sondern wegen ihrer strukturellen Überlegenheit gegenüber dem Staat dafür unersetzlich ist. Sein Werk ist also eine wichtige Standortbestimmung und Selbstbesinnung der Kirche auf ihr Wesen und ihren Auftrag in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Vorstellung eines imaginären Gesprächspartners hilft erheblich zum Verständnis der Schrift. Denn der Autor Heinrich Hahn befindet sich in ständigem innerem Dialog mit ihm, literarisch erkennbar an den vielen Ankündigungen, Erklärungen oder Rechtfertigungen des Vorgehens, Einholung von Erlaubnissen oder Entschuldigungen bei Überlänge usw. Hintergrund für die Schrift Hahns ist die Erfahrung der katholischen Kirche in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, dass ihre bisherigen Kräfte den neuen, ganz unvertrauten Anforderungen, die das heraufziehende Industriezeitalter und die soziale Frage mit sich brachten, nicht gewachsen waren. Einerseits traut Hahn der Kirche zu, diese Herausforderung anzunehmen; andererseits erkennt er, dass die traditionellen Gemeinden, Bistümer und Orden damit hoffnungslos überfordert sind. Die Gründung neuer, zeitgemäßer Kongregationen ist nötig. In Aachen zeichnete sich durch die frühen Gründungen von Clara Fey (1844 für verwahrloste Kinder) und von Franziska Schervier (1845 für Krankenpflege) schon eine gewisse Arbeitsteilung ab. Die von Hahn nun betriebene Einführung der in Preußen bisher unbekannten Schwestern vom Guten Hirten (für sozial schwache junge Frauen, gegründet 1835) ist so gut wie eine Neugründung. Zwei Kusinen von Clara Fey (Helene und Luise Fey) waren maßgeblich an der letztendlich gelungenen Errichtung der ersten preußischen Niederlassung in Aachen beteiligt. 1835 hatte der Aachener Pfarrer Nellessen schon einmal ein Haus für besserungswillige Prostituierte gegründet, es aber nach kurzer Zeit mangels geeigneter Leitung wieder aufgeben müssen. Hahn, der schon früh dem Kreis um Oberpfarrer Nellessen angehört hatte, schloss aus dieser ernüchternden Erfahrung, dass nur ein Orden die nötige Kontinuität einer derartigen Arbeit sichern konnte. Zur Inner-Aachener Arbeitsteilung über den katholischen Rahmen hinaus gehört auch, dass für die

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„tugendhaften Wöchnerinnen“ das Marianneninstitut (benannt nach der preußischen Prinzessin Marianne) rein aus bürgerlicher Wohltätigkeit errichtet wurde, während die Mütter unehelicher Kinder und ehemalige Prostituierte auf kirchliche Institute abgeschoben wurden.

Weiterer Zusammenhang: Der innere Weg Hahns von der Caritas zur Mission Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, die Entstehung des gesamten umfangreichen Werkes allein aus dem Interesse an der Resozialisation der Prostituierten und dem Engagement für die Gute-Hirt-Schwestern heraus zu erklären. Im Lauf der mehrjährigen Abfassungsgeschichte der „christlichen Liebe“ überschneidet sich dieser erste Anlass immer mehr mit einem zweiten Leitmotiv. Hahns Abhandlung führt im Gesamtduktus hin auf das Thema der Missionsgeschichte. Ebenso groß wie sein Engagement in der Bekämpfung der Prostitution war seine schon seit längerem erstarkte Liebe zur katholischen Weltmission. Seit 1832 war er Betreiber und Gründungsmitglied des FranziskusXaverius-Missionsvereins. In seinem Werk berühren und verflechten sich die beiden Themen: Die „Christliche Liebe“ geht aus von der Problematik der Prostitution und mündet praktisch in die ersten Kapitel der Missionsgeschichte. Die gedruckte fünfbändige Missionsgeschichte ist inhaltlich die nahtlose Fortführung, so wie sich biographisch ihre Abfassung unmittelbar an den Abschluss des großen Manuskripts anschloss. Diese Quellenlage führt leicht dazu, die ursprüngliche Absicht und Inspiration Hahns zu verkennen: Die Missionsfrage ist für ihn von Anfang an engstens mit der sozialen Frage verknüpft. Er erörtert die Missionstätigkeit unter der Großüberschrift „soziale Früchte der christlichen Liebe“. Die Verkündigung des Evangeliums ist eine Tat der Liebe18 genau wie die Sorge für Arme, Kranke und Ungebildete. Die inhaltliche Kontinuität wird v.a. von den Orden garantiert, deren Wirksamkeit sich seit jeher auf beide Felder, Caritas und Mission, erstreckt. Indem er die Wirksamkeit der Orden ausführlich schildert, geschieht der Themenwechsel sozusagen unter der Hand wie von selbst. Inhaltlich ist dieser Zusammenhang für Hahn völlig unbestreitbar; literarisch ist ihm die Verbindung der beiden Themen wohl nur unvollkommen gelungen, wie aus den redaktionellen Problemen (unausgewogene Proportionen und Textbrüche am Ende des Manuskripts) deutlich wird. Heinrich Hahn beruft sich in „die christliche Liebe“ auf das für ihn vorbildliche Werk Pauline Jaricots, ohne jedoch ihren Namen zu nennen19. Ähnlich 18 19

So hat Arnold Janssen am Ende des 19. Jahrhunderts seine Beweggründe formuliert, einen neuen großen Missionsorden zu gründen. „Im Jahre 1822 lebte zu Lyon eine schlichte Frau, deren Namen nicht bekannt geworden ist. Sie war es, die es unternahm, für den Unterhalt der armen Missionare Almosen zu sammeln,

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wie der Name Jaricots im Zusammenhang mit dem Internationalen Missionsverein nicht genannt wird, verschweigt Heinrich Hahn auch seinen eigenen Namen, wenn es um die Gründung des Xaverius-Vereins in Deutschland geht.

Gesamtwürdigung Heinrich Hahns Werk „Christliche Liebe“ ist in der Zeit unmittelbar nach 1848 ein Versuch, im Rahmen der durch die neue Verfassung gewährten Rechte für die Kirche einen Raum der Freiheit zu fordern. Der Katholik Hahn steht zwar nicht auf Seiten der Revolutionäre. Er will loyaler Bürger seines Gemeinwesens sein. Patriotisches und obrigkeitliches Denken ist ihm nicht fremd. Auf eine gute Beziehung zum regierenden Herrscherhaus und auf ein korrektes Verhältnis zu den staatlichen Stellen legt er großen Wert. Aber die Kirche braucht mehr Bewegungsfreiheit. Nur so kann sich ihr Wirken zum Wohl aller und des Ganzen fruchtbar entfalten. Freiheit auch im Sinn der Verfassung von 1848 ist für ihn ein hoher Wert; allerdings versteht er sie nicht primär im Sinne des Liberalismus als absolute individuelle Freiheit, sondern v.a. als kollektive Freiheit der Kirche, ihren im Evangelium begründeten Auftrag unbeeinträchtigt durch staatliche Bevormundung zu erfüllen. Dem preußischen Staat, dessen Bürger der Aachener Katholik Heinrich Hahn ist, gesteht er zwar guten Willen bei der Bekämpfung der gegenwärtigen Herausforderungen zu, ob in der Sozial-, Gesundheits- oder Bildungspolitik. Er nimmt sich aber auch das Recht zu fundamentaler Kritik und zum Hinweis auf ungelöste Widersprüche: Der Staat erlaubt zwar konfessionelle Schulen; aber leider legt er dabei religiöse Toleranz im Sinne von Indifferenz aus und leistet so religiösem Relativismus Vorschub. Die Pressefreiheit führt zur Verbreitung von Schriften, die das öffentliche Ethos untergraben, während die Öffentlichkeitsarbeit der katholischen Kirche in der Entfaltung ihrer heilsamen Wirkung behindert wird. Man bemüht sich um Bekämpfung der Kriminalität und um humanen Strafvollzug, übersieht dabei aber, dass nur eine erneuerte religiöse Praxis die Moralität der Bevölkerung heben könnte. Man bekämpft Symptome und vernachlässigt die Prophylaxe. Die öffentliche Hand kontrolliert die Schankwirtschaften, ist aber machtlos gegen den stetig wachsenden häuslichen Alkoholismus, während im katholischen Irland eine religiös motivierte Abkehr vom Nationallaster der Trunksucht erfolgt ist (S. 48). Solange der Staat auf die Einnahmen aus Lotterien und Spielbanken schielt, ist sein Kampf gegen die Spielsucht aussichtslos. Wenn der Staat die öffentliche Prostitution behindert, fördert er die heimliche. Am eigentlichen Problem ändert er nichts. Nur die Kirche bietet besserungswilligen Prostituierten einen Rückweg das Almosen aber mit dem Gebet zu verbinden. Hiermit war der Verein zur Verbreitung des Glaubens, der in Deutschland häufiger den Namen des Xaverius-Vereins führt, gegründet.“; S. 147.