HANS HERKOMMER MODERNE ARCHITEKTUR EXEMPLARISCH ( ) KATALOG ZUR AUSSTELLUNG

MODERNE ARCHITEKTUR EXEMPLARISCH HANS HERKOMMER (1887-1956) KATALOG ZUR AUSSTELLUNG IN DER ARCHITEKTURGALERIE KAISERSLAUTERN Herausgegeben von: Matt...
Author: Krista Albert
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MODERNE ARCHITEKTUR EXEMPLARISCH

HANS HERKOMMER (1887-1956) KATALOG ZUR AUSSTELLUNG IN DER ARCHITEKTURGALERIE KAISERSLAUTERN

Herausgegeben von: Matthias Schirren Unter Mitarbeit von: Sara Brück und Ulrike Weber Modellfotografien von: Bernhard Friese

Vorwort

Ausstellung und Katalog resümieren die Beschäftigung mit dem Stuttgarter Achitekten Hans Herkommer (1887-1957) im Rahmen eines Stegreifs und eines Geschichts- und Theorieseminars am Studiengang Architektur der Technischen Universität Kaiserslautern im Wintersemester 2009/2010. Anlass, sich mit Herkommer zu beschäftigen, war die sogenannte Villa Glaeser am Ostrand Kaiserslauterns. Ziel des Seminares war, die spezifische Modernität der Bauten Herkommers begreifbar zu machen, ihr auf die Spur zu kommen. Wir fokussieren in der Ausstellung auf neun in den 1920er Jahren entstandene Bauten und einen unausgeführten Wettbewerbsentwurf. Insgesamt umfasst Herkommers architektonisches Werk, das zwischen 1909 und 1956 entstand, weit über hundert Projekte, unter denen zahlreiche Kirchenbauten hervorstechen. Einige der Studierenden haben neben den im Stegreif gefertigten Modellen auch Katalogtexte verfasst. Die drei Aspekte, unter denen wir die Bauten Herkommers in den Blick nahmen waren Material, Konstruktion und städtebauliche Einbindung. Sie alle übergreift die Frage nach der Modernität seiner Bauten. Sie ist nur exemplarisch, also in der Betrachtung des jeweiligen Einzelfalls zu beantworten. Darauf bezieht sich der Titel der Ausstellung. Auf der internationalen Hans-Herkommer-Tagung am 28. und 29. Oktober 2010 im Architekturgebäude der TU werden wir dieser Frage vertieft und unterstützt durch auswärtige Referenten nachgehen. Wer sich für die weitere Entwicklung unseres Herkommer-Projektes interessiert, kann sich unter dem Link unseres Lehrgebiets www.gta-kl.de informieren. Den Studierenden, die sich für das Projekt begeistern ließen und zusätzlich zu ihren Referaten aufwändige Modelle bauten, gilt mein erster Dank, meinem Kollegen Johannes Modersohn, der das Projekt zu seinem eigenen machte und zusammen mit seinen wissenschaftlichen Mitarbeitern Denis Andernach und Nicolas Bahnemann den Modellbau betreute, ein mindestens ebenso erstrangiger. Erwähnt werden müssen die Mitarbeiter der Modellbauwerkstatt, für die hier stellvertretend Andreas Stengele genannt sei. Die Modelle unvergleichlich in Szene setzen die Bilder des Pforzheimer Fotografen Bernhard Friese, der in sie mehr Aufwand steckte, als wir honorieren können. Eine Hauptlast von Ausstellung und Katalog schulterten die Mitarbeiter meines eigenen Lehrgebiets, allen voran Sara Brück und Ulrike Weber, die auch die Übungen zu dem Theorieseminar betreuten. Florian Budke und Eva-Maria Ciesla brachten ihre Fähigkeiten in das Layout von Katalog und Ausstellung ein. Immer verlässlich und zuvorkommend war die Mitarbeit von Kurt Mautschke und Ingrid Romani, von den studentischen Hilfskräften seien insbesondere Silvia Köllner und Willem Balk namentlich erwähnt. Ohne unterstützungsfreudige Geldgeber wäre ein Projekt wie dieses nicht zu realisieren. Der Hauptbeitrag kam vom Ministerium für Finanzen des Landes Rheinland-Pfalz, Dialog Baukultur, Herr Dr. Sommer. Erwähnt sei auch der Landesschwerpunkt Region und Stadt der TU Kaiserslautern, dem ich die Ehre habe anzugehören und für den hier stellvertretend die Sprecher Frau Kollegin Troeger-Weiss und Herr Kollege Steinebach genannt werden. Wenn ich an dieser Stelle auch den Studiengang Architektur selbst erwähne, so deshalb, weil es keine Selbstverständlichkeit ist, dass man an einer universitären Einrichtung die Möglichkeit hat, eine Architekturgalerie zu bespielen. Peter Spitzley, dem stellvertretenden Geschäftsführer unseres Fachbereichs, gebührt der Dank dafür. 6 7

Die Architektenkammer Rheinlandpfalz hat uns mit einem Druckkostenzuschuss unterstützt. Im Impressum sind die weiteren Geldgeber aufgeführt. Wir nennen ihre Namen hier nicht noch einmal, sondern nutzen den Raum, um zu betonen, dass von allen, die da stehen, unser Projekt im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten auf die zuvorkommendste Weise gefördert wurde. Bei einigen von ihnen hat Dr. Elke Sohn, Saarbrücken, dazu beigetragen, ihr Interesse zu wecken. Dafür sei auch ihr an dieser Stelle sehr herzlich gedankt. Der letzte Dank dieses Vorworts geht an Archive und Ämter, ohne deren Hilfe historische Aufarbeitung der Grundlagen entbehrten: das Südwestdeutsche Archiv für Architektur und Ingenieurbau (SAAI) des Karlsruher Instituts für Technologie, namentlich Dr. Gerhard Kabierske und Dr. Ulrich Schumann haben uns in das vorbildlich aufgearbeitete Archiv Hans Herkommers eingeführt und unsere Fragen zu Herkommer geduldig und inspirierend beantwortet. Das Referat für Stadtentwicklung, untere Denkmalschutzbehörde, der Stadt Kaiserslautern, Frau Sabine Aumann und namentlich Herr Martin Klemenz, haben unsere Recherchen zur Villa Glaeser im Bauarchiv vor Ort aufs freundlichste unterstützt. Kaiserslautern im Oktober 2010 Matthias Schirren

VORWORT

ESSAYS

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Abb. 1: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, Ansicht von Westen (1928)

Abb. 2: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, Ansicht von Nordwesten (1928) EINFÜHRUNG

Daseinsform und Wirkungsform. Das Exemplarische der „Villa Glaeser“ in Kaiserslautern. Matthias Schirren An der Grenze seines östlichen Weichbildes, dort wo die alte, in ihrem ersten Ausbau auf Napoleon zurückgehende Überlandstraße nach Mainz den Abzweig nach Enkenbach-Alsenborn entlässt, besitzt die Stadt Kaiserslautern ein einzigartiges bauliches Ensemble. Eingebettet in die Eselsfürth, einen bachlaufdurchzogenen, etwas sumpfigen Talgrund, wie er für den hier sich von Süden heranschiebenden Pfälzerwald typisch ist, erhebt sich die hellverputzte Kubatur eines dreigegliederten Bauwerks, das sich der kunstsinnige Emaille-Fabrikant Max Glaeser 1927/1928 von dem Stuttgarter Architekten Hans Herkommer (1887-1956) errichten ließ. Bis in die fünfziger Jahre ist der Bau von der Familie Glaeser selbst bewohnt worden. Seit die letzten Mieter des immer noch in Familienbesitz befindlichen Gebäudes vor einigen Jahren ausgezogen sind und Kupferdiebe zu Zeiten der Buntmetallhausse an den internationalen Märkten die grün schimmernde Dachdeckung stahlen, ist das unter Denkmalschutz stehende Gebäude allerdings dem zunehmenden Verfall preisgegeben und bedarf schon deshalb erhöhter Aufmerksamkeit. Das war der erste Anlass, sich mit dem Gebäude und seinem Architekten zu befassen. Der zweite ergab sich aus der näheren Kenntnis des Bauwerks, gehört es doch zu den wenigen weitgehend original erhaltenen Gebäuden der sogenannten Klassischen Moderne der 1920er Jahre in der Pfalz. Selbst sein Außenputz stammt noch aus der Erbauungszeit. Avantgarde und Tradition Das Bild der Klassischen Moderne hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Keineswegs sind es nur noch die Heroen des Bauhauses sowie die in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung von 1927 vertretenen Architekten und Positionen, die es prägen. Mit der differenzierteren Aufarbeitung der Geschichte der Moderne im 20. Jahrhundert, die sich in Deutschland publikumswirksam vor allem an die beiden Architekturmuseen in Frankfurt und München knüpft, respektive einschlägige Berliner Institutionen, sind auch „konservativere“ Architekten in das Blickfeld der Geschichtsschreibung getreten. Die von dem Münchner Theodor Fischer während seiner Stuttgarter Professur (1901-1909) begründete Schule, nimmt hier eine besondere Rolle ein. Obwohl berühmt gewordene spätere Avantgardisten der 1920er Jahre zu den Schülern von Fischer gehörten, wie beispielsweise Ernst May, Bruno Taut und Hugo Häring, wurde das Bild der sogenannten „Stuttgarter Schule“, die sich auf Theodor Fischer zurückführte, vor allem von Architekten wie Paul Schmitthenner und Paul Bonatz geprägt, auch von Martin Elsässer. Schmitthenner und Elsässer und demnächst auch Paul Bonatz wurden und werden umfangreiche Werkschauen ausgerichtet, die die Modernität ihres Bauens und Denkens trotz ihrer Ablehnung einiger Radikalpositionen der Avantgardisten der 1920er Jahren nicht in Frage stellen. Auch die lange Zeit im Vordergrund stehende persönliche Kompromittierung einiger dieser Architekten durch ihre mehr oder weniger offene, entweder nur angestrebte oder, wie im Falle Schmitthenner, offen propagierte Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten vor und während des Dritten Reiches hat daran nichts geändert. Sie wird als Gegenargument durch den Hinweis auf die Kompromittierung von Avantgardisten á la Ludwig Mies van der Rohe entkräftet, der vor seiner Emigration in den dreißiger Jahren durchaus bereit war, sich den Nationalsozialisten als Architekt zur Verfügung zu stellen. Hans Herkommer war ein Schüler eben jener oben erwähnten Stuttgarter Schule. Zu seinen wichtigen Lehrern gehörten der derzeit mit seinem Stuttgarter Bahnhof (vgl. Abb. 4) über die Fachöffentlichkeit hinaus bekannt gewordene Paul Bonatz und der vor allem als evangeli10 11

scher Kirchenbauer reüssierte Martin Elsässer. Mit der Frankfurter Großmarkthalle (vgl. Abb. 3) ist auch Elsässer übrigens Architekt eines Bauwerks, das durch seine Umnutzung – es wird bekanntlich zu einer Art Vorhalle des Hochhauses für die Europäische Zentralbank – in die Schlagzeilen der letzten Monate geriet. Die Entkernung und Befreiung von maßstäblichen, seine Großform in die städtebauliche Umgebung einbindenden Anbauten warf ganz ähnliche Fragen auf, wie sie beim geplanten (und inzwischen teilrealisierten) Abriss der Flügelbauten des Stuttgarter Hauptbahnhofs diskutiert wurden und werden. Hans Herkommers Bauten, insbesondere auch die katholischen Kirchenbauten, die sein gesamtes Oeuvre vom Beginn seiner Bautätigkeit in den 1910er Jahren bis hin zu den 1950er Jahren durchziehen, changieren auf eine geradezu programmatisch anmutende Weise zwischen Moderne und Tradition. Für die Beschäftigung im Rahmen eines Studienprojektes mit Architekten in der Ausbildung bieten sie sich besonders an, denn Themen wie die Bedeutung der Konvention, die typologische Zuordnung eines Bauwerks, die Frage des Umgangs mit Typologien überhaupt, lassen sich an ihnen besonders gut diskutieren. Ihr Architekt leugnete die Tradition nicht einfach (kein guter Architekt tut oder tat das je wirklich) vielmehr strebte er ein vermittelndes Verhältnis zu ihr an. Auch das Haus Glaeser, entstanden auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen um das Neue Bauen der 1920er Jahre, kann in diesem Sinne als changierend bezeichnet werden. Klassifizierend ist ihm ohnehin schwer beizukommen. Das beginnt schon bei seiner Benennung. Ist es eine „Villa“, wie der Bau vom Volksmund, wohl lediglich in Anspielung auf den wohlhabenden Bauherrn getauft wurde, der seine Fabrik gleich auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte. Oder ist es ein „Landhaus“, wie es Hermann Graf nannte, der damalige Direktor des Pfälzischen Gewerbemuseums und entscheidende Publizist für die Durchsetzung der Moderne in der Pfalz. Er veröffentlichte den Bau noch im Jahr seiner Fertigstellung in einem der ersten Hefte der von ihm initiierten Zeitschrift Hand und Maschine, die er besser Die Neue Pfalz genannt hätte, war sie doch für die pfälzischen Verhältnisse in etwa das, was für die Metropole Frankfurt am Main ein Blatt wie das von Josef Gantner redigierte Neue Frankfurt war, und für die damalige Reichshauptstadt Adolf Behnes Neues Berlin. In jedem Fall ist das, was wir heute von dem ursprünglich geplanten Gesamtensemble des Landhauses wahrnehmen (wir bleiben bei dem durch die zeitgenössische Verwendung hinreichend legitimierten Begriff) ein Fragment. Nicht nur weil die Auflösung der Kunstsammlung des Herrn Kommerzienrat nach dem Zweiten Weltkrieg den Bau seines wichtigsten Inhaltes beraubt hat, sondern vor allem auch, weil die von Glaeser prospektiv gefeierten Außenanlagen vermutlich nie realisiert wurden. Daseinsform und Wirkungsform Wie steht es mit der formalen Bewältigung der architektonischen Aufgabe? Auf den ersten Blick sichtbar trägt der Bau in der freien Ausponderierung seiner ineinander verschränkten Kuben, den zwar leicht geneigten, aber vom Betrachter als flach wahrgenommenen Dächern, vor allem aber in den liegenden, mitunter sogar um die Ecke gezogenen horizontal geteilten Fenstern Züge jener Klassischen Moderne der 1920er Jahre, die man gemeinhin mit dem Bauhaus verbindet. Vergleicht man den Kaiserslauterer Bau allerdings mit den Dessauer Meisterhäusern (errichtet 1925/1926) des Bauhausdirektors Walter Gropius, so werden die Unterschiede offenbar. Wo Gropius’ als Stahlkonstruktion errichtete Bauten leicht und wie versetzbar wirken – eine Entsprechung zu seiner seit 1922 verfolgten Idee eines „Baukastens im Großen“ (vgl. Abb. 5), in dem sich die Kuben eines Hauskörpers durchdringen sollten wie in neoplastizistischen Kunstwerken – begegnet der als eine Mischkonstruktion aus Beton und traditionellem Mauerwerk errichtete Bau Herkommers dem Betrachter vergleichsweise schwer und lastend. Das gilt vor allem für die Hauptfassade des Bauwerks (schon daß es eine EINFÜHRUNG

solche gibt, ist bemerkenswert), die sich blickparallel zur Mainzer Straße strikt nach Westen ausrichtet (vgl. Abb. 1). Sie ist betont durch eine Gruppe von fünf Rundbogenöffnungen, die als Türen einen Balkon im ersten Stock des Gebäudes erschließen und sich ebenso wie die symmetrisch dreigliedrige Wandöffnung darunter effektvoll von den ansonsten feierlich geschlossenen Wandflächen des Gebäudemitteltraktes abheben. Suchte man nach einer entsprechenden Fassadenaufteilung in der zeitgenössischen Architektur, man fände sie nicht bei den Avantgardisten im Sinne von Bauhaus und Weißenhofsiedlung. Vielmehr findet man sie im Lager der Weissenhofgegner, etwa im Werk von Paul Schmitthenner, der der „Um 1800“- Bewegung der Jahrhundertwende treu geblieben war, und der, wie der etwas jüngere Paul Bonatz ebenfalls, den Monumentalstil der Moderne vor dem Ersten Weltkrieg auch während der Weimarer Republik weiterpflegte. Die Gartenfassade von Bonatz’ eigenem Wohnhaus, das er 1922 am Bismarckturm in Stuttgart errichtet hatte (vgl. Abb. 7), spielt – bei stärkerer Durchfensterung des Erdgeschosses – mit einem ähnlichen Effekt wie die West- und Gartenfassade des Landhauses Glaeser (vgl. Abb. 8). Er bannt den Betrachter auf eine Frontalansicht und vermeidet alle dynamischen Formelemente, die ihn auffordern könnten, um das Gebäude herum zu gehen. Bei der Villa Glaeser ist die Westfassade zweifellos ganz in diesem Sinne auf eine Fernsicht hin berechnet. Sie entspricht einer Forderung für die augengerechte Formausbildung eines Gegenstandes, sei er nun eine Plastik oder ein Haus, wie sie der unter den Fischerschülern und auch von Fischer selbst immer wieder berufene Münchener Bildhauer Adolf von Hildebrand bereits 1890 in seiner Schrift Das Problem der Form in den bildenden Künsten aufgestellt hatte. Zu den oben erwähnten nicht realisierten Außenanlagen der Villa Glaeser gehörte ein langgezogenes rechteckiges Wasserbecken (vgl. Abb. 9). Es ist nicht nur auf den westlich gelegenen, älteren Wohnsitz des Bauherrn orientiert, sondern seine Funktion besteht auch darin, die Westfassade des Landhauses für alle diejenigen im Sinne der Hildebrandschen Fernsicht zu monumentalisieren, die sich dem Bau auf der leicht ausschwingenden Mainzer Landstraße von Kaiserslautern her näherten. Die so zu gestaltende Fernsicht eines Gegenstandes nannte Hildebrand dessen „Daseinsform“, während er dessen dynamisierte Nahsicht als „Wirkungsform“ apostrophierte. Ihr begegnet man, wenn man sich dem Gebäude auf der birkenbestandenen Zufahrt von der Nordseite her nähert. Die Zufahrt ist leicht gebogen und dreht damit das Gebäude für den Herankommenden leicht aus der Achse, sodass nun die dynamische Staffelung des Baukörpers deutlich wird (vgl. die Ansicht auf Abb. 2): von dem zurückversetzten eher vertikal betonten Servicetrakt mit Dienstboteneingang und schlitzartiger Treppenhausbelichtung über den lagernden Mitteltrakt mit den aus dieser Perspektive nur in der Verkürzung sichtbaren, vertikal betonten Rundbogenmotiv bis hin zu dem niedrigeren, weit vorspringenden und damit gewissermaßen in den Garten auslaufenden Anbau auf der Südseite der Terrasse, der das Arbeitszimmer des Hausherrn enthielt. Seine horizontal geteilten Vertikalschiebefenster - es sind solche, wie sie der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright für den besseren Ausblick aus seinen Präriehäusern um die Jahrhundertwende erfunden hatte und wie sie spätestens seit der großen Wasmuthpublikation seiner Bauten im Jahr 1911 den deutschen Architekten bekannt waren - korrespondieren mit der dynamisierenden Wirkung der um die Ecke gezogenen Fenster am Servicetrakt. Herkommer hat den Baukörper mit den auf den ersten Blick widersprüchlichen Formelementen von liegenden Fenstern einerseits und vertikal betonten andererseits geradezu modelliert und schon dieses sehr individuelle und doch aus einer architekturtheoretischen Diskussion der Zeit heraus entwickelte Verfahren macht die „Villa“ Glaeser zu einem einzigartigen Gebilde.

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Weg und Platz, Licht und Raum Präsentiert sich so das Äußere des Bauwerks als vom Ausgleich polar aufeinander bezogener Gestaltungsmöglichkeiten geprägt, so ist das Innere nicht weniger komplex organisiert. Man könnte es mit dem berühmten Aufsatztitel des Wiener Architekten Josef Frank von 1931 als „Haus als Weg und Platz“ bezeichnen. Frank hatte dabei die englischen Landhäuser und den von Adolf Loos aus ihren Prinzipien entwickelten Raumplan vor Augen, der das Stockwerksdenken in der Architektur überwinden sollte. Deren Hauptmerkmale, eine zentrale Halle, gegeneinander verspringende Raumhöhen und frei sich entwickelnde Treppen, hat das Landhaus Glaeser zwar nur ansatzweise zu bieten, eine in der Intention des Architekten liegende Rhythmik von gerichtetem Raum (Weg) und tendenziell ungerichtetem, zum Verweilen einladendem (Platz), ist aber auch in seiner Anordnung der Raumabfolge spürbar. Und in der Lenkung des Blicks: Mehrfach kommt Hermann Graf in seiner oben erwähnten Besprechung auf die Ausblicke zu sprechen, nach denen der Bau konzipiert sei. Eines der beiden langgezogenen Vertikalschiebefenster auf der Ostseite des Bauwerks, die über eine Wiese hinweg auf einen größeren Teich auf der Rückseite des Hauses gerichtet sind (vgl. die Außenansicht auf Abb. 14), belichtet einen mit einer aufwändigen künstlichen Lichtdecke überfangenen Flur. Die Lichtdecke (vgl. Abb. 5 auf S. 120) hat, wie Julia Hinsch in ihrem Katalogartikel richtig schreibt, ihre Entsprechung in den gleichzeitigen und späteren Kirchenbauten Herkommers. Ist sie dort auch konstruktiv bedingt (vgl. hierzu den Beitrag von Ulrike Weber zur Baukonstruktion), so betont sie hier ausschließlich die Richtung des Raumes, charakterisiert ihn als „Weg“. Betritt man den Flur vom Garderobenvorraum her, wird man gleichsam vorbeigeführt an dem klein dimensionierten Wohnzimmer zur Rechten, um zu dem wichtigsten Raum des Gebäudes zu gelangen. Im Grundriss ist er altertümlich als „Salon“ ausgewiesen (vgl. Abb. 10 sowie Abbildung 8 auf S. 123). Hier präsentierte der Hausherr die „Highlights“ seiner Sammlung, Bilder von Max Liebermann und Edward Munch bis hin solchen von Karl Hofer und Ernst Ludwig Kirchner. Wollte man für den Raum mit seiner deutlich erhöhten, fast sakralen Decke eine Entsprechung in traditionellen Raumtypologien benennen, so könnte man in der Tat auf die zentrale Halle des englischen Landhauses verweisen. Die plastisch aufwändig gestaltete und mit – bis heute erhaltenen - Beleuchtungskörpern ausgestatte Decke des Raumes ist dreigeteilt, sodass er trotz seiner nahezu quadratischen Grundform eine Richtung hat. Sie schwenkt gegenüber dem Flur um neunzig Grad und ist so auf die Westwand des Raumes gerichtet, hinter der sich das Herrenzimmer des Hauses befindet. Daß der Raum dennoch nicht als reiner Durchgangsraum empfunden wird, vielmehr eben auch als ruhender „Platz“, hat Herkommer unter anderem durch den in die linke Ecke verlagerten, parallel zur Wand liegenden Aufgang in das Herrenzimmer erreicht, den man diagonal erblickt, wenn man den Raum vom Flur her – ebenfalls außerhalb der Mittelachsen des Raumes – betritt. Strukturell entspricht diese Art der tangentialen Erschließung dem, was Theodor Fischer im Städtebau einen Turbinenplatz nannte, in Anspielung auf den tangentialen Eintritt des flüssigen Elementes in Wasserturbinen. Diese Erschließung ermöglicht größere zusammenhängende Wandflächen als die achsiale, sei es nun auf einem städtischen Platz oder wie hier: in einem Raum. Sie wirkt bergend und beruhigend auf die Raumstimmung, auch wenn es sich um einen Durchgangsraum handelt. In das Obergeschoss führt eine bequem dimensionierte, einläufige Treppe, die vom unteren Flur zwar durch eine Tür abgetrennt ist und bis zum Podest, auf dem sie um neunzig Grad abknickt, von einer Tonne überwölbt ist. Dennoch empfindet man nicht, in einem Stiegenhaus gefangen zu sein. Über dem Podest wird sie von einem Kreuzgratgewölbe überfangen, das sich dramatisch zur oberen Diele hin weitet. Man gelangt hier zu den eigentlichen Privaträumen: das Zimmer des Hausherrn und der Dame des Hauses auf der Ostseite, und ein EINFÜHRUNG

Gästezimmer auf der Südseite. Alle Räume gehen von dem zentralen Raum hinter den fünf Rundbogenöffnungen der Westfassade ab, der quer gelagerte Gang zu den Schlafräumen der Hausherrschaft verbunden durch drei weitere, fast kulissenhaft wirkende Rundbögen in den Achsen der mittleren Bögen der Westfassade (vgl. Abb. 11 und 12). Den Höhenversprung des Salons im Erdgeschoss nutzt Herkommer hier oben zu kleinen Podesten, die dem Zimmer der Dame und dem Gästezimmer vorgelagert sind. Der Raumeindruck dieser oberen „Halle“ ist vielfältiger und unruhiger als im Erdgeschoss. Fällt die Nachmittagssonne durch die eng stehenden Rundbögen und brechen sich ihre Schatten an den Kanten der inneren Bogenwand, stellt sich schnell die Lichtstimmung expressionistischer Filme der frühen zwanziger Jahre ein, Robert Wienes Cabinet des Dr. Caligari von 1920 beispielsweise oder auch Carl Theodor Dreyers von Hugo Häring architektonisch betreuter Film Michael aus dem Jahr 1924, um nicht immer nur Fritz Langs Metropolis oder auch seine Nibelungenverfilmung zu erwähnen, mit ihrem expressiv durch Buchenstämme gebrochenen Licht im Waldinnenraum (grün ist der erhaltene Linoleumbelag der oberen Halle im Haus Glaeser). Ist diese unruhige Raumstimmung ein vom Architekten beabsichtigter Effekt? Oder zahlt er hier den Tribut für sein traditionalistisches Festhalten am Monumentalbild der Westfassade, der „Daseinsform“ Adolf von Hildebrands? Wir wissen es nicht. Wir wollen die leichte Ironie auch nicht verschweigen, die darin liegt, dass ausgerechnet der mittlere der pathetischen fünf Bögen der Westseite auf die Toilettentür zwischen den Schlafräumen auf der Ostseite ausgerichtet ist. (In dem Schnittmodell von Silvia Köllner kann man das sehr gut erkennen, der von Julia Hinsch neu gezeichnete Grundriss dokumentiert es ebenso, vgl. S. 116). Daß aber der Lichteffekten so zugetane Architekt (siehe die Decken im Erdgeschoss der Villa sowie die effektvollen Lichtführungen in den Kirchen unserer Ausstellung), sich den Gast des Bauherrn auf dem aus der Raumachse gerückten, erhöhten Podest vor seinem Zimmer sitzend vorstellen konnte (vgl. Abb. 11), wie er das durch die wandernde Sonne hervorgebrachte Spiel von Licht und Schatten aus dieser exzentrischen Position so betrachtet, wie der berühmte LichtRaum-Modulator betrachtet werden wollte, den der Bauhauskünstlers László Moholy-Nagy – allerdings, und das sei zugegeben, erst 1930, also zwei Jahre nach Fertigstellung des Hauses Glaeser - zum Patent anmeldete, das können und wollen wir nicht ganz ausschließen. Epilog Das Beispiel des Lichtraummodulators sprengt zwar scheinbar den für eine historisch-kritische Erläuterung statthaften zeitlichen Rahmen. Es führt aber direkt zu einem der Bauten, die in Zuschnitt und Bauaufgabe dem Kaiserslauterer Unikat der Villa Glaeser ganz unmittelbar entsprechen, der Villa Schminke in Löbau (Sachsen), errichtet im Jahr 1932. Ihr Architekt, Hans Scharoun, hat sich für die Lichtstimmungen im Inneren seines ganz der avantgardistischen Moderne der 1920er verpflichteten Bauwerks bekanntlich von Moholy-Nagy anregen lassen. Was aber für die Kaiserslauterer Verhältnisse noch viel wichtiger ist: Die Stadt Löbau, wie Kaiserslautern in einer strukturschwachen Region gelegen, hat den einzigartigen Bau, der in den neunziger Jahren stark heruntergekommen war, nach seiner denkmalgerechten Instandsetzung in eine Stiftung eingebracht und betreibt ihn jetzt als eine Art Gästehaus. Die Eselsfürth, an der alten Kaiserstraße nach Mainz gelegen, wäre nicht der schlechteste Ort für eine Kaiserslauterer Entsprechung. Die Architektur Hans Herkommers bietet hierfür die besten Voraussetzungen. Sie ist exemplarisch für die in ihrem Anregungspotential gerade für das heutige Bauen nicht zu überschätzende traditionalistische Moderne der 1920er Jahre in Deutschland.

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Abb. 3: Martin Elsaesser: Großmarkthalle in Frankfurt, Ansicht von der Stadt (1928)

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Abb. 4: Paul Bonatz und F.E. Scholer: Hauptbahnhof in Stuttgart, Empfangshalle für den Fernverkehr (1913-27)

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Abb. 5: Walter Gropius: Baukasten im Großen (1923)

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Abb. 6: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, Nord- und Südansicht (1928) 18 19

Abb. 7: Paul Bonatz: Drittes eigenes Wohnhaus in Stuttgart, Am Bismarckturm, Gartenansicht (erbaut 1922, zerstört)

EINFÜHRUNG

Abb. 8: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, Westansicht (1928)

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Abb. 9: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, Lageplan (1928)

EINFÜHRUNG

Abb. 10: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, Grundriss Erdgeschoss (1928)

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Abb. 11: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, obere Diele Richtung Gästezimmer (2009)

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Abb. 12: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, obere Diele vom Podest aus (2009)

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Abb. 13: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, Westseite (2009)

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Abb. 14: Hans Herkommer: Villa Glaeser in Kaiserslautern, Ostseite (2009)

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St. Augustinus in Heilbronn (vgl. Kat.)

ARCHITEKTURMODELLBAU

Architekturmodellbau Johannes Modersohn

Das Modell ist ein wichtiges Ausdrucksmittel der Architekturdarstellung. Es eröffnet die Möglichkeit, ein Bauwerk vor dessen Realisierung dreidimensional erlebbar zu machen. Der Entwurf wird mit dem Modell das erste Mal plastisch überprüfbar. Geht man davon aus, dass das Ziel jeder Planung ein realisiertes Bauwerk ist, so kann das Architekturmodell als Platzhalter für den später zu erstellenden Bau angesehen werden. Am Modell lässt sich die räumliche Wirkung im Vorfeld überprüfen, es dient aber auch der Präsentation und Veranschaulichung einer Entwurfsidee. Das Architekturmodell ist kein Ersatz für die Architekturzeichnung, denn kein Gebäude wird unmittelbar nach einem Modell gebaut. Die detaillierte Ausführungszeichnung enthält selbstverständlich wesentlich exaktere und aussagekräftigere Informationen, die für eine bauliche Realisierung unerlässlich sind. Mit dem Modell werden andererseits viele Elemente, die in der zweidimensionalen Zeichnung nur abstrakt vorhanden sind, in der dritten Dimension im Gesamtzusammenhang sichtbar. Das Modell übersetzt die zweidimensional erstellten Vorgaben in eine plastische Form, die räumlich proportionalen Zusammenhänge werden im verkleinerten Maßstab sichtbar. Das Architekturmodell kann somit auf einer anderen Ebene mehr Informationen über ein Bauwerk oder die städtebauliche Konfiguration vermitteln, als es der Zeichnung möglich ist. Allerdings weicht das Modell im Detaillierungsgrad und auch in Material und Konstruktion von der realen Ausführung ab und schafft so jene ästhetische Distanz, die nötig ist, um das Modell als autonome Sprache zu verstehen. Auch die inzwischen mit dem Computer entwickelte Animationszeichnung mit höchst realistischem Anspruch, teilweise kaum noch von einer realen Architekturfotografie zu unterscheiden, kann die Raumvorstellung eines Modells nur ansatzweise transportieren. Trotz vielfältiger technischer Verfeinerungen hat das Architekturmodell seine grundsätzlichen Möglichkeiten seit seiner Erfindung in der Renaissance bis heute nicht wesentlich verändert. Das Körperhafte und die erlebbare Realität eines Raumes als die wesensbestimmenden Merkmale von Architektur werden nur durch das Modell repräsentiert. Ist das Gebäude einmal errichtet, hat das Modell seine Funktion als Darstellungsmittel gemeinhin erfüllt und wird nicht mehr gebraucht. In wenigen ausgewählten Fällen bewahren stolze Bauherren die angefertigten Repräsentationsmodelle auf, und sie finden einen Platz in den Vorbereichen der Vorstandsetagen. Das ist aber nicht die Regel. Ansonsten begegnen wir Architekturmodellen von Gebautem eigentlich nur im Museum oder in Architekturausstellungen. So auch hier. Wir haben es mit einer Ausstellung von Architekturmodellen ausgewählter Bauten des Architekten Hans Herkommer zu tun. Sie wurden im Rahmen eines studentischen Seminars im Fachbereich Architektur der TU Kaiserslautern in Zusammenarbeit der Lehrgebiete „Geschichte und Theorie der Architektur“ (Prof. Dr. Schirren) und „Baukonstruktion und Entwerfen“ (Prof. Modersohn) erstellt. Im gedruckten Katalog finden wir natürlich nur die zweidimensionalen, fotografischen Abbildungen der Modelle, in der Ausstellung können die Originale von allen Seiten in Augenschein genommen werden. Es handelt sich um eine Versammlung von Hausmodellen in unterschiedlichen Größen und Maßstäben, immer der Aufgabe und dem Entwurf angemessen. Alle Modelle wurden in der Digitalwerkstatt mit den zur Verfügung stehenden Maschinen computergestützt erzeugt und nach dem Zusammenfügen mit farbigen Papieren kaschiert. Diese durchgehende ästhetische Qualität dokumentiert die Zusammengehörigkeit 28 29

und verschafft den Modellen in ihrer Abstraktion eine gewisse Autonomie gegenüber der Realität und verleiht ihnen eine eigene Schönheit. Die Bauten von Herkommer sind im Original oft nicht mehr in der bauzeitlichen Fassung vorhanden oder stark verfremdet, und so war es Aufgabe die entsprechende Fassung und das architektonisch Wesentliche der einzelnen Entwürfe in den Modellen exemplarisch herauszuarbeiten. Dies hatte unterschiedliche Modellansätze zur Folge. So werden einige Bauwerke in ihrer Gesamtheit dargestellt, wie das St. Paulusheim in Bruchsal im ansteigenden Gelände oder St. Michael in Saarbrücken mit seinen mächtigen Türmen und St. Joseph in Schömberg, in seiner Formsprache schon ganz der Moderne verpflichtet. Als Schnittmodelle wurden die Frauenfriedenskirche in Frankfurt und St. Augustinus in Heilbronn angefertigt. Diese Bauweise ermöglicht nur im Modell darstellbare Einblicke in die Bauwerke und Konstruktionen. Das ungewöhnliche Spitzbogengewölbe aus Holzlamellen in St. Augustinus oder die über dem Altarraum scheinbar schwebenden Lichtringe der Frauenfriedenskirche lassen sich so in Form und Struktur darstellen. Herkommer hat aber auch eine Reihe von Profanbauten verfaßt, in dieser Ausstellung vertreten durch die großartige Brauerei Becker in St. Ingbert und die Häuser Herkommer und Köhler in Schwäbisch Gmünd. Die Kaiserslauterer „Villa Glaeser“, ist mit zwei Modellen vertreten, einem Gesamtmodell und einem Schnittmodell, das einen Einblick in die raffinierten Höhenentwicklungen und Deckenkonstruktionen gibt. Die hier ausgestellten Architekturmodelle erinnern an das architektonische Werk Hans Herkommers und stehen beispielhaft für seine Architektur zwischen Tradition und Avantgarde.

ARCHITEKTURMODELLBAU

St. Paulusheim in Bruchsal (vgl. Kat.)

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ST. MICHAEL

ST. MICHAEL SAARBRÜCKEN

Schumannstr. 25 66111 Saarbrücken 1913-1914 Erste Planungsphase 1923/1924 Realisierung Modellbau: Ina Kreutz Am 16. Juni 1913 wurde ein Wettbewerb für die St. Michaelskirche in Saarbrücken ausgeschrieben, der würdige Ausdrucksformen forderte, den Künstlern ansonsten allerdings vollständige Freiheit ließ. Herkommer konnte sich mit seiner romanisierenden Lösung gegen 173 Konkurrenten durchsetzen. Geplant war eine Gesamtanlage mit Taufkapelle, Kreuzgang, sowie einem Pfarrhaus, das durch Arkaden mit der Kirche verbunden sein sollte. Aus finanziellen Gründen mussten diese Pläne verworfen werden: lediglich ein kleiner Teil des Kreuzgangs, angebaut an den südlichen Turm, erinnert heute noch an das größere Projekt. Der geplante Baubeginn am 1. Oktober 1914 kam wegen des Ersten Weltkriegs nicht zustande; erst 1922 wurde das Vorhaben wieder aufgenommen. Herkommer überarbeitete seinen ersten Entwurf und passte ihn den stilistischen Tendenzen der Zeit an. Am 3. Juni 1923 wurde der

Grundstein gelegt, circa ein Jahr später der Bau geweiht und 1925 waren Hochaltar und Innengestaltung vollendet. Die Kirche liegt städtebaulich markant auf einer Anhöhe, die von einer breiten Treppenanlage erschlossen wird. Die Anordnung der Baukörper mit ihren monumentalen Formen legte Herkommer schon in seinem ersten Entwurf von 1913 fest. St. Michael folgt dem traditionellen Schema der dreischiffigen Basilika, mit erhöhtem Chor, darunter gelegener Krypta sowie Westwerk. Zwischen Chor und Querschiffarmen befindet sich auf der nördlichen Seite eine Marienkapelle und auf der südlichen Seite eine Sakristei. Die verschiedenen Baukörper scheinen sich ineinander zu schieben. Die Fassaden wurden mit rauem Haustein gestaltet, dadurch scheint die Kirche direkt aus dem Boden empor zu wachsen. Bei seiner Überarbeitung 1922 änderte Herkommer hauptsächlich Elemente

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an der Westfassade. Sein in manchen Teilen barockartiger, größtenteils jedoch romanisierender Entwurf erhielt in zahlreichen Details eine expressionistische Formensprache. Zwar gibt es nach wie vor Gesimse, die sich komplett um die Kirche ziehen. Doch der Dreiecksgiebel zwischen den Türmen entfiel und aus dem stark horizontal und vertikal gegliederten Baukörper des Westwerks entwickelte der Architekt reduzierte, ausdrucksstarke Formen. Die Nische, die die Eingänge überspannt, wurde tiefer, die darüber liegenden Rundbogen zu Schlitzfenstern, die Türme zu massiven Rechtecken und ihre ursprünglich gerundet vorgesehenen Aufbauten zu expressionistischen, mehrteiligen Helmen aus Stahlbeton. Weitere expressionistische Details prägen den Bau sowohl am Äußeren als auch im Inneren: dreieckige Konsolen in der Nische, an den Turmhelmen und am Hochaltar, vierzackige Sterne an den Eingangsportalen und an allen Säulen sowie Geländern. Den Innenraum dominiert eine große, massive Längstonne, die ohne Unterbrechung von der Turmseite zum Chor läuft. Das Tonnengewölbe wurde durch farbige, konstrukti-

Literatur (Auswahl) Fuchs-Röll, Willy, „Die neue St. Michaelskirche in Saarbrücken-St. Johan“, in: Zentralblatt der Bauverwaltung, 45. Jg. (1925), S. 149153 Lahmann 1990, S. 45-48 sowie S. 217 Böker, Hans Josef, „Die Michaelskirche auf dem Rotenberg in Saarbrücken, Ein Kirchenbau zwischen Historismus und neuer Sachlichkeit“, in: Bericht der staatlichen Denkmalpflege im Saarland, Abteilung Kunstdenkmalpflege, Bd. 27, hrsg. v. staatlichen Konservatoramt Saarbrücken,

ST. MICHAEL

onsbedingte Kassetten gestaltete. Die Tonne des Mittelschiffs ist über Vorchor und Chor konzentrisch abgestuft. Herkommer entwarf einen expressionistisch geformten Hochaltar aus blauer Keramik, der von gotisierenden Engeln auf Säulen flankiert wird. Die Wände des Hauptschiffs waren in einem leuchtenden Orange verputzt. Die Krypta wurde von Herkommer ähnlich farbenfroh in Gelb und Violett gestaltet und schon von seinen Zeitgenossen als „eine bemerkenswerte Beherrschung von Farbe und Form“ (Fuchs-Röll, 1925, S. 152) wahrgenommen. Im Zweiten Weltkrieg wurden Gewölbe, Dach, Chor, Sakristei und fast alle Fenster zerstört. 1945 begann der Wiederaufbau. In den kommenden Jahrzehnten folgten zahlreiche weitere Instandsetzungsmaßnahmen und Veränderungen, denen bedauerlicherweise Herkommers kunstvolles Farbkonzept zum Opfer fiel. In der architektonischen Gestaltung von St. Michael verband Herkommer traditionelle Bauformen mit zeitgemäßen expressionistischen Details. Diese werden im Modell trotz des kleinen Maßstabs möglichst originalgetreu wiedergegeben. Ina Kreutz

Saarbrücken 1980/1990 (1998), S. 123-153 Katholische Kirchengemeinde St. Michael (Hrsg.), Kirchenführer der Katholischen Pfarrkirche St. Michael, Saarbrücken, Saarbrücken 2001 Archivalien SAAI: Fotos vom Wettbewerbsentwurf (1913), Innen- und Außenaufnahmen, Baupläne (1923/24) mit Pausen und Skizzen, Glasnegative

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Abb. 1: Erster Entwurf (zwischen 1913 und 1914)

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Abb. 2: Ansicht von Südwesten (um 1924)

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Abb. 3: Lageplan (um 1924)

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Abb. 4: Blick in das Langhaus (um 1924)

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SUDHAUS BRAUEREI BECKER

SUDHAUS DER BRAUEREI BECKER ST. INGBERT

Kaiserstr. 170-174 66386 St. Ingbert 1925/1926 Modellbau: Johanna Mayerl Die Brauerei Becker erhebt sich im Blickfeld der Hauptstraße von St. Ingbert, die zur Erbauungszeit eine verkehrsreiche und logistisch wichtige Verbindung von Saarbrücken zur Pfalz war. Durch ihre Position auf einer von Weitem sichtbaren Anhöhe thront die Anlage wirkungsvoll über dem Ort und wurde schnell zum Wahrzeichen der Stadt. Herkommer plante nicht die gesamte Anlage. Das erste Gebäude, mit dessen Spatenstich am 1. Oktober 1925 seine Bautätigkeit für die Firma Becker ihren Anfang nahm, war das 43 m hohe Sudhaus, auch unter dem Namen „Beckerturm“ bekannt. Außerdem gehen die niedrigen Gebäude, die sich direkt an das Sudhaus anschließen (1928/1929) und der flachgedeckte, L-förmige Versandund Schankhallenbau (1930/1931) auf Herkommers Pläne zurück. Das Sudhaus setzt sich aus verschieden großen quaderförmigen Elementen zusam-

men und ist nach oben gestaffelt. So entsteht ein turmähnlicher, in die Höhe strebender Bau, der im Untergeschoss diverse Maschinenanlagen für Licht- und Kraftstrom beherbergt. In den darüber liegenden Geschossen befanden sich verschiedene Elemente des Brauvorgangs wie die Anlage zur Malzbearbeitung, Wasserreservoirs etc. Der Sudraum mit den großen Pfannen war mit bunten Ornamenten und Kacheln ausgeschmückt. Im obersten Geschoss brachte Herkommer ein Bräustübel unter, darüber eine Terrasse mit Aussicht auf das bergige, waldreiche Umland. Der Beckerturm wurde aus Sichtbeton errichtet, rote Fensterrahmen setzten einen farbigen Akzent. Die Formsprache ist modern und expressionistisch. Die Oberfläche des Sudhauses wird belebt durch den Wechsel von geschlossenen Wandflächen und Fenstern in unterschiedli-

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chen Formaten. Der untere Teil des Baukörpers ist vor allem durch die den Fenstern vorgelagerten rippenartigen Vertikalen geprägt. Im oberen Teil hingegen herrschen horizontale Elemente wie liegende Fensterformate vor. An der höchsten, turmähnlichen Gebäudeseite sind die Fenster um die Ecke geführt und mit kräftigen Faschen eingerahmt. Die große Fenstergruppe vor dem Sudraum ermöglicht einen Blick auf die Sudbehälter, die besonders bei Nachtarbeit „zu reklamewirkender Geltung“ (Fuchs-Röll, 1926, o.S.) kommen. Bereiche, die weder für den Arbeitsvorgang, noch aus Repräsentationsgründen Fensteröffnungen benötigen, sind hinter geschlossenen Wandflächen untergebracht. Ebenfalls mehr als nur gliedernder Bauschmuck sind die auskragenden horizontalen Plattenringe, die am zweiten Absatz des Gebäudes übereinander angeordnet sind. Sie dienen dazu, den dahinter liegenden Kaltwasserbehälter vor direkter Sonneneinstrahlung zu schützen. Max Schneider schreibt 1962 in den Gmünder Heimatblättern: „Im profanen Bereich ist

es vor allem der Industriebau, bei dem sich die Schöpferkraft Herkommers für monumentale Bauaufgaben entfalten konnte.“ Diese Feststellung trifft auch auf das Sudhaus der Brauerei Becker zu, das durch seine exponierte Lage, die hochaufragende Form und die strengen, gliedernden Schmuckelemente sehr monumental wirkt und auch heute noch unverändert das Stadtbild beherrscht. Mittlerweile allerdings braut man in den Gebäuden der Brauerei Becker kein Bier mehr. Der Komplex wird von der Immobiliengesellschaft „Beckerturm Immobilien GmbH“ verwaltet. Auf dem großflächigen Areal mit den ehemaligen Brauereigebäuden entstand Ende 1997 der sog. „Innovationspark am Beckerturm“, ein Gewerbezentrum, in welchem unterschiedliche Firmen wie Handwerksbetriebe, Agenturen, Technologieunternehmen, Dienstleister, Softwareentwickler, Sicherheitsdienst, Handel und Ingenieurwesen u.v.m., aber auch Künstlerateliers ansässig wurden. Sara Brück

Literatur (Auswahl) Fuchs-Röll, Willy P., „Ein Abschnitt aus dem Wirken des Architekten B. D. A. – D. W. B. Hans Herkommer, Stuttgart“, in: Neue Baukunst, 2. Jg. (1. Jan. 1926), H. 1, o.S. O.A., „Bierbrauerei Gebr. Becker, St. Ingbert im Saargebiet“, in: Der Baumeister, 31. Jg. (1933), H. 3, S. 85-87, Tafel 26, 27 Schneider, Max, „Architekt Reg.Baumeister Hans Herkommer“, in: Gmünder Heimatblätter, 23. Jg. (Sept. 1962), Nr. 9, S. 65-77 Lahmann 1990, S. 114-115 sowie S. 235

SUDHAUS BRAUEREI BECKER

http://www.innovationspark.com/ (15.10.2010) Archivalien SAAI: Fotos und z.T. Glasnegative der verschiedenen Brauereigebäude, Planmaterial zum Sudhaus von 1925-1926, 1953 (Pläne, Pause, Fremdpausen), zum Sudhaus, Alten Maschinenhaus, Neuen Maschinenhaus, Generatorenhaus von 1928 (Pläne, Pause) und zu den später ausgeführten Brauereigebäuden

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SUDHAUS BRAUEREI BECKER

Abb. 1: Positionierung im Stadtbild (um 1926)

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Abb. 2: Sudraum (heutiger Zustand)

SUDHAUS BRAUEREI BECKER

Abb. 3: Detail (um 1926)

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„VILLA GLAESER“

„VILLA GLAESER“ KAISERSLAUTERN

Eselsfürth 22 67657 Kaiserslautern Modellbau Außenmodell: Julia Hinsch Modellbau Schnittmodell: Silvia Köllner In der Eselsfürth östlich vor der Stadt Kaiserslautern liegen zwei Landhäuser, die in den 1920er Jahren für den Unternehmer Max Glaeser (1871-1931) in unmittelbarer Nähe zu seinem Emaille-Werk gebaut wurden. Glaeser war ein passionierter Kunstsammler, der die von ihm gesammelten Werke bildender Kunst in seine privaten Wohnräume integrierte. Das erste Wohnhaus ließ sich Glaeser 1922 von dem Kaiserslauterer Architekten Adam Roos in der Eselsfürth 12 bauen. Schon nach kurzer Zeit wurde das Gebäude für Glaesers exklusive Kunstsammlung zu klein. Daher beauftragte er Hans Herkommer mit dem Entwurf eines neuen Landhauses auf dem benachbarten Grundstück, das ausreichend Platz für die Kunstobjekte des Industriellen bieten sollte. Für beide Häuser war ursprünglich ein groß angelegtes Garten- und Wohnkonzept

angedacht, das bei der Roos´schen Villa allerdings nicht umgesetzt wurde. Bei dem neuen Landhaus von Herkommer legte man den Schwerpunkt einerseits auf die Positionierung in der Landschaft und andererseits auf das innere Raumgefüge. Die sog. Villa Glaeser liegt in einem weitläufigen Talgrund, ausgerichtet zur Landstraße, die zur Bauzeit die Hauptverbindung nach Mainz war und damit ihren städtebaulichen Bezug festlegt. Zum Gebäude gehört ein parkähnliches Gelände mit einem Weiher. Darauf nahm Herkommer in seiner Planung mit einem großen Wasserbecken Bezug, das er auf der Sichtachse zwischen dem von ihm geplanten und dem ersten Haus Glaeser positionierte. Das Becken wurde jedoch nicht realisiert. Herkommers Entwurf besteht aus drei kubischen, flach gedeckten Baukörpern, die asymmetrisch angeordnet sind und die sich

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gegenseitig zu durchdringen scheinen. Zusätzlich ist die Höhe der einzelnen Gebäudekörper gestaffelt. Der erste Kubus, der Turm, erhebt sich dreigeschossig über den mittigen Hauptkubus mit zwei Geschossen. Er beherbergt vorwiegend Wirtschafts- und Personalräume. Der vorgelagerte Hauptkubus wurde für den repräsentativen Teil des Hauses und die Wohnräume der Besitzer entworfen. Ihm schließt sich nach Westen eine Terrasse an, die mit dem ersten Haus in Sichtbezug steht. Ein eingeschossiger Anbau im Süden bildet den Abschluss des Gebäudes und beherbergt das Herrenzimmer. Das innere Raumgefüge wurde aus seiner Funktion als repräsentatives Wohnhaus und Galerie heraus entworfen und definiert zudem die funktionalen Abläufe innerhalb des Hauses. Im Erdgeschoss sind Aufenthalts- und Repräsentationsräume mit einem großen Salon untergebracht, konzipiert für die Kunstgegenstände. Die Ausstellungsräume erhielten als besonderen Ausbau ein rippenähnliches Leuchtkörpersystem innerhalb der Deckenkonstruktionen und das Herrenzimmer eine Stuckdecke mit expressionistischem Dekor. Diese Räume lehnen sich formal an Herkommers Kirchenbau an. Die Obergeschossräu-

Literatur (Auswahl) Kehrer, Hugo, Die Sammlung Max Glaeser, München 1922 Graf, Hermann, „Kunstsammler und die Sammlung Glaeser, Eselsfürth“, in: Mitteilungsblatt des Pfälzischen Gewerbemuseums, 1. Jg. (1926 ), Nr. 5, S. 41-46 Graf, Hermann, „Haus und Sammlung Glaeser, Eselsfürth“, in: Hand und Maschine, Mitteilungsblatt der Pfälzischen Landesgewerbeanstalt, 1. Jg. (Sept. 1929), S. 105-107 Oexner, Mara, Stadt Kaiserslautern (Kulturdenkmäler in Rheinland-Pfalz, Bd. 14), Worms 1996

„VILLA GLAESER“

me sind im Gegensatz zum Erdgeschoss ausschließlich für Wohnzwecke ausgelegt. Auf traditionelle Art wurden hier separate Schlafbereiche für die Dame und den Hausherrn eingerichtet. Die formalen Details des Obergeschosses entsprechen ebenfalls eher traditionellen Bauformen, Herkommer greift z. B. auf Rundbögen und Kreuzgratgewölbe zurück. Die „Villa Glaeser“ stellt mit ihrer modern formulierten Kubatur und ihrer Ornamentlosigkeit für die Stadt und die Region eine Seltenheit dar. Heute ist das Landhaus nach wie vor im Besitz der Erben Max Glaesers. Es steht unter Denkmalschutz, ist aber, da es seit einigen Jahren leer steht, zunehmend dem Verfall ausgesetzt. Das Gesamtmodell soll verdeutlichen, dass die Positionierung des Gebäudes auf dem Gelände ein ausgewogenes Verhältnis zur Baukörperverteilung einnimmt. Im Schnittmodell lassen sich die unterschiedliche Höhenstaffelung des Raumgefüges sowie die aufwendige Leuchtdeckenkonstruktion erkennen. Zudem erfahren die Entwürfe ihre Authentizität durch die präzise Ausarbeitung und Miniaturdarstellungen, z.B. von Geländern, die einen Eindruck von den Originalteilen am Gebäude vermitteln sollen. Julia Hinsch

Christmann, Daniela, Die Moderne in der Pfalz, Künstlerische Beiträge, Kunstvereinigungen und Kunstförderung in den Zwanziger Jahren, Heidelberg 1999 Engelhardt, Christine: Voruntersuchung an Raumschale und Fassade der Villa Glaeser für die Stadt Kaiserslautern, Kaiserslautern 2007 Archivalien SAAI: Fotos, Planfoto (1927) Stadt Kaiserslautern, Referat Bauberatung, Denkmalschutz: Bauakte, Baueingabe, Befundbericht mit Farbuntersuchungen, kopierte Zeichnungen, Fotos

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„VILLA GLAESER“

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Abb. 1: Grundrisse 1. OG

„VILLA GLAESER“

Abb. 2: Grundriss (1929)

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Abb. 3: Ansicht von Nordwesten (heutiger Zustand)

„VILLA GLAESER“

Abb. 4: Seiteneingang (1929)

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Abb. 5: Flur im Erdgeschoss (1929)

„VILLA GLAESER“

Abb. 6: Ansicht von Nordosten (heutiger Zustand)

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Abb. 7: Herrenzimmer (1929)

„VILLA GLAESER“

Abb. 8: Salon (1929)

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FRAUENFRIEDENSKIRCHE

FRAUENFRIEDENSKIRCHE FRANKFURT AM MAIN / BOCKENHAIM

Zeppelinallee 99-103
 60487 Frankfurt am Main 1926 Wettbewerb 1927-1929 Realisierung Modellbau: Michael Paszyna Auf Wunsch von Hedwig Dransfeld, der Vorsitzenden des Kath. Deutschen Frauenbundes, wurde am 31. Dezember 1926 für alle deutschen katholischen Architekten ein Wettbewerb für eine neue Kirche mit Pfarr- und Gemeindehaus ausgeschrieben. Die Kirche sollte dem Leid der Frauen, die im Ersten Weltkrieg ihre Männer und Söhne verloren hatten, ein Denkmal setzen. Herkommers Entwurf, der ausgeführt wurde, obwohl er im Wettbewerb lediglich einen Ankauf erhalten hatte, sah einen Gesamtkomplex vor, der in Anlehnung an mittelalterliche Klosteranlagen mit einer Hauptkirche, einem als Ehrenhof ausgeführten Kreuzgang und einem umschließenden Gemeindehaus entworfen wurde. Die Kirche ist in Richtung eines großen Platzes an der Zeppelinallee ausgerichtet, den sie durch einen monumentalen Portalbau mit drei hohen Rundbögen dominiert. Eine Taufkapelle schließt sich

östlich des Portalbaues an. Der Ehrenhof wird an drei Seiten von einem Arkadengang umschlossen, nördlich und westlich liegt das Gemeindehaus. Die Frauenfriedenkirche wurde in Form einer dreischiffigen Basilika erbaut. Allerdings sind die Seitenschiffe mit 3,50 m Breite sehr schmal und im Außenraum relativ flach ausgebildet. Der Kirchenraum besitzt eine beachtliche Deckenkonstruktion aus fünf massiven Quer- und zwei fünfreihigen Längsbalken, die auf ersteren aufliegen. Der Mittelteil ist noch einmal erhöht. An seiner Decke reihen sich weitere Querbalken in engerem Raster. Die Seitenschiffsarkaden werden durch Rundbogenfenster aus Mosaikbuntglas belichtet. Der erhöhte sowie eingezogene Chor hat einen geraden Abschluss und öffnet sich mit einen großen Triumphbogen zum Hauptschiff. Er ist zentral durch drei konzentrische Stahlbetonringe überdacht,

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deren Radius sich nach innen verjüngt und die künstlich beleuchtet werden. Die Erhöhung des Chors ergibt sich aus der darunter gelegenen, ebenfalls dreischiffigen Krypta, die axialsymmetrisch aufgebaut ist. Die Seitenwände nach Osten und Westen sind von je drei Rundbogenfenster aus Buntglas durchbrochen, die Tageslicht in den Raum lassen. An der Decke der Krypta wiederholt sich das Motiv der konzentrischen Kreise, das man auch an der Chordecke findet. Die natürliche und künstliche Beleuchtung spielen beim atmosphärischen Eindruck des Innenraumes eine wichtige Rolle. Die natürliche Belichtung erfolgt über die großen Mosaikglasfenster, die durch ihre Farbigkeit einen mystischen Eindruck erzeugen. Zudem wird durch indirektes, akzentuiertes Licht ein besonderer Eindruck hervorgerufen. Spotlights in den Rundbogennischen des erhöhten Mittelschiffes sowie Leuchten in der Staffelung der Ringe im Chor und in der Krypta, betonen den sakralen Charakter der Altarstätten. Die Verbindung von Licht und Konstruktion führen zu einer Blicklenkung des Besuchers. Die unterschiedliche Farbigkeit der Rundbogenfenster als Staffelung sowie die Belichtung im erhöhten Mittelschiff und die

Literatur (Auswahl) Schürmeyer, Walter, „Frauenfriedenskirche in Frankfurt a. M.“, in: Deutsche Bauzeitung, Beilage Wettbewerbe, 61. Jg. (22. Juni 1927), Nr. 12, S. 73-80 Hoff, August, „Wettbewerb für die ‚Frauenfriedenskirche‘ für Frankfurt am Main“, in: Die Christliche Kunst (1927/28), H. 24, S. 298-308 Schürmeyer, Walter, „Die kath. Frauenfriedenskirche in Frankfurt am Main“, in: Deutsche Bauzeitung (3. Juli 1929), Nr. 53, S. 457-463 Krabbel, Gerta, Frauen-Friedens-Kirche, Den Gefallenen des Weltkrieges, Düsseldorf 1935

FRAUENFRIEDENSKIRCHE

damit verbundene Addition der Querbalken, richten den Blick auf den Chorraum. Dieser erfährt eine hellere Belichtung durch weißes und gelbes Glas sowie durch eine schon fast theatralische direkte Beleuchtung. Die Kirche ist ein Stahlbetonskelettbau, der zusätzlich durch Mauerwerk ausgesteift wurde. Im Außenraum wurde die Fassade mit Kunststeinen aus einer Bindung von Muschelkalk und Zement verblendet, die Bogenöffnungen dagegen sind mit Natursteinquadern überwölbt. Struktur und Farbe des Kunststeins ähneln stark dem des Natursteins, der allerdings aus Kostengründen an der Fassade nicht verwendet wurde. Die Frauenfriedenskirche kann als Gesamtkunstwerk verstanden werden. Neben der Architektur und ihrer inszenierenden Belichtung werden die Malerei sowie die Bildhauerkunst zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefügt. Zudem war Hans Herkommer für die Gestaltung der Kirchenausstattung und des liturgischen Geräts verantwortlich. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche schwer beschädigt, in den 1950er Jahren nach ursprünglichen Plänen wieder aufgebaut. Die Renovierungsarbeiten der 1970er Jahre veränderten ihre Gestalt kaum. Michael Paszyna

Lahmann 1990, S. 60-64 sowie S. 247-248 Archivalien SAAI: Entwurf „Hallenkirche“ (Plan), Ausführungsentwurf (Pläne, Ansichten), Entwurf „Höhenbekrönung“ von 1927 (Modellfoto), Entwurf „Umgestalteter Entwurf Hallenkirche, Variante“ von 1927 (Planfotos Grundriss und Lageplan), Ausführungsentwurf von 1927 (Planfotos, Vogelperspektive, Grundriss, Schnitte), Fotos, Glasnegative, Maschinenschreiben „Technisches“, Baukostenaufstellung, Konstruktionspläne

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FRAUENFRIEDENSKIRCHE

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Abb. 1: Vogelperspektive (um 1929)

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Abb. 2: Ansicht von Norden (um 1929)

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Abb. 3: Blick in das Langhaus mit Chor (um 1929)

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Abb. 4: Blick in den Chor (um 1929)

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Abb. 5: Blick in das Langhaus mit Empore (um 1929)

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Abb. 6: Grundriss Erdgeschoss (um 1929)

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Abb. 7: Grundriss der Unterkirche (um 1929)

FRAUENFRIEDENSKIRCHE

Abb. 8: Blick in die Unterkirche (um 1929)

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HAUS HERKOMMER

HAUS HERKOMMER SCHWÄBISCH GMÜND

Zeppelinweg 1
 73525 Schwäbisch Gmünd 1928/1929 Modellbau: Filipe Dos Santos Das für einen „Fabrikanten“ (Bauakte) Karl Herkommer errichtete Einfamilienhaus liegt in offenem Baugebiet auf einem nach Südwesten abfallenden Hanggrundstück östlich der Altstadt von Schwäbisch Gmünd. Mit seinen stereometrisch klar konturierten Formen, dem flachen Dach, den zu Bändern zusammengefassten Fenstern und der auffälligen Dachterrasse ist das Gebäude ganz den Prinzipien jenes ‚Neuen Bauens‘ verpflichtet, das 1927, ein Jahr vor seiner Erbauung, mit der Stuttgarter Weißenhofsiedlung einen spektakulären Durchbruch in Deutschland erzielt hatte. Das Grundstück liegt oberhalb des Zeppelinwegs. Der zweistöckige Baukörper wendet seine untere, nach Südwesten gerichtete Schmalseite leicht aus der Achse gedreht der parallel zum Hang verlaufenden Straße zu. Gleichsam quer vorgelagert (oder eben abgestuft) ist der mit der erwähnten Dachter-

rasse versehene niedrigere Anbau, der den höheren Hauskörper gewissermaßen zum Tal hin abstützt. Die Westecke des Gebäudes scheint er sogar zu umfassen: Seine nordwestliche Schmalseite springt ein wenig über die Langseite des höheren Baukörpers vor und ist, motiviert durch den hier platzierten Haupteingang, zu dem eine Treppe entlang des Gebäudes von der Straße heranführt, hinter die Höhe der südwestlichen Fassadenlinie zurückgezogen. Es entsteht so der Eindruck einer Verschränkung der Baukörper. Der just im Zwickel dieser Verschränkung scharnierartig aufragende Schornstein kann wie ihre vertikale Akzentuierung gelesen werden. Auf den eher gedrungen und kubisch geschlossen wirkenden, vorgelagerten Trakt der Talseite antwortet ein schlank dimensionierter, gerundeter und stark durchfensterter Anbau auf der südöstlichen Bergseite des

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Gebäudes. Neben seiner kompositorischen Bedeutung für das Gesamtensemble dürfte er in erster Linie dem Ausblick auf die Stadt im Tal gedient haben. Der Grundriss im Innern verteilt alle Wohnräume an den Südseiten des Gebäudes. Gleich neben dem Hauseingang öffnet sich nach rechts das im Südwesten gelegene Wohnzimmer, das über eine gegenüber der Längsachse des Raumes um 90 Grad abknickende, im Grundriss zudem verspringende Enfilade mit Herren- und Esszimmer auf der Südostseite verbunden ist. Indem Herkommer die Fenster des Wohnzimmers zu Gruppen zusammenzieht, die gerade nicht mittelsymmetrisch auf Raumachsen stoßen, entsteht ein dynamisches Raumbild, wie es sein Lehrer Theodor Fischer immer wieder gefordert hat. Die Küche befindet sich im Nordosten, der halbrunde Anbau im Südosten entpuppt sich im Hauptwohngeschoss als eine Art erweitertes Blumenfenster, das vom Speisezimmer abgeht und etwas euphemistisch als „Wintergarten“ ausgewiesen ist. Im Obergeschoss ist der entsprechende Raum dem Kinderzimmer zugeschlagen. Erschlossen werden die Räume über einen wie ein Rückgrat auf der Nordostseite verlaufenden Flur. Durch eine einläufige gerade Treppe sind die Geschosse miteinander verbunden.

Literatur (Auswahl) Hegemann 1929, S. 58 Döcker, Richard, Wohnhäuser von 8.000 bis 40.000 RM, Stuttgart 1932, o.S. Lahmann 1990, S. 100 sowie S. 262

HAUS HERKOMMER

Trotz des aufwendigen Raumprogramms lässt die knappe Grundrissdimensionierung und der Verzicht auf eine repräsentative Eingangssituation (kein Vestibül, keine Halle) Herkommers produktive Auseinandersetzung mit den Grundrissdiskussionen der Zeit erkennen. Verglichen mit dem Kaiserslauterer Landhaus Glaeser wirkt der Bau „moderner“ und ist mehr als nur äußerlich dem auf der Weißenhofausstellung Gebotenen angeglichen. Richard Döcker, der Bauleiter der Stuttgarter Siedlung, hat das Gmünder Haus denn auch 1932 in seine Beispielsammlung 42 Wohnhäuser von 8.000 bis 40.000 RM aufgenommen. Darüber hinaus scheint der Bau in zeitgenössischen Publikationen allerdings unbeachtet geblieben zu sein, sieht man einmal davon ab, dass Herkommer schon während der Errichtung Ansichtszeichnungen und Grundriss der von Werner Hegemann bevorworteten Werkmonographie seiner Bauten und Projekte beigab. Der Bau ist erhalten, wurde allerdings von Herkommer selbst zunächst 1935 und dann wieder 1950 im Zuge von Umnutzungen durch mehrere An- und Aufbauten verändert. Das in der Ausstellung gezeigte Modell dokumentiert den erbauungszeitlichen Zustand der späten zwanziger Jahre. M. S.

Archivalien SAAI: Fotos Bauordnungsamt der Stadt Schwäbisch Gmünd: Bauakte

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HAUS HERKOMMER

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Abb. 1: Grundriss Obergeschoss (um 1929)

HAUS HERKOMMER

Abb. 2: Ansichten und Grundriss Erdgeschoss (um 1929)

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Abb. 3: Lageplan, bearbeitet (1928)

HAUS HERKOMMER

Abb. 4: Ansicht von Süden (um 1929)

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Badisches Landesmuseum Karlsruhe (1997) 141, 145 alle drei Bauarchiv der Stadt Kaiserslautern 19, 21, 22, 23 Bonatz (1950) 20 Deutsche Bauzeitung (1929) 61, 142, 144 Döcker (1932) 152, 155 Ernährungsamt und Hochbauamt Frankfurt a. M. (1928) 16 Fries (1926) 82, 83 Friese, Bernhard 28, 31, 67, 68, 69, 77, 78, 87, 88, 89, 97, 98, 105, 106, 113, 114, 115, 127, 128, 129, 149,150, 151, 159, 160, 161 Graf (1929) Umschlag, 10 beide, 117, 119, 120, 122, 123 Happe (2003) 18 Hegemann (1929) 37, 38, 40, 42, 44, 51, 72, 80, 81, 99, 101, 107, 108, 135, 153, 166 Herkommer (1930) 132 Hinsch, Julia 49, 116 Jochum, Wilhelm 52, 100 Klein (1924) 90, 93 Morpher (1929) 59, 73 Pawlik, Sascha 24, 25, 26, 27, 118, 121, 130, 131, 170 Platz (1927) 17, 48 Puhl, Yannick 167 St. Michael (1984) 70 St. Paulusheim Postkartenbuch (o. J.) 58, 79 Stadtbauamt Schwäbisch Gmünd zep 10 54 Südwestdeutsches Archiv für Architektur und Ingenieurbau (SAAI) 4, 36, 50, 54, 60, 71, 91, 92, 109, 133, 136, 143, 162, 163, 164, 165, 168, 169 Weber, Ulrike 32 Zichner (1931) 134, 137 Ziegler, Cornelius 39, 41

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Diese Publikation erscheint zur Ausstellung

MODERNE ARCHITEKTUR EXEMPLARISCH

HANS HERKOMMER (1887-1956) in der Architekturgalerie der Technischen Universität Kaiserslautern, 28. Oktober 2010 – 08. Dezember 2010. IMPRESSUM Ein Gemeinschaftsprojekt der Lehrgebiete Geschichte und Theorie der Architektur, Prof. Dr. Matthias Schirren sowie Baukonstruktion III und Entwerfen, Prof. Dipl. Ing. Johannes Modersohn. Betreuung des Modellbaus: Dipl. Ing. Denis Andernach Dipl. Ing. Nicolas Bahnemann Layout und Satz: Cand. arch. Florian Budke Cand. arch. Eva-Maria Ciesla Mitarbeit: Cand. arch. Willem Balk Dipl. Ing. (FH) Silvia Köllner Kurt Mautschke ©2010 gta-kl.de Lehrgebiet Geschichte und Theorie der Architektur der Technischen Universität Kaiserslautern Prof. Dr. Matthias Schirren Sara Brück, M.A. Ulrike Weber, M.A. und die einzelnen Autorinnen und Autoren Druck und Bindung foto/repro/druck, TU Kaiserslautern Printed in Germany ISBN: 3-935627-09-2 Für Hinweise zu den Illustrationen: Siehe bitte das Abbildungsverzeichnis ab S. 174 Besonderer Dank gilt dem SAAI (Südwestdeutschen Archiv für Architektur und Ingenieurbau) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) für die freundliche Druckgenehmigung des Archivmaterials Die Ausstellung wurde von folgenden Institutionen und Firmen unterstützt: TU Kaiserslautern, Studiengang Architektur sowie Landesschwerpunkt Region und Stadt; Ministerium für Finanzen und Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Jugend und Kultur des Landes Rheinland-Pfalz; Architektenkammer des Landes Rheinland-Pfalz; Sutor-Stiftung Hamburg; Stiftung der Landesbank Rheinland-Pfalz; Beckerturm Immobilien GmbH.

Sutor-Stiftung, Hamburg

TECHNISCHE UNIVERSITÄT KAISERSLAUTERN