Hannah Arendts Konzeption des Gemeinsinns im Hinblick auf den Kommunitarismus

Hannah Arendts Konzeption des Gemeinsinns im Hinblick auf den Kommunitarismus -Politisches Handeln in nachmetaphysischer Zeitvon Michael Stauch Septem...
Author: Frauke Salzmann
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Hannah Arendts Konzeption des Gemeinsinns im Hinblick auf den Kommunitarismus -Politisches Handeln in nachmetaphysischer Zeitvon Michael Stauch September 2005

Inhaltsübersicht

1. Einleitung ………………………………………………………………. S. 3

2. Arendts politische Theorie: Handeln als höchstes Gut der vita activa…. S. 4 2.1. Zwischen Individualität und Pluralität: Die conditio humana …….. S. 4 2.2. Politisches Handeln im öffentlichen Raum ……………………….. S. 5

3. Der Begriff des Gemeinsinns …………………………………….. ……. S. 7 3.1. Allgemeine Betrachtung des Gemeinsinns ………………………… S. 7 3.2. Gemeinsinn als… ………………………………………………..... S. 9 3.3. Verlust von Gemeinsinn in Massengesellschaft und Totalitarismus.. S. 10

4. Der Kommunitarismus- Ein Konzept im Geiste Hannah Arendts?.......... S. 12 4.1. Liberalismus vs. Kommunitarismus ………………………………. S. 12 4.2. Einzelne Standpunkte der Kommunitaristen ………….................... S. 12 4.3. Hannah Arendt- Eine Kommunitaristin? ………………………….. S. 14

5. Schlußbemerkungen…………………………………………………….. S. 15

6. Anmerkungen und Literaturverzeichnis ………………………………… S. 17

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1. Einleitung Der Philosoph Rüdiger Safranski schreibt in seinem Buch Das Böse:„Als man aufhörte, an Gott zu glauben, versuchte man es mit dem Glauben an den Menschen. Nun macht man die überraschende Entdeckung, daß der Glaube an den Menschen womöglich leichter war, als man noch den Umweg über Gott nahm.“1 Hierin äußert sich das Problem, dem sich die moderne politische Philosophie gegenübersieht: Normen, politische Institutionen, Weltbilder lassen sich nicht mehr durch außerweltliche Instanzen rechtfertigen und begründen. „Transzendental obdachlos“ (Lukács) scheint alles begründbar und dies Begründete wiederum kontingent. Ohne Gott als Letztinstanz, keine Kaiser und Könige, die sich auf Gnadentum berufen können. Die politische Theorie steht vor einem Legitimationsproblem. Wie ist politisches Handeln zu legitimieren, wenn der Mensch sich nur auf sich als Mensch berufen kann? Gibt es dann noch universelle Geltungsmaßstäbe oder müssen wir uns mit der Kontingenz zufriedengeben? Diese und andere Fragen bilden die Projektionsfläche von Hannah Arendts Arbeiten. Vor den Erfahrungen, die sie als Jüdin im zweiten Weltkrieg gemacht hat, sie selbst erlebt hat, welche Greueltaten der Mensch seinen Mitmenschen antun kann, entwirft sie eine Theorie des politischen Handelns, ausgehend von der aristotelischen Sicht des Menschen als einem Gemeinschaftswesen: Leben als „’Unter Menschen weilen’“[VA, 17]. Der Mensch, seinesgleichen kein Wolf, hat an den Grenzstellen der Menschlichkeit seinen Gemeinsinn verloren. Der Gemeinsinn ist ein zentraler Begriff im Denken Arendts, zum einen als politische Qualität, zum anderen als Bindeglied in der conditio humana. In dieser Arbeit möchte ich Arendts Verständnis des Gemeinsinns herausarbeiten (3. Abschnitt). Dazu ist es vorangehend notwendig, sich die zentralen Begriffe ihres Menschenbildes und ihrer politischen Theorie anzuschauen und darin den Gemeinsinn zu positionieren (Abschnitt 2). Dabei soll die Frage beantwortet werden, inwieweit der Gemeinsinn die Legitimationslücke zu schließen vermag. Die spannende Antwort Arendts ist, daß Handeln per se strukturell kontingent und legitimationslos ist, allein ein richtiges Maß an Gemeinsinn vonnöten bleibt, um freies, politisches Handeln zu erhalten. Um Fragen des Erhalts und Verlusts von Gemeinsinn soll es in 3.3. gehen, dies vor allem im Hinblick auf Totalitarismus und Massengesellschaft. Um eine Antwort der Legitimationsproblematik geht es im vierten Abschnitt: dem Kommunitarismus. Dazu möchte ich kurz die Grundthesen des Liberalismus vorstellen um an Hand der Kritik der Kommunitarier daran ihre Thesen zu erklären und zu versuchen, sie in

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einen Kontext mit Hannah Arendts politischer Theorie des Gemeinsinns zu stellen, Ähnlichkeiten wie Unterschiede zu benennen.

2. Arendts politische Theorie: Handeln als höchstes Gut der vita activa 2.1. Zwischen Individualität und Pluralität: Die conditio humana In Anlehnung an Aristoteles setzt Hannah Arendt im wesentlichen drei Punkte als Bedingtheit der Menschen voraus: 1. Leben im Kreislauf des Lebendigen, 2. Weltlichkeit der Welt und 3. Pluralität [VA 21]. Diese sind es, die unsere menschliche Existenz bedingen, sie sind die conditio humana. Doch keine dieser vermag unser Leben absolut zu bedingen, sie bilden vielmehr die Grunderfahrungen unserer menschlichen Existenz. Zunächst also zum Kreislauf des Lebendigen. Mit der Geburt erscheint ein Mensch auf der Welt und ist zunächst natürlichen Kreisläufen ausgesetzt. Er tritt mit ihr in einen biologischen Prozeß ein. Er muß sich täglich neu um Nahrung kümmern, er altert, er muß sich den Naturkreisläufen anpassen, z.B. Tag-Nacht, Krankheit-Gesundheit. Wie alles Lebendige ist er also ein Teil der Geburts-, Verfalls- und Todesprozesse der Natur. Ein Faktum unterscheidet ihn dabei wesentlich von dem anderen Lebendigem: er weiß um seinen Tod, und damit um die begrenzte Zeit, die er auf Erden verweilt. Innerhalb dieser „Knechtschaft durch den biologischen Lebensprozeß“ [VA 46] kann der Mensch jedoch Dinge von Dauer schaffen, die seine Lebensspanne überdauern können; er kann die Welt als eine vor ihm liegende ansehen und sich seiner Bedingtheit bewußt werden. Diese Welt ist eine ihn zwar bedingende, doch kann er innerhalb seine Bedingungen selbst schaffen. Er kann in ihr tätig werden und sie sich zu nutzen machen. Sie ist für ihn eine objektive2 Welt, er kann sich als Subjekt zu den Objekten der Natur stellen. Dies ist mit der zweiten Kondition, der Weltlichkeit der Welt gemeint: „Die Menschen leben also nicht nur unter den Bedingungen, die gleichsam die Mitgift ihrer irdischen Existenz überhaupt darstellen, sondern darüber hinaus unter selbstgeschaffenen Bedingungen, die ungeachtet ihres menschlichen Ursprungs die gleiche bedingende Kraft besitzen, wie die bedingenden Dinge der Natur“ [VA 19]

Aus dieser zweiten conditio ergibt sich gleichsam ein weiteres wichtiges Merkmal des Mensch-Seins: die Individualität. Der Mensch ist ein selbstbewußtes Subjekt in einer objektiven Wirklichkeit, kann sich selbst wahrnehmen und sich zu sich selbst verhalten. Aber Hannah Arendt betont, es bedarf zudem noch der Erfahrung der anderen. In der Differenz zu den anderen erkennen wir uns eben als Selbstbewußte, als Individuum unter Individuen. So wird das „Faktum der Pluralität, nämlich die Tatsache, daß nicht ein Mensch, sondern viele Menschen auf der Erde leben und die Welt bevölkern“[VA 17] zur Grundbedingung der Wirklichkeitserfahrung, wir sind mit Aristoteles gesprochen ein zoon politikon3. -4-

Dieses sind also die Grundpfeiler auf denen Hannah Arendt ihre Betrachtungen stellt. Sie kommt dabei zur Unterscheidung unserer vita activa in drei wesentlich verschiedene Tätigkeiten: das Arbeiten, das Herstellen und das Handeln, bei denen sich das Handeln als das eigentliche Öffentlich-Werden des Menschen, des In-Erscheinung-treten im gemeinsamen Raum und damit als das eigentlich Politische herausstellen.

2.2. Politisches Handeln im öffentlichen Raum Der Tätigkeitsunterscheidung voraus geht die Trennung der Räume, die die menschlichen Tätigkeiten umschließen: der private Raum und der öffentliche Raum. Beide unterscheiden sich wesentlich durch Ab- bzw. Anwesenheit der anderen. Der private Raum ist der, des Besitzes, der des je Eigenen. Dieser ist Rückzugsraum vor den anderen Menschen, jeder ist nur er selbst und nicht einer unter anderen. Ungesehen und ungehört ist man allein mit sich und seinem Eigentum. Dabei ist nicht die absolute Einsamkeit gemeint, sondern der kleine Familienbereich, der den Menschen an einen bestimmten Ort in der Welt hält, ihn Zuflucht und Standort gibt, unantastbar für die Allgemeinheit. Von ihm aus kann man öffentlich werden, gleichsam aus dem Dunkel des Privaten in das Licht der Gemeinsamkeit treten. Für Hannah Arendt ist die Metapher des Dunkels des Privaten von zweierlei Bedeutung. Zunächst braucht jeder diesen Bereich des Eigentums und der Rückzugsmöglichkeit von den anderen, wie der wache Mensch die Dunkelheit zum Schlafe benötigt. Ursprünglich, so stellt Arendt dar, bedeutet das Private, einen „angestammten Platz“ zu haben, von dem aus man politisch agieren konnte: „kein Eigentum zu haben hieß … jemand zu sein, den die Welt und der in ihr organisierte politische Körper nicht vorgesehen hatte.“ [VA 77]4. Die andere Seite des Dunklen ist das Fehlen der Wirklichkeit der Welt, die sich durch die anderen erst konstituiert, beraubt des Gesehenwerdens. Das Dunkel in der Sicht ist der Traum, die Illusion und die fehlenden Bestätigung. Damit ist die Bedeutung auch des öffentlichen Raumes bereits umrissen. Er ist zum einen der Erscheinungsraum des Einzelnen vor der Allgemeinheit, welche uns der Realität der Welt versichert: „Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, die hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unserer selbst…“[VA 63]. Er hat einen unprevilegierten Zugang im Gegensatz zu der eigenen Sinnenwelt, wie z.B. die Empfindung seiner Schmerzen. Man versichert sich vermittels der anderen seiner selbst. Weiterhin ist der öffentliche Raum der des gemeinsam Gegebenen, des gemeinsamen Besitzes. In ihm spielen sich die menschlichen Angelegenheiten ab, die Regelungen des Zusammenlebens. In ihm ist Dauerhaftigkeit möglich. Hannah Arendt geht dabei soweit, das hierin sich die eigentliche -5-

Freiheit des Menschen erst offenbart: „frei nämlich, das eigene Leben zu transzendieren und in die allen gemeinsame Welt einzutreten“[VA 79], wie es im aristotelischen Vorbild der freie Bürger der Pollis war. Gleichnishaft beschreibt sie den öffentlichen Raum wie ein Schachspiel: „der Schachspieler ist mit seinem Mitspieler […] durch das Brett verbunden, das die Gegner voneinander trennt und gleichzeitig miteinander verbindet, weil es ein Stück einer ihnen gemeinsamen Welt ist.“[Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Zit. nach FH 155].5 Um beiden Räumen Rechnung zu tragen und sie zu erhalten, ist es notwendig, daß es ein Zwischen der menschlichen Angelegenheiten gibt. Nur wenn ein Raum bleibt, der uns voneinander trennt- der Zwischen-Raum- der uns als Individuen definierbar macht, so daß wir nicht Kopien sind, sondern jeder Unwiederholbar und Unverwechselbar ist, kann Pluralität und damit Gemeinschaft von freien Menschen bestehen. Weiter unten möchte ich zeigen, inwieweit der Gemeinsinn in diesem Zwischenraum angesiedelt ist, ihn gar konstituiert. Die verschiedenen Tätigkeiten, die Arendt herausarbeitet, sind in diese Räume anzusiedeln. Das Arbeiten entspricht dabei dem Naturkreislauf. Es dient der Aufrechterhaltung des Lebens und ist dabei wesentlich privat. Es bedarf der anderen eigentlich nicht: der menschliche Körper ist auf sich „zurückgeworfen“[VA 134]. Das Herstellen entspricht der Gegenständlichkeit der Welt. Durch Mittel-Zweck-Denken werden Dinge von Dauerhaftigkeit geschaffen, die den Menschen nützen sollen. Dabei dient die Natur als Mittel. Auch hier bedarf es der anderen nicht notwendig, es können auch Dinge nur für einen selbst hergestellt werden. Es spielt sich daher eher in dem Grenzbereichen von Privatem und Öffentlichem ab. Nur das menschliche Handeln bedarf notwendig der Pluralität. Indem wir handeln treten wir wirklich aus der Dunkelheit des Privaten heraus, geben Preis, wer wir sind, welche Vorstellungen wir haben, legen unsere Persönlichkeit offen. Deshalb ist auch das Handeln für Arendt so nahe dem Sprechen: in beidem „entbirgt“ sich der Mensch. Im Handeln und Sprechen schlagen wir eine Brücke zueinander, beseitigen die Differenz, die uns Individuen trennt. Die Wichtigkeit des Handelns zeigt sich auch in der Konzeption der Freiheit, die eng damit verbunden wird. Freiheit heißt einen neuen Anfang setzen können, einen Teil zu den Geschichten der Menschen beizutragen und seine Masche in das „Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten“ zu weben. Der Handelnde steckt dabei bereits in einem Gewebe drinnen, wird in eine konkrete geschichtliche Situation hineingeboren. Gerade dabei und im Anfangen-Können liegt aber auch die Schwierigkeit: die fehlende Autorschaft für die Geschichten vor unserer Handlungen und die Unabsehbarkeit der Folgen unserer eigenen -6-

Handlungen, obwohl wir Auslöser und somit verantwortlich für die Handlung waren. Die Aporien des Handelns sind also, daß wir Handelnde unter Handelnden in eine konkrete Umwelt hinein ohne sicheren Rahmen sind [DB 110]. Hierin zeigt sich die eingangs erwähnte Legitimationslosigkeit und Kontingenz des Handelns. Wir können stets jeder Einzelne neu anfangen, gerade darin besteht das Wesen des Handelns, abseits allen Teleos-Denkens. Damit ist das Handeln die eigentliche politische Tätigkeit. „Ursprünglich erfahre ich Freiheit und Unfreiheit im Verkehr mit anderen und nicht im Verkehr mit mir selbst. Frei sein können Menschen nur in bezug aufeinander, also nur im Bereich des Politischen und des Handelns; nur dort erfahren sie, was Freiheit positiv ist und daß sie mehr ist als ein Nichtgezwungenwerden. [Hannah Arendt: Freiheit und Politik, zitiert nach IN 96].

In diesem Zitat zeigen sich nochmals alle obigen Pfeiler des Denkens von Arendt: Der Mensch ist ein Wesen zwischen Privatem und Öffentlichem, dessen Freiheit sich im gemeinsamen Miteinander äußert. Um dieses aber zu schützen, den Aporien zu begegnen, braucht es ein Verständnis des Miteinander-Müssens und Nicht-anders-Könnens, es braucht einen Sinn für die gemeinsam geteilte Welt: einen Gemeinsinn.

3. Der Begriff des Gemeinsinns 3.1. Allgemeine Betrachtung des Gemeinsinns In dem vorangegangenen Kapitel habe ich versucht darzustellen, wie wir zwischen zwei Stühlen stehen, wie wir Individuen sind, sich unserer selbst und unserer je individuellen Einzigartigkeit

bewußt, aber um die Wirklichkeit der Welt zu erfahren, der anderen

notwendig bedürfen. „Nur wo Dinge, ohne ihre Identität zu verlieren, von Vielen in einer Vielfalt von Perspektiven erblickt werden, so daß die um sie Versammelten wissen, daß ein Selbes sich ihnen in äußerster Verschiedenheit darbietet, kann weltliche Wirklichkeit eigentlich und zuverlässig in Erscheinung treten.“[VA 72]

In dem Zwischenraum der Ein-heit-Erfahrung und der, der Viel-heit liegt, als Bindeglied zwischen Individualität und Pluralität der Gemeinsinn, der sensus communis. Meine fünf Sinne verraten mir nur, daß ich es bin, der sieht, der hört usw. Meine sinnlichen Erfahrungen sind „radikal subjektiv“. Ich habe einen nur mir offenstehenden, privilegierten Zugang zu meinen Empfindungen. Ich kann über meinen Zahnschmerz erzählen, nur niemand anderes wird ihn fühlen können. Meine Sinne und Empfindungen werfen mich gleichsam auf mich selbst zurück: ich nehme im Wahrnehmen wahr, daß ich Wahrnehmender bin. Hierbei spielen die anderen noch keine Rolle. Doch kann ich ebenfalls wahrnehmen, daß da noch andere, von mir verschiedene sind, die Gleiches, aber auf ihre Weise wahrnehmen. Der Gemeinsinn läßt sich also zunächst als sechster Sinn denken: das Wahrnehmen der Wahrnehmung der anderen. Der Gemeinsinn ist damit konstitutiv für ein Verständnis einer -7-

gemeinsamen Welt. Indem ich mir nun denken kann, daß andere Ähnliches empfinden, versichere ich mir erst der Realität meiner Empfindungen. Die Welt wird die von Arendt beschriebene

objektive,

indem

wir

vermöge

des

Gemeinsinns

als

Sinnesorgan

Wahrgenommenes von den Wahrnehmenden trennen können: Nur weil ich weiß, daß dort andere Wahrnehmende(Subjekte) sind, die etwas Wahrnehmen(Objekte), wird die Welt etwas Wirkliches, etwas Gemeinsames. Mittels Kommunikation, dabei vor allem der Sprache, bestätigen wir uns der gemeinsamen Welt. Jedoch braucht es den Gemeinsinn als ein vorsprachlich Bestätigendes der Gemeinsamkeit, so daß es überhaupt nötig ist, darüber zu sprechen. Der Gemeinsinn ist also auch konstitutiv für Kommunikation: die Welt ist eine von Individuen geteilte, gemeinsame Welt, über die sich sprechen läßt: „Der sensus communis ist der spezifisch menschliche Sinn, weil die Kommunikation, d.h. die Sprache, von ihm abhängt. Um unsere Bedürfnisse zur Kenntniss zu bringen, um Furcht, Freude etc. auszudrücken, würden wir die Sprache nicht brauchen.“[LGU 94]

Dies ist eine Ebene vom Gemeinsinn, die Hannah Arendt vor Augen hat, wenn sie sagt: „Das einzige, woran wir die Realität der Welt erkennen und messen können, ist, daß sie uns allen gemeinsam ist…“[VA 264] So ist der Gemeinsinn als Sinn des Verstandes, als ein Meta-Sinn der anderen fünf Sinne, der sich aus jenen ergibt, sie gleichsam zusammenfaßt, ein notwendiger Baustein der conditio humana, der das Zwischen der Individualität und der Pluralität schafft(erkennen der anderen Subjekte, unterschieden von mir) und gleichzeitig wieder zu füllen vermag (die Welt als Gemeinsames). Dies ist das Verständnis, welches sich an Kant anlehnt und womit sich Arendt in Vom Leben des Geistes (vgl. VGU 92-96]auseinandergesetzt hat. In der Kritik der Urteilskraft spricht Kant vom Gemeinsinn als „Wirkung aus dem freien Spiel der Erkenntniskräfte“[IK §20]. Er denkt ihn sich als die Idee eines Vermögens, das Denken der anderen in seinem Denken mit berücksichtigen zu können: „eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken (a priori) Rücksicht nimmt…“. Der „gemeinschaftliches Sinn“ ist als ein Sinn als-ob zu verstehen: ein Vermögen, als ob wir das gesamte Denken der Menschheit- jedes einzelnen- in unsere Reflexionen aufnehmen. So fährt Kant nämlich fort: „…um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluß haben würde.“ [IK §40]

An der Stelle wird Kants eigentlich ästhetische Betrachtung für Hannah Arendt politisch relevant.6 Einmal die Bedingtheit der Menschen in einem Miteinander erkannt, steckt hier die Antwort auf das Problem, den der Verlust der Instanz Gottes und damit verbundenen Verlust des universellen Guten verursacht hat. Der Gemeinsinn kann als „politische Qualität“ [VA -8-

264], die Individuelles vor einen Spiegel der Allgemeinheit hält, vor dem die Privatbedingungen halt machen, indem man von den „Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälligerweise anhängen, abstrahiert…“ [IK §40]. Der Gemeinsinn kann als eine Tugend den Aporien des Handelns entgehen, indem ich um meine Gebundenheit weiß und zu meinen Privatwünschen, noch die der anderen berücksichtige und somit den Raum menschlicher Angelegenheiten zu einen gemeinsamen zu machen, in dem alle teilhaben und frei handeln können. So ist der Gemeinsinn die Naht zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen bloßem Individuum und Handelnder unter Handelnden. So schreibt Arendt: „Man urteilt immer als Mitglied einer Gemeinschaft, geleitet von seinem gemeinschaftlichen Sinn, seinem sensus communis“ [zit. nach DB 161] und an anderer Stelle: „Das einzige Merkmal der Verrücktheit ist der Verlust des Gemeinsinnes(sensus communis) und der dagegen eintretende logische Eigensinn(sensus privatus)“ [ebd.]. Die Verrücktheit ist hierbei im doppelten Sinne zu verstehen. Zum einen als geistige Krankheit, verstanden als Verlust der Möglichkeit, Abstand zu sich und seiner Person zu nehmen, sich also mittels des Gemeinsinns im eigenen Geiste dem Urteil anderer zu stellen. Andererseits natürlich das Entrückt-sein aus der Wirklichkeit, der Weltlichkeit der Welt als gemeinsame und reale. Letzteres wirkt wiederum auf die erste Möglichkeit zurück: Realitätsverlust, Wahnvorstellungen…Der Nahtcharakter des Gemeinsinnes, man kann ihn auch bildlich ähnlich einer Waage auffassen, die in die eine wie die andere Richtung kippen kann, d.h. man kann zu viel wie zu wenig Gemeinsinn haben, was im übernächsten Teil besprochen werden soll. Zunächst möchte ich jedoch noch einmal das mögliche Verständnis von Gemeinsinn zusammenfassen, was nochmals seine Wichtigkeit im Arendtschen Konzept zeigen soll.

3.2. Gemeinsinn als… …Sinnesorgan Als Bindeglied zwischen der absoluten Subjektivität der eigenen Sinne und der Pluralität ist der Gemeinsinn wie ein sechster Sinn, der uns erfahren läßt, daß die Welt eine gemeinsam belebte Welt mit anderen Individuen ist, die jedes für sich nicht anders, als mit anderen gemeinsam existieren kann. …realitäts- und öffentlichkeitsstiftend Indem wir die Welt vor unseren Gemeinsinn halten und als allen gemein erfahren, wird sie real, d.h. nicht nur für uns, sondern ein „objektiv Gemeinsames und darum eben Wirkliches“[VA 264f.] Dadurch wird sie eine geteilte Welt, mit anderen geteilt und geteilt in eine öffentliche und private Sphäre. Aus unserer Privatheit können wir in die Öffentlichkeit -9-

treten, vermöge des Gemeinsinns können wir dies verstandesmäßig tun. In diesem Sinne ist der Gemeinsinn öffentlichkeitsstiftend. Diese beiden Blicke auf den Gemeinsinn kann man als die Wahrnehmungsfähigkeit betreffend verstehen. Weiterhin ist der Gemeinsinn handlungsnormativ, als politisch moralisches Gut zu verstehen. …politisches Gut und Ziel Der Gemeinsinn kann als hohes und zu förderndes politisches Gut, bei der Bildung eines friedlichen Gemeinwesens, in der jeder frei handeln kann, gesehen werden. …Korrektiv Sich dem Gemeinsinn verschreiben bewahrt vor Egoismus und Vereinzelung und der von Arendt beschriebenen Entfremdung von sich und seiner umgebenden Welt. …Sinn Im Gegensatz zum Zweckdenken, in dem, wie Arendt beschreibt, alles zum Mittel werden kann und sich ein Relativismus des „Um-zu“ ausbreitet, ist der Gemeinsinn Zweck an sich. Er ist als Sinn des Handelns und der Politik beständig und verliert nicht an Wert bei möglicher Erfüllung. Er kennt eher keine Erfüllung, ist mehr das „Um-willen“, wie Arendt den Sinn versteht. Wir handeln nicht, „um zu“ einem Ziel zu kommen, sondern weil wir nicht anders können, um der Gemeinsamkeit der Welt willen. Soweit zur Einordnung der Wichtigkeit des Gemeinsinns. Im folgenden soll vor allem der Verlust des Gemeinsinns in einer Gesellschaft an Hand des Totalitarismus und der Massengesellschaft dargestellt werden.

3.3. Verlust von Gemeinsinn in Totalitarismus und Massengesellschaft Wenn man den Gemeinsinn als Gut und Tugend auffaßt, kann sich natürlich auch ein Verlust von diesem ergeben. Als Sinnesorgan verstanden bleibt er zwar noch als stiftend erhalten, doch kann er ähnlich Instinkten verkümmern. Die Folge ist für Arendt der Rückzug in die Subjektivität, in das Dunkel des Privaten. „Ein merkliches Abnehmen des gesunden Menschenverstandes[als Gemeinsinn zu verstehen, d.V.] und ein merkliches Zunehmen von Aberglauben und Leichtgläubigkeit deuten daher immer darauf hin, daß die Gemeinsamkeit der Welt…abbröckelt…und daß daher die Menschen sich der Welt entfremden und begonnen haben, sich auf ihre Subjektivität zurückzuziehen“[VA 265]

Die Entfremdung ist zunächst eine voneinander. Aus den gemeinsamen Angelegenheiten wird die jedem seinige (aus uns wird ich vs. du). Die Folge ist ein Rückzug aus dem Öffentlichen der Politik. Die gemeinsam geteilte Welt zerfällt in eine aus Privatwesen bestehende, die ihr eigenes Funktionieren so gut es eben geht im status quo einzurichten versuchen. Das - 10 -

Politische geht einem nichts mehr an. Aus den Handelnden werden Sich-Verhaltende: „wenn wir den Sinn verloren haben, durch den unsere fünf animalischen Sinne sich einer Menschenwelt fügen, die uns allen gemeinsam ist, so bleibt von dem menschlichen Wesen in der Tat nicht viel mehr übrig als die Zugehörigkeit zu einer Tiergattung…“[VA 360]

Im totalitären Staat wird der strukturellen Legitimationslosigkeit des Handelns das Ziel einer Ideologieerfüllung gegeben. Handeln ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zur Erreichung des Zieles. Ständige Überwachung und Angst drängen den Menschen in die Privatheit. Die Gleichschaltung der Öffentlichkeit bedeutet den Verlust der wirklichkeitsgebenden Pluralität der Perspektiven. Der eindimensionale, sich verhaltende Privatmensch wird unempfindlich gegenüber dem Gemeinsamen- die öffentliche Sphäre ist in der Eindimensionalität verschwunden. Der Einzelne, ein Zahnrad im Kollektivgefüge, geht in der Masse unter. Die Freiheit des Anfangens geht über in einen Konformismus mit einer Doktrin oder aber in eine Feindschaft mit dieser, und als Feind der Ordnung ist man ein zu bekämpfendes Übel. Die Kompensation des Öffentlichen durch Einführung von Gemeinschaftsbeschwörungen innerhalb dafür vorgesehener Organisationen (HJ, FDJ…) funktioniert auch nur als Kontrolle der Einzelnen. Für Handeln in Hannah Arendts Sinne ist kein Platz mehr. Im Gegenteil stehen Denunziation und Ausgrenzung. Auch das Verschwinden von Menschlichkeit läßt sich daraus erklären, kann diese doch nur aus einem funktionierenden Gemeinsinn entstehen. Ähnliches taucht in der Massengesellschaft auf. In ihr ist Konsum und Funktionieren im kapitalistischen Akkumulationsprozeß oberste Maxime. Als Jobholders, die jederzeit um ihre Stelle bangen, verliert sich der Gemeinsinn im täglichen Konkurrenzkampf. An die Stelle der Handelnden ist hier die Bürokratie, in der den Aporien auf eigene Weise begegnet wird. Durch Regelungen, Ausführungsvorschriften und Prozessen wird der Unabsehbarkeit Herr geworden. Niemanden kann man zur Verantwortung ziehen denn:

„in einer vollentwickelten

Bürokratie gibt es, wenn man Verantwortung verlangt oder auch Reformen nur den Niemand. … Bürokratie ist die Staatsform, in der es niemanden mehr gibt der Macht ausübt; und wo alle gleichermaßen ohnmächtig sind, haben wir eine Tyrannis ohne Tyrannen.“ [MG 80]

Aus dieser Ohnmacht ergibt sich Passivität und Zuschauen und somit das Aussterben der Handelnden. Wo der Gemeinsinn fehlt, ist der Ruf nach Gesetzten und Regelungen groß, Partizipation und Solidarität klein. Mit dem Verlust von Gemeinsinn und der Kritik an der Gesellschaft sich selbst Verwirklichender befassen sich auch die Kommunitaristen, um die es in der folgenden Betrachtung gehen soll.

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4. Der Kommunitarismus- Ein Konzept im Geiste Hannah Arendts? 4.1. Liberalismus vs. Kommunitarismus Der Kommunitarismus ist eine Antwort auf den Liberalismus, wie er vor allem von John Rawls theoretisch ausgearbeitet wurde. In seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit beschreibt Rawls, die Unmöglichkeit für eine Gesellschaft, ein besonderes Ziel und einen besonderen Zweck des Lebens festzuschreiben, sondern daß vielmehr jedem die Möglichkeit gegeben werden müßte, sein eigenes Ziel, seine eigene Vorstellung vom glücklichen Leben zu verwirklichen7. Ziele und Wünsche sind kontingent und je individuell, trotzdem braucht es, mit Kant gesprochen, eines kategorischen Prinzips für Moral im Miteinander8. Für Rawls kann sich dies nicht in der Frage des Guten erschöpfen, sondern in der nach Gerechtigkeit. Dabei stehen für ihn zwei Prämissen im Vordergrund: 1. individuelle Rechte können nicht Opfer von Gemeinwohlinteressen sein und 2. kein Gut kann als oberstes Prinzip gelten. Rawls nimmt einen „Urzustand“ an, bei dem ein „Schleier der Unwissenheit“ über den Menschen liegt. In diesem Zustand müssen wir uns eine Gesellschaftsordnung geben, wobei wir nicht wissen, welche konkrete Person wir sein, in welcher sozialen Stellung wir uns dann befinden werden. Dies garantiere größte Gerechtigkeit für alle. Diesem eher metaphorischen Urzustand geht ein Menschenbild voran, wonach jeder, wie Sandel schreibt, ein „ungebundenes Selbst“[Michael Sandel in AH 20] ist. Frei von gemeinschaftlichen oder anderen Verpflichtungen ist der Mensch eine souveräne Person, die sich als Subjekt mit freiem Willen zu sich selbst verhalten kann, sich von seiner sozialen Bedingtheit wenigstens geistig zu befreien vermag und Abstand von seinen Lebensumständen nehmen kann. Dabei ergeben sich nach Rawls zwei Prinzipien der Gerechtigkeit: 1. Gleiche Grundrechte müssen für alle gelten und 2. Ungleichheiten sind nur gerechtfertigt, wenn sie zum allgemeinen Vorteil dienen oder jedem offen stehen (Differenzprinzip).

4.2. Einzelne Standpunkte der Kommunitaristen Für Michael Sandel und die anderen Kommunitarier4 ist das ungebundene Selbst ein Irrtum. Kein Mensch kann in dem geforderten Sinne Abstand zu seiner Umwelt nehmen. Wir werden in eine konkrete soziale Gemeinschaft hineingeboren, in der es religiöse, geschichtliche u.ä. Überzeugungen gibt, deren Erbe wir antreten. Zum einen leben wir in einer Familie, weiter in einem Staat und schließlich unter Menschen. Dabei gehen wir alte Verpflichtungen ein, haben bestimmte Rechte und adaptieren so Vorstellungen und Überzeugungen, die einen Teil unserer Person definieren. Die Gemeinschaft, so die kommunitaristische These ist konstitutiv für unseren Charakter: „Sich eine Person vorzustellen, die solcher konstitutiven Einbindung unfähig ist, - 12 -

bedeutet nicht, sich einen idealen, frei und rational Handelnden zu denken, sondern sich eine Person ohne jeglichen

Charakter…vorzustellen.“[Sandel

zit.

nach

RS

21]

Für Sandel läßt sich Rawls

Differenzprinzip nicht auf dessen Grundlage begreifen: wenn wir nur unserem individuellen Glück nachstreben, warum sollten Ungleichheiten beseitigt werden? Dabei betont Sandel, daß man nicht absolut durch die Gemeinschaft determiniert ist, man kann sich sehr wohl zu ihr stellen, doch nicht in dem Rawlschen Maße. Das Problem von heute besteht in einem „taumelnden Subjekt“. Es gilt ein Primat der Selbstverwirklichung, welches garantiert wird durch die Institutionen (Gerichte, Bürokratie), wobei gleichzeitig Wohlfahrt und Solidarität gefordert werden. Beides widerspricht sich aber[Sandel in RS 34]. In diesem Unvereinbarem taumeln wir unzufrieden in und her. Moral entsteht erst im Miteinander, ist an dieses gebunden und bedarf einer gemeinschaftlichen Einbindung des Individuums: es bedarf dafür eines Gemeinsinns. Das Bestehen auf individuelle Rechte zerstört dabei diesen Sinn. Um ein gutes und gerechtes Leben aller zu ermöglichen, brauchen wir den Gemeinsinn. Charles Taylor sagt, daß Recht auf Recht und Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft gleichrangig seien. Wir benötigen Institutionen, um den Gemeinsinn zu fördern, Mitgestaltung an der Gesellschaft, d.h. im Sinne Hannah Arendt Handeln zu ermöglichen. Taylor

nennt

dabei

vier

Bedingungen

an

ein

Gemeinwesen:

1. Solidaritätsgefühl, d.h. die freiwillige Bindung an die Institutionen der Selbstregierung 2. Partizipation, die gegen Entfremdung der Massengesellschaft einen Bürgersinn schafft 3. gegenseitiger Respekt durch Aufhebung sozialer Ungleichheiten, denn nur dies ermöglicht die Partizipation aller und 4. eine funktionierende Wirtschaftsordnung, wobei dem Kapitalismus in seiner durch 1-3 abgeschwächten Form dem Vorrang gegeben wird. Ziel vieler Kommunitaristen ist eine Bürgergesellschaft,

bei der zu dem geforderten

Gemeinsinn als Grundlage, noch ein Bürgersinn, d.h. eine Identifikation mit den staatlichen Institutionen und eine Bereitschaft, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Der Bürgersinn bezieht sich dabei nicht nur auf die Einrichtungen des Staatsapparates, sondern auch auf Partizipation außerhalb dessen, in Vereinen, Stiftungen und dergleichen. Wie bereits erwähnt ist der Kommunitarismus keine Schule, sondern vielmehr eine Zusammenfassung ähnlicher Argumente und Kritikpunkte am Liberalismus und einer Gesellschaft, die auf dessen Basis besteht. Dabei sind noch viele Punkte zu erwähnen, beispielsweise der Relativismus, der sich aus den kommunitaristischen Prinzipien ergibt und die verschiedenen Antworten darauf4. In vielerlei Hinsicht basieren diese Punkte auf den anfänglich

erwähnten

Legitimationsproblemen

moderner

Gesellschaften.

Auch

Kommunitaristen müssen sich die Frage vorlegen: Wie und auf welcher Basis kommen wir zu - 13 -

universellen moralischen Einsichten. Die Antworten ähneln der von Hannah Arendt: aus dem Gemeinsinn lassen z.B. essentielle kulturelle Prinzipien( wie z.B. von Martha Nußbaum aufgestellt) extrahieren. Dabei können wir uns also die Frage vorlegen:

4.3. Hannah Arendt- Eine Kommunitaristin? Die Kommunitaristen berufen sich wenig auf Hannah Arendt, obwohl doch ihre Konzeption des Menschen mit Gemeinsinn sehr viele Ähnlichkeiten mit kommunitarischen Argumenten aufweist. Zunächst ist die wesentliche Übereinstimmung die Situierung des Menschen in konkrete geschichtliche und soziale, also gemeinschaftliche Kontexte. Niemand wird für sich allein geboren, niemand lebt in sozialer Isolation. Hannah Arendt hätte sicherlich Rawls Theorie mit ähnlichen Argumenten verworfen. Das ungebundene Selbst wäre ein sich aus der Wirklichkeit der Welt Entfernender. Gerechtigkeitsprinzipien sind Tatbestände des Öffentlichen, sie ergeben sich aus gemeinsamer Gebundenheit aneinander und zueinander. Rawls Schleier ist in der Hinsicht ein a-sozialer und a-politischer Blick auf den Menschen, er wird der conditio humana nicht gerecht. Ich meine, Arendt würde auch den nach individueller Glückerfüllung strebenden Menschen ablehnen. Die Bedingtheit des menschlichen Lebens, unter anderen sein zu müssen, läßt bloß individuelle Glücksbegriffe scheitern. Auch diese stehen in gemeinschaftlichen Kontexten, hängen davon ab. Sicherlich ist Glück nicht universalisierbar, es ist jedoch Teil der Sphäre menschlicher Angelegenheiten und damit zum großen Teil an das Öffentliche gebunden. Ähnlich Arendts Beschreibung des Sinnverlusts des Homo faber, wo alles Zwecken unterworfen ist und zum Mittel werden kann, ist Alasdair MacIntyres Beschreibung des Verlustes des Moralitätsumfeldes in der Sprache: „Die Sprache der Moral [ist] aus einem Zustand der Ordnung in einen Zustand der Unordnung übergegangen.“[MacIntyre zit. nach RS 50] Moralität hat ihren Sinn verloren, sie wird zum Mittel der „Manipulation der Menschen“ [ebd.]. Die Begriffe werden in einen Nutzenkontext umgedeutet: der Tod ist „Bezugszeitende“ (von Rente) oder „Sozialkapital“ für Gemeinsinn [siehe RS 104] oder „Humankapital“. Beiden gemeinsam ist die Kritik an einer Entpolitisierung des Menschen in der Moderne, vor allem in der Massengesellschaft. Wie bereits oben beschrieben ist die soziale Identität und der Gemeinsinn am verschwinden, der Einzelne in das Private zurückgeworfen. Der Handelnde wird in einer funktional arbeitenden Bürokratie an der Mitgestaltung gehindert. Deshalb plädieren Arendt, wie die Kommunitaristen für stärkere Mitgestaltungsrechte, Abseits vom Kreuzen in der Wahlkabine. Doch hier unterscheiden sich die Ansichten. - 14 -

Hannah Arendt steht für eine Republik der Räte, welche verspricht, eine „vollkommen anderes Organisationsprinzip [zu sein], das von unten beginnt, sich nach oben fortsetzt und das schließlich zu einem Parlament führt.“[MG 132] Die Räte sollen wesentliche Entscheidungen treffen, im Gegensatz zu politisch „bedeutungslosen“ [ebd.] Kommunen. Kommunitaristen wollen verstärktes soziales Engagement in Vereinen o.ä.

„Die Räte sagen: wir

wollen mitbestimmen. Wir wollen unsere Stimme irgendwo in der Öffentlichkeit zu Gehör bringen. … Die Zelle, in der wir unser Stimmzettel abgeben, ist zweifellos zu klein, denn in dieser Zelle ist nur Platz für einen. Die Parteien sind dafür ganz ungeeignet; da sind wir doch nur Stimmvieh“[ebd.]

Hannah Arendt ist Kritikerin des Parteiensystems. Der Parteigänger ist weniger ein Handelnder als ein Parteiprogramm Folgender. Das Parteiensystem bietet ihr zu wenig Mitgestaltung. Mit Blick auf Amerika sagte sie: „Das System der Repräsentation führte dazu, daß die Repräsentanten allein den politischen Raum konstituierten, ‚während das Volk, das sie abordnete und theoretisch der allein legitime Inhaber der Macht war bestenfalls vor den Türen stehen durfte.’“[FH 160]

Hier ist der

Unterschied zu den Kommunitaristen. Sie wollen das Bestehende nur um Elemente der Partizipation erweitern. Insgesamt ist die Kritik am Bestehenden von Arendt und den Kommunitaristen ähnlich und aus gleicher Richtung kommend. Doch in der Veränderung, d.h. in den Schlüssen aus der Analyse unterscheiden sie sich doch wesentlich. So muß die Frage, die diesem Teil voransteht wohl mit einem Nein beantwortet werden.

5. Schlußbemerkungen Ich habe in dieser Arbeit versucht, Hannah Arendts Begriff des Gemeinsinns herauszuarbeiten und zu interpretieren. Man kann dem Vorwerfen, daß es eine Überhöhung des Gemeinsinns sei, die in Richtung einer Metaphysik der Gemeinschaft ginge, wo doch der „gemeinschaftlich Sinn“, wie Kant sagt, nur einer Idee entspricht. Deshalb war es mein Ziel, zunächst Arendts Menschenbild zu erklären und klar zu machen, daß wir „inter homines esse“ [VA 17] und den Gemeinsinn gerade als notwendig, dieser Grundbedingung im Rücken liegend, zu präsentieren. Aus dem Sinne für die Gemeinschaft wird schließlich der Sinn der Gemeinschaft. An Hand der Darstellung des Kommunitarismus sollte eine mögliche konzeptionelle Konsequenz aus der Gemeinschaftsgebundenheit dargestellt und daran Arendts Schlüsse verglichen werden. Die Umsetzung der Räterepublik hat durchaus problematische Aspekte, doch bleibt im Ergebnis der Untersuchung in jedem Fall die Notwendigkeit für mehr Mitgestaltung, um der Zuschauermentalität zu entgehen. Vielleicht sind wir gar nicht mehr so obdachlos, vielleicht haben Geld und Konsum bereits die Leerstelle Gottes besetzt, und das Güterstreben dem Leben die Sinnlosigkeit genommen. - 15 -

Möglicherweise ist die Leerstelle nichts als eine intellektuelle Träne, die Einkaufstempel sind die neuen Kirchen geworden und wir die ersten, die sich das Gute kaufen können. Doch glaube ich das nicht! Hannah Arendt hat uns auch dazu etwas zu sagen; die Unzufriedenheit des Massemenschen kommt nicht von ungefähr. Sie steht mit ihrer Antwort zwischen den Stühlen. Der Mensch kann dem Menschen ein Wolf sein, wenn der Gemeinsinn nicht funktioniert. Doch mit diesem hat er die Fähigkeit und die Chance, das Zwischen der menschlichen Angelegenheiten lebenswert einzurichten, seine Bezugsgewebe mit einem guten Muster zu versehen. Ich glaube Hannah Arendt hat einen geglückten Versuch angestellt, den Glauben an die Menschen zu erhalten, ohne einen Umweg über Gott gehen zu müssen. Das Gute und das Wahre sind nicht universell, sondern müssen von jeder Generation Handelnder neu gemeinsam gefunden werden. Dies klappt nur mit funktionierenden Gemeinsinn.

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6. Anmerkungen und Literaturverzeichnis Anmerkungen 1 Rüdiger Safranski: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. Frankfurt/Main 2004 2 Objektiv meint hier und im folgenden objekthaft und nicht allgemein wahr, frei von subjektiven Bedingungen. 3 Für Aristoteles ist der Mensch ein auf Gemeinschaft mit anderen ausgerichtetes Lebewesen, dessen höchstes Glück nur in der Gemeinschaft gefunden werden kann. 4 Arendt bezieht sich auf die ursprüngliche Bedeutung von Privat und Eigentum. Im Laufe des Aufstiegs des Kapitalismus ging die Bedeutung des Eigentums als Bindungsort verloren. 5 Ich glaube, das Schachspiel ist ein sehr gutes Gleichnis des öffentlichen Raumes und auch der anderen Bedingtheiten des Menschen. Man ist als Spieler zwar allein, doch um das Spiel, und damit der seine Existenz als Spieler zu sichren, bedarf es des Mitspielers. Beide sind durch Regeln des Spiels verbunden. Jede Handlung(Zug) beeinflußt die, des anderen. 6 Arendt findet in Kants Ästhetik Grundsätze für ihre politische Theorie. Ihr Begriff des Handeln kann dabei mit dem Geschmacksurteil verglichen werden: interesseloses Wohlgefallen(frei von Privatbedingungen), das subjektiv allgemeingültig, d.h. ohne Begriffe, ist und sich auf den Gemeinsinn gründet. 7 Ich folge hier der Liberalismusdarstellung von Sandel in AH und der von Reese-Schäfer. 8 Für Kant ist dies das transzendentale Subjekt, daß sich einem moral. Gesetz verpflichtet. Kommunitarismus ist keine Schule. Vielmehr faßt man unter den Begriff gleiche Kritikpunkte verschiedener Autoren am Liberalismus und ähnliche Ansatzpunkte.

Literaturverzeichnis Bücher von und zu Hannah Arendt: [VA] Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2003. [MG] dies.: Macht und Gewalt. München 1994. [LGU] dies.: Vom Leben es Geistes. Das Urteilen. München 1985. [DB] Barley, Delbert: Hannah Arendt. Einführung in ihr Werk. Freiburg 1990. [FH] Hermenau, Frank: Urteilskraft als politisches Vermögen. Zu Hannah Arendts Theorie der Urteilskraft. Lüneburg 1999. [IN] Nordmann, Ingeborg: Hannah Arendt. Frankfurt/Main 1994. Zum Kommunitarismus [AH] Honneth, Axel (Hg.): Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften. Frankfurt/Main 1993. Schönherr-Mann, Hans-Martin: Postmoderne Theorien des Politischen. Pragmatismus, Kommunitarismus, Pluralismus. München 1996. [RS] Reese-Schäfer, Walter: Kommunitarismus. Frankfurt/Main 2001. Weber, Verena: Tugendethik und Kommunitarismus. Würzburg 2002. Weiterhin [IK] Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Stuttgart 1963.

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