Grundlagen der Industrie- und Organisationssoziologie

Grundlagen der Industrie- und Organisationssoziologie 11. Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Prof. Dr. Birgit Blättel-Mink e-mail: b.blaettel-mink...
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Grundlagen der Industrie- und Organisationssoziologie

11. Arbeitsmarktmobilität und Prekarität

Prof. Dr. Birgit Blättel-Mink e-mail: [email protected]

23.01.2014

Arbeitsmarktmobilität und Prekarität

Lektüre Diewald, Martin/Sill, Stephanie (2004): Mehr Risiken, mehr Chancen? Trends in der Arbeitsmarktmobilität seit Mitte der 1980er Jahre. In: Struck, Olaf/Köhler, Christoph (Hrsg.): Beschäftigungsstabilität im Wandel? München und Mering: Rainer Hampp, S. 39-61 Dörre, Klaus (2006): Prekäre Arbeit. Unsichere Beschäftigungsverhältnisse und ihre sozialen Folgen. In: Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik, Nr.3/2006, S. 181-193

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität

Inhalt 1. 2. 3.

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Begriffsarbeit – Arbeitsmarkt, Arbeitsmarktpolitik Arbeitsmarktmobilität – Martin Diewald und Stephanie Sill Prekarität – Klaus Dörre

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität

Martin Diewald, Prof. für Soziologie insbesondere Sozialstrukturanalyse und Wirtschaftssoziologie an der Universität Bielefeld

Stephanie Sill war zur Zeit der Publikation Mitarbeiterin an der Professur

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität

Klaus Dörre Prof. für Arbeits-., Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Universität Jena

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität

Def. Arbeitsmarkt Ein Markt auf dem Arbeit nachgefragt (Arbeitgeber) und angeboten (ArbeitnehmerInnen) wird. Die Zuordnungsvorgänge sollen dann dazu führen, dass die Arbeitsanbieter auf den Arbeitsplätzen zum Einsatz kommen, wo sie am produktivsten sein können. Das ist die Allokationsfunktion des Arbeitsmarktes (Kai Biehl). Der Lohn bestimmt sich – in vollkommenen Märkten - über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Theorien des Arbeitsmarktes Neo-Klassik: Auf dem idealen Markt herrscht ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage Humankapitaltheorie: Rationale Akteure investieren in Entwicklung ihrer Arbeitskraft, sie kennen die Bedingungen des Arbeitsmarktes und wägen zwischen Kosten und Nutzen ab! (Z.B. Unterschiede zwischen Frauen und Männern) Vgl. Gary S. Becker Machttheorien: Ungleichgewichte zwischen Nachfrage- und Angebotsseite – vgl. Karl Marx Institutionelle Einbettung von Arbeitsmärkten – Formen und Verfahrensweisen, wie Austauschprozesse auf dem Arbeitsmarkt ablaufen sollen; vgl. Esping-Andersen Soziale Netzwerke / Soziales Kapital – „The strength of weak ties“ (Mark Granovetter)

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Bedeutung von Erwerbsarbeit Der „Zustand“ des Arbeitsmarktes bestimmt massgeblich, wer und zu welchem Anteil am wirtschaftlichen Wohlstand einer Gesellschaft teilhaben kann Arbeitslosigkeit beeinflusst individuelles Einkommen, das Versorgungsniveau der Haushalte und die soziale Anerkennung Die Bedeutung des Arbeitsmarktes zeigt sich nicht nur im Problem, wie viele Menschen arbeiten, sondern auch wer Arbeit zu welchen Konditionen bekommt Arbeitsmärkte sind in soziale, institutionelle und kulturelle Zusammenhänge eingebettet.

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität

Bedeutung von Erwerbsarbeit Ideal der Vollbeschäftigung Recht auf Arbeit Beteiligung an Öffentlichkeit durch Teilnahme am Arbeitsmarkt Identitätsbildung durch Erwerbsbeteiligung Kritische Theorie: Individuelle Vergesellschaftung durch Erwerbsbeteiligung Arbeitsgesellschaft Arbeit und soziale Ungleichheit

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Problembeschreibung Der Machtverlust der Angebotsseite (Anbieter von Arbeitskraft) durch Globalisierung, Zusammenbruch des Realen Sozialismus – Wanderungsbewegungen, Technisierung und die Frage der Entkopplung von wirtschaftlichem Wachstum bzw. konjunktureller Entwicklung und der Ausweitung von Arbeit / Steigerung der Beschäftigung

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Ziele von Arbeitsmarktpolitik: Vermeidung und Reduzierung von Arbeitslosigkeit (insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit) Erhaltung eines allgemein hohen Beschäftigungsniveaus Erhöhung der Erwerbsfähigkeit älterer ArbeitnehmerInnen Chancengleichheit für bisher benachteiligte Gruppen des Arbeitsmarktes (insbesondere Frauen) Erhaltung und Ausbau der sozialen und persönlichen Sicherheit Förderung des Breitenwohlstandes Erhaltung und Ausbau von Mitbestimmungsmöglichkeiten Erhöhung der Erwerbsbeteiligung Vgl. Kai Biehl 2003

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Zwei Ansätze in der Arbeitsmarktpolitik Angebotsorientierte Lehren – rechts-liberale Sichtweise – Senkung der Lohnkosten als Ziel Nachfrageorientierte Lehre – links-keynesianisch – Erhöhungen der Löhne als Ziel Steigerung der Binnennachfrage John Maynard Keynes (1883 – 1946) gegen die Annahmen der Neoklassiker, gegen freies Spiel der freien Kräfte, gegen Annahme der „invisible hand“ des Marktes – Marktsteuerung durch Tausch, Angebot-Nachfrage-Stabilisierung, gegen vollkommene Konkurrenz, für unvollkommenen Wettbewerb. Soziale Marktwirtschaft (Alfred Müller Armack u.a.) – Deutsches Modell, Wirtschaftliches Wachstum bei staatlicher Unterstützung der Verlierer der Marktwirtschaft (Kompensation) Der Staat hat die Aufgabe, im Falle der sinkenden Binnennachfrage, eben durch Unterbeschäftigung, auszugleichen, den Konjunkturverlauf („antizyklisch“) zu „glätten“. Steuerung durch Geld- und Fiskalpolitik soll zu Stabilisierung führen. Staatliche Nachfrage nach wirtschaftlichen Gütern, staatliche Investitionen! 23.01.2014

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Aktive und passive Arbeitsmarktpolitik Passive Arbeitsmarktpolitik ist in erster Linie die zumindest teilweise Kompensation des Einkommensausfalls infolge von Arbeitslosigkeit. Dazu dient die Arbeitslosenversicherung, welche zu gleichen Teilen durch Versicherungsbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert wird. Die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik gehen über reine Einkommensersatzleistungen hinaus. Hauptzielgruppen sind Personen, die aus eigener Kraft entweder gar keine oder nur schlechte und instabile Arbeitsplätze finden können.

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Die andere Seite der Medaille des Normalarbeitsverhältnisses – seit ca. Mitte der 80er Jahre Atypische Beschäftigungsformen: Flexibilisierung Befristet Teilzeit Leiharbeit/Zeitarbeit

Noch nicht arbeitslos, aber gefährdet! Armutsrisiko

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität „Gleichzeitig erodierte die Beschäftigungssicherheit infolge der beträchtlichen Beschäftigungslücke, die sich sowohl in erheblichen offiziellen Arbeitslosenquoten als auch in der „Stillen Reserve“ manifestiert.“ (Diewald/Sill: 41)

- Lockerung bisheriger Beschäftigungsgarantien - Lockerung der Einkommensgarantien für ArbeitsplatzbesitzerInnen - Flexibilisierung des Personaleinsatzes - vom verberufllichten Arbeitnehmer zum verbetrieblichten Arbeitskraftunternehmer

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Diewald / Sill Arbeitsmarktmobilität zu untersuchen unter den Dimensionen

- Flexibilisierung von Beschäftigung: Arbeitszeit und Arbeitseinsatz(ort) - Stabilität von Beschäftigung: Arbeitsplatz, Betriebszugehörigkeit, Verbleib in einem Berufsfeld - Sicherheit von Beschäftigung: wahrgenommenes oder tatsächliches Risiko von Arbeitslosigkeit und/oder von beruflichem Abstieg, Erwartungssicherheit bzgl. Karriere

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Diewald / Sill - Ergebnisse (SOEP-Panel 1985-2000) 1. Wandel wird signifikant seit den 90er Jahren 2. Betriebswechsel (steigt Ende der 90er Jahre) ist höher als betriebsinterner Wechsel 3. Innerbetriebliche Arbeitsplatzwechsel führen nicht mehr notwendig zu Aufstieg, sondern zunehmend zu Abstieg (Gehalt, Autonomie, Leitungsfunktion) 4. Lohngefälle – keine flächendeckende Entwicklung, sondern individuelle - interne Flexibilisierung 5. Arbeitslosigkeit sinkt in den 80er Jahren, steigt zu Beginn der 90er Jahre an und sinkt seit Ende der 90er Jahre.

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Aktuelle Herausforderungen der Industriesoziologie nach Michael Schumann

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Aktuelle Herausforderungen der Industriesoziologie nach Michael Schumann

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität

„Der Begriff der Prekarisierung umfasst Situationen potenzieller Armut, die an die Erosion des so genannten Normalarbeitsverhältnisses gebunden sind. Dieses charakterisiert eine bestimmte historische Ausprägung der Arbeitsverhältnisse, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch einen gewissen Grad an arbeitsrechtlicher und sozialstaatlicher Formalisierung auszeichneten. Dieses Normalarbeitsverhältnis hat im Kontext neoliberaler Deregulierung und Flexibilisierung an Bedeutung verloren. Staatliche Vorschriften und kollektivvertragliche Schutzbestimmungen werden ausgeräumt, um die Zu- und Abgänge von Arbeitskräften entsprechend schnell an veränderte Produktions- und Absatzbedingungen anzupassen. Klar definierte Lohnskalen und Arbeitszeitregime werden aufgeweicht, unbefristete Arbeitsverträge in temporäre oder projektbezogene Einsätze umgewandelt sowie Vollzeitstellen durch Teilzeitstellen ersetzt.“ (Quelle: Wörterbuch der Sozialpolitik)

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Aktuelles Problem - Share Holder Value / Finanzmarktkapitalismus „Der Finanzmarkt-Kapitalismus löst den traditionellen Manager-Kapitalismus ab (vgl. James Burnham). Er ist durch eine spezifische Konfiguration von ökonomischen Institutionen geprägt. Zu diesen Institutionen zählen: die Aktienmärkte, die Investment-Fonds (Eigentümer), Analysten und Ratingagenturen (boundary roles) sowie Transfermechanismen (z.B. feindliche Übernahmen). Das Zentrum der Steuerung im Finanzmarkt-Kapitalismus bilden die Aktienmärkte. Sie bieten eine besondere Gelegenheitsstruktur für Opportunismus (Moral Hazard), weil sie eine Transformation von Unsicherheit in Risiko nur fingieren. Für Paul Windolf sind die "neuen Eigentümer" die Investment-Fonds, welche in den USA bereits die Mehrheit an den großen Aktiengesellschaften besitzen. Der operativen Logik der Finanzmärkte unterworfen, zwingen sie die Unternehmen zu kurzfristigen Strategien der Profitmaximierung und Renditensteigerung. Analysten und RatingAgenturen besetzen in diesem System wichtige boundary roles, die Unsicherheit in Risiko umwandeln. Als spezifische Transfermechanismen für feindliche Übernahmen identifiziert Windolf den Markt für Unternehmenskontrolle, Aktienoptionen und Shareholder Value.“

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Aktuelles Problem - Share Holder Value / Finanzmarktkapitalismus Folge: abnehmende Beschäftigungsanteile Schrumpfung der relativ wertschöpfenden Teile der Bevölkerung und Austrocknung des „Kanalsystems“ einer sozialen Marktwirtschaft, das auch denjenigen Personen und Regionen ihre Subsistenzmittel und Teilhabechancen zuführt, die nicht zum produktiven Kern der Wirtschaftsgesellschaft gehören Zusammenbruch des Systems sozialer Sicherung, sozialer Solidarität.

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Klaus Dörre:

Ausbreitung unsicherer Beschäftigungsverhältnisse Ausbreitung marktförmiger finanzgetriebener Steuerungsmechanismen Der an Lohnarbeit gekoppelte Bürgerstatus wird in Zeiten des Finanzmarktkapitalismus Frage gestellt Robert Castel: nachfordistische Arbeitsgesellschaften spalten sich in die - Zone der Integration - Zone der Prekarität - Zone der Entkopplung 23.01.2014

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Klaus Dörre

Zone der Integration Gesicherte Integration Atypische Integration (vgl. Selbstmanager) Unsichere Integration Gefährdete Integration

Zone der Prekarität Prekäre Beschäftigung als Chance (Die Hoffenden) Prekäre Beschäftigung als dauerhaftes Arrrangement (Die Realistischen) Entschärfte Prekarität (Die Zufriedenen)

Zone der Entkopplung – Die Entbehrlichen Überwindbare Ausgrenzung (Die Veränderungswilligen) Kontrollierte Ausgrenzung / inszenierte Integration (Die Abgehängten)

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Arbeitsmarktmobilität und Prekarität Klaus Dörre

„Viele konventionelle Arbeitsmarktanalysen übersehen, dass soziale „Zonen“ keine voneinander isolierbaren Segmente darstellen, sondern wie ein System kommunizierender Röhren wechselseitig aufeinander einwirken. .. Gerade weil sich die prekär Beschäftigten im unmittelbaren Erfahrungsbereich der über Normalarbeitsverhältnisse Integrierten bewegen, wirken sie als ständige Mahnung“ (Dörre: 188) Castel: „Destabilisierung des Stabilen“ „Indem sie die einen diszipliniert und den anderen möglicherweise elementare Voraussetzungen für Widerständigkeit nimmt. Fördert die Prekarisierung eine eigentümliche ‚Stabilisierung der Instabilität‘. Prekarität wirkt desintegrierend und zugleich als disziplinierende Kraft.“ (Dörre: 189) 23.01.2014

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