Gottes Wort in menschlichen Texten

n Joachim Kügler Gottes Wort in menschlichen Texten Die Bedeutung der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ für die katholische Bibelwissenschaft n ...
Author: Sophia Thomas
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n Joachim Kügler

Gottes Wort in menschlichen Texten Die Bedeutung der Offenbarungskonstitution „Dei Verbum“ für die katholische Bibelwissenschaft

n Besonders für die kritische Bibelwissenschaft hat das Konzil die

Türen weit aufgestoßen. So war die historisch-kritische Methode bislang von Rom abgelehnt worden, weil man darin eine Anbiederung an die Moderne und die Aufklärung sah.

Unverdaute Aufklärung: Die Vorgeschichte von Dei Verbum Der Ursprung der modernen Bibelwissenschaft liegt katholischerseits im Frankreich der Aufklärungszeit. Der Priester Richard Simon (1638-1712) analysierte die Bibel nach den Maßstäben aufklärerischer Vernunft und gab mit seinen Werken der neuartigen Exegese auch gleich ihren Namen „historisch-kritisch“. Obwohl die Bezeichnung „historisch-kritisch“ nach distanzierter Analyse klingt, stand im Hintergrund der frühen aufklärerischen Bibelwissenschaft eine fromme Verteidigungsabsicht. Das gilt für Simon, der allen Anfeindungen zum Trotz zeitlebens ein kirchentreuer Priester blieb, und auch für die meisten anderen Exegeten jener Zeit. Der radikale Rationalismus der frühen Aufklärungsphilosophie bestimmte damals den Zeitgeist und ließ die Bibel insgesamt als menschliche Fiktion erscheinen. Der historisch-kritische Ansatz versuchte dagegen, die Autorität der Heiligen Schrift zu retten, indem man in den biblischen Erzählungen nach dem „historischen Kern“ fragte, wobei Simon sogar in einer scharf antiprotestantischen Wendung das Solascriptura-Prinzip Luthers ablehnte und zu einer Unterscheidung von Offenbarungsereignis und Of-

fenbarungstext gelangte, die erst viel später vom katholischen Lehramt aufgegriffen wurde, vor allem in der Offenbarungstheologie des Zweiten Vatikanischen Konzils. Leider hat das katholische Lehramt den Verteidigungscharakter der historisch-kritischen Exegese nicht recht verstanden und sie bis ins 20. Jh. hinein erbittert bekämpft. Erst 1943 läutete Papst Pius XII. mit seiner Enzyklika „Divino afflante Spiritu“ eine Wende ein. Er stellte in seinem Rundschreiben klar, dass es in der Bibel verschiedene Gattungen mit unterschiedlichen Formen des Wahrheitsanspruches gibt. Darauf und auf die kulturellen Rahmenbedingungen habe die Auslegung Rücksicht zu nehmen. Damit war der Grund gelegt für eine Exegese, die mit den Methoden der Geschichts- und Literaturwissenschaft arbeitet. Diese Hinwendung zur Moderne wurde dann vom Zweiten Vatikanischen Konzil (11. Oktober 1962 bis zum 8. Dezember 1965) mit der Dogmatischen Konstitution über die Göttliche Offenbarung Dei Verbum vollendet.

Die Bedeutung von Dei Verbum für die Arbeit der Bibelwissenschaft Dei Verbum unternimmt keine Regulierung der wissenschaftlichen Methoden. Und

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doch sind die Aussagen des Dokuments auch für die praktische Arbeit der Exegese von besonderer Bedeutung. Dies gilt besonders für folgende Punkte: n Das

Verhältnis von Menschlichem und Göttlichem in der Bibel

Im ersten Kapitel (DV 2-6) macht das Konzil deutlich, dass Gottes Offenbarung zunächst eine Selbstoffenbarung ist. Gott offenbart keinen Text, sondern sich selbst in Werken und in Worten, die diese Werke deuten und verkünden. Damit ist eine wichtige Unterscheidung grundgelegt: Die Texte der Bibel sind nicht selbst Offenbarung, sondern sie sind Zeugnis der Offenbarung Gottes und deshalb wird die Heilige Schrift in Kapitel II als Teil der „Weitergabe der Offenbarung“ behandelt. Durch die Unterscheidung von Offenbarungsereignis und Offenbarungszeugnis gewinnt das Konzil die Freiheit, viel deutlicher als frühere Dokumente den menschlichen Charakter der biblischen Texte anzuerkennen. Dabei wird der göttliche Ursprung der Texte nicht geleugnet. Er ist aber keine Konkurrenz zum menschlichen Charakter. Gott ist es, der „durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat“ (DV 12). So bestimmt das Konzil das Verhältnis von Menschlichem und Göttlichem in Analogie zur Menschwerdung Gottes in Jesus (DV 13). So wie Gottes Wort in Jesus Mensch wird, ohne das Menschsein auszulöschen, so wird Gottes Offenbarung in der Bibel Text, ohne das Menschliche des Textes aufzuheben. n Das

Verhältnis von Bibel und Kirche

Die Bibel hat einen besonderen Rang. Nach Dei Verbum kann die Kirche nichts lehren, was im Gegensatz zur Bibel steht. Die Bibel steht also über der Kirche, aber andererseits würde sie ohne die Kirche nicht

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existieren, weil ja erst die Kirche bestimmte frühchristliche Texte zur Heiligen Schrift erklärt hat. Dieses Paradox, das berühmte „Henne-Ei-Problem“, löst das Konzil nicht auf, sondern beschreibt es als spannungsvolles Beziehungsdreieck, in dem allerdings die Bibel ein besonderes Gewicht hat. Sie ist zwar selbst Produkt der Verkündigung und doch kontrolliert sie zugleich jede weitere Verkündigung der Offenbarung durch Tradition und Lehramt. n Das

Verhältnis von Bibelwissenschaft und Kirche

Dei Verbum versteht die Exegese als Grundlegung für die kirchliche Verkündigung. Sie ist „wissenschaftliche Vorarbeit“, auf deren Basis „das Urteil der Kirche reift“ (DV 12). Damit schreibt das Konzil der Bibelwissenschaft eine mächtige Mittlerrolle zwischen Bibel und Verkündigung zu. Zugleich werden der Macht der Exegese aber auch Grenzen gesetzt. Was letztlich für den Glauben der Kirche gelten soll, entscheidet nicht die Exegese, sondern die Kirche. In der Praxis verstand man das nach dem Konzil so wie vorher, nämlich dass die Exegese dem Lehramt unterworfen ist. Auffälligerweise spricht DV 12 aber nicht vom Lehramt, sondern allgemein von Kirche, zu der bekanntlich alle Glaubenden gehören, und auch die Exegese. Das Konzil scheint also hier eher wieder an ein Beziehungsdreieck zu denken: Bibelwissenschaft, Laien und Lehramt bemühen sich in unterschiedlicher Weise, aber gemeinsam um das, was gelten soll, wobei der Part der Exegese eben die wissenschaftliche Klärung sein muss (vgl. dazu die Skizze auf S. 66). Dazu braucht die Exegese natürlich eine große Freiheit in ihrer Arbeitsweise, sonst ist sie keine Wissenschaft, sondern Ideologie.

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Die Zeit nach dem Konzil: Probleme der Umsetzung Die Zeit direkt nach dem Konzil war für die Bibel im kirchlichen Leben eine Zeit der freudigen Neuentdeckung. Es war sicher auch eine gute Zeit für die Exegese. Die katholische Exegese nutzte die neue Freiheit und machte in kürzester Zeit enorme wissenschaftliche Fortschritte, die auch außerhalb der katholischen Kirche anerkannt wurden. Große Gestalten wie Rudolf Schnackenburg und Anton Vögtle (NT) oder Alfons Deissler und Herbert Haag (AT) verschafften der katholischen Bibelwissenschaft internationales Renommee. So erfolgreich die Exegese in wissenschaftlicher Hinsicht aber auch war, ihr ist es jedoch kaum gelungen, im Sinne von DV 12 „Vorarbeit“ für die kirchliche Lehre zu sein. Das lag überwiegend am steigenden Unbehagen, das die oberste Kirchenleitung gegenüber den Nachwirkungen des Konzils empfand. Karl Rahner und andere sprachen bald von einer „winterlichen Kirche“, und der Wintereinbruch blieb auch nicht ohne Folgen für den „Bibel-Frühling“. Die exegetischen Ergebnisse passten nicht recht zu den Restaurationsbemühungen, die sich in Rom immer mehr durchsetzten. Anders als früher ging man freilich kaum den Weg von Zensur und Strafe. Stattdessen gewährte man der Exegese über weite Strecken so etwas wie „Narrenfreiheit“. Das führte einerseits dazu, dass Exeget_innen nur in seltenen Fällen gemaßregelt wurden, andererseits wurden exegetische Ergebnisse fast durchgängig ignoriert. Das zeigen etwa der „Katechismus der Katholischen Kirche“ von 1992 und viele ähnliche römische Dokumente. Insgesamt steht also die praktische Umsetzung der Lehre von Dei Verbum nach 50 Jahren noch aus. Ob das römische Lehramt es noch wagen wird, sich auf die wissenschaftliche Exegese (als Kind der oft verteu-

felten Aufklärung) einzulassen, kann man nicht sagen. Es gibt (nicht erst seit Papst Franziskus) gewisse Hoffnungszeichen, aber ausgemacht ist es nicht. Zu den Hoffnungszeichen gehört sicher das Dokument über „Die Interpretation der Bibel in der Kirche“ (1993), das in großer Breite verschiedenste Zugänge zur Bibel anerkennt, auch feministische und kontextuelle Exegese. Die von Papst Johannes Paul II. bestätigte Botschaft des Dokuments, dass eine fundamentalistische Exegese der einzige Zugang ist, der nicht möglich ist, ist wichtig und erfreulich, hat aber leider keine erkennbaren Folgen für den Bibelgebrauch in römischen Verlautbarungen. Dann, wenn Rom es für wichtig hält, macht es sich seine Exegese selbst, und zwar ganz ohne bibelwissenschaftliche „Vorarbeit“. Als SymbolKonflikte sind hier etwa Frauenordination und Zölibatsgesetz zu nennen, bei denen es letztlich um die religiöse Bedeutung der Frau und der menschlichen Sexualität geht. Hier zeigt Rom seit Jahrzehnten einen Willen zur Macht, der weder dem Glaubenssinn des Gottesvolkes, noch den Notwendigkeiten der Pastoral, noch der Exegese eine lehramtliche Bedeutung zugesteht. Diese Rahmenbedingungen haben die Exegese schwer deformiert. Je weniger es gelang, Einfluss auf die kirchliche Entwicklung zu nehmen, desto mehr beschränkte man sich auf die Binnenwelt der Wissenschaft, wo man Anerkennung und Bestätigung finden konnte, international und interkonfessionell.

Und was nun? Einige Thesen zur Gegenwart Die Analyse der letzten Jahrzehnte ist nicht unbedingt vergnügungssteuerpflichtig, aber der Blick auf die Gegenwart ist noch

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brisanter – und auch natürlich wichtiger! Es geht nämlich inzwischen längst nicht mehr nur um die katholische Kirche westlicher Prägung, sondern um die Entwicklung des Weltchristentums, für das die katholische Christenheit Verantwortung trägt.

Die Kirche braucht mehr Bibelwissenschaft! Neue, charismatisch-pfingstlerische Glaubensgemeinschaften wachsen rasch und sind auch in traditionell katholischen Ländern Lateinamerikas und Afrikas dabei, zur Mehrheitsform des Christentums zu werden. Ihrem tendenziell fundamentalistischen Biblizismus haben die alten Kirchen oft nichts entgegenzusetzen. Mangels bibelwissenschaftlicher Kompetenz können die teilweise abstrusen Folgerungen eines „wörtlichen“ Bibelgebrauchs oft nicht entkräftet werden. Das ist katastrophal für die Entwicklung moderner Gesellschaften, die sich der Achtung der Menschenrechte, dem Frieden und dem Schutz kultureller und religiöser Vielfalt verpflichten. Gerade in den komplizierten Problemen postkolonialer Staaten braucht es aufklärerische Vernunft in der Religion und nicht gegen die Religionen. Eine katholische Kirche, die in ihrem Umgang mit der Heiligen Schrift wissenschaftliche Ergebnisse stark macht, würde als Anwältin der Humanität dringend gebraucht. Sie müsste mit Hilfe einer personell und intellektuell starken Exegese den Hasspredigern entgegentreten, die die Bibel als Totschlagargument gegen die Rechte von Frauen und sexuellen, ethnischen und politischen Minderheiten einsetzen. Eine Kirche freilich, die in ihrem Inneren selbst diskriminiert und die Bibelwissenschaft ignoriert, um dies weiterhin tun zu können, hilft da nicht. Solange die Kirche, insbesondere das römische Lehramt, sich nicht

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durch die Moderne durchgebissen hat, wird sie auch in der Postmoderne nicht helfen können. Dabei kann die Menschheit auf den Dienst einer Kirche, die über ein so langes Gedächtnis und eine so weite Verbreitung verfügt und ein solches Potential zur Vielfalt in sich trägt, eigentlich nicht verzichten. Es wird deshalb höchste Zeit, dass das Lehramt der Kirche endlich an seine eigene Lehre glaubt und mit Dei Verbum den Weg in die Gegenwart findet.

Was die Exegese braucht, ist mehr Kirche! Die Forderung nach einer neuen, stärkeren Kirchlichkeit der Exegese ist nicht mehr ganz neu. Oft wird darunter dann eine Exegese verstanden, die mit „theologischen“ Methoden arbeitet und zu Ergebnissen kommt, die das Lehramt nicht stören. Unter Benedikt XVI. konnte man lernen, dass der Papst solche Exegese am besten selbst betreibt. Der Weg, den Dei Verbum weist, ist jedoch ein anderer. Wenn nämlich die Heilige Schrift Gottes Wort in menschlichen Texten ist, dann sind Sondermethoden für biblische Texte weder nötig noch möglich, sondern man muss für ihr Verstehen die gleichen Methoden anwenden wie für andere Texte auch. Die neue Kirchlichkeit wird also nicht darin bestehen, dass man neue Methoden erfindet oder zu alten Methoden zurückkehrt, um kompatibel mit einem restaurativen Lehramt zu werden. Die Exegese darf sich nicht allein auf das Lehramt ausrichten, sondern muss ihre Kirchlichkeit vielmehr in der Vernetzung mit allen Teilen des Gottesvolks wieder finden. Um ihren Bedeutungsverlust zu überwinden, braucht sie den Austausch mit allen Orten des kirchlichen Lebens. Dabei geht es nicht nur darum, die eigenen Ergebnisse vorzustellen. Wichtiger

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ist das Hören und Lernen, welche Fragen es wert sind, an die Bibel gestellt zu werden. Wenn die Exegese an die Orte geht, wo christliches Leben sich bewährt oder scheitert, dann verliert sie sich nicht selbst, sondern gewinnt eine neue Gestalt der Wissenschaft, die sogar anderen Geistes- und Kulturwissenschaften hilfreich sein könnte, nämlich die Form einer Wissenschaft, die der Humanität dient, ohne sich inhaltlich verzwecken zu lassen. n

Für die Bibelwissenschaft hieße das vor allem, die Option für die Armen und Machtlosen zu lernen. Das legt sich von der biblischen Tradition her nahe, entspräche der kirchlichen Lehre und den Nöten der Menschen. In der exegetischen Arbeit würde sich diese Option vor allem im Blick auf die Sozialgeschichte und den Herrschaftskontext biblischer Texte ausdrücken. n

Dazu gehört die Option für die Frauen, die in den meisten Gesellschaften der Erde die Ärmeren unter den Armen sind. Das heißt, dass feministische Exegese keine Spezialexegese von Frauen für Frauen über Frauen sein darf, sondern zur Normalform exegetischen Arbeitens werden muss. Erlösende und unterdrückende Aspekte von Geschlecht und Geschlechtsrolle sind stets und von allen mit zu bedenken. n

Grundgelegt werden diese Optionen von der Option für Gott und seine Offenbarung. Das klingt zu fromm, als dass es wissenschaftlich sein könnte, und doch meine ich damit eine Ausrichtung der Exegese als Wissenschaft. Wenn nämlich die Texte der Bibel analysiert werden als Zeugnis der Offenbarung, dann ist die Frage nach dem, was da offenbar wird, die Frage, die alles

zusammenhält. Gottes Selbstoffenbarung in Israel und in Jesus legt den Grund für die Option für die Armen, für die Frauen, die Machtlosen und alle, die benachteiligt und verfolgt werden. Sie begründet auch die wissenschaftliche Frage nach dem, was den Texten voraus liegt, nach älteren Textformen, Quellen und Ereignissen. n

Sie begründet eine Option für den Text, der machtlos jedem Gebrauch und Missbrauch ausgeliefert ist. Exegese muss die wissenschaftliche Anwältin jener alten Dame sein, die man Bibel nennt. Sie hat das Recht, alt zu sein. Sie hat das Recht, fremd zu sein. Und sie hat das Recht, gehört zu werden, sogar dann, wenn ihr Reden unnütz erscheint. Dafür muss die Bibelwissenschaft kämpfen, und dieser Kampf muss notwendigerweise antifundamentalistisch sein, denn unsere alte Dame spricht mit vielen Zungen und in fremden Sprachen und Bildern. Die Bibel ist deshalb eine humanitätsfördernde „Lernschule der Pluralität“ (Ottmar Fuchs) und eine friedensfördernde Einladung, das Fremde zu schätzen und zu achten. So ist gerade die historische Distanz, die die Exegese immer wieder herausarbeitet, von theologischer Bedeutung. Gerade das Fremde und Ferne erzählt uns von Gott. Wir haben seine Wahrheit nicht als Besitz und Werkzeug, sondern erfahren sie im Wagnis, auf das jeweils Andere zuzugehen. Und der Weg, auf einen Text zuzugehen, ohne seine Fremdheit sofort mit eigenen Wünschen, Vorstellungen und Vorurteilen aufzufüllen, ist eine geistliche Übung der Askese und eine Wissenschaft, nämlich Literaturwissenschaft. Diese zugleich wissenschaftliche und geistliche Einübung in ein uneigennütziges Hören auf den Text, bringt eine letzte Option hervor:

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Bibelwissenschaft ist der Option für die Lesenden verpflichtet. Die moderne Exegese produziert viele Ergebnisse, mit denen sie selbst überfordert ist. Eines davon ist die Erkenntnis der ungeheuren Vielfalt des biblischen Kosmos. Es gibt fast nichts, was es nicht gibt, zu fast jeder Aussage eine Gegenaussage, Altes und Neues, eine Vielfalt von Formen und Gattungen – eigentlich ist die Bibel kein richtiger Text, sondern eher so etwas wie ein lebhaft diskutierendes Textparlament. Diese Einheit in Vielfalt ist nicht nur ein Maßstab für den kirchlichen Umgang mit Pluralität, sondern muss auch Auswirkung auf die Beziehung von Text und Lesenden haben. Dafür hat die Exegese noch keine rechte Theorie. Klar ist aber, dass die innere Vielfalt des biblischen Kosmos eine einfache Gehorsamshaltung durchkreuzt. Gerade wer die Bibel als ganze ernst nimmt, kann sie nicht wörtlich nehmen. „Wörtliches“ Lesen wählt immer bestimmte, passende Textteile aus, die verabsolutiert werden. Dabei gehen dann die Unterwerfung der Lesenden unter den Text und die Unterwerfung des Textes unter die Interessen der Lesenden Hand in Hand. Text und Leser fusionieren und die Heilige Schrift wird zum göttlichen Schwert in der Hand ihrer falschen Freunde. Diese Dynamik von gegenseitiger Unterwerfung hat oft tödliche Gewalt zur Folge und zeigt eher des Teufels Macht als dass sie Gottes Liebe offenbart. Diesen Teufelskreis kann ein Lesen durchbrechen, das den Text nicht unterwerfen will, sondern ihn als befremdlich vielfältig und fern respektiert. Solches Lesen tritt selbstbewusst in den Kosmos der Bibel hinein und nimmt teil an der innerbi-

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blischen Diskussion, ohne sich aufzugeben. Ziel solchen Lesens ist weder die Unterwerfung des Textes noch die Unterwerfung unter „die Bibel“, sondern die Auseinandersetzung mit der Vielfalt der biblischen Stimmen, um etwas Neues zu entdecken. Letztlich geht es dabei darum, was ein Leben hier und heute aus der Kraft der biblischen Tradition bedeuten könnte. Zu einem solchen Lesen anzuleiten, wäre eine reizvolle Aufgabe zukünftiger Exegese, die in den beschriebenen Optionen ebenso eine neue Kirchlichkeit wie eine neue Wissenschaftlichkeit gewinnen würde.

Zusammenfassung Dei Verbum ist ein Meilenstein für die katholische Bibelwissenschaft, da es die Exegese als Kind der Aufklärung akzeptiert und ihr einen Ort in der Kirche zuweist, der der Bedeutung der Bibel entspricht. Zwar ist diese Richtungsentscheidung in der kirchlichen Wirklichkeit auch nach 50 Jahren noch nicht eingelöst, aber die Türen für einen kreativen Umgang mit den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft sind aufgestoßen.

Prof. Dr. Joachim Kügler Professor für Neutestamentliche Wissenschaften an der Universität Bamberg. Forschungsschwerpunkte: Theorie der Exegese, Johannesevangelium, Religionsgeschichte, Afrikanische Bibellektüren E-Mail: [email protected]