Gioia Diliberto. Das kleine Schwarze. Roman. Aus dem Amerikanischen von Alexandra Faus. Knaur Taschenbuch Verlag

Gioia Diliberto Das kleine Schwarze  Roman Aus dem Amerikanischen von Alexandra Faus Knaur Taschenbuch Verlag Die amerikanische Originalausgabe ...
Author: Valentin Sachs
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Gioia Diliberto

Das kleine Schwarze  Roman Aus dem Amerikanischen von Alexandra Faus

Knaur Taschenbuch Verlag

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel The Collection bei Scribner, New York.

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Vollständige Taschenbuchausgabe Mai 2010 Knaur Taschenbuch Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Copyright © 2007 by G. Diliberto Copyright © 2008 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemer Verlag Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden. Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Umschlagillustration: FinePic®, München / Carolin Liepins Satz: Adobe InDesign im Verlag Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-426-50033-0 2

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Im Gedenken an meine Großmütter, Rose DeMarzo und Anna Diliberto, einst beide Näherinnen.

Prolog

 S tatt zu sterben, lernte ich zu nähen.

Ich war gerade neun Jahre alt und hatte meinen ersten Anfall von Schwindsucht, als mich die Nonnen von Saint Foy – der Klosterschule von Agen, in der ich ein Jahr lang lebte – mit hohem Fieber und einem fürchterlichen Husten nach Hause schickten und nicht mehr daran glaubten, dass ich je zurückkommen würde. Während der zwei Monate, die ich im Bett lag, kümmerte sich meine Großmutter um mich. Trotz ihrer Fürsorge wurde ich immer dünner und schwächer. Eines Tages legte sie einen Stapel weißer Stoffquadrate aus Seide und ein Nadelkissen samt Nadel und Faden auf meine Decke. Dann stützte sie mich mit Kissen und führte die Nadel in meiner Hand durch die Seide. In den folgenden Wochen brachte sie mir bei, wie man Heftstiche und überwendliche Nähte anfertigte, wie man Säume drehte und Schrägbänder zum Schnüren anbrachte und wie man Löcher stopfte. Unterdessen klangen das Fieber und der Husten merklich ab, und ich erlangte meine Stärke zurück. Ich nähte meine Initialen, »I V« in die rechte Ecke eines jeden Seidenquadrats, und meine Großmutter heftete sie an die Wände – Monumente meines Überlebens. Die Stiche waren voller Entschlossenheit und auch voller Hoffnung. Heute noch spüre ich die Blüte der Möglichkeiten, wenn ich mit Nadel und Faden durch Seide gleite. Eine andere Großmutter hätte einem kranken Mädchen eine neue Puppe oder ein Kätzchen geschenkt. Doch ich stamme von einer langen Linie von Näherinnen ab, für 7

die Nähen wie die Luft zum Atmen ist. Meine Namensvetterin, die erste Isabelle Varlet, arbeitete am Hofe von Louis XVI. Gemäß den Familienüberlieferungen war sie zusammen mit Marie Antoinette in den Tuilerien inhaftiert. Ich bin noch im Besitz einer goldenen Locke, die einst jener Isabelle gehörte und durch die Jahre stumpf geworden ist. Im Innern eines Medaillons befindet sich zudem die Ölminiatur einer reizenden, jungen Frau, deren feines, glattes Haar in demselben rot-goldenen Farbton schimmert wie mein eigenes. In jenen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lebten meine Großmutter und ich in einem zweistöckigen Häuschen auf einem Hügel, von dem man die Straße nach Timbaut überblickte, einem kleinen, mittelalterlichen Dorf etwa eine Meile von Agen entfernt. Unser Haus hatte einen Speicher und einen Weinkeller, außerdem Fenster mit Holzläden, eine riesige Eiche vor und einen Gemüsegarten hinter dem Haus. Auf dem Hof scharrten Hühner, und eine kleine Ziege, die an den Zaun gebunden war, versorgte uns jeden Morgen mit Milch. Jenseits des Grundstücks erstreckten sich hügelige Sonnenblumen- und Heidefelder, die mit Margeriten gespickt waren. Mir fehlte nichts, außer Eltern. Mein Vater, der in einer Hutfabrik bei Agen gearbeitet hatte, erlitt einen Herzanfall nur wenige Monate vor meiner Geburt, dem Ereignis, das meine Mutter das Leben kostete. Meine Eltern hatten beide keine Geschwister. Allerdings hatte meine Großmutter drei Schwestern, mit denen sie früher einmal zusammen eine Damenschneiderei geführt hatte. Als ich in ihr Leben trat, waren sie bereits alte Damen, so dass ich sie immer nur in gediegenen, 8

schwarzen Kleidern erlebt habe. Täglich um vier kamen die Tanten zum Tee in unser Haus. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet und ihre Gesichter mit schwarzen Schleiern verhüllt, die über den Boden schleiften. Zudem trugen sie immer kleine, runde Hutschachteln bei sich. Einmal im Haus nahmen sie ihre Schleier ab und steckten sich schwarze Hauben auf ihr weißes Haar. Eines Tages fragte ich sie, warum sie sich wie der Tod kleideten, und eine von ihnen antwortete mir: »Damit jeder weiß, dass wir Witwen sind!« Es war eine Leistung, die sie mit dem größten Stolz erfüllte. Im Anschluss an meine Genesung entschloss sich meine Großmutter, nachdem sie sich mit den Tanten beraten hatte, mich zu Hause zu unterrichten, statt mich wieder in die Obhut von Saint Foy zu geben. Im Laufe der nächsten acht Jahre erlitt ich mehrere Rückfälle und war oft für lange Zeit ans Bett gefesselt. Meine Großmutter sowie die Tanten machten sich Sorgen um mich und wichen mir nicht von der Seite; jedes Husten, jedes Schniefen verursachte ernste Besorgnis. Da sie fürchteten, mich jederzeit verlieren zu können, erfüllten sie mir jeden Wunsch. So wuchs ich in dem Glauben heran, dass mir das Leben alles gab, wonach ich verlangte. Meine Lieblingsbeschäftigung war das Zeichnen von Modeskizzen. Inspiriert wurde ich dabei von den Illustrationen der Pariser Magazine, die meine Großmutter sammelte. Ich verbrachte Stunden damit, Kleider von den glänzenden Seiten in mein Skizzenbuch zu übertragen, und dachte mir dann mögliche Kombinationen aus, die man beim Verkleiden-Spielen zusammen tragen konnte. Als Stoff benutzte ich Reste von Serge, Wolle, Bombasin und Baumwolltwill, alles Überbleibsel aus der Schneiderei 9

meiner Großmutter, die ich in einer großen Schachtel oben in meinem Kleiderschrank aufbewahrte. Die meisten Stücke waren moderig und hatten Flecken, doch die Schachtel beinhaltete auch einige Schätze: ein Quadrat aus üppigem schwarzen Samt, etwas rosa Organdy, ein Dreieck aus weißem, mit Perlen besticktem Satin und einen Streifen Nerz. Oftmals breitete ich diese Juwelen quer über meinem Bett aus und stellte mir vor, dass ich die Stücke eines Tages, wenn ich größer wäre und in Paris lebte, vereinigen und in ein ausgewachsenes Kleid verwandeln würde. Im August meines zehnten Jahres ließ mich meine Großmutter nicht aus dem Haus, weil eine Typhusepidemie zusammen mit einer schweren Hitzewelle über unsere Region gefegt war. Ich durfte nicht im See schwimmen oder im Dorf mit den anderen Kindern unter dem Strohdach des alten, steinernen marché spielen. Ich durfte noch nicht einmal zur Kirche gehen. Eines Morgens zog ich meine Stoffreste hervor, steckte sie zusammen und verarbeitete sie vorsichtig zu einem Kleid in Kindergröße. Hinter meinem Fenster brannten die Felder, und der Himmel war weiß und leer. Kühe sammelten sich unter dem Schatten der Bäume, und Hunde versteckten sich unter Vordächern. Anscheinend hatte die ganze Welt aufgehört, sich zu bewegen, und jeder Tag glich dem anderen. Die einzige Gesellschaft, die ich hatte, waren meine Großmutter, die Tanten und Jacques Beloit, dessen Eltern eine Patisserie in Agen besaßen und der die Straße weiter aufwärts wohnte. Jacques war ein Jahr jünger als ich; ein kleiner, dünner, ernster Junge, der zur Teezeit oft mit etwas Süßem aus dem Laden seiner Eltern vorbeischaute. 10

An dem Tag, als ich meine Stoffschätze vergeudete, gingen meine Großmutter und die Tanten auf die Beerdigung einer älteren Cousine. Gegen vier Uhr hörte ich, wie sich die Tür öffnete und wieder schloss. Dann hörte ich Stimmen vor dem Haus. Ich erkannte Jacques’ piepsigen Sopran, und ich hörte, wie er etwas über Zitronentörtchen sagte, die zu meinen Lieblingsspeisen gehörten. Also schlüpfte ich in mein Kleid. Es hatte einen langen Rock aus grauer Baumwolle, die ich von einem alten Kleid meiner Großmutter abgetrennt hatte. Ich benutzte den schwarzen Samt für das Oberteil und den rosa Organdy für die Puffärmel. Das weiße Satindreieck hatte genau die richtige Größe für den Ausschnitt. Der Nerzstreifen war schließlich ein perfekter Kragen. Ich wirbelte in den Salon. Jacques saß in einem Sessel beim Kamin, mampfte ein Zitronentörtchen und ließ seine knochigen, weißen Beine baumeln. Seine verschorften Knie sahen wie verbrannter Toast aus. Er war noch zu jung für lange Hosen, doch sein glattgekämmtes schwarzes Haar mit dem strengen Scheitel auf der rechten Seite und die dicke Brille gaben ihm die Aura eines kleinen Mannes. Ich würdigte ihn keines Blickes und schritt zum Sofa, auf dem die Tanten wie drei schwarze Raben thronten. Die Zwillinge, Tante Hélène und Tante Marie, trugen gewöhnliche Trauerkleidung, aber Tante Virginie, die älteste und reichste der Schwestern, saß mit ihrem auffälligsten schwarzen Satinkleid mit breiten weißen Manschetten zwischen ihnen. Gagat-Ohrringe hingen ihr auf beiden Seiten vom Ohr bis zum Schlüsselbein, und schwarze Gagat-Ketten glitzerten um ihren Hals. »Wir schreiben das 11

Jahr 1868, und ich bin eine Hofdame der Kaiserin Eugenie«, verkündete ich vollmundig. Die Tanten waren damit beschäftigt, sich zu streiten, und bemerkten mich gar nicht. Tante Hélène stellte klirrend ihre Teetasse ab und starrte Tante Virginie an. »Du hättest nicht die ganze Trauertracht anlegen müssen«, klagte sie. »Cousine Catherine war ein dummer, kleiner Niemand.« »Du hast nur einen Vorwand gesucht, deine Ohrringe und die Ketten zu tragen«, fügte Tante Marie hinzu. Tante Virginie saß aufrecht ohne ein Lächeln auf den Lippen da und sah ihre Schwestern mit gerümpfter Nase an. »Ich kann meine Juwelen tragen, wann immer ich es möchte«, erwiderte sie, »denn ich trauere immer zutiefst um meinen Henri.« Henri, ihr Ehemann, war bereits seit einer Ewigkeit tot. Als wohlhabender Arzt hatte er ein geräumiges Steinhaus errichtet, worin sie nun zusammen mit Tante Hélène und Tante Marie lebte. Deren Ehemänner, die lediglich als Friseure arbeiteten, waren ebenfalls seit Jahrzehnten tot. »Dennoch solltest du sie nicht für Catherine hervorholen«, zischte Tante Hélène. »Das lässt uns schlecht dastehen.« »Es ist doch nicht mein Fehler, dass eure Gatten es sich nicht leisten konnten, euch ordentlichen Schmuck zu kaufen«, entgegnete Tante Virginie. Ich drehte mich wirkungsvoll im Kreis. »Ich werde heute Abend auf einen Ball gehen und dieses Kleid tragen.« Sie ignorierten mich noch immer. »Schon bald wird meine Kutsche hier sein. Wenn ihr mein Kleid sehen wollt, müsst ihr es jetzt ansehen!« 12

Schließlich stellten alle ihre Tassen ab und betrachteten mich. Lange Zeit sagte keine ein Wort. Dann sprach Tante Virginie: »Isabelle, ma chère, du hattest wohl einen Alptraum, als du dir dieses Kleid ausgedacht hast. So etwas schickt sich nicht.« »Das schickt sich nicht«, plapperte Jacques nach. »Warum trägst du denn nicht dein weinrotes Samtkleid? Du siehst hübsch darin aus.« »Was weißt du denn schon von Kleidern?«, fragte ich und warf ihm einen bösen Blick zu. Dann wandte ich mich wieder meinen Tanten zu. »Ich habe das nach einem Muster aus Les Parisiennes Elegantes geschneidert. Ich kann euch das Bild zeigen.« »Es ist mir egal, wo du dir das abgeschaut hast«, erwiderte Tante Virginie. »Das sieht unmöglich aus.« In diesem Moment kam meine Großmutter mit einer frischen Kanne Tee in den Salon. Sie war eine kleine Frau mit feinen Knochen, freundlichen, hellbraunen Augen und einem rosa Gesicht mit zarten Falten. Ihr wollenes Haar war im Nacken zu einem Knoten zusammengesteckt, und sie trug eine blaue, geblümte Schürze über ihrem schlichten, schwarzen Kleid. Ihr Ehemann war ein Zimmermann gewesen, und auch er hatte sich keinen aufwendigen Schmuck leisten können. »Ich finde es bezaubernd, Isabelle«, sagte sie. »Du bist wirklich überaus geschickt mit der Nadel.« Tante Virginie warf ihr einen entsetzten Blick zu. »Lüg das Kind doch nicht an, Jeanne. Möchtest du, dass sie lernt, was Eleganz heißt oder nicht?« »Sie hat noch sehr viel Zeit, etwas über Eleganz zu lernen. Sie ist ja noch nicht in Paris«, antwortete meine Großmutter. 13

»Ich war schon mal in Paris!«, schrie Jacques in die Runde. Ich wirbelte herum. »Das interessiert mich nicht!« Jacques schluckte den letzten Bissen des Zitronentörtchens herunter und rückte mit der kleinen, klebrigen Hand seine Brille zurecht. »Vielleicht kannst du uns das nächste Mal begleiten.« »Vielleicht kannst du jetzt nach Hause gehen«, erwiderte ich eisig. »Isabelle! Das ist keine Art, mit jemandem zu reden«, schaltete sich meine Großmutter ein. »Ich möchte, dass du dich bei Jacques entschuldigst.« Gekränkt sah er zu mir herüber und wartete. Aber ich wollte mich nicht entschuldigen. Ich flüchtete in mein Schlafzimmer auf der zweiten Etage. Die schlichte Einrichtung bestand aus blauen Baumwollvorhängen, einem Tisch, einem Stuhl, einem kleinen Bücherregal und einem weißlackierten Sekretär. Über dem eisernen Bettgestell hing eine viktorianische Jesusfigur – gutaussehend, blauäugig, mit wallender brauner Mähne, den Blick zum Himmel gerichtet –, und darunter befand sich ein Kruzifix aus Gips. Jeden Abend sprach ich hier von meiner Großmutter beobachtet meine Gebete. Ich nahm meine schönste Puppe vom Sekretär und setzte mich mit ihr auf das Bett. Sie war von Jumeau, der nationalen Puppenmanufaktur Frankreichs, daher hatte ich sie Mademoiselle Jumeau genannt. Ihr Porzellangesicht hatte große, blaue Augen und einen leicht geöffneten, rosafarbenen Mund. Ihr üppiges, blondes Haar war zu einem hohen Dutt frisiert. Mademoiselle Jumeau war im vorigen Jahr am Weihnachtsmorgen bei uns angekommen. In eine dekolletierte, weiße Robe gekleidet, die eine muntere 14

Schleife am Oberteil und einen wogenden Satinrock hatte, glich sie einer Prinzessin. An ihren anmutigen Füßen glitzerten goldene Pumps. Von ihrem ausladenden Hut wippte eine lila Straußenfeder, außerdem trug sie eine kleine, perlenbestickte Tasche. Aber was mich am meisten entzückte, war die vollständige Unterbekleidung: Mieder, Korsett, Unterhemd, Pantalons, Tüllunterrock, Strümpfe und Strumpfbänder. Alles war aus rosa Bändern und weißer Spitze gefertigt. Damals saß ich trunken vor Glück auf dem Boden unterm Weihnachtsbaum und saugte die Schönheit der Puppe ein. Ich fühlte, wie diese Schönheit mich bis ins Mark erschütterte und mir Stärke gab. Wann immer ich krank oder traurig war, fühlte ich mich besser, wenn ich Mademoiselle Jumeau im Arm hielt und ihr zauberhaftes Leben voller Feierlichkeiten, Opernbesuche, Empfänge in Villen und Kutschfahrten im Bois de Boulogne heraufbeschwor. Nun legte ich mein Spielkleid ab, zog ein altes, braunes Baumwollkleid an und setzte mich mit Mademoiselle Jumeau auf das Bett. Ich träumte gerade von einer Fahrt in einem Landauer aus Gold und Glas zu einem Ball, als es leise an meiner Tür klopfte. Ich öffnete sie, und Jacques stand davor. »Lass uns etwas spielen«, schlug Jacques vor. Ich ließ Jacques an der Tür stehen und hüpfte wieder auf mein Bett. »Ich dachte, du wolltest nach Hause gehen.« »Deine Großmutter hat gesagt, ich könne bleiben.« Jacques trat ins Zimmer. »Was willst du machen?« »Ich weiß nicht«, erwiderte ich. »Ich glaube, ich nähe 15

ein neues Kleid für Mademoiselle Jumeau. Willst du mir helfen?« »Nähen ist was für Mädchen.« Jacques nahm ein Märchenbuch aus dem Regal und setzte sich im Schneidersitz auf den Teppich vor meinem Bett. »Dann kannst du einfach hier sitzen und dumm gucken, du dummer Junge.« »Du bist dumm«, antwortete Jacques. Ich nahm das unschickliche Spielkleid aus dem Schrank und fing an, die Nähte mit einer Schere aufzutrennen, die früher meinem Vater gehört hatte. Meine Großmutter hatte stets gesagt, dass, jedes Mal, wenn ich die Schere benutzte, mein Vater vom Himmel aus auf mich hinablächelte. Während ich vor mich hin arbeitete, fühlte ich mich durch diese unsichtbare Liebe unterstützt. Als ich fertig war, zog ich Mademoiselle Jumeau bis auf die Pantalons und das Mieder aus. Danach legte ich das Stück perlenbestickten, weißen Satin um ihre Taille und steckte es zu einem Rock zusammen. Als Nächstes schnitt ich ein Stück schwarzen Samt für ein Oberteil zurecht, den Rest verwendete ich für einen Umhang, dessen Kragen ich mit dem Nerz besetzte. Eine Stunde später, nachdem ich das Kleid fertiggestellt und Mademoiselle Jumeau angezogen hatte, zeigte ich Jacques mein Werk. »Ist sie nicht hübsch?« Er betrachtete sie einen Augenblick lang, dann blickte er mich erstaunt an. »Sie sieht genau wie du aus«, sagte er schließlich.

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Zwei Wochen später war die Hitzewelle vorüber. Starker Regen prasselte über das Dorf. Die Tage wurden grau und kühl und töteten so die Krankheitserreger, die sich in den Bäumen versteckt hielten; das sagte zumindest meine Großmutter. Ich konnte wieder gefahrlos nach draußen gehen. Mein erster Ausflug führte mich zur Sonntagsmesse. »Ich freue mich sehr, dich wiederzusehen, Isabelle. Es ist schon eine ganze Weile her«, begrüßte mich der freundliche, alte Priester nach dem Gottesdienst. Ich hatte Mademoiselle Jumeau dabei und hob sie hoch, um sie vom Priester bewundern zu lassen. »Wir waren wochenlang eingesperrt, und jetzt sind wir sehr froh, wieder an der frischen Luft zu sein«, erklärte ich ihm. Ich folgte meiner Großmutter und den Tanten die Kirchenstufen hinunter, über den Dorfplatz bis zu einem kleinen schattigen Park. Meine Verwandten machten es sich auf Bänken bequem, wo sie mit ihren Freundinnen plauderten, während ich zu dem alten, steinernen marché mit dem Strohdach schlenderte. Dort wollten die Kinder, in zwei Mannschaften von einer weißen Kreidelinie getrennt, gerade mit einer Runde Katz und Maus beginnen. Mein Blick wurde von einem gutaussehenden Jungen angezogen, der im hinteren Quadrat des marché stand. Er hatte sehnige Arme und Beine und Sommersprossen, die sein Gesicht überwucherten, und sah ungefähr wie zwölf aus. Außerdem hatte er welliges, rotbraunes Haar und blasse, ebenmäßige Züge. Er stand vollkommen ruhig da, als ein Pfeifen durch die Luft schrillte, dem Rufe und das Scharren von Lederschuhen auf den Steinen folgten. Es dauerte nur wenige Minuten, bis einer seiner Mannschaftskameraden sich den Weg durch die Menge zu ihm bahnen konnte. Dann lief er mit einer verblüffenden Schnelligkeit 17

zu seiner Gruppe, und seine Fäuste schossen triumphierend in die Höhe. Plötzlich erschien ein Mädchen am Seitenrand, das ein weißes Organdykleid mit einer glänzenden, blauen Moiré-Schärpe um die Taille trug. In ihr lockiges Haar war ein schmales Band in derselben Farbe gebunden. Der Junge rief ihr zu und lud sie ein mitzuspielen. Einen Moment lang zögerte sie, doch dann kam sie aufs Spielfeld und nahm ihren Platz an seiner Seite ein. Die Sonne umstrahlte sie bei ihrem Spiel, erfüllte ihr Haar mit Licht und ließ die Sommersprossen des Jungen unsichtbar werden. Ich spürte einen Anflug von Eifersucht und blieb zurück. »Warum spielst du denn nicht mit den anderen?«, fragte eine Stimme hinter mir. Als ich mich umdrehte, sah ich einen großen, schlanken Mann mit einem schwarzen Schnurrbart und dichtem grauem Haar. »Mein Kleid ist hässlich«, antwortete ich und deutete mit dem Kinn auf das wunderschöne Mädchen. »Es ist nicht so schön wie ihr Kleid.« Der Mann lachte. »Das ist tatsächlich ein sehr hübsches Kleid«, sagte er schließlich. »Aber es ist ein Stadtkleid. Das ist nichts für das Land. Es ist gemein von ihr, es hier zu tragen und dir dadurch ein schlechtes Gefühl zu geben.« Ich dachte mir, dass ich es in Kauf nehmen würde, gemein zu sein, wenn ich ein solches Kleid haben könnte. Am nächsten Sonntag brachte ich meine Großmutter dazu, mich mein bestes Kleid tragen zu lassen – es war burgunderrot und hatte einen gehäkelten, weißen Kragen. Nach der Messe ging ich zum marché, um einen Blick auf den gutaussehenden Jungen zu werfen, und war erfreut, 18

ihn dort anzutreffen. Eine Runde Katz und Maus wurde gerade vorbereitet, und ich betete zu Gott, dass mich der Junge bemerken würde, mich sehen würde. Nur eine Minute später kam er auf mich zugerannt. »In meiner Mannschaft fehlt noch jemand«, sagte er. »Willst du mitspielen?« Vorsichtig lehnte ich Mademoiselle Jumeau an einen Steinpfosten und folgte dem Jungen zum Spiel. Ich kam nur bis zur Hälfte unseres Feldes, als mich bereits ein Kind aus der anderen Mannschaft fing. »Mach dir nichts daraus. Beim nächsten Mal bist du besser«, rief mir der Junge vom anderen Ende des marché zu. Nachmittags beim Tee verkündete Jacques: »Isabelle ist verliebt.« »Das bin ich nicht!«, schrie ich. »Liebe ist etwas für Erwachsene«, entgegnete meine Großmutter, als sie einen Zuckerwürfel im Tee verrührte. »Sie ist in den großen Jungen mit den Sommersprossen verliebt«, redete Jacques weiter. Er hielt sein pain au chocolat mit beiden Händen fest und biss herzhaft hinein. »Das ist Daniel Blank. Der Neffe von Madame Duval. Er lebt in Paris und verbringt den Sommer bei ihr«, erklärte Tante Virginie. Dann drehte sie sich zu mir um. »Ich kann dir nichts vorwerfen. Er ist ein sehr gutaussehender Junge.« Mein Gesicht wurde feuerrot, als der Name des Jungen ausgesprochen wurde. »Ich bin in niemanden verliebt.« Doch ich lebte für die Sonntage. Wenn ich dachte, dass Daniel nicht hinsah, warf ich ihm verstohlene Blicke zu. Mein Herz schmolz beim Anblick seines schmalen, zartgeformten Gesichts dahin. Ich liebte die Locke seines rot19

braunen Haares, die ihm in die Stirn rutschte, und ich liebte, wie er sie mit seinem Handrücken zur Seite schob. Er war einen Kopf größer als das größte Kind im Dorf und dadurch auf natürliche Weise ihr Anführer. Er dominierte unsere Spiele mit seiner schnellen, anmutigen Beinarbeit, aber Jacques und die anderen Jungen schienen ihm das nicht übelzunehmen. Er gab den anderen nie das Gefühl, unterlegen zu sein. Auf diese Weise war er nicht nur der bestaussehende Junge der Welt, sondern auch der netteste. Ich überlegte mir, ihm ein Hemd zu nähen. Im Speicher fand ich zwei Meter blauen Kattun in einem Koffer. Ein altes Hemd meines Großvaters diente mir als Vorbild. Ich passte es an Jacques an, wobei ich Platz für Daniels größere Proportionen ließ. Ich sagte Jacques, dass Daniel, der mein Kleid für Mademoiselle Jumeau bewundert hatte, mich gebeten hätte, ihm ein Hemd zu nähen; doch es müsse ein Geheimnis bleiben. Niemand durfte davon erfahren, vor allem nicht meine Großmutter und die Tanten. »Für mich hast du noch nie ein Hemd gemacht«, entgegnete Jacques. Hinter der Brille waren seine feuchten Augen weit aufgerissen. »Du bist doch erst neun«, antwortete ich. »Ich hätte trotzdem gerne ein neues Hemd.« »Wenn du älter bist.« Eine Woche lang arbeitete ich an Daniels Hemd, und als ich damit fertig war, verbrachte ich eine weitere Woche damit zu grübeln, wie ich es ihm schenken konnte. Schließlich kam ich zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab. Jacques musste das Hemd in der Kirche tragen und danach musste er es ausziehen und Daniel am marché überreichen. 20

»Was soll ich ihm denn sagen?«, fragte Jacques. »Du musst ihm überhaupt nichts sagen«, erklärte ich. »Ich schreibe einen Zettel und stecke ihn mit einer Nadel an den Ärmel.« Stundenlang zermarterte ich mir den Kopf über die Nachricht. Schließlich schrieb ich einfach: »Bitte nimm dies als Geschenk von der Nadel Isabelle Varlets an.« Am Samstag gab ich Jacques das Hemd. Er erzählte seiner Mutter, ich hätte es für ihn gemacht (obwohl es ihm einige Nummern zu groß war) und er hätte mir versprochen, es am nächsten Tag in der Kirche zu tragen. Es würde mir das Herz brechen, wenn er es nicht täte. Am Sonntag wachte ich mit einem vernebelten Kopf und einem Kratzen im Hals auf, doch ich sagte nichts. Wenn meine Großmutter dachte, ich würde etwas ausbrüten, würde sie mich niemals aus dem Haus lassen. In der Kirche war ich erleichtert, als ich den blauen Kattunstoff unter Jacques’ brauner Sergejacke herausblitzen sah. Nach dem Gottesdienst zog er Daniels Hemd hinter einem Baum aus. Kinder schrien, quietschten und rannten über den marché. Der Herbst lag bereits in der Luft; über den Platz wehten Blätter, vermischt mit kleinen Kieselsteinen und Geröll. Mein Blick suchte Daniel, aber er war nirgends zu sehen. »Er ist nicht hier!«, stöhnte ich auf und ließ mich auf den kalten Steinboden fallen. Jacques setzte sich neben mich. »Was machen wir jetzt?«, fragte er mich. »Warten. Vielleicht kommt er ja noch.« »Wahrscheinlich ist er zurück nach Paris gegangen.« Ich setzte mich mit diesem schrecklichen Gedanken auseinander, als ich merkte, dass jemand hinter uns stand. 21

Madame Beloit, Jacques’ Mutter. »Warum hast du denn dein Hemd ausgezogen? Du holst dir noch den Tod«, schimpfte sie. Ich fing an zu husten, zuerst leise, dann folgte ein krampfartiger, trockener Husten. »Sieh nur, Isabelle ist schon krank«, sprach Madame Beloit weiter. »Ihr seid wirklich törichte Kinder.« Madame Beloit eilte davon, um meine Großmutter und die Tanten zu holen, die mich ins Bett steckten, sobald wir zu Hause waren. Ich schlief sehr lange. Erst als ich erwachte und mich nach Mademoiselle Jumeau ausstreckte, bemerkte ich, dass ich sie am marché zurückgelassen hatte. Jacques ging am nächsten Tag zurück, doch alles, was er fand, war Mademoiselle Jumeaus übel zugerichteter Holzkörper. Sie sah wie das Opfer einer Spielzeugguillotine aus. Nicht nur ihr schöner Porzellankopf fehlte, sondern auch ihr Kleid und die Schuhe. Matsch beschmierte ihre Unterbekleidung. »Ich habe überall nach dem Kopf gesucht«, sagte Jacques. »Wahrscheinlich hat ein Hund ihn abgebissen.« Augenblicklich orderte meine Großmutter eine neue Jumeau-Puppe aus Paris. Doch ich vergaß die erste Mademoiselle nicht. Als ich mich besser fühlte, erhielt sie eine Beerdigung. Ich nähte ein einfaches Totenhemd für ihren Körper und benutzte die blaue, mit Seidenpapier ausgeschlagene Schachtel, in der sie angekommen war, als Sarg. Jacques grub ein Loch unter der Eiche im Vorgarten, die Tanten kamen für die Zeremonie und standen in ihren Trauermänteln eng zusammen, um sich gegen die herbstliche Kälte zu schützen. Tante Virginie hatte ihren Fuchspelz umgelegt und trug ihre besten Juwelen. Meine Groß22

mutter las aus der Bibel, und wir sangen gemeinsam »Gelobe den Herrn«, während Jacques den Sarg im Boden verschwinden ließ und Erde darüber schaufelte. Der Nachmittag war weit fortgeschritten und warf lange, graue Schatten über den Garten. Tante Hélène hatte beim Gottesdienst unaufhörlich über den Pelz und die Juwelen von Tante Virginie geschimpft. Auf dem Rückweg ins Haus sagte sie: »Es ist eine Sache, die ganze Trauerausstattung für Cousine Catherine anzulegen, aber für eine Puppe!«

 Nach diesem Sommer ging Jacques auf ein Internat in Bordeaux. Eine Zeit lang sah ich ihn noch, wenn er in den Ferien nach Hause kam, doch die Jahre vergingen, und er besuchte mich immer seltener. Während meiner restlichen Zeit in Timbaut hatte ich Daniel nie wiedergesehen, allerdings lernte ich seine Tante kennen – eine große, tüchtige Schneiderin namens Marie-France Duval. Als ich siebzehn war, schickte mich meine Großmutter nach Agen, um ihre Schülerin zu werden. Ihr habe ich es zu verdanken, dass ich jetzt eine Geschichte erzählen kann.

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