Gibt es (noch) einen ästhetischen Kanon der Moderne?

Wim van den Bergh [email protected] Um uns dieser Frage jetzt irgendwie gedanklich zu nähern, müssen wir zunächst versuchen, dessen drei Hauptbeg...
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Wim van den Bergh [email protected]

Um uns dieser Frage jetzt irgendwie gedanklich zu nähern, müssen wir zunächst versuchen, dessen drei Hauptbegriffe, ‘Ästhetik’, ‘Kanon’ und ‘Moderne’, näher zu definieren. Fangen wir mit dem ambivalentesten Begriff an, dem der Ästhetik. Wenn wir das Wort Ästhetik von seiner Etymologie her betrachten, dann lesen wir bei Kluge, aber auch im Duden 7 oder bei Google und Wikipedia, dass der Begriff Ästhetik seine Wurzeln im altgriechischen ‘αἴσθησις / aísthesis’ und ‘aisthánesthai’ findet, was soviel bedeutet wie ‘Wahrnehmung’ oder auch ‘Empfindung’. Damit ist natürlich die Wahrnehmung als bewusste Erfahrung von allem, was die Sinne bewegt, gemeint und nicht nur die übliche Reduzierung auf ‘das Schöne’.

Gibt es (noch) einen ästhetischen Kanon der Moderne? Dieser etwas kryptische Titel, oder besser noch, diese herausfordernde Frage, stammt nicht von mir, sie wurde mir von Wolfgang Meisenheimer vorgegeben. In seiner anfänglichen Einladung hatte er die Frage sogar noch etwas provokanter formuliert, nämlich folgendermaßen: »Gibt es (in der Architektur, im Design) eine universale Ästhetik? Reduktive Ästhetik: ja! Aber: gibt es Normen?« Sie verstehen, dass man sich diese Art von ‘Großen Fragen’ nicht selber aufbürdet, sie aber doch immer wieder gerne als Herausforderung annimmt, um zu sehen, wohin einen die Gedankengänge darüber führen. Erwarten sie also von meiner Seite keine eindeutige Antwort auf diese ‘große Frage’. Was ich ihnen in meinem Vortrag bieten kann, ist lediglich ein bescheidener Gedankengang über das, was mit dieser ‘Seins-Frage’ nach einem ‘ästhetischen Kanon der Moderne’ angerissen wird.

Als Begründer der Ästhetik als eine eigenständige philosophische Disziplin, wird der Deutsche Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten genannt. Mit seiner Dissertationsschrift »Meditationes« (1735), seinen Gedanken zu den sogenannten ‘schönen Wissenschaften’ – der Rhetorik und Poetik – und seiner »Aesthetica« (1750), konzipierte er in der ersten hälfte des 18. Jahrhunderts die wissenschaftliche Ästhetik; die Lehre der sinnlichen Erkenntnis oder, wie er es selber nannte, die «Wissenschaft vom sinnenhaften Erkennen« 1. Mit ihr versuchte er, parallel zur rationalen Erkenntnistheorie der Logik, eine Erkenntnistheorie der Sinne und der sinnlichen Wahrnehmung als Bewusstwerdung (als Erkenntnis), aufzubauen. Wobei den Sinnen ein eigenes Urteilsvermögen zugewiesen wurde. Oder wie er selber schreibt: »Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Diese aber ist die Schönheit.« 2 Die Erkenntnis ist also bei Baumgarten das Schöne und nicht der Gegenstand, auf die die Ästhetik sich bezieht. Nach Baumgarten, wurde diese Ästhetik ‘als Lehre der sinnlichen Erkenntnis’ aber zunehmend auf eine Theorie des Schönen und eine Theorie der Kunst reduziert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch kommt es, unter Einfluss der phänomenologischen Bewegung, der Wiederentdeckung des Leibes und der Rehabilitierung der Sinnlichkeit (man denke u. A. an Hermann Schmitz), zu einer Rückbesinnung der philosophischen Ästhetik auf seine Wurzeln. Mit der Idee der »Aisthestetik«, ‘einer allgemeinen Wahrnehmungslehre’ und dem Begriff der »Aisthetik«, versuchen Philosophen wie u. A. Wolfgang Welsch und Gernot Böhme, das Feld der Ästhetik nicht nur neu zu verwurzeln, sondern auch zu erweitern. Denn die traditionelle Ästhetik, die sich als Diskurs vornehmlich an der Kunst und dem Kunstwerk orientierte, ist im Verlaufe des 20. Jahrhunderts, durch alle Entwicklungen in der modernen Gesellschaft und der Kunst, an ihre Grenzen getrieben worden. Böhme betrachtet die »neue Ästhetik« aber nicht nur als eine bloße Wiederaufnahme des Erkenntnistheoretischen Projektes der Ästhetik, so wie dieses von Baumgarten ursprünglich konzipiert wurde. Er möchte die ästhetische Erkenntnis als eine besondere, und vor allem gegenüber der naturwissenschaftlichen unterschiedene, entfalten. Und er möchte dementsprechend aufweisen, dass sie in der Welt etwas entdeckt, das anderen Erkenntnisweisen nicht zugänglich ist. 3 Dazu führt er in der »neuen Ästhetik« den Begriff der »Atmosphäre« ein, um so unsere ästhetischen (sprich sinnlich / leiblichen) Erfahrungen analysieren zu können

und sie sprachfähig zu machen. Auf diesen Begriff der »Atmosphäre« werde ich später noch zurück kommen. Halten wir hier nun zunächst fest, dass für uns Ästhetik, nach dem altgriechischen ‘aísthesis’, Wahrnehmung, Empfindung oder auch leibliches Gespür bedeutet (was den Geist natürlich nicht ausschaltet; im Gegenteil sogar).

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Der zweite Begriff, ‘Kanon’, ist heutzutage kulturhistorisch genau so aufgeladen wie der der ‘Ästhetik’, aber auch hier bringt die Etymologie den Begriff (wortwörtlich) wieder zurück auf einen handhabbaren Maßstab. Denn Kanon, vom griechischen ‘κανω‘ν / kanon’, hatte ursprünglich Bedeutungen wie Richtschnur, Maßstab, Regel, Leitfaden oder Prinzip und ging zurück auf das hebräische Wort ‘qaneh’, welches ursprünglich die Messlatte im Bauhandwerk bezeichnete. Diesen Auslegungen nach, wird die ‘große’ Frage: »Gibt es (noch) einen ästhetischen Kanon der Moderne?«, etwas handhabbarer und können wir diese ersetzen durch die Frage: »Gibt es (noch) einen ‘Wahrnehmungsleitfaden’ der Moderne?«. Oder: »Gibt es (noch) ‘Prinzipien des sinnlich/leiblich Gespürten’ in der Moderne?« Was uns zum dritten Begriff bringt, dem Begriff der ‘Moderne’ – ein Begriff der genauso ambivalent und auch aufgeladen ist, wie der Begriff der Ästhetik und des Kanons. Um auch den Begriff der Moderne irgendwie handhabbar zu machen, möchte ich ihn hier auf die Architektur fokussieren und zeitlich sehr grob einkreisen zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwar wird der Begriff der Postmoderne erst von Charles Jencks im April 1975 benutzt (während eines Seminars an der TH Eindhoven, kurz vor dem Beginn meiner Studienzeit dort), aber das bedeutet natürlich nicht, dass die Zeit der Postmoderne in der Architektur erst dann beginnt. Genauso wie das, was wir die ‘klassische Moderne’ nennen, nicht erst nach dem Ersten Weltkrieg in den frühen neunzehnhundertzwanziger Jahren beginnt. Wenn nun die Frage lautet: «Gibt es (noch) einen Wahrnehmungsleitfaden – oder Prinzipien des sinnlich Gespürten – in der Architektur zwischen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts?», so verweist das in Klammern gesetzte ‘noch’ auf die angebliche Tatsache, dass es anscheinend einen derartigen Wahrnehmungsleitfaden gegeben haben muss. Also müsste man diesen Leitfaden in der damaligen Architekturtheorie wiederfinden können. Man muss eigentlich gar nicht so lange suchen, denn dieser Wahrnehmungsleitfaden fängt etwa bei Gottfried Semper an. Semper war nämlich der Erste, der implizit den ‘Raum’ zum integralen Teil seiner Architekturästhetik machte. Dies aber eher unterbewusst, denn wie wir wissen, basierte Semper die Theorie seiner Ästhetik, seiner ‘venustas’, auf dem materialistisch-konstruktivistischen Begriff der tektonischen und stereotomischen Formentstehung. Eine ‘venustas’ (in der Trias von Vitruv, ‘venustas’, ‘utilitas’, ‘firmitas’), die also zuerst als gebaute Form von außen gedacht wurde. Denn Semper versuchte in seiner Theorie die architektonische Form – also nicht den architektonischen Raum – herzuleiten aus dem Gebrauchszweck (der ‘utilitas’) einerseits und der ‘wahren’ Natur des Materials und dessen Verarbeitungstechniken (der ‘firmitas’) anderseits.

In seiner Prolegomena zum »Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten« aus 1860, schreibt er aber auch, dass es eigentlich »drei Gestaltungsmomente bei der Formentstehung« gibt, »die den drei Dimensionen der räumlichen Ausdehnung, Höhe, Breite und Tiefe, entsprechen«. Und er schreibt weiter: »Insofern nun, mit Beziehung auf die drei Gestaltungsmomente, die Vielheit der Form sich dreifach zu einer Einheitlichkeit zu ordnen hat, treten folgende drei notwendige Bedingungen des Formal-Schönen hervor: 1) Symmetrie, 2) Proportionalität, 3) Richtung.« 4 Aus dieser Idee der ‘ästhetischen Einheitlichkeit’ erarbeitet er dann ein räumliches Schema von Achsen die den stehenden und drehenden Menschen im Raum entsprechen: »…dem menschlichen (Schema), bei dem alle drei Axsen der Gestaltung, die symmetrische Axe, die proportionale Axe und die Richtungsaxe, prinzipiell getrennt und rechtwinklig aufeinander, nach den Koordinatenaxen der räumlichen Ausdehnung, hervortreten.« 5 Am Ende des 19. Jahrhunderts kommt, unter Einfluss der empirischen Psychologie, die Idee der ‘Einfühlung’ zu diesem ‘stehenden und drehenden Menschen’ hinzu. Die neue Wissenschaft der empirischen Psychologie hatte nämlich klar gemacht, wie wichtig die leibliche Wahrnehmung und vor allem unsere eher tastenden (fühlenden) Sinne sind, um die dritte Dimension, das heißt die Tiefe und damit den Raum erfahren zu können. Pionier und Erfinder der ästhetischen Einfühlungstheorie war Robert Vischer, der Sohn des bekannten Literaturwissenschaftlers und Philosophen der Ästhetik, Friedrich Theodor Vischer. Robert Vischer verwendet den Begriff der ‘Einfühlung’ erstmals in 1873, in seiner Doktorarbeit mit dem Titel »Über das optische Formgefühl«. »Es ist«, so schreibt er «ein unbewusstes Versetzen der eigenen Leibform und hiermit auch der Seele in die Objektform. Hieraus ergab sich mir der Begriff, den ich Einfühlung nenne.» 7 Für ihn war die Essenz der Ästhetik der Dialog, den die Seele des wahrnehmenden Subjekts mit der leblosen Form des Objektes oder besser, des ‘Gegenstandes’ eingeht. »Was ist mir Raum und Zeit, was sind mir Projektionen, Dimensionen, Ruhe und Bewegung, was alle Formen, worinnen nicht das rote Blut des Lebens fliesst?« Das wahrnehmende Subjekt belebt (animiert) gewissermaßen stellvertretend den leblosen Gegenstand. Der Wahrnehmende haucht dem Gegenstand und dessen ästhetischer Form ‘Leben’ ein, indem er sich leiblich /sinnlich in sie einfühlt und ihr so eine Seele (eine Anima) verleiht. Oder wie Vischer selber schreibt: »Betrachte ich einen ruhigen, festen Gegenstand, so kann ich mich ganz folgsam an die Stelle seines inneren Aufbaus, seines Schwerpunktes setzen, ich bilde mich demselben ein, vermittle meinen Umfang mit dem Seinigen, strecke und erweitere, biege und beschränke mich in demselben. Habe ich es mit einer kleinen, ganz oder teilweise beschränkten und verengten Erscheinung zu tun, so wird sich mein Gefühl demnach pünktlich konzentrieren, es wird sich ducken und bescheiden. Stehe ich dagegen vor einer großen oder teilweise übermäßigen Form, so werde ich ein Gefühl von geistiger Großheit und Weite, von Willensfreiheit bekommen…«8

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Wir sehen hier, wie der Wahrnehmende sich eigentlich in die Masse des Objektes hinein zu versetzen versucht, um so seine äußere Form von innen her mit Vitalität zu ‘erfüllen’. Im Jahr 1886 entwickelt der Schweizer Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin diese Idee der ‘Einfühlung’ dann weiter in Richtung der Architektur, in seinem Buch: »Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur«. Zwei Jahre später, 1888, definiert er die Architektur sogar als »Kunst körperlicher Massen« 9. Den ersten Schritt zum Raum als Form, also zur Verräumlichung dieser gegenständlichen Masse, macht der Philosoph und Psychologe Theodor Lipps Anfang der 1890ziger Jahre. Er nimmt diese Idee der Einfühlung auf und bildet daraus ein Konzept, welches jetzt aber in zwei Richtungen wirken soll. Es geht ihm innerhalb der Ästhetik nämlich nicht nur um die leibliche Projektion des wahrnehmenden Subjekts in den Gegenstand hinein, sondern auch um das, was der Gegenstand selber physiognomisch ausstrahlt. Etwa so wie ein Schauspieler im Theaterspiel einen bestimmten Charakter belebt und wie der Zuschauer sich dann im Gegenzug mit wiederum diesem Charakter identifizieren kann. Für das optische Wahrnehmen ist die Form (der Charakter) nur Form, für das ästhetische Wahrnehmen ist die Form fühlbare Beseelung. Analog zu seiner Zweiseitigkeit der Einfühlung entwickelt er auch ein zweiseitiges Raumkonzept; auf der einen Seite, für die optische Wahrnehmung, den ‘geometrischen Raum’ und auf der anderen Seite den ‘ästhetischen Raum’. Dabei abstrahiert Lipps den Gegenstand indem er sagt, dass dessen Form das ist, was übrig bleibt, wenn man die Masse wegnimmt. Die Form ist bei ihm also zunächst eine Art abstrakte, räumliche Struktur, die er ‘geometrischer Raum’ nennt. Im Gegensatz dazu steht der ‘ästhetische Raum’, welcher für ihn der kraftvolle, vitale und künstlerisch geformte Raum ist. Es ist eine Art zweiseitige Form, die man simultan von außen und von innen erlebt und belebt, der ästhetische Raum, der das Leben selber zugleich umschließt und ausstrahlt. 10 Etwa zur gleichen Zeit gibt es zwei Figuren, die das, was bei Semper noch implizit als Wahrnehmungsleitfaden (ästhetischer Kanon) der Architektur angelegt war, nun explizit machen, nämlich den Raum und die Bewegung. Der eine ist der Bildhauer Adolf Hildebrand, der andere der Kunsthistoriker August Schmarsow. Im Jahr 1893 publiziert der bekannte Münchener Bildhauer Adolf (Ritter von) Hildebrand ein Büchlein mit dem Titel »Das Problem der Form in der bildenden Kunst«, welches vor allem von dem räumlichen Verhältnis zwischen dem Wahrnehmenden und dem Gegenstand als sinnliche Erfahrung und künstlerischer Ausdruck handelt. In der Einleitung schreibt er: »Es braucht wohl keine nähere Begründung, dass unser Verhältnis zur Außenwelt, insofern diese fürs Auge existiert, in erster Linie auf der Erkenntnis und Vorstellung von Raum und Form beruht. … Wir müssen also die räumliche Vorstellung im allgemeinen und die Formvorstellung, als die des begrenzten Raumes, im besonderen, als den wesentlichen Inhalt oder die wesentliche Realität der Dinge auffassen. Stellen wir den Gegenstand oder diese räumliche Vorstellung von ihm der wechselnden Erscheinung gegenüber, die wir von ihm erhalten können, so bedeuten alle Erscheinungen nur Ausdrucksbilder unserer räumlichen Vorstellung und der Wert der

Erscheinung wird sich nach der Stärke der Ausdrucksfähigkeit bemessen, die sie als Bild der räumlichen Vorstellung besitzt.« 11 Damit postuliert er erstmals in der Kunsttheorie, dass eigentlich der Raum, im besonderen der begrenzte Raum, als räumliche Formvorstellung, die Basis für jedes künstlerische Schaffen ist. Um zu verstehen, was er mit »wechselnden Erscheinungen« meint, müssen wir zum Titel des ersten Kapitels gehen, »Gesichtsvorstellung und Bewegungsvorstellung«. Er nutzt hier die Erkenntnisse der gleichzeitig aufkommenden Wahrnehmungspsychologie, im besonderen die des stereoskopischen Sehens, bei welchem die Augen durch ihr Konvergieren und Akkommodieren dem wahrnehmenden Subjekt einen Eindruck von räumlicher Tiefe vermitteln. Mit »Gesichtsvorstellung« ist das im Grunde zweidimensionale optische Bild gemeint, welches ein Wahrnehmender sieht, wenn er still steht und seine Augen parallel geradeaus schauen. Mit »Bewegungsvorstellung« bezeichnet er die Flut an eigentlich auch nur Zweidimensionalen optischen Bildern, die der Wahrnehmende während der Bewegung zum Gegenstand hin (und um ihn herum) aufnimmt, indem er ihn mit den Augen abtastet. Oder wie er selber schreibt: »…alsdann hat sich das Sehen in ein wirkliches Abtasten und in einen Bewegungsakt umgewandelt und die darauf fussenden Vorstellungen sind keine Gesichtsvorstellungen, sondern Bewegungsvorstellungen und bilden das Material des abstracten Form-Sehens und Form-Vorstellens.« 12 Eigentlich führt er damit, neben dem Raum und der Bewegung, auch implizit den Faktor Zeit als Wahrnehmungsleitfaden ein. Und damit nimmt er die Idee der Simultanität bei den Kubisten und Futuristen vorweg, aber auch die Dimensionsexperimente von u.a. Lissitzky und Klee, oder die Raum-Zeit Prinzipien von u.a. Van Doesburg und Moholy-Nagy. Ohne es zu wissen, sagt Hildebrand eigentlich, dass die dritte Dimension, die Tiefe, für unsere sinnliche Wahrnehmung eine Illusion ist. Der Raum ist für unsere Sinne eine zweidimensionale Realität (dies der Natur all unserer Sinne nach, als eine zweidimensionale Matrix von Nervenenden) in der die dritte Dimension erst durch die vierte Dimension, die der Zeit, generiert wird (unser Gedächtnis, unser Vorstellungsvermögen und unser Erinnerungsvermögen, sind dabei natürlich von essentieller Bedeutung). Im gleichen Jahr (1893), hielt August Schmarsow, am 8. November, seine Antrittsvorlesung als Professor für Kunstgeschichte in Leipzig, mit dem Titel »Das Wesen der Architektonischen Schöpfung«. Darin entfaltete er seine Theorie der Architektur als «Raumgestalterin» oder, anders ausgedrückt, die ‘Architektur als Kunst der Gestaltung von Raum’. Oder wie er selber sagt: »Sobald aus den Residuen sinnlicher Erfahrung, zu denen auch die Muskelgefühle unseres Leibes, die Empfindlichkeit unserer Haut, wie der Bau unseres ganzen Körpers ihre Beiträge liefern, das Resultat zusammenschließt, das wir unsere räumliche Anschauungsform nennen, (der Raum, der uns umgibt, wo wir auch seien, den wir fortan stets um uns aufzurichten und notwendig vorstellen, notwendiger als die Form unsers Leibes) sobald wir uns selbst und uns allein als Centrum dieses Raumes fühlen, gelernt dessen Richtungsaxen sich in uns schneiden, so ist auch der wertvolle Kern gegeben, das Kapital gleichsam des architektonischen Schaffens begründet…«

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»Raumgefühl und Raumphantasie drängen zur Raumgestaltung und suchen ihre Befriedigung in einer Kunst; wir nennen sie Architektur und können sie deutsch kurzweg als Raumgestalterin bezeichnen.« 13 Damit macht Schmarsow das, was bei Semper noch implizit als Wahrnehmungsleitfaden der Architektur angelegt war, nämlich die Idee des Raumes, explizit zum ästhetischen Kanon der Architektur. Aber wie wir gesehen haben, hatte sich seit Semper auf dem Gebiet einiges getan. Schrieb Semper noch: »So wenig wie es möglich ist, sich noch eine vierte räumliche Ausdehnung zu denken, eben so wenig kann man den genannten Eigenschaften des Schönen noch eine homogene vierte hinzufügen.« 14 So können wir sehen, wie Schmarsow die drei Achsen von Semper aufnimmt, dass er aber nicht mehr zufrieden ist mit dessen »Gestaltungsmoment« der tiefen Dimension als nur »Richtung«. Sempers Begriff »Richtung« impliziert zwar Bewegung, aber ist als solches noch kein »Gestaltungsmoment« der dritten Dimension. Die dritte Dimension braucht, wie Hildebrand gezeigt hatte, eine vierte, die Zeit, um leiblich erfahrbar zu werden. Und wie für Hildebrand ist auch für Schmarsow klar, dass es die eher tastenden Sinne sind, die dies zu leisten haben. Oder wie er selber sagt, in Bezug auf die Gliederung einer Wand und das in die Tiefe schreiten: »… im engsten Anschluss an den periodischen Fortschritt unserer Körperbewegung und an den Rhythmus unserer menschlichen Gangart, also eigentlich unserer Tasterfahrungen, und an diese gebunden bleibt auch die Mitwirkung unserer Augen, die bei der ausführenden Arbeit vor allem als verfeinerte Tastorgane funktionieren, solange es sich um leibhaftige Berührung mit der Körperwelt handeln muß.« 15 Das »Gestaltungsmoment» der bloßen «Richtung» bei Semper, wird bei Schmarsow zum aktiven »Gestaltungsprinzip«, welches er nun aber »Rhythmus« nennt, denn er versteht, dass man die dritte Dimension nur als Abfolge erfahren kann. Oder wie er es selber, sich eng an Semper haltend, umschreibt: Die »…Tiefenerstreckung, die wir im eigentlichen Sinne nur sukzessiv aufzufassen vermögen. Wo sich jedoch an einem und demselben Substrat der simultane Bestand, als Symmetrie in der Breite und als Proportion in der Höhe, nun beide, wie es als möglich erwiesen, der Verwandlung in die dritte Dimension unterziehen, d. h. in sukzessive Auffassung übertreten, da herrscht auch das Gestaltungsprinzip dieser dritten Dimension, die immer Bewegung voraussetzt, d. h. das des Richtungsvollzuges, das wir »Rhythmus« nennen.« 16 Am Anfang des 20. Jahrhunderts ist es dann der Deutsche Kunsthistoriker Albert Erich Brinckmann, der versucht, die vorangegangenen Erkenntnisse von Hildebrand und Schmarsow in eine Art Synthese zusammen zu führen. Er sieht die Architektur als ein sich gegenseitiges Bedingen von Raum und körperlich-plastische Masse. Oder wie er im Jahr 1915 schreibt: »Die Baukunst gestaltet Räume und plastische Massen. Der Raum findet im Gegensatz zur Plastik seine Begrenzung dort, wo er an die plastische Masse stößt. Er wird von innen aufgenommen. Dagegen findet jene ihre Begrenzung durch den umgebenden Luftraum. Sie wird von außen aufgenommen. Hierauf beruht die Gegensätzlichkeit von Raum und Plastik: Wachsen oder Abnahme des einen vermindert

oder vermehrt die andere. Gemeinsam ist beiden Volumen oder Körperlichkeit – worin wir der naturwissenschaftlichen Begriffsbestimmung folgen –, so daß sowohl von einem Raumkörper, wie von einem plastischen Körper gesprochen werden kann. Auf dieser Gemeinsamkeit beruhen die Beziehungen von Raum und Plastik im architektonischen Schaffen, sie können sich gegenseitig modellieren.« 17 Für Brinckmann kulminiert die Architektur als räumliche Kunst in der Synthese, oder besser der Durchdringung von plastischen und räumlichen Volumen. In diesem Fall sind es bei Brinckmann die Durchdringungen meist konkaver und konvexer Volumen, sowie wir es aus den späten Barock und Rokoko kennen. Womit er aber, ohne es zu wissen, den Weg ebnete zum ‘fliessenden Raum’ des ‘Neoplastizismus’, oder der ‘Nieuwen Beelding’ von Mondriaan, Van Doesburg und den anderen Mitgliedern der De Stijl Gruppe. Diese versuchten um 1917 herum, die elementaren und universalen Prinzipien der unterschiedlichen Kunstformen herauszufinden und anzuwenden. Was für die Architektur, als Synthese der Künste, resultierte in den drei ein-dimensionalen Achsen von Semper, die wiederum waagerecht zu diesen Achsen stehenden zwei-dimensionalen Flächen und den durch diesen Flächen definierten, oder besser, implizierten Räume, durch die man sich hindurch bewegte. Innen und Außen, plastische Masse und Raum, wurden im ‘Neoplastizismus’ relativ, sie lösten sich auf in der Disposition der Flächen, so auch primäre Qualitäten wie Form und Ausdehnung. Die Form als solches wurde de-konstruiert, um so eine ‘Nieuwe Beelding’, eine neue elementare Wirklichkeit, zu konstruieren, bestehend aus Flächen und Bewegungen. Für Brinckmann’s Zeitgenossen Paul Frankl, gilt ebenfalls, dass er in seiner Schrift »Die Entwicklungsphasen der neueren Baukunst« aus dem Jahr 1914, vieles von Hildebrand und Schmarsow übernahm, es etwas anders benannte und versucht, neue Begriffe hinzuzufügen, wie zum Beispiel neben der »Raumform« und »Körperform«, die »Bildform« und die »Zweckgesinnung«. Dies gilt ebenfalls für die Architekturtheoretiker der zwanziger Jahre wie: Paul Klopfer, der Schmarsow’s Begriff »Rhythmus« in der kinetischen Wahrnehmung weiter explizierte. Und Paul Zucker, der den Raum-Zeit Aspekt, als eine Form der »Kontinuität«, weiter ausarbeitete. Die Form des plastischen und des räumlichen Körpers wurde bis dahin, wie wir gerade bei Brinckmann sehen konnten, noch immer sehr stark gedacht als etwas Abgrenzendes und Einschließendes. Die Form ‘wirkt’ aber auch nach außen, wie Hildebrand schon im Jahr 1893, im zweiten Kapitels von »Das Problem der Form«, mit dem »Titel Form und Wirkung« festgestellt hatte. »Indem wir Bewegungsvorstellungen und die damit verbundenen Begrenzungslinien entwickeln, gelangen wir dazu, den Dingen eine Form zuzuschreiben, die unabhängig vom Wechsel der Erscheinung ist. Wir erkennen sie als denjenigen Faktor der Erscheinung, welcher vom Gegenstand allein abhängt. Wir können diese, teils direkt durch Bewegung gewonnene, teils aus der Erscheinung abstrahierte Form, die Daseinsform des Gegenstandes nennen. Der Formeindruck jedoch, den wir aus der jeweilig gegebenen Erscheinung gewinnen, und der in ihr als Ausdruck der

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Daseinsform enthalten ist, ist stets das gemeinschaftliche Product des Gegenstandes auf der einen Seite, der Beleuchtung, der Umgebung und des wechselnden Standpunktes auf der andern Seite und steht deshalb der abstrahierten, vom Wechsel unabhängigen Daseinsform als eine Wirkungsform gegenüber.« 18 Er sagt damit etwas sehr wichtiges, nämlich, dass es in der Wahrnehmung so etwas wie einen entscheidenden Unterschied gibt zwischen der objektiven »Realität» und der subjektiven »Wirklichkeit«, um es mit der Terminologie von Gernot Böhme zu benennen. 19 Die Form ‘wirkt’ (nach Hildebrand) gewissermaßen in die Umgebung hinein, erfüllt den Raum um sich herum mit Spannungen und Bewegungssuggestionen, etwas das Böhme zu fassen versucht mit dem Begriff der »Ekstase«. 20 Was der Bildhauer und Theoretiker Hildebrand hier über die äußere Wahrnehmung der plastischen Masse (als konvexe Form) sagt, und was er dann mit »Daseinsform und Wirkungsform« benennt. Diese Benennung übernimmt, im Jahr 1918, der Architekt und Theoretiker Herman Sörgel analogisch für die innere Wahrnehmung (der konkaven Form) des Architektonischen Raumes, in seinem Buch mit dem Titel »Einführung in die Architektur-Ästhetik«. »Beim Raum, muß geschieden und als ein wesenseigener anerkannt werden: Der Daseinsraum, d.i. der objektive, reale Raum, wie man ihn nicht sehen, nur denken kann. Der Erscheinungsraum, d.i. der natürlich, physisch entstehende Eindruck einer Raumwahrnehmung auf der Netzhaut des menschlichen Auges. [eigentlich das was Hildebrand das »Gesichtsbild« genannt hatte] Der Wirkungsraum, d.i. der künstlerisch ästhetische Raum, wie ihn der Architekt vermittelst seines Werkes schafft, und auf welchen der Kunstverständige im Wahrnehmungsinhalt reagiert. Der Wirkungsraum, auf den es hier allein ankommt, besteht nicht in der Kenntnis des Raumes einer Architektur an sich oder seiner natürlich physiologischen Erscheinung, sondern in der Wahrnehmung der ästhetischen Bedeutung dieses Raumes in seiner künstlerischen Erscheinung.« 21 Wenn man Sörgel’s »Architektur-Ästhetik« liest, dann spürt man aber, dass er sich schwer tat, das Ganze noch in ein allumfassendes System zu fassen. Ferner ging er hauptsächlich von der optischen Wahrnehmung aus und man kann feststellen, dass die Zeit, als vierte Dimension, in seiner »Architektur-Ästhetik«, keine Rolle spielte. Auch sieht man, dass er die Ästhetik, als ursprüngliche Lehre der sinnlichen Erkenntnis, sehr stark auf eine Theorie des Schönen und der Kunst fokussierte. Daher fällt es mir, im Gegensatz zur These von Hildebrand, in diesem Fall schwer, Sörgel’s Begriff »Wirkungsraum« mit dem Begriff der «Atmosphere« bei Böhme in Bezug zu setzen. Ich werde versuchen, diesen Bezug über einen kleinen Umweg herzustellen und dazu ein wenig das Gedankengut instrumentalisieren, welches sich im frühen Bauhaus entwickelte. Wie wir in Paul Klee’s Skizze zur Struktur und Idee des Staatlichen Bauhauses, aus dem Jahr 1922, sehen können, wurden im Zentrum dieser Idee, als die Synthese aller Künste, »Bau und Bühne« platziert. 22 Anscheinend hatte man verstanden, dass diese Synthese aller Künste sowohl in der Architektur, als auch im Theater stattfindet. Was beiden nämlich gemeinsam ist, ist die Wahrnehmung

Paul Klee. Idee und Struktur des Staatlichen Bauhauses. Unterrichtsschema für das Staatliche Bauhaus Weimar, 1922

Walter Gropius. Schema zum Aufbau der Lehre am Bauhaus, 1922 veröffentlicht in: Staatliches Bauhaus Weimar, 1919-1923 Bauhaus-Archiv / Museum für Gestaltung, Berlin

(Bildnachweis: Hans M. Wingler, »The Bauhaus«, the MIT Press, Cambridge, 1980, S.VI + 52)

(Bildnachweis: Hans M. Wingler, »The Bauhaus«, the MIT Press, Cambridge, 1980, S.VI + 52)

des vierdimensionalen Raumes, was sie unterscheidet, ist die Tatsache, dass diese beim Theater eher eine sinnliche Wahrnehmung ist, während sie in der Architektur mehr eine sinnlich-leibliche, sprich auch kinästhetische Wahrnehmung ist. Im späteren Schema von Gropius taucht nur noch der Bau auf; für den Architekten (der selber nicht gut zeichnen konnte) hatte, bei der Synthese aller Künste, anscheinend doch nur die Architektur eine zentrale Stellung verdient. 23 Aus einem kurzen Text von Gropius zur Arbeit der Bauhaus Bühne aus dem gleichen Jahr, können wir sehen, dass es ihm darum ging, die ‘Seele’, das heißt die Emotionen, des wahrnehmenden Zuschauers zu beeinflussen und zwar durch das Stimmen des Wahrnehmungsraums. Oder wie Gropius schreibt: »In its origin the stage derives from an ardent religious desire of the human soul. It serves, then, to manifest a transcendental idea. The power of its effect on the soul of the spectator and auditor is therefore dependent on the success of the transformation of the idea into (visually and acoustically) perceivable space. The phenomenon

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of space is conditioned by finite limitation within infinit free space, by the movement of mechanical and organic bodies within this limited space and by the oscillations of light and sounds within it.« 24 Und hier geht es ihm um das Kreieren von »moving, living, artistic space« und das Erforschen von »space, body, movement, form, light, color and sound«, in den zwei Bühnentypen. Diese wiederum beschreibt er als die eher zweidimensionale Guckkasten-Bühne mit eindimensionaler Tiefe und die dreidimensionale zentrale Arena-Bühne, die aber eigentlich auch nur eine zweidimensionale horizontale Aktionsfläche ist, welche man als Zuschauer aber schräg von oben betrachtet, wodurch die Tiefe besser ablesbar wird. Halten wir kurz fest, wie sich ‘die Prinzipien des sinnlich-leiblich Gespürten’, unser ‘ästhetischer Kanon’ der Moderne, bis jetzt entwickelt hat. Es gibt (nach Semper) die drei räumlichen Achsen der räumlichen Ausdehnung, deren simultaner Schnittpunkt der Wahrnehmende Mensch ist. Dieser Mensch bringt ‘aísthesis’, das heißt Wahrnehmungsvermögen, Empfindungen, oder auch leibliches Gespür, mit. Und er kann sich stellvertretend (von Außen) einfühlen in die Form des plastischen Körpers, in die Masse. Aber er kann sich auch (von innen) einfühlen in die Form des räumlichen Körpers, in den Raum. Dabei spielen (nach Semper), simultan zu den drei Achsen, drei Gestaltungsmomente eine Rolle, »Proportion, Symmetrie und Richtung«. Unter der Bedingung, dass der Wahrnehmende stillsteht und in die Tiefe blickt, wäre dies (nach Hildebrand) das zweidimensionale »Gesichtsbild« der räumlichen Ausdehnung (die Guckkasten-Bühne). In dem Moment, wo zu den drei räumlichen Dimensionen die Zeit (als vierte Dimension) hinzu kommt und damit die Richtungsachse zur Bewegungsachse und das »Gesichtsbild« zum Hildebrandschen »Bewegungsbild« wird, müsste der Gestaltungsmoment »Richtung« erweitert werden mit dem Schmarsowschen Gestaltungsprinzip »Rhythmus«. Masse und Raum, so Brinckmann, bedingen sich gegenseitig und die Architektur als räumliche Kunst kulminiert in der Durchdringung von plastischen und räumlichen Volumen. Dies führt zum fließenden Raum der «Kontinuität», also zum dreidimensionalen Raum, der generiert wird in der gegenseitigen Durchdringung der zweiten und der vierten Dimension. Man könnte, in Analogie zur doppelten Bedeutung des Begriffs ‘Erfahrung’, auch sagen, der gegenseitigen Durchdringung der zweidimensionalen sinnlich / leiblichen Wahrnehmung (das Erfahren mit unseren zweidimensionalen Sinnen an sich), und der vierdimensionalen sinnlich-leiblichen Erfahrung (Erfahrung, als die in der Zeit gewonnene Erkenntnis). Hildebrand führt dann den Begriff der »Wirkungsform« ein und damit auch neben dem wirkenden Objekt das affektive Subjekt, welches dem Objekt, dem Gegenstand, gegenüber steht. Der Begriff »Wirkungsraum« bleibt in Sörgel’s Definition noch ziemlich steril, bekommt später aber in der Bauhaus-Bühne ein Gesicht. ‘Raum, Körper, Form, Bewegung, Licht, Farbe und Ton’, werden eingesetzt, um für den statischen Zuschauer ein atmosphärisches Erlebnis auf die Bühne zu bringen. Aber es war natürlich nicht die Bauhaus-Bühne, die dem »Wirkungsraum« als atmosphärisches Bühnen-Erlebnis sein ursprüngliches Gesicht gegeben hat. Es waren zweimal zwei Figuren, die, unabhängig von einander, Ende der 1880ziger

und Anfang der 1890ziger Jahre die Basis dafür gelegt haben, sowohl in England als auch in der Schweiz und Deutschland. Auf der Englischen Seite gibt es zunächst den, ursprünglich deutschen, Maler Hubert Herkomer (1849-1914), später Sir Hubert Ritter von Herkomer. Ein freier Geist, der es liebte zu experimentieren und dies nicht nur in der Malerei. Er betätigte sich auch als Bildhauer, Musiker, Schriftsteller und versuchte sich als Theater- und Filmemacher. Im Jahr 1883 hatte der bis dahin sehr erfolgreiche Künstler, neben seiner Professur in Oxford, die Herkomer Schule für Malerei in Bushey gegründet, einer Kleinstadt nordöstlich von London, wo er auch seit 1874 wohnte. Die Schule verkörperte seine Vision einer sehr freien, nicht-akademischen Ausbildung, in der die Studenten gefördert werden sollten, sich selbst und ihre eigene Arbeits- und Ausdrucksweise zu finden. Die Schule war aber auch sein Laboratorium, in dem er zusammen mit seinen Studenten experimentieren konnte. Und dabei war für ihn der dramatische Ausdruck, also die visuellen Zeichen von Emotionen und vor allem auch von Bewegungen, das Bildmaterial mit dem er arbeitete. So baute er 1889 mit seinen Studenten zusammen eine kleine Bühne und führte das Stück »The Sorceress« auf. Er schreibt über das Bühnenbild in seinem Buch »My School and My Gospel«: »It was to be a reproduction of nature, as the painter sees it, and not to be the semblance of nature usually seen and accepted on the stage. None of us knew anything about traditional stage-craft, consequently we started, of necessity, with a clean slate. Ways and means had to be freshly invented, and not copied from methods long practised on the stage. And as I wanted to produce certain effects which I had not, so far, seen truthfully represented, I felt, and we all felt, a desire to do the thing ourselves without the help of the professional stage carpenter, scenic artist, and lime-lightist. Without even inquiring how these traditional workers might have been of help, we so believed in our skill that the very thought of professional aid gave us a pang of jealousy. So we experimented, tried methods, failed, and tried again—until success crowned our labours.« 25 Für Herkomer war die Theaterbühne eine logische Erweiterung des gemalten Bildes in der Tiefe, auf der er Perspektiven und Gruppierungen ausprobieren konnte, aber auch Beleuchtungseffekte und vor allem aber konnte er emotional geladene Atmosphären kreieren. Herkomer ist also der Erste, der anfängt mit der modernen Theatertechnik zu experimentieren, vor allem mit der (neuen elektrischen) Beleuchtung, um eine Art transzendenter Wirkung von Raum und Zeit zu generieren. Er arbeitete nicht mit dem damals üblichen Fußlicht, sondern hatte versteckte Scheinwerfer auf beiden Seiten des Auditoriums und auch hinter der Bühne, mit denen er eine schräg gespannte Leinwand aus Gazestoff bespielen konnte. Alle Zuschauer waren auf gleicher Höhe platziert, so dass der Horizont für alle auf der gleichen Höhe lag und dadurch der stereoskopische Effekt maximal war. Selber schreibt er: »It was, in all truth, a picture – stereoscopic in its reality. To those who sat in the front seats it was as real and as finished as it was to those who sat in the gallery; and the complete picture within the proscenium (which formed a frame) was seen satisfactorily by one and all in the auditorium alike. The luminosity of the sky, which

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was not produced by paint, and the moon, with its soft, mysterious halo, were our triumphs. True to nature, the moon passed with almost imperceptible motion across the sky, until out of sight, when the sky became tinted with the colour of dawn.« 26 Ein Jahr später, im Jahr 1890, inszenierte Herkomer »An Idyll« und im Jahr 1892 gab er im Avenue Theater in London einen öffentlichen Vortrag mit dem Titel »Scenic Art«, 27 in dem er seine Neuerungen für die Kunst des Theaters vortrug. Darunter war auch ein Proscenium, mit dem man die Rahmung der Szene auf dramatische Art und Weise verändern konnte. Anwesend bei diesen drei Veranstaltungen war der junge englische Schauspieler Edward Gordon Craig (1872-1966). Er war der uneheliche Sohn der, später sehr berühmten, Schauspielerin Ellen Terry und des bekannten Architekten Edward William Godwin, ein Ästhet, der sich neben Entwürfen für Gebäude, Möbel und Dekoration, auch sehr intensiv mit dem Bühnenbild beschäftigte. Goodwin war einer der großen Vorkämpfer der Integration aller Künste in einer Art »total design« für das Theater. Und in seinem »A New Scheme for a Theatre« propagierte er die Abschaffung der Fußlichter und der »gepfuschten Perspektiven«, damit waren die gemalten Szenerien im Hintergrund der Bühne gemeint, und forderte deren Ersatz durch solide Versatzstücke. Goodwin und Terry hatten sich, 3 Jahre nach der Geburt von Edward Gordon Craig, im Guten getrennt und er wuchs, zusammen mit seiner Schwester, bei seiner Mutter in London auf. Ellen Terry hatte da ihre Karriere als Schauspielerin wieder aufgenommen und wurde etwas später von Henry Irving als »Leading Lady« für seine »Lyceum Company« engagiert, wo sie 23 Jahre lang neben Irving die Hauptrollen spielte. Man könnte also sagen, dass der junge Edward Gordon Craig, in dem Moment, in dem er im Jahr 1889 auf Herkomer’s Theatertechnik stieß, schon irgendwie erblich vorbelastet war. Nicht nur, was das Theater und das Theaterspiel an ging (er wuchs sozusagen hinter und ab 1878 auf der Bühne des »Lyceum Theatre« in London auf), sondern auch was den Entwurf von Bühnenbildern betraf. Im gleichen Jahr hatte er ebenfalls als professioneller Schauspieler (unter Irving), im »Lyceum Theatre» angefangen, zu der Zeit eines der führenden Theater in Europa. Nach etwa 8 Jahren gibt er dann die Schauspielerei teilweise auf und verfolgt seine anderen künstlerischen Interessen im grafischen Bereich, er fängt an zu zeichnen und fertigt Holzstiche an. Um 1900 gründet er, zusammen mit dem Dirigenten Martin Shaw, die »Purcell Operatic Society«, und fängt an Aufführungen zu inszenieren, die so sind, wie sie seiner Meinung nach sein sollten. Schon in der Ersten – Purcell’s »Dido and Aeneas« – zeigt er, wie eine Aufführung ein integrales Kunstwerk werden kann, wenn man nur die poetische Einheit von Bühnenbild und Bühnenraum, von Farbe und Beleuchtung, von Musik und Bewegungen, im Auge behält. Dabei setzt er die von Herkomer entwickelte Lichttechnik von Anbeginn an ein, aber nicht, um ein Bühnenbild ‘realistischer’ erscheinen zu lassen, wie dies bei Herkomer noch der Fall war. Im Gegenteil, er wollte mit minimalsten Mitteln eine räumlich-dramatische Atmosphäre aufrufen, in der Bewegung, Wort, Linie, Farbe und Rhythmus, eins werden.

Edward Gordon Craig’s Rekonstruktion der Szenographie für »Dido und Aeneas« (Bildnachweis: Christopher Innes: Edward Gordon Craig: A Vision of Theatre, 1998. S. 45)

In 1905 publiziert er ein kleines Buch (in Englisch und Deutsch) mit dem Titel »The Art of the Theatre«, in dem er mittels eines Dialogs zwischen Regisseur und Theaterbesucher versucht klar zu machen, dass die Kunst des Theaters nicht die Schauspielkunst ist, sondern die integrale Kunst der Inszenierung. Da heisst es gleich am Anfang: Regiseur »… die Kunst des Theaters ist weder die Schauspielkunst noch das Theaterstück, weder die Szenengestaltung noch der Tanz. Sie ist die Gesamtheit der Elemente, aus denen diese einzelnen Bereiche zusammengesetzt sind. Sie besteht aus der Bewegung, die der Geist der Schauspielkunst ist, aus den Worten, die den Körper des Stücks bilden, aus Linie und Farbe, welche die Seele der Szenerie sind, und aus dem Rhythmus, der das Wesen des Tanzes ist.« Theaterbesucher »Bewegung, Wort, Linie, Farbe, Rhythmus! Und welches dieser Elemente ist nun für die Kunst das Allerwichtigste?«

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Regiseur »Eins ist nicht wichtiger als das Andere, ebenso wenig wie für den Maler eine Farbe, für den Musiker eine Note wichtiger ist als die Andere. In gewisser Hinsicht ist vielleicht die Bewegung der wertvollste Bestandteil. …« »Die Kunst des Theaters ist entstanden aus Bewegung: Gebärde und Tanz.« »Der Vater des Dramatikers war der Tänzer. … … der Dramatiker schuf sein erstes Werk aus Bewegung, Wort, Linie, Farbe und Rhythmus, indem er sich in geschickter Verwendung dieser fünf Faktoren an die Augen und Ohren der Zuschauer wandte.« 28 Im Jahr 1911 wird dieser Dialog, mit mehreren seiner weiteren Aufsätze, in »On the Art of the Theatre« publiziert. Im ersten Aufsatz mit dem Titel »Die Künstler des Theaters der Zukunft«, welchen er 1907 in Florenz geschrieben hatte, beschreibt er die unterschiedlichen Disziplinen, die in der Kunst des Theater zusammen kommen müssen. Hier findet sich auch ein Abschnitt »Über Szenengestaltung und Bewegung«, in dem er zeigt, wie man zu so einer poetischen Einheit von »Bewegung, Wort, Linie, Farbe und Rhythmus« gelangt. »… das wertvollste Mittel, das ihnen zur Verfügung steht, ist der mächtige und faszinierende Eindruck, der von der Szenengestaltung und der Bewegung der Figuren ausgeht.« … Es geht darum, so schreibt er weiter, »… einen Raum zu erfinden, der mit den Vorstellungen des Dichters harmoniert.« Er nimmt als Beispiel Macbeth und fragt: »Wie sieht der Schauplatz aus, an dem das Stück spielt? Wie bietet er sich dar, zuerst unserem geistigen, dann unserem leiblichen Auge?« »Ich sehe zweierlei.«, geht er weiter, »Ich sehe einen hohen und steilen Felsen und ich sehe einen feuchten Nebelschwaden, der das Haupt dieses Felsens umhüllt: einen Ort, wo wilde und kriegerische Menschen wohnen; einen Ort, wo Geister und Gespenster hausen; zuletzt wird die Nässe des Nebels den Felsen zerstören, und zuletzt werden die Geister die Menschen vernichtenn. Sie fragen natürlich sofort, wie so etwas denn verwirklicht und dem leiblichen Auge sichtbar gemacht werden soll. Und sofort erwidere ich – dorthin den Felsen! Lassen sie ihn hoch aufsteigen. Und schnell füge ich hinzu, zeichnen sie die Vorstellung eines Nebelschwadens auf, der das Haupt des Felsens umklammert! Nun, bin ich um einen Millimeter von der Vision abgewichen, die ich vor meinem geistigen Auge sah? Aber sie fragen weiter, welche Form und welche Farbe dieser Felsen bekommen soll. Nun, wie sehen sie denn aus, die steilen Linien, die an jeder hohen Klippe zu finden sind? Gehen sie hin und sehen sie sich diese an, aber nur einen Augenblick; nun bringen sie sie schnell auf ihr Papier; die Linien und ihre Richtung, auf keinen Fall die Klippe!« Wir sehen hier, wie es ihm um die Impression geht, den ersten intuitiven Eindruck, und nicht um Natürlichkeit. Er abstrahiert die Imagination und bringt sie auf ihre Essenz zurück. Das Gleiche, wenn es um die Farben geht. »Sie fragen nach den Farben? Welche Farbe gibt Shakespeare uns denn an? Sehen sie nicht erst in die Natur, sehen sie in das Stück des Dichters. Zwei Farben brauchen sie: eine für den Felsen, den Mann; eine für den Nebel, den Geist. Nun schnell, greifen sie zu und nehmen sie meinen Vorschlag an. Berühren sie keine andere Farbe, nur allein diese beiden, während sie alle Szenen und Kostümentwürfe

zeichnen; doch vergessen sie nicht, dass jede dieser Farben viele Nuancen enthält.» Das Resultat ist eine Art atmosphärisch gestimmter Wirkungsraum in dem Form, Körper, Bewegung, Licht, Farbe und Ton eine integrale Einheit bilden. Oder, wie er es selber etwas weiter beschreibt: «Die Linien und die Proportionen haben das Stoffliche der felsartigen Substanz angedeutet; die Farbe (eine Farbe) und ihre verschiedenen Abtönungen haben das ätherische der nebelhaften Leere hinzugegeben.» 29 Craig wurde in seinen Bühnenbildern zum Meister der Suggestion, mit einfachsten Mitteln wusste er poetischen Imaginationen ein atmosphärisch gestimmtes Gesicht zu verleihen, er ‘malte’ so zu sagen mit Licht. Aber dahinter steckt natürlich ein absolut virtuos wahrnehmender Geist, jemand, der imstande ist, diese ‘InstantWahrnehmungen’, die Atmosphären ja eigentlich sind, nicht nur zu deuten, sondern auch wusste, wie man sie in aller Tiefe reproduzieren konnte. In seinen Zeichnungen und Stichen kann man gut sehen, wie er mit Linienführung, einfachster Formandeutung, Licht und Schattenwurf, Räume aufbaut, Materialität andeutet und einen atmosphärischen Eindruck hervorruft. Nimmt man den für ihn so wichtigen Aspekt der ‘Bewegung’, seine Ideen über ‘Rhythmus’ und den Schauspieler als ‘Übermarionette’ noch hinzu, so ist man nicht weit von der späteren Bauhaus-Bühne entfernt. Auch die Mechanik und den fließenden Raum kann man bei ihm (zurück) finden, so hatte er sich in 1910 ein System von scharnierenden Flächen patentieren lassen, mit dem man sehr schnell und leicht Szenen aufbauen und ändern konnte. Durch das bloße Umklappen von zwei dieser Flächen wird zum Beispiel ein Interieur in ein Exterieur verwandelt. Der Blick, der in der ersten Szene noch gefangen ist in einen scheinbaren Innenraum, wird in der zweiten Szene in die Tiefe geführt und scheinbar nach draußen. Stellen sie sich auch vor, was dabei, ohne das es einem bewusst wird, mit dem Maßstab passiert.

Illustration zum Patent von scharnierenden Kulissenflächen von Edward Gordon Craig aus 1910 (Bildnachweis: Christopher Innes: Edward Gordon Craig: A Vision of Theatre, 1998, S. 144-145)

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Zeitlich parallel, aber völlig unabhängig zur Theaterentwicklung in England, hatte der Schweizer Adolphe Appia (1862-1928) eine gleichartige Theorie zur Reformierung des Theaters aufgebaut. Der streng calvinistisch erzogene Appia hatte in Genf, Piano, Musiktheorie und Komposition studiert und schon früh eine große Liebe fürs Theater entwickelt, ohne jedoch jemals eine wirkliche Aufführung gesehen zu haben, dieses wurde ihm nämlich von seinem Vater verboten. Mit 19 Jahren sieht er dann zum ersten mal eine Aufführung – Gounod’s Faust in der Oper von Genf – ist danach aber sehr, sehr enttäuscht über das, was für ihn eigentlich eine perfekte ‘Imagination’ hätte sein müssen. Aufgrund dieses negativen Erlebnisses aber beschließt er, seine Theaterkenntnisse weiter zu vertiefen, er liest viel, besucht Aufführungen und reist durch Europa, um so die Theaterpraxis kennen zu lernen, dies führt ihn u.a. nach Zürich, Braunschweig, Leipzig, Paris, Dresden und Wien. Nachdem er im Jahre 1882, in Bayreuth, eine Aufführung von Richard Wagner’s ‘Parcifal’ gesehen hatte, war er fasziniert von der musikalischen Gesamtkonzeption, die ein derartiges Musikdrama beinhaltete. Das, was ihn aber auch hier wieder maßlos störte, war alles, was mit dem Szenischen zu tun hatte, die trompe l’œil Malerei, das Fußlicht und das räumliche Arrangement auf der Bühne; szenische Elemente, die, seiner Meinung nach, keine integrale Beziehung mit der musikalischen Grundlage eingingen, um so zum Gesamtkunstwerk zu werden. Also setzte er sich im Jahr 1891 daran, eine Theorie zur Inszenierung von Wagner’s Musikdramen auszuarbeiten. Diese Theorie wird er in 1895, in Paris, als eine kleine Schrift unter dem Titel »La mise en scène du drame Wagenérien« publizieren. Darin beschreibt er, wie eigentlich die Musik die ganze Inszenierung bestimmt. Die Musik ist nicht nur die Seele des Dramas, die Musik ist auch das strikte Zeitmaß, die vierte Dimension, die analog, über die choreografische Sequenz der Bewegungen und Gesten der Schauspieler, die Proportion und Disposition des dreidimensionalen szenischen Raums bestimmt. Daneben entwarf er in den Jahren 1891/92 auch noch sämtliche Bühnenbilder für eine Aufführung von Wagner’s ‘Ring des Nibelungen’, diese natürlich in Übereinstimmung mit seinen eigenen Ideen einer anti-realistischen und viel mehr imaginären Szenographie (sowie wir sie 15 Jahre später auch bei Craig wiederfinden). Die Möglichkeiten der neuen elektrischen Lichttechnik, die Craig in 1889 bei Herkomer gesehen hatte, hatte auch Appia in den Jahren 1888/89, während seines Praktikums bei Hugo Bähr in Dresden, erkannt. Dieser Bühnentechniker entwickelte damals Lichtapparate für unterschiedlichste Bühneneffekte. Über die szenische Form und die Wichtigkeit des Lichts, schreibt Appia in 1895, in »La mise en scène du drame Wagenérien«: »… it remains for us to examine the individual elements of theatrical technique; we will then set them into relation with one another, in a way that corresponds to the author’s means of expression. Any set is composed of scene painting, the spatial arrangement (the distribution of scenic elements) and lighting. The spatial arrangement serves as an intermediary between scene painting and lighting; similarly, lighting links the two other expressive means with the actor. Even a newcomer to the decorative arts will understand that scene painting and lighting are two forces that tend to exclude one another; for lighting a painted flat really only means to make

it visible. This obviously has very little to do with the active role of light, or rather nothing at all. The spatial arrangement tends to be in conflict with painting, but can effectively serve the use of light. With regard to the actor, scene painting is entirely subordinated to lighting and the spatial arrangement. Of all the elements of stage presentation, painting is thus the least important, and it is unnecessary to prove here, that (if we exclude the actor for a moment) light is the most important factor.« 30 Vier Jahre später, im Jahr 1899, publizierte er in München sein Hauptwerk, »Die Musik und die Inscenierung«, in dem er sich weiter hauptsächlich auf das »Wort-Ton-Drama« bezog. Darin beschrieb er ausführlicher wie man die Einheit zwischen dramatischer Form und szenischer Form über die Musik herstellen konnte. Für ihn, wie für viele seiner Zeitgenossen, war die Musik, als ungreifbares immaterielles Element, damals der vollkommene Ausdruck für »Seelenbewegungen«. Heutzutage würden wir diese vermutlich mit Emotionen bezeichnen und Appia suchte nach einem Weg, diese mittels seiner neuen Inszenierungstechnik ins OptischSzenographische zu übersetzen. Wie wichtig für ihn dabei das Licht und die Bewegung sind, haben wir schon gesehen, aber wie steht es mit dem dreidimensionalen szenischen Raum? Dazu sagt er: »Um die Musik in den Stand zu setzen, vom Darsteller aus und durch seine Vermittlung die gesamte Aufführung zu durchströmen, muss ein materieller Berührungspunkt zwischen Darsteller und Dekorationsmaterial bestehen. Dieser Berührungspunkt ist die »Praktikabilität«. Unter diesem technischen Namen versteht man alles im unbelebten Bilde, was sich der Verwirklichung durch bloße Malerei entzieht, um in unmittelbare Beziehung zur Person des Darstellers treten zu können.« 31 Was er hier »Praktikabilität« nennt, ist also nichts anderes als die Dispositionierung und Proportionierung des dreidimensionalen Bühnenraums oder besser gesagt, die unterschiedlichen Niveaus des Bühnenbodens, auf den die Bewegungen stattfinden. Selber nennt er diesen Boden vielbedeutend, »das Terrain«: »Im Wort-Tondrama wird das Terrain durch den Darsteller bestimmt, ehe man irgend etwas anderes erwägt. Daher wird man begreifen, dass ich unter »Terrain« oder Boden nicht nur den Teil der Bühne verstehe, welchen der Fuß des Darstellers betritt, sondern auch all das, was in der Zusammensetzung des Bildes mit der körperlichen Gestalt der dramatischen Personen und ihren Bewegungen in Beziehung steht. Da man mit diesem Terrain keine Sinnestäuschung mehr bezweckt, so hat man sich bei dessen Aufbau einzig darum zu bekümmern, dass der durch die Terrainbeschaffenheit hervorgerufene Ausdrucksgehalt der Stellungen und Bewegungen des Darstellers von diesem auch ganz erschöpft werden könne. Freilich bringt erst die Beleuchtung durch ihre Gestaltungskraft eine Stellung wirklich zur Geltung, und dieser Tatsache muss man beim Aufbauen des Terrains Rechnung tragen; d. h. obwohl das Terrain eigentlich bloß vom Darsteller abhängt, kann es immerhin nur im Zusammenhang mit der Beleuchtung behandelt werden. – Und doch: die unendlich willfährige Flüssigkeit des Lichtes lässt eine so unbeschränkte Freiheit in Bezug auf deren technische Verwendung zu, dass man kaum je von dieser Seite durch irgendwelche Ausführungsschwierigkeit behindert sein wird, und so die Anlage des Terrains unbedingt den Forderungen des Darstellers anpassen kann.« 32

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Dieses »Terrain« ist bei Appia immer aus unterschiedlichen Niveaus aufgebaut und es gibt immer einen Vordergrund, einen Mittelgrund und einen Hintergrund. Eigentlich die klassischen Mittel des Malers um in einem zweidimensionalen Bild Tiefe zu generieren. Nur wurden diese »Terrains«, diese ‘Gründe’, bei Appia tatsächlich dreidimensional und verleihen so dem untiefen Raum der Bühne, mit Hilfe des Beleuchtungsapparates, eine wirkliche Tiefe. Ein Effekt der (so Appia) nur noch grösser wurde wenn man den Rahmen des Bildes weg lassen würde, in diesem Falle also das Proscenium der Guckkasten-Bühne. Der Bühnenraum würde so zum integralen Teil des Zuschauerraums werden. Und man wäre als Zuschauer für die Dauer der Aufführung aufgenommen im vierdimensionalen Wirkungsraum des Theaters. Seinem Traum, ein derartiges Theater realisieren zu können, kam er dann ab 1909 immer näher. Im Jahr 1906 hatte Adolphe Appia nämlich, bei einer Vorführung der rhythmischen Gymnastik, dessen Begründer Émile Jaques-Dalcroze (1865-1950), kennen gelernt. Nach der Vorführung schreibt Appia dem Genfer Musiker begeistert einen Brief mit der Mitteilung, dass er mit der Dalcroze-Methode die Lösung für ein Problem gefunden habe, welches ihn schon lange beschäftigte, nämlich die »Veräußerlichung der Musik durch den menschlichen Körper«. In seinem Antwortbrief schreibt ihm Dalcroze darauf zurück und erläutert um was es ihm geht: »… dem Körper seine Eurhythmie zurückgeben, die Musik in ihm zum Vibrieren bringen, die Musik zu einem integralen Bestandteil des Organismus machen, durch das Spiel auf der wunderbaren Klaviatur des Muskel- und Nervensystems einen Gedanken räumlich und zeitlich zu plastischem Ausdruck bringen.« 33 Daraufhin entsteht eine enge intellektuelle Zusammenarbeit zwischen den beiden und Appia fängt auch selber an, rhythmisch gymnastische Übungen zu machen. Bis dahin wurden diese Übungen immer auf einem flachen Boden ausgeführt, aber Appia wusste Dalcroze davon zu überzeugen, dass es auch ‘Böden’, oder besser in seinem Vokabular, »Terrains« gibt, die bewusst auf diese rhythmischen Übungen abgestimmt sind. Um dies Dalcroze zu zeigen, fängt Appia in 1909 und 1910 an, eine ganze Reihe von so genannten »Espaces rythmiques« zu entwerfen. Dalcroze ist von diesen Bühnenbildern beeindruckt, und fängt bei seinen Übungen an, mit unterschiedlichen Ebenen zu arbeiten. Es ist die Periode, in der beide davon träumen, über einen eigens für die rhythmische Gymnastik konzipierten Raum zu verfügen, in dem sie experimentieren können. Ihre Chance kommt im Jahr 1909, als Dalcroze, anlässlich einer Vorführung rhythmischer Gymnastik in Dresden, Wolf Dorn, den ersten Geschäftsführers des Deutschen Werkbundes, trifft. Am Tag danach schlagen Dorn und Karl Schmidt, Dalcroze vor, sein Institut von Genf in die neue Gartenstadt Hellerau zu verlegen, wo er dann über ein eigens für seine Methode gebautes Institutsgebäude verfügen könne. Etwas später wird Appia informiert und ab etwa Mitte 1910 ist die Umsetzung der Idee dann zum Greifen nah. Der noch junge Architekt Heinrich Tessenow kann mit dem Entwurf der neuen »Bildungsanstalt« anfangen. Jedoch wird erst Anfang 1911 der Grundstein gelegt und der Traum des eigens für (und von) Dalcroze und Appia konzipierten Raumes für die rhythmische Gymnastik entsteht.

Zentraler Saal der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze in Hellerau. Oben Bühnenraum. Unten Zuschauerraum (Bildnachweis: Nina Sonntag; Raumtheater, Adolph Appias theaterästhetische Konzeption in Hellerau, Klartext, Essen, S. 51)

Der zentrale Saal der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze ist ein einfaches kubisches Raumvolumen, 49 m tief, 16 m weit und 12 m hoch. Das (nördliche) Kopfende dieses Raumes kann man als den quadratischen Bühnenraum von 16x16 Metern bezeichnen, optisch ist dieser nur durch einen (uneinsehbaren) Orchestergraben vom Zuschauerraum getrennt. Dieser Orchestergraben konnte, wenn er nicht benutzt wurde, mit einsetzbaren Bodenplatten abgedeckt werden. Die Sitzreihen für die Zuschauer konnten, mittels eines modularen Systems von »Praktikabeln«, auf unterschiedlichste Arten auf- und umgebaut werden, von einem flachen Saal bis hin zu einer gestuften Reihung als Tribüne, die bis über die Eingangshalle reichte. Auf diese Weise hatte Appia also sein »Terrain«, sprich die »Praktikabeln« der Bühne, durch den ganzen Raum hindurch gezogen. Den Rest der raumdefinierenden Flächen, die vier Wände und auch die Decke, wurden von langen Bahnen aus weißem Tuch gebildet. Diese verbargen ein, von Alexander von Salzmann zusammen mit Appia ausgedachtes, Beleuchtungssystem, welches wie eine Art Leuchtorgel stufenlos und in Segmenten regelbar war (ein System das Von Salzmann sich im Jahr 1910 patentieren lies).

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Hinter einer Schicht von textilen Bahnen, die etwa einen Meter von der Wand aufgespannt sind (bestehend aus zwei Lagen gewachstem weißen Leinentuch von etwa einem Meter Breite), gibt es zwischen den Pfeilern des großen Saales und seiner Decke, eine Art Gerüst mit gut dreitausend regelbaren Glühbirnen. Mit dieser Lichtsteuerung konnten Appia und Salzmann nicht nur ein immaterielles und diffuses Licht im ganzen Saal produzieren, sie konnten, mittels der unabhängig regelbaren Helligkeit der Glühbirnen, auch ganz unterschiedliche Atmosphären (von ganz hell bis ganz dunkel) über Teile der Wände und der Decke, und so an jeder Stelle des Saales hervorrufen. Der russische Maler und Bühnengestalter Alexander von Salzmann war übrigens auch der Entwerfer des modularen Systems der so genannten »Praktikabeln«, mit denen man sowohl die Bühne, als auch den Zuschauerraum schnell auf- und umbauen konnte.

unserem Wahrnehmungsvermögen und unserem Vorstellungsvermögen. Und dieses sinnlich / leibliche Stimmen des Raumes und der Zeit, geschieht natürlich nicht nur im Theater mittels Licht, Farbe, Musik und Rhythmus. Und nicht nur das Auge und das Ohr sind beim Stimmen beteiligt, sondern natürlich auch die anderen Sinne, wie der Geruchssinn, Tastsinn, Geschmackssinn und unser Gleichgewichtssinn, wenn es darum geht, eine »Atmosphäre» aufzubauen. Die moderne Physiologie geht sogar davon aus, dass wir, neben den üblichen 5 Sinnen und dem Gleichgewichtssinn (Vestibular-Sinn), auch noch einen Temperatursinn (Thermorezeption), eine Schmerzempfindung (Nozizeption) und Körperempfindung oder Tiefensensibilität (Propriozeption) besitzen. In dieser Körperempfindung (Propriozeption) unterscheidet man wieder den Bewegungssinn (Kinästhesie) zusammen mit dem Lagesinn und Kraftsinn.

Wie wir, nach diesem etwas langen Exkurs, sehen können, war es nicht erst die Bauhaus-Bühne die den »Wirkungsraum«, als atmosphärisches Bühnen-Erlebnis sein ursprüngliches Gesicht gegeben hat, es waren Pioniere wie Herkomer, Craig, Dalcroze und Appia. In dem Sinne ist es interessant, dass man im Bauhaus selber, die Vor-Bauhaus-Phase der Bildungsanstalt in Hellerau, irgendwie verdrängt hat. Bedenken sie dabei, dass zum Beispiel Ada Bruhn, die Verlobte und spätere Ehefrau von Mies van der Rohe, von etwa 1911 bis 1913 bei Dalcroze Rhythmische Gymnastik studierte und in Hellerau wohnte. Und das ebenfalls der Bruder von Le Corbusier, Albert Jeanneret (1886-1973), bei Dalcroze studierte und ihm im Jahr 1910 von Genf nach Hellerau gefolgt war. Albert wohnte sogar einige Zeit in dem Haus, das Tessenow für Salzmann gebaut hatte. Le Corbusier besuchte seinen Bruder mehrmals in Hellerau, so in den Jahren 1910 und 1911 und traf dort auch Dalcroze. Nicht sicher ist, ob Le Corbusier 1913 Adolphe Appia in Hellerau getroffen hat, sicher ist aber, dass er mit dessen Neffen, Théodore Appia, befreundet war. 34

Wir könnten jetzt dieses in Klammern gesetzte ‘noch’ eigentlich eliminieren, denn wir wissen ja, dass diese »Prinzipien des sinnlich / leiblich Gespürten« noch immer in der Architektur existieren, auch nach der Moderne. Wenn wir jetzt die Frage stellen »Gibt es Prinzipien des sinnlich / leiblich Gespürten in der Architektur?«, so müssten wir antworten: ja. Gernot Böhme spricht in seinem Buch »Atmosphäre, Essays zur neuen Ästhetik«, unter »Sinnlicher Wahrnehmung«, sogar über folgendes: »Gegenüber dem traditionellen Begriff von Sinnlichkeit als Konstatieren von Daten ist in die volle Sinnlichkeit das Affektive, die Emotionalität und das Imaginative aufzunehmen. Das primäre Thema von Sinnlichkeit sind nicht die Dinge, die man wahrnimmt, sondern das, was man empfindet: die Atmosphären. Wenn ich in einen Raum hineintrete, dann werde ich in irgendeiner Weise durch diesen Raum gestimmt. Seine Atmosphäre ist für mein Befinden entscheidend.« 35 Für ihn ist Raum aber nicht gleich Raum, sowie er in seinem Buch ‚Architektur und Atmosphäre’ beschreibt: »Das europäische Denken über den Raum kennt im Wesentlichen zwei Traditionen. Die eine geht auf AristoteIes zurück, danach wird Raum als Topos gedacht, als Ort. Mathematisch gesehen ist die Topologie die Lehre von Lage- und Zwischenbeziehungen und von Umgebungen. Die Topologie kennt keine Metrik. Das andere Raumkonzept ist der Raum als Spatium, als Distanz und Abstand. Es geht auf Descartes zurück. Mathematisch gesehen ist dieser Raum wesentlich durch eine Metrik bestimmt, d. h. dadurch, dass die Raumbeziehungen quantitativ erfasst werden können. Beiden Raumkonzepten ist gemeinsam, dass es sich um Räume handelt, in denen sich Körper befinden und die in Bezug auf Körper gedacht werden. Von diesen Raumkonzepten ist zu unterscheiden der Raum leiblicher Anwesenheit. Dies ist der Raum, den wir durch unsere leibliche Anwesenheit erfahren, also der Raum, den wir leiblich oder am eigenen Leibe spüren. Dieser Raum ist wesentlich durch Enge und Weite konstituiert. Er ist im Gegensatz zu den beiden genannten mathematischen Raumtypen – ein nicht homogener und anisotroper Raum, d. h. er ist zentriert: nämlich bestimmt durch das absolute Hier, an dem ich mich befinde, und er kennt ausgezeichnete Richtungen.« 36

Dieser längere Exkurs war nötig, um eine Anzahl von Begriffen herauszuarbeiten, mit denen wir möglicherweise unsere anfängliche Frage nach dem »ästhetischen Kanon der Moderne« beantworten können. Zunächst hatten wir diese große Frage etwas handhabbarer gemacht und übersetzt mit »Gibt es (noch) Prinzipien des sinnlich / leiblich Gespürten in der Architektur der Moderne». Und wir haben gesehen, dass in der frühen Moderne eine Anzahl von Begriffen entstanden ist, die sich alle auf das sinnlich / leiblich Gespürte beziehen. Da sind erst einmal der Raum und das Material als plastischer Körper, aus denen der Begriff der Form entsteht. Form also als das, was den Raum und den Körper beschreibt. Unter dem Einfluss der Zeit kommt dann die Bewegung hinzu, und Raum und Körper fangen an, sich als Formen gegenseitig zu durchdringen. Wir erhalten nicht nur den ‘fließenden Raum’ mit seinen Bewegungssuggestionen, sondern auch den Rhythmus und ein sich gegenseitiges Durchdringen von Rhythmen. Weiter haben wir aber auch gesehen, dass es beim Einfluss der Zeitlichkeit, nicht nur um die äußere motorische Bewegung geht; die innere-, die seelische Bewegung oder Emotion, spielt auch eine sehr wichtige Rolle beim eurythmischen Stimmen des zeit-räumlichen Ganzen. Bei diesem Stimmen des Raumes in der Zeit, ist die Erfahrung in seiner doppelten Bedeutung aktiv, es geht beim sinnlich / leiblichen Stimmen nämlich um eine Simultanität von

Um zu verstehen, was er hier mit »anisotroper Raum« meint, muss man sich Semper’s »drei Dimensionen der räumlichen Ausdehnung, Höhe, Breite und Tiefe«, und dessen Achsen, wieder vorstellen. Aber so, wie wir diese Richtungen und Dimensionen, in Wirklichkeit wahrnehmen. Stellen sie sich eine, beidseitig durch Fassaden eingefasste, Straße vor, die 100 Meter tief ist. Und dann eine, die 110 Meter tief ist, den Unterschied würde man vielleicht gerade noch sehen. Also könnte man sagen, dass unsere Maßstabseinheit für Tiefe etwa 10 Meter ist. Jetzt nehmen wir die Breite, oder besser, die Weite dieser Straße und stellen uns diese mit einem Maß von 10 Metern vor. Und dann mit 11 Metern, auch diesen Unterschied würde man vielleicht gerade noch wahrnehmen können. Also wäre unsere Maßstabseinheit für Weite etwa 1 Meter. Stellen wir uns jetzt die Bordsteinkante mit einer Höhe von 10 Zentimetern vor. Und dann mit einer Höhe von 11 Zentimetern, so wäre unsere Maßstabseinheit für Höhe in diesem Fall 1 Zentimeter.

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Dieses letzte Beispiel der Bordsteinkante ist natürlich ein wenig gemogelt, denn dieser kaum noch wahrnehmbare Zentimeter hat nichts mehr mit unserem leiblichen Bezug zum Raum zu tun. Aber sehen sie sich diese Treppe (des Hauses von Malaparte) von unten an. Und dann von oben (der Effekt wird durch die Keilform noch perspektivisch verstärkt). Wir wissen alle, dass die 117 Meter, die man von unten nach oben auf den Gasometer in Oberhausen schaut, nicht die gleichen 117 Meter sind, die man von oben nach unten in die Tiefe schaut. Der architektonische Raum leiblicher Anwesenheit hat also, in unserer Wahrnehmung, unterschiedliche Eigenschaften in unterschiedliche Richtungen. »Was ist nun der Raum als Raum leiblicher Anwesenheit?«; fragt sich Böhme an anderer Stelle und gibt dann selber die Antwort: »Das Stichwort ist schon gefallen: Atmosphäre. Ich bevorzuge den Ausdruck Atmosphäre gegenüber dem Ausdruck gestimmter Raum, weil letzterer suggeriert, der Raum sei als solcher vorauszusetzen und erhalte dann noch, als eine Art Tönung,

Treppe der Casa Malaparte auf Capri. Links, die Treppe von unten gesehen. Rechts, die gleiche Treppe von oben gesehen. (Fotos: Wim van den Bergh)

die Stimmung. Faktisch ist, …, der Raum der leiblichen Anwesenheit die Atmosphäre, in die man eintritt, bzw. in der man sich befindet. Der Grund ist in der Art der Erfahrung zu suchen. Diese Erfahrung ist das leibliche Spüren. Und in diesem Spüren wird jener Raum aufgespannt, den wir den leiblichen Raum – im Gegensatz zum körperlichen – nennen. Wir spüren Weite oder Enge, wir spüren Erhebung oder Gedrücktsein, wir spüren Nähe und Ferne, wir spüren Offenheit oder Eingeschlossenheit, wir spüren Bewegungssuggestionen. Wir haben damit einige Grundbestimmungen des leiblichen Raumes, wie er im Spüren gegeben ist, genannt.« 37 Und oben sagt er noch: »Der zentrale Begriff, von dem her das Phänomen leiblicher Anwesenheit beschrieben werden muss, ist der Begriff der Befindlichkeit. Wir haben das außerordentliche Glück, dass der deutsche Ausdruck ‚sich befinden’ eine Doppeldeutigkeit enthält, die dem Phänomen leiblicher Anwesenheit im Raume aufs Beste entspricht. Sich befinden heißt einerseits, sich in einem Raume befinden und heißt andererseits, sich so und so fühlen, so und so gestimmt sein. Beides hängt zusammen und ist in gewisser Weise eins: In meinem Befinden spüre ich, in was für einem Raume ich mich befinde.« 38 Nachdem jetzt Böhme die »Atmosphäre« und die »Befindlichkeit« identifiziert hat, könnte man auch die Frage stellen ob »Atmosphäre«, als »Raum leiblicher Anwesenheit», vergleichbar ist mit Hildebrand’s konvexer »Wirkungsform«, oder dem konkaven »Wirkungsraum« bei Sörgel? Beide machen einen Unterschied zwischen »Daseins-Form / Raum« und »Wirkungs-Form / Raum«, was bedeutet, dass sie damit einen Unterschied machen zwischen einer Art Objektivierung des Gegenstandes und einer Art subjektiven Wahrnehmung, also einer leiblichen Anwesenheit. Schauen wir uns nochmals an, was Hildebrand, im Jahr 1893, über das Wahrnehmen eines Gegenstandes in der Zeit schrieb, also der Bewegung auf ihn hin und um ihn herum: »Indem wir Bewegungsvorstellungen und die damit verbundenen Begrenzungslinien entwickeln, gelangen wir dazu, den Dingen eine Form zuzuschreiben, die unabhängig vom Wechsel der Erscheinung ist.« Man scannt den Gegenstand gewissermaßen von außen, durch sich um ihn herum zu bewegen, und abstrahiert den Gegenstand in einer Art 3D-Liniengerüst, der Form. »Wir erkennen sie [die Form] als denjenigen Faktor der Erscheinung, welcher vom Gegenstand allein abhängt. Wir können diese, teils direkt durch Bewegung gewonnene, teils aus der Erscheinung abstrahierte Form, die Daseinsform des Gegenstandes nennen. Der Formeindruck jedoch, den wir aus der jeweilig gegebenen Erscheinung gewinnen, und der in ihr als Ausdruck der Daseinsform enthalten ist, ist stets das gemeinschaftliche Product des Gegenstandes auf der einen Seite, der Beleuchtung [das Licht], der Umgebung [den Raum] und des wechselnden Standpunktes [die Bewegung des Wahrnehmenden in der Zeit] auf der andern Seite und steht deshalb der abstrahierten, vom Wechsel unabhängigen Daseinsform als eine Wirkungsform gegenüber.« 39

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Die Form ‘wirkt’ (nach Hildebrand) gewissermaßen in die Umgebung hinein, erfüllt den Raum um sich herum mit Spannungen und Bewegungssuggestionen, etwas, das Böhme zu fassen versucht mit dem Begriff der »Ekstase«. Analog dazu würde der »Wirkungsraum« gewissermaßen nach innen hinein strahlen und ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestionen erfüllen. Anderenorts spricht Böhme über diese »Ekstasen der Dinge» und schreibt: »Es gilt aber auch, die so genannt primären Qualitäten, nämlich etwa Ausdehnung und Form, als Ekstasen zu denken. In der klassischen Dingontologie wird die Form eines Dinges als etwas Abgrenzendes und Einschließendes gedacht, nämlich dasjenige, was das Volumen des Dinges nach innen einschließt und nach außen abgrenzt. Die Form eines Dinges wirkt aber auch nach außen. Sie strahlt gewissermaßen in die Umgebung hinein, nimmt dem Raum um das Ding seine Homogenität, erfüllt ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestionen. Ebenso die Ausdehnung oder das Volumen eines Dinges.« Dies ist also genau das, über das auch Hildebrand spricht. Und er sagt weiter: »Die Ausdehnung eines Dinges und sein Volumen sind aber auch nach außen hin spürbar, geben dem Raum seiner Anwesenheit Gewicht und Orientierung.« … »Auf der Basis der so veränderten Dingontologie ist es möglich, die Atmosphären sinnvoll zu denken. Sie sind Räume, insofern sie durch die Anwesenheit von Dingen, von Menschen oder Umgebungskonstellationen, d.h. durch deren Ekstasen, »tingiert« sind. Sie sind selbst Sphären der Anwesenheit von etwas, ihre Wirklichkeit im Raume.« … »Die Atmosphären sind so konzipiert weder als etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, die die Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding gehöriges, insofern nämlich die Dinge durch ihre Eigenschaften – als Ekstasen gedacht – die Sphären ihrer Anwesenheit artikulieren. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives, etwa Bestimmungen eines Seelenzustandes.« 40

zweidimensionalen grafischen Darstellung des zu bauenden Gebäudes, das Planen beinhaltet implizit auch immer den Faktor Zeit, als solches ist Planen das Vor-Denken des Raums und der Funktionen, sprich der Bewegungen, die darin stattfinden sollen, und das Vor-Denken des Konstruierens und Bauens des Gebäudes als das Konglomerat dieser Funktionsräume. Und dabei bleibt der Raum, »als Raum leiblicher Anwesenheit«, sprich ‘venustas’ oder »Atmosphäre«, im Entwurfsprozess meistens auf der Strecke. Es gibt aber einige, die in ihrer Architektur versucht haben (oder noch immer versuchen), gerade im Entwurfsprozess auf diesen Raum «als Raum leiblicher Anwesenheit» großen Wert zu legen. Ich möchte hier eigentlich nur einen nennen, der seine Architektur nicht mehr wirklich plante, sondern eigentlich in seiner leiblichen Anwesenheit Regie führte über den Raum, oder besser über die Sequenz der Atmosphären, die er in seinen Entwürfen zu realisieren wusste. Derjenige, den ich hier nennen möchte, ist Luis Barragán, welcher einfach durch die Tatsache, dass die meisten Bauarbeiter in Mexico keine Zeichnung lesen konnten, gezwungen wurde, in seiner leiblichen Anwesenheit bei der Errichtung seiner Raumsequenzen Regie zu führen. Barragán plante nicht, er inszenierte, er führte Regie im Raum, »als Raum leiblicher Anwesenheit«, und er setzte die Prinzipien des ‘sinnlich / leiblich Gespürten’ ein, um »Atmosphären« hervor zu bringen. Und dies machte er im Grunde mit den billigsten ‘Materialien’, die jedem Architekten zu Verfügung stehen. Dies sind Raum, Licht und Bewegung (sprich Zeit). Billig sind diese ‘Materialien’, weil sie immateriell sind. Teuer (in Relation dazu) ist nur das Material, welches man benötigt, um den Raum zu definieren und das Licht sichtbar zu machen und natürlich auch das Territorium (das Grundstück), über das man sich fortbewegt und auf dem man die Raumsequenz (von Innen- und Aussenräume) errichtet.

Zuletzt könnte man nun die Frage stellen was bedeutet dies jetzt für die Architektur? Ich zitiere zum letzten mal Böhme: »Zusammenfassend können wir also sagen: Die Architektur hat traditionell den Raum von der Geometrie her verstanden und den Menschen darin als Körper berücksichtigt. Es kommt heute darauf an, dem Gegenüber den Standpunkt des erfahrenden Subjektes stark zu machen und zur Geltung zu bringen, was es heißt, leiblich in Räumen anwesend zu sein. Dieser Gesichtspunkt wird der Architektur eine neue Ebene von Gestaltungsmöglichkeiten eröffnen. Jedoch sollte man weder die eine, noch die andere Seite verabsolutieren. Die Wahrheit liegt vielmehr im Spiel zwischen beidem, zwischen Leib und Körper, zwischen Befindlichkeit und Tätigkeit, zwischen Wirklichkeit und Realität.« 41 Aber für das architektonische Entwerfen bedeutet dieses: »… den Standpunkt des erfahrenden Subjektes stark zu machen, und zur Geltung zu bringen, was es heißt, leiblich in Räumen anwesend zu sein», auch, dass wir den Entwurfsprozess zum Teil ändern müssen. Heutzutage ist das Entwerfen hauptsächlich eine Form des Planens der ‘utilitas’ und der ‘firmitas’ eines Gebäudes, also der Funktionalität und der Konstruktion. Der Begriff des Planens beinhaltet nicht nur das Anfertigen einer

Luis Barragán, Casa Gilardi, 1976 Luis Barragán, Casa Gilardi, 1976 (Bildnachweis: Foto: Kim Zwarts)

(Bildnachweis: Adolphe Appia, 1909-1910, Espace rythmique III. Escalier en face. Aus: Adolph Appia, ou le renouveau de l’esthétique théâtrale, Éditions Payot Lausanne, 1992)

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1 Siehe dazu: Böhme, Gernot: »Aisthetic, Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre«, München 2001, S. 1-16. 2 Böhme, Gernot: »Aisthetic, Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre«, München 2001, S. 13. 3 Böhme, Gernot; »Atmosphären, Essays zur neuen Ästhetik«, Berlin, 2013, S. 10. 4 Semper, Gottfried; »Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik«, Frankfurt a M., 1860, Prolegomena S. XXIV. 5 Semper, Gottfried; »Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik«, Frankfurt a M., 1860, Prolegomena S. XXXVII. 6 Vischer, Robert; »Ueber das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Aesthetik.«, Leipzig, 1873, S. VII. 7 Vischer, Robert; »Ueber das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Aesthetik.«, Leipzig, 1873, S. 20. 8 Vischer, Robert; »Ueber das optische Formgefühl. Ein Beitrag zur Aesthetik.«, Leipzig, 1873, S. 21. 9 Wölfflin, Heinrich; »Renaissance und Barock«, München, 1888, S. 63. 10 Lipps, Theodor; »Ästhetische Faktoren der Raumanschauung«, Leipzig, 1891. 11 Hildebrand, Adolf; »Das Problem der Form in der Bildenden Kunst«, Strassburg, 1893, S. 3-4. 12 Hildebrand, Adolf; »Das Problem der Form in der Bildenden Kunst«, Strassburg, 1893, S. 10. 13 Schmarsow, August; »Das Wesen der Architektonischen Schöpfung», Leipzig 1893, publiziert 1894, S. 11. 14 Semper, Gottfried; »Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Aesthetik«, Frankfurt a M., 1860, Prolegomena S. XXIV. 15 Schmarsow, August; »Raumgestaltung als Wesen der Architektonischen Schöpfung«, Leipzig, 1914, S. 80. 16 Schmarsow, August; »Raumgestaltung als Wesen der Architektonischen Schöpfung«, Leipzig, 1914, S. 84. 17 Brinckmann, Albert Erich; »Baukunst des 17. und 18. Jahrhunderts in den Romanischen Ländern«, Berlin, 1915, S. 1-2. 18 Hildebrand, Adolf; »Das Problem der Form in der Bildenden Kunst«, Strassburg, 1893, S. 19-20. 19 Böhme, Gernot: »Aisthetic, Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre«, München 2001, S. 57. 20 Böhme, Gernot: »Aisthetic, Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre«, München 2001, S. 131-143. 21 Sörgel, Hermann; »Einführung in die Architektur-Ästhetik«, München, 1918, S. 134. 22 Hans M. Wingler; »The Bauhaus«, Cambridge, 1980, S. VI. 23 Hans M. Wingler; »The Bauhaus«, Cambridge, 1980, S. 52. 24 Hans M. Wingler; »The Bauhaus«, Cambridge, 1980, S. 58. 25 Herkomer, Hubert; »My School and My Gospel«, New York, 1908, S. 139. 26 Herkomer, Hubert; »My School and My Gospel«, New York, 1908, S. 151. 27 Siehe dazu: Innes, Christopher; »Edward Gordon Craig: A Vision of Theatre«, Amsterdam, 1998. S. 32-34. 28 Craig, Edward Gordon; »Über die Kunst des Theaters«, Berlin, 1969, S. 101-102. 29 Craig, Edward Gordon; »Über die Kunst des Theaters«, Berlin, 1969, S. 28-31. 30 Loeffler, Peter; »Adolphe Appia, Staging Wagnerian Drama«, Zürich, 1982, S. 49-50. 31 Appia, Adolphe; »Die Musik und die Inscenierung«, München, 1899, S. 21. 32 Appia, Adolphe; »Die Musik und die Inscenierung«, München, 1899, S. 71-72. 33 de Michelis, Marco; »Heinrich Tessenow 1876-1950, Das Architektonische Gesamtwerk«, Stuttgart, 1991, S. 19. 34 Siehe dazu: de Michelis, Marco; »Heinrich Tessenow 1876-1950, Das Architektonische Gesamtwerk«, Stuttgart, 1991. 35 Böhme, Gernot; »Atmosphären, Essays zur neuen Ästhetik«, Berlin, 2013, S. 15. 36 Böhme, Gernot; »Architektur und Atmosphäre«, München, 2006, S. 88. 37 Böhme, Gernot; »Architektur und Atmosphäre«, München, 2006, S. 122. 38 Böhme, Gernot; »Architektur und Atmosphäre«, München, 2006, S. 122. 39 Hildebrand, Adolf; »Das Problem der Form in der Bildenden Kunst«, Strassburg, 1893, S. 19-20. 40 Böhme, Gernot; »Atmosphären, Essays zur neuen Ästhetik«, Berlin, 2013, S. 33. 41 Böhme, Gernot; »Atmosphären, Essays zur neuen Ästhetik«, Berlin, 2013, S. 126.