Gezügeltes Essverhalten und Einstellungen zu Ernährung und Gewicht bei Jugendlichen

wissenschaft & forschung | Essverhalten Gezügeltes Essen bzw. wiederholtes Diäthalten sind bereits im Kindes- und Jugendalter häufige Phänomene. Die ...
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wissenschaft & forschung | Essverhalten

Gezügeltes Essen bzw. wiederholtes Diäthalten sind bereits im Kindes- und Jugendalter häufige Phänomene. Die Erfassung dieser Verhaltensweisen in prospektiven Studien ermöglicht die Bearbeitung von Fragestellungen in den Bereichen Übergewicht oder Ernährungsverhalten ebenso wie auf dem Gebiet der Erhebung und Interpretation von Ernährungsdaten. Im Rahmen einer ersten Querschnittsanalyse wurden daher die Aspekte gezügeltes Essverhalten sowie Einstellungen zu Ernährung und Gewicht bei 11- bis 17-jährigen Teilnehmern der DONALD Studie erhoben.

Gezügeltes Essverhalten und Einstellungen zu Ernährung und Gewicht bei Jugendlichen Ergebnisse der DONALD Studie Hintergrund Glossar: Geschlechtsstratifiziert = Stratifizieren ist die Unterteilung einer Studiengruppe in bzgl. ein oder mehrere Merkmale (hier: Geschlecht) homogene Teilgruppen Kategorische Variablen = Merkmale mit Eigenschaften, die sich mit ja/nein oder nach Klassen (zu niedrig, zu hoch, aber auch ein, zwei, drei – ohne Zwischenwerte) beschreiben lassen Kontinuierliche Variablen = Merkmale mit Eigenschaften, die sich Maßzahl bzw. Maßzahl + Einheit (z.B. Gewicht, BMI) und beliebigen Zwischenwerten beschreiben lassen

Als gezügeltes Essverhalten („Dietary Restraint“, „Restrained Eating“) wird die Tendenz bezeichnet, die Nahrungsaufnahme einzuschränken, um an Gewicht abzunehmen bzw. nicht zuzunehmen. Gezügeltes Essverhalten bedeutet zunächst nicht, dass die kognitive Absicht auch in die Tat umgesetzt wird. Da jedoch wiederholte oder alltägliche Diäten häufiger Ausdruck des Phänomens sind, werden die Begriffe „gezügeltes Essverhalten“ und „Diäthalten“ oftmals synonym verwendet [1]. Die Erfassung von gezügeltem Essverhalten bietet sich für Studien, z. B. im Bereich der Ernährungsepidemiologie, aus mehreren Gründen an. Zum einen ist Zügelung des Essens bzw. ständiges Diäthalten ein möglicher Risikofaktor für Fehl- oder Mangelernährung, was sich insbesondere in der Entwicklungsphase negativ auswirken kann. So konnte gezeigt werden, dass 16- bis 17jährige Mädchen, die zum Befragungszeitpunkt Diät hielten, zweimal häufiger

nicht die Referenzwerte für Folat, Zink, Thiamin, Riboflavin und Eisen erreichten als Mädchen ohne Diätverhalten [2]. Zum anderen ist gezügeltes Essverhalten wiederholt mit verschiedenen Formen von Essstörungen in Zusammenhang gebracht worden [1, 3, 4]. Dies erscheint angesichts der aktuellen Daten des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys KiGGS besonders interessant, nach denen 15 % der deutschen Kinder übergewichtig sind und zudem fast 22 % der Jugendlichen Symptome einer Essstörung aufweisen [5]. Auch aus methodischer Sicht ist die Erfassung von gezügeltem Essverhalten erstrebenswert, indem sie die Betrachtung eines zusätzlichen Aspekts bei Fragen der Validität von Ernährungsdaten bzw. des Underreportings ermöglicht. Ziel dieses Projektes war es daher, im Rahmen der DONALD Studie erstmalig das Phänomen des gezügelten Essverhaltens sowie verwandter Einstellungen und Verhaltensweisen zu untersuchen.

Methoden Studienpopulation

1

Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund (FKE), Institut an der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn; 2Fachhochschule Münster, Fachbereich Oecotrophologie; 3Hochschule Fulda, Fachbereich Oecotrophologie

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Die DONALD Studie (DOrtmund Nutritional and Anthropometric Longitu-

Dipl. oec. troph. Anke L. B. Günther Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund (FKE) Heinstück 11 44225 Dortmund Tel.: 0231 792210-0 [email protected] Sally-Kristin Meerkamm1,2 und Anja Kroke3

80 p*=0,08

p*=0,01

70

Prozent

60 50 40 30 20 10

Abb. 1: Anteil Jugendlicher mit stark gezügeltem Essverhalten nach Altersgruppen. DONALD Studie, n=135

dinally Designed Study) ist eine offene Kohortenstudie, die 1985 am Forschungsinstitut für Kinderernährung Dortmund (FKE) begonnen wurde und in die jährlich etwa 40 Säuglinge neu aufgenommen werden. Bei den Teilnehmern werden vom Säuglings- (3–6 Monate) bis ins junge Erwachsenenalter (25 Jahre) in regelmäßigen Abständen umfangreiche Daten zu Ernährungsverhalten, Wachstum, Entwicklung, Stoffwechsel und Gesundheitsstatus erhoben. Die Erfassung anthropometrischer Daten erfolgt nach standardisierten Prozeduren durch geschultes Personal, wobei die Kinder nur in Unterwäsche gekleidet sind. Das Ernährungsverhalten wird mittels 3-Tage-Wiegeprotokollen erhoben. Dazu werden die Kinder bzw. deren Eltern gebeten, alle Speisen, Zutaten und Getränke sowie eventuelle Reste an drei aufeinanderfolgenden Tagen auf 1 g genau zu wiegen und Rezepte oder Lebensmittelverpackungen zur Verfügung zu stellen. Schätzungen in haushaltsüblichen Mengen sind in Ausnahmen (z. B. Außer-Haus-Verzehr) möglich. Die Auswertung der Protokolle erfolgt mit Hilfe der institutseigenen Nährstoffdatenbank LEBTAB [6], die kontinuierlich aktualisiert wird. Alle Untersuchungen und Messungen werden mit Einverständnis der Eltern und später unter Einwilligung der Teilnehmer selbst durchgeführt und die DONALD Studie wurde von der Ethikkommission der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn bewilligt. Weitere Details zum Studi-

0 11–13 J *X2-Test

14–17 J

Jungen

endesign und den Erhebungsmethoden sind der Publikation von KROKE et al. [7] zu entnehmen. Die für die vorliegende Querschnittsauswertung relevanten Aspekte wurden von August 2005 bis Januar 2006 bei allen Teilnehmern der DONALD Studie im Alter von 11 bis 17 Jahren erhoben, die zu dieser Zeit einen Untersuchungstermin im Studienzentrum wahrnahmen. Das vorgestellte Subkollektiv umfasste daher 135 Jugendliche (69 Jungen, 66 Mädchen); Ernährungsinformationen lagen für 82 Teilnehmer (38 Jungen, 44 Mädchen) vor.

Erfassung von gezügeltem Essverhalten sowie verwandter Aspekte Die Erhebung von gezügeltem Essverhalten erfolgte mit Hilfe der „Restraint“-Skala des Dutch Eating Behavior Questionnaires für Kinder (DEBQ-K), der sich als zuverlässiges, stabiles und valides Instrument erwiesen hat und eine hohe internationale Akzeptanz aufweist [8, 9]. Die Skala umfasst 10 Items mit jeweils 4 Antwortmöglichkeiten zum Grad der Übereinstimmung, für die Punkte im Wert von 0 („nie“) bis 3 („oft“) vergeben wurden. Zu Auswertungszwecken erfolgte anschließend die Aufaddierung zu einem Score, welcher dementsprechend Werte zwischen 0 und 30 annehmen konnte [8]. Als weitere, im Zusammenhang mit gezügeltem Essverhalten zu sehende Einstellungen wurden die Skala „Angst vor Gewichtszunahme“ des Inventars zum Essverhalten und

11–13 J

14–17 J

Mädchen

Gewichtsproblemen für Kinder (IEGKind) mit 3 Items [10] sowie eine Frage zur Einschätzung des eigenen Körpergewichts (5 Antwortkategorien: „viel zu niedrig“, „zu niedrig“, „gerade richtig“, „etwas zu hoch“, „viel zu hoch“) herangezogen. Das Ausfüllen des aus diesen Bausteinen konstruierten Erhebungsinstrumentes erfolgte nach der Einweisung durch das Studienpersonal in einem separaten Raum ohne Beisein der Eltern; darüber hinaus war die anonyme Abgabe der ausgefüllten Bögen möglich. Schließlich wurden alle Teilnehmer gebeten, einige offen formulierte Fragen zu Aspekten wie Länge und Verständlichkeit des Instrumentes zu beantworten.

Auswertung Nach der Überprüfung möglicher Unterschiede im gezügelten Essverhalten zwischen Jungen und Mädchen wurden die Teilnehmer geschlechtsspezifisch anhand des Medians der erzielten Scorewerte in wenig und stark gezügelte Esser eingeteilt und bezüglich ausgewählter Aspekte miteinander verglichen. Berücksichtigung fanden hierbei das Alter, der BMI-Standard Deviation Score (BMI-SDS) [11], mütterliches Übergewicht (BMI ≥25 kg/m2 ja/ nein) und mütterlicher Schulbildungsstatus (FH-/Hochschulreife ja/nein) sowie die Selbsteinschätzung des Körpergewichts, die in Bezug zum tatsächlichen Gewicht (Unter-, Normal- oder Übergewicht, definiert nach KROMEYER-HAUSCHILD et al. [11]) gesetzt wurde.

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Zur Untersuchung einer möglichen Assoziation zwischen gezügeltem Essverhalten und dem „Underreporting“ der Energiezufuhr wurde anhand der aus den Ernährungsprotokollen ermittelten täglichen Energieaufnahme (EA, in MJ/d) sowie dem mittels publizierter Formeln geschätzten Grundumsatz (Basal Metabolic Rate, BMR) [12] auf individueller Basis ein Quotient EA:BMR gebildet, welcher als Maß der Validität von Ernährungsdaten herangezogen werden kann [13]. Anhand alters- und geschlechtsspezifischer Cutoffs [14] erfolgte die Identifizierung unplausibel niedrig protokollierter Energiezufuhren. Die eingesetzten statistischen Prozeduren umfassten χ2- und Fisher’s exact-Test bei kategorischen bzw. Wilcoxon Rank-Sum-Test sowie t-Test bei kontinuierlichen Variablen. Der Zusammenhang zwischen der Skala „gezügeltes Essverhalten“ und der Skala „Angst vor einer Gewichtszunahme“ bzw. dem Quotienten EA:BMR wurde mittels Korrelationsanalyse (Spearman’s Rangkorrelation) untersucht. Aufgrund einer A-priori-Entscheidung erfolgten alle Auswertungen ge-

schlechtsstratifiziert; durchgeführt wurden sie mit Hilfe des Statistical Analysis System (SAS, Version 8.2).

Ergebnisse Die qualitative Auswertung der Evaluation ergab, dass etwa 90 % der Jugendlichen den Fragebogen zur Erfassung gezügelten Essverhaltens und verwandter Aspekte als verständlich einstuften. Zudem bezeichnete der Großteil die Länge bzw. den zeitlichen Aufwand zur Beantwortung als angemessen und empfand die Fragen nicht als unangenehm. In 쏆 Tabelle 1 sind allgemeine Charakteristika des Kollektivs aufgeführt. Interessanterweise ergaben die Analysen keine signifikanten Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen hinsichtlich der Zügelung des Essens. Dies traf auch auf die Angst vor Gewichtszunahme zu. Mädchen mit einer höheren Tendenz zu gezügeltem Essverhalten schienen jedoch älter als diejenigen mit einer niedrigen Tendenz zu sein, während sich bei Jungen ein entgegengesetzter Trend zeigte: Der Anteil stark gezügelter Esser war bei Mädchen in

Variable

n

Jungen (n=69)

Mädchen (n=66)

Alter (Jahre) 11–13 Jahre 14–17 Jahre

135

14,0 (12,5; 15,0)2 29 (42,0)3 40 (58,0)

13,9 (12,4; 15,0) 32 (48,5) 34 (51,5)

BMI-SDS Übergewicht

133

0,21 ± 0,894 6 (8,8)

0,05 ± 0,94 3 (4,6)

p1

0,44 0,45 0,11 0,49

Mütterliche Charakteristika Übergewicht der Mutter FH-/Hochschulreife der Mutter

123 125

Einstellungen zu Ernährung und Gewicht Score gezügeltes Essverhalten Score Angst vor Gewichtszunahme

135 99

Selbsteinschätzung des Körpergewichts Unterschätzt Richtig eingeschätzt Überschätzt

132 132 132

4 (6,1) 45 (68,2) 17 (25,8)

4 (6,2) 37 (56,9) 24 (36,9)

0,41

82

1,41 ± 0,32

1,27 ± 0,28

0,03

Quotient Energieaufnahme:Grundumsatz (EA:BMR)

20 (33,3) 34 (55,7) 5,0 (1,0; 11) 1,0 (0; 4,0)

15 (23,8) 37 (57,8) 4,5 (2,0; 10) 1,5 (0; 3,5)

χ - und Fisher’s exact-Test bei kategorischen, Wilcoxon Rank Sum-Test sowie t-Test bei kontinuierlichen Variablen.

1 2 2

Median (P25, P75); 3n (%); 4MW ± SD

Tabelle 1: Allgemeine Charakteristika des Kollektivs nach Geschlecht. DONALD Studie, n=135.

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0,24 0,81 0,98 0,92

der Altersgruppe der 14- bis 17-Jährigen signifikant höher als bei den 11bis 13-Jährigen, während er bei Jungen tendenziell abnahm (쏆 Abbildung 1). Auch bezüglich der mütterlichen Charakteristika bestanden Unterschiede zwischen den im Essverhalten wenig und stark „gezügelten“ Jugendlichen. Sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen schienen diejenigen mit hoher Tendenz zu gezügeltem Essverhalten etwas häufiger eine übergewichtige Mutter zu haben als solche mit niedriger Tendenz. Allerdings waren diese Unterschiede nur bei Jungen annähernd signifikant. Ein ähnliches Bild ergab sich bezüglich des mütterlichen Bildungsstatus: Jungen und Mädchen mit stark gezügeltem Essverhalten hatten seltener Mütter mit FH- oder Hochschulreife als Jugendliche mit wenig Zügelung. Für dieses Merkmal war der Unterschied aber nur bei Mädchen signifikant (쏆 Abbildung 2).

Beziehungen zwischen Essverhalten und Körpergewicht Eine eindeutige Beziehung bestand zwischen der Zügelung des Essens und dem Körpergewicht der Teilnehmer. Jugendliche mit stark gezügeltem Essverhalten wiesen einen deutlich höheren BMI-SDS auf als diejenigen mit geringer Zügelung (쏆 Abbildung 3). Darüber hinaus bestanden signifikante Unterschiede in der Einschätzung des eigenen Körpergewichts sowie ein Zusammenhang zwischen der Tendenz zu gezügeltem Essverhalten und der Angst vor Gewichtszunahme. Im Vergleich zu denjenigen, die wenig Zügelung beim Essen zeigten, überschätzten Jungen und Mädchen mit stark gezügeltem Essverhalten ihr Körpergewicht häufiger – d. h. sie hielten sich öfter für „dicker“, als sie tatsächlich waren, wobei Signifikanz nur bei Mädchen bestand (쏆 Abbildung 4). Zudem war eine höhere Tendenz zu gezügeltem Essverhalten bei beiden Geschlechtern auch mit einer höheren Angst vor Gewichtszunahme assoziiert (쏆 Abbildung 5).

p*=0,16 80

p*=0,04

p*=0,07

p*=0,41

70

Prozent

60 50 40 30 20 10 0 wenig gezügelt

stark gezügelt

wenig gezügelt

Jungen *X2-Test

stark gezügelt

Mädchen

Übergewicht der Mutter

FH-/Hochschulreife der Mutter

Abb. 2: Mütterliches Übergewicht (BMI ≥25 kg/m2) und mütterlicher Schulbildungsstatus bei jugendlichen Teilnehmern der DONALD Studie (n=123–125) nach ihrer Tendenz zu gezügeltem Essverhalten

Schließlich deutete sich auch ein Zusammenhang zwischen der Zügelung des Essens und dem Underreporting der Energieaufnahme an. Während bei Jungen der Anteil der Underreporter unter den wenig bzw. stark gezügelten Essern etwa gleich groß war (19,1 % vs. 17,7 %), stieg er bei Mädchen mit dem Grad der Zügelung deutlich an (5,6 % vs. 19,2 %). Wahrscheinlich aufgrund der geringen

Probandenzahl wurde hier aber keine statistische Signifikanz erreicht (p >0,20). Für die genannten Resultate spricht jedoch die bei Mädchen signifikante negative Korrelation zwischen den erreichten Scorewerten auf der Skala „gezügeltes Essverhalten“ und dem Quotienten aus Energieaufnahme und BMR (EA:BMR) (쏆 Abbildung 6).

2 p*=0,002

1,5

p*