Arne De Winde

Generation, Genealogie und Genetik An der Schwelle zwischen Kultur- und Naturwissenschaften

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Sigrid Weigel u.a. (Hg.): Generation. Zur Genealogie des Konzepts Konzepte von Genealogie. (Trajekte) Paderborn: Wilhelm Fink 2005. 342 S. 46 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 49,90. ISBN: 3-7705-4082-4.



Sigrid Weigel (Hg.): Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte. (Einstein Bücher) Berlin: Akademie 2002. 308 S. 30 s/w Abb. EUR (D) 27,80. ISBN: 3-05-003572-2.

Genealogische Schlüsselbegriffe

[2] Die Feuilletondebatte um Günter Grass’ Geständis seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS entpuppte sich schon sehr schnell zu einem die Spannungen und Aporien innerhalb des öffentlichen Gedächtnisdiskurses zutage fördernden Wettbewerb der Generationen. Wie Kurt Kister in der Süddeutschen Zeitung bemerkte, eigneten Grass und seine SS-Geschichte sich nahezu idealtypisch als Kriegsgrund für einen Konflikt zwischen der »Generation Flakhelfer« (oder »Generation Grass«), der 68er-Generation (oder »Generation Fischer, Joschka«) und der »Generation Ich« (den so genannten Jungen). 1 Was die letzte von den anderen zwei nach Kister unterscheidet, sei Ihre Skepsis gegenüber den endlosen NSSelbstbespiegelungen der (Groß-)Vatergeneration, die die öffentliche Szene nach sechzig Jahren noch immer dermaßen dominiere, dass sie sich dem Verdacht eines wahren »Methusalem-Komplott[s]« aussetze. 2 [3] Wie man nach der Lektüre des von einigen Mitarbeitern des Zentrums für Literaturforschung – Berlin herausgegebenen Sammelbandes Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie unweigerlich erkennen muss, schließt eine solche Argumentation nicht nur an die gegenwärtige Konjunktur des Generationenbegriffs (»Generation X«, »Generation Golf«, »Generation Single« usw.) an, sondern verwendet sie ihn vor allem auch auf eine identitätspolitische Weise, die der Abgrenzung von Haltungen und Lebensstilen dienen soll. In Nachfolge des Soziologen Karl Mannheim wird Generation hier als eine ›Kohorte‹ verstanden, deren Zusammenhang sich durch jahrgangsspezifische Erlebnisse begründet. Im vorliegenden Sammelband wird aber auf überzeugende Weise dargelegt, wie unter der Dominanz dieser synchronen (d.h. Einheiten stiftenden), soziologischen Bedeutung die diachrone oder genealogische Dimension des Konzepts allmählich in Vergessenheit geraten ist: Neben Prozessen

der Abgrenzung und Einteilung umfasst das Bedeutungsspektrum des Konzepts nämlich auch »Konstellationen der Herkunft, Generierung oder Erbschaft, also der Genealogie« (S. 7). Der in der Trajekte-Reihe herausgegebene Generation-Sammelband darf für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, die ausgeblendete Vorgeschichte des vieldeutigen und hybriden Konzepts rekonstruiert zu haben. [4] Wie der Untertitel des Werks angibt, mündet diese Genealogie des Konzepts in einer Analyse von Konzepten von Genealogie – definiert als (Beschreibung der) »Wege der Überlieferung und Fortzeugung, die durch die Leiber hindurchgehen«. 3 Wie Sigrid Weigels Umschreibung deutlich macht, situieren solche Konzepte sich an der Schwelle zwischen biologischer Vererbung, Evolution und Tradition, d.h. zwischen Natur- und Kulturgesetzen. Als zentrales Medium zwischen Natur- und Kulturwissenschaften tritt Genealogie auch im von Sigrid Weigel 2002 herausgegebenen Sammelband Genealogie und Genetik hervor, der auf eine Tagung im Juni 1999 im Einstein Forum Potsdam zurückgeht. Dabei ist hervorhebenswert, dass diese internationale Forschungskooperative nicht nur die aktuellen Genetikdebatten mitangekurbelt, sondern auch schon deren Sackgassen und blinde Flecke vorweggenommen und ihnen entgegenzuarbeiten versucht hat. So verfällt dieses interdisziplinäre Gespräch weder in eine biologistische Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen der Reproduktionsmedizin und Gentechnologien, noch in ein aussichtsloses ethisches Nein!doch!-Spiel, das stereotypisch in einem Zusammenprall zwischen Geistes- und Naturwissenschaften mündet. Vielmehr geht es hier, wie Sigrid Weigel es treffend auf den Punkt bringt, um [5]

die epistemologischen, wissenschaftsgeschichtlichen und imaginären Voraussetzungen, die die Entwicklung der gegenwärtigen Genetik und Reproduktionsmedizin ermöglicht haben, und um die Frage, in welcher Weise diese Entwicklung in tradierte Vorstellungen von Erbschaft und Verwandtschaft interveniert. (S. 10)

[6] Konkret findet dieses Doppelprogramm seinen Niederschlag einerseits in mikrologischen Analysen der ikonographischen und rhetorischen Mechanismen, die der Legitimität des genetischen Diskurses zugrunde liegen, und andererseits in gründlichen Reflexionen über die Auswirkung der jüngsten biowissenschaftlichen und -technologischen Entwicklungen auf das genealogische Denken, in concreto auf die tradierten Verwandtschaftsstrukturen und die Ordnung der Generationen.

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Kulturwissenschaften und Interdisziplinarität

[8] Die vorliegenden Sammelbände machen es sich zur Aufgabe, den vertrackten Kurs der erwähnten genea-logischen Schlüsselbegriffe – Generation, Genealogie und Genetik – zwischen verschiedenen Diskursen und Disziplinen aufzuspüren. Die tiefgehende Beschäftigung der unterschiedlichen Beiträge mit den symbolischen, ikonographischen und

rhetorischen Praktiken, den so genannten Aufschreibesystemen und Kulturtechniken, mit denen genealogische und genetische Diskurse operieren, legt die intensive Wechselwirkung zwischen Kultur- und Naturwissenschaften bloß und untergräbt somit deren stereotypische akademische Positionierung als zwei isolierte »Kulturen«. In diesem Sinne tragen beide Sammelbände zu einer bahnbrechenden Neuformulierung der Kulturwissenschaften als »ein Denken und Arbeiten an Übergängen« bei: [9]

Vielmehr entfaltet [die Kulturwissenschaft] gerade dort ihre faszinierendsten Projekte, wo vertraute Gegenstände eines fachwissenschaftlichen Regimes an der Grenze zu anderen Fächern in ein neues, anderes Licht geraten: ausgehend vom vertrauten Ort und der Grundlage eines disziplinären Wissens und Vermögens, an den Übergängen zu anderen, fachfremden, zunächst unbekannten Erkenntnisweisen, Fragen, Phänomenen und Erklärungsmodellen. 4

[10] Die vorliegenden Bände entwickeln ein innovatives Modell von Interdisziplinarität, das weit entfernt ist sowohl von der modischen holistischen Vision einer Einheit des Wissens, die im Grunde einer Annexion ehemals geisteswissenschaftlicher Gegenstände durch naturwissenschaftliche Erkenntnismodi gleichkommt, als auch von dem Bilden eines so genannten »Aggregat[s]«, d.h. einer »molekulare[n] Verbindung einzelner, disziplinärer Atome«. 5 Vielmehr werden die etablierten Grenzen zwischen Natur- und Geisteswissenschaften durch einen Fokus auf dasjenige, was Weigel an anderer Stelle »hybride Wissenskulturen« genannt hat, unterlaufen. 6 Zur sachgerechten Erforschung solcher heterogenen Gefüge von interagierenden Diskursen und deren aporetischer Bruchstellen werden von den meisten Beiträgern detailbewusste Lektüreverfahren eingesetzt, die die immer wieder fomulierte Dichotomie zwischen Philologie und cultural studies zu überwinden suchen.

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Die vergessene Geschichte des Generationenbegriffs

[12] Bevor wir uns die konkrete Anwendung einer solchen philologischen Methode näher anschauen, soll die komplexe und außerdisziplinäre Genealogie des Generationenkonzepts, wie sie im programmatischen Vorwort des Generation-Bandes und den Aufsätzen von Sigrid Weigel und Ohad Parnes dargestellt wird, näher betrachtet werden. Nebenbei sei hier übrigens festgestellt, dass dieser genealogische Blick, der nicht nach identitären Ursprüngen, sondern vielmehr nach heterogenen Herkunftsgeländen oder Bühnen des Entstehens sucht, auch deutlich an den Theorien Michel Foucaults und dessen Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche geschult ist, eine eigenständige Reflexion des genealogischen Gedankenguts dieser beiden Ahnherrn in diesem Band jedoch vermissen lässt. [13] Wie bereits erwähnt, wird das Generationenkonzept heute mehrheitlich auf Karl Mannheims soziologisches Modell der Generation als einer Einheit

altersspezifischer Gruppen zurückgeführt. Dass es sich hier jedoch nicht um eine Erfindung sondern um eine Wiedererfindung oder Umformulierung des Generationenbegriffs handelt, wird dabei meistens außer Acht gelassen: [14] Seine Wiedererfindung fand ohne Rekurs auf seine vorausgegangene Geschichte statt. Die hinter der Wiedererfindung zurückreichende Bedeutungsgeschichte wird heute zwar beerbt, meist jedoch ohne dass dieser Umstand ins Wissen und in den Umgang mit dem Begriff eingeht. Insofern kommt es bei der Genealogie des Konzepts gerade darauf an, die verborgenen, pluralen Ursprünge zu rekonstruieren. 7 [15] Entgegen dieser Anamnese des aktuellen Generationsdiskurses setzt Weigel sich als Genealogikerin das Ziel, die Historizität des aktuellen Sprachgebrauchs anzuzeigen und Spuren der ursprünglichen Doppelsemantik des Konzepts zu sichern. Einerseits bedeutete Generation im älteren Sprachgebrauch nämlich (Er)Zeugung oder Schöpfung (genesis/generatio), andererseits war es etymologisch aus dem Wortfeld genos/genus, d.h. Gattung oder Geschlecht, abgeleitet. Zwar ist die Generation aus letztgenannter Perspektive vor allem eine Größe, die für das leibliche, materielle und kulturelle Kontinuum der Gattung, d.h. für Mechanismen des Transfers, der Abfolge oder der Überlieferung einsteht, trotzdem lässt sich eine Spannung zwischen zwei Bedeutungskomponenten erkennen: Einerseits einer diachronen oder genealogischen, andererseits einer synchronen oder klassifikatorischen. [16] Weigels Analyse zeigt, wie diese Spannung im ausgehenden 18. Jahrhundert zu einer »Ausdifferenzierung des Generationsbegriffs« (S. 8) führte. Ihren detaillierten Überlegungen ist zu entnehmen, wie sich die synchrone Bedeutungsdimension zu einem modernen Begriff von Generation (als Einheit einer Jahrgangsgruppe) autonomisierte, und wie dieser in der postrevolutionären Umbruchszeit von 1789 in den unterschiedlichsten (politischen, geschichtsphilosophischen, pädagogischen, literaturhistorischen) Diskursen Karriere machte. Nach Weigel sind die komplexen semantischen Verschiebungen (von Lexemen wie »Generation«, »Geschlecht«, »Gattung« usw.) im deutschen Lexikon symptomatisch für weitreichende Verschiebungen im zeitgenössischen Umgang mit Verwandtschaft und Erbe, oder abstrakter für »Umbrüche[...] im Verhältnis von klassifikatorischen und genealogischen Denkweisen« (S. 117). Diese Neuordnung des Wissens ging mit einer fachwissenschaftlichen Ausdifferenzierung des Generationenbegriffs einher, indem dessen traditionelle genealogische Bedeutung in den Hintergrund trat und durch eine Aufspaltung in einen »biologischen Zeugungsbegriff einerseits und die Bezeichnung für eine kulturelle oder soziale Einheit andererseits« (S. 130) ersetzt wurde. Weigel stellt daher die anregende Hypothese auf, dass diese Aufspaltung das Generationenkonzept zu einem strategischen Signalwort in den »von Konkurrenz und Abgrenzung geprägten Verhandlungen zwischen Naturund Geisteswissenschaften« (S. 12) machte: [17]

Insofern stellt die Begriffsgeschichte der Generation ein

signifikantes Exempel für die Geschichte der Ausdifferenzierung und der zunehmenden Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften dar – obwohl oder gerade weil das Konzept zwischen beiden Kulturen zirkuliert. (S. 11)

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Generation als geisteswissenschaftliches Ordnungsmuster

[19] Die unterschiedlichen Beiträge des Generation-Bandes rekonstruieren, wie dieser Schlüssel- und Grenzbegriff in verschiedenen Diskursen und Disziplinen (wie z.B. Literatur- und Kunstgeschichte, Sprachwissenschaft, Biologie oder Ethik [vgl. Thomas Macho, S. 315–325]) Konturen gewann und sich zur zentralen Agentur der Verhandlungen über das biologische, kulturelle und ökonomische Erbe aufwarf. Dass die Generation zu einem zentralen narrativen Ordnungsmuster oder einer Meistertrope der Geisteswissenschaften avancierte, demonstrieren die Beiträge von Alexander Honold und Astrit Schmidt-Burkhardt. [20] In ihrem reich illustrierten und dokumentierten kunstwissenschaftlichen Beitrag gelingt es Schmidt-Burkhardt, »die historische Generation als das kausale Ordnungsmuster bei der Visualisierung von Geschichte« (S. 56) herauszustellen. Erstens untersucht sie die Voraussetzungen und Kontingenzen unterschiedlicher graphischer und narrativer Darstellungsmodi, wie z.B. die Ordnung von Künstlern nach Jahrgängen, das Aufstellen von Künstler-Ahnenreihen und -Stammbäumen. Zweitens legt sie dar, wie diese kunsthistorischen Wahrnehmungsschablonen von den Künstlern selbst übernommen und strategisch »zur ästhetischen Selbstbestimmung eingesetzt« (S. 72) wurden und werden. Paradoxerweise sollten die das vermeintlich Alte organisierenden Praktiken der »Autogenealogisierung« (S. 77), wie das Konstruieren von Deszendenztafeln und »Liquidationsliste[n]« (S. 79), zur Legitimierung des innovativen Avantgardeprogramms beitragen. Interessant ist jedoch, dass diese auf Chronologie und Kausalität basierenden Selbstpositionierungspraktiken nach Schmidt-Burkhardt von postmodernen Künstlern ad absurdum geführt werden und solcherweise in ihrer Rhetorizität und Materialität exponiert werden. [21] Anschließend an diesen Beitrag liefert auch Alexander Honold eine kritische Untersuchung der identitätspolitischen Funktion des Generationen-Paradigmas und dessen aporetischen Status als Periodisierungskategorie: In ihm wirken nämlich »Kontinuität (in der genealogischen Reihe) und Diskontinuität (in der generationsspezifischen Distinktion)« (S. 44) zusammen. Zentrale Annahme von Honolds Aufsatz ist, dass diese dem Generationskonzept inhärente Spannung durch den traumatischen Einbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Extrem gesteigert wird. In seiner weitläufigen literaturhistorischen Analyse skizziert er die an der Jahrhundertwende virulent auftretende Jugendkult(ur) und deren radikale Auflösung durch den Ersten Weltkrieg. Was nach dieser Zeitenwende zustande kam, war eine schizoide Weltkriegsgeneration, »schroff geschieden von ihren Vorläufer- und Nachfolgegenerationen, aber

nicht minder empfindlich abgeschnitten von dem eigenen Lebensgefühl der Vorkriegszeit« (S. 35). Honold belegt auf überzeugende Weise, wie diese »hochgradige soziale und zugleich temporale Dissoziierung« (S. 35) die mythisierende Argumentationsfigur der »verlorenen Generation« (S. 46) nach sich zieht. Sie benutzende »Kriegsbücher« wie u.a. Remarques Vom Westen nichts Neues werden nach Honold durch eine Doppelperspektive gekennzeichnet: der eigentliche Fokus der Kriegsrekonstruktionen sei nämlich die Krisenlage der Gegenwart.

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Literatur als Experimentierfeld

[23] In Honolds Analyse erweist sich die Literatur bereits als Ort, an dem Modelle von Generationalität und Generativität verhandelt und erprobt werden. Auch in den weiteren literaturwissenschaftlichen Beiträgen dieses Bandes tritt Literatur als hybrides, interdiskursives Medium hervor, das jüngere, disziplinär fixierte Generationskonzepte ergänzt und korrigiert. Deren spezifisches Vermögen bestehe gerade darin, [24]

jenseits einer [...] Reduktion von Komplexität und diesseits von arbeitsteiligen, fachlichen Betrachtungen gerade das Zusammenspiel verschiedener Ordnungen und Sprachen auf einem Schauplatz zur Darstellung zu bringen: die raumzeitliche Konstellation der literarischen Szene als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. 8

[25] Mit dem Bestreben, die Literatur aus ihrer traditionellen Position der Nachträglichkeit oder des bloß Thematisierenden zu befreien, konzeptualisieren die literaturwissenschaftlichen Aufsätze im ersten Teil des Generation-Bandes Literatur als eine Bühne des kulturgeschichtlichen Wissens oder ein Feld von Gedankenexperimenten, in dem neue Theoreme oder Konzepte erprobt oder sogar seismographisch antizipiert werden. [26] In dem schon oft zitierten Kapitel, in dem Weigel die vergessene Geschichte des Generationenkonzepts darstellt, illustriert sie diese zentrale Hypothese mit einer Lektüre von Adalbert Stifters Geschlechtererzählung Die Narrenburg, in der die zerstörte, unterbrochene Genealogie eines Grafengeschlechts thematisiert wird. Der Protagonist sieht sich der verhängnisvollen doppelten Aufgabe einer leiblichen und schriftlichen Fortführung (verkörpert im biographischen Archiv) des Geschlechts ausgesetzt. Diese Ambivalenz geht mit einer Spannung zwischen verschiedenen genealogischen Registern einher: einerseits den überlieferten symbolischen Aufzeichnungssystemen (Geschlechtsregistern), andererseits dem biologischen Erblichkeitsdiskurs. Weigel weist nach, wie Stifter diese scheinbar inkommensurablen Bedeutungskomponenten vereinigt, indem er den damals proliferierenden Gebrauch des sich ausdifferenzierenden Generationenbegriffs meidet und auf das überkommene semantische Feld von »Geschlecht« zurückgreift. Solcherweise stellt Literatur sich als ein Medium heraus, in dem die jeder semantischen oder terminologischen Emergenz vorausgehenden oder ihr

folgenden Verhandlungen sichtbar gemacht werden, oder, wie Weigel es prägnant ausdrückt: »In ihrer Ungleichzeitigkeit zum wissenschaftlichen Diskurs erinnert die Literatur an das Ungeklärte, das den Begriffen auch nach ihrer Etablierung anhaftet« (S. 116). [27] Dem von Literatur bloßgelegten Ungeklärten und Kontingenten gilt auch Ulrike Vedders Fokus in ihrer luziden Analyse von Erbschaftgeschichten des 19. Jahrhunderts und konkreter deren Inszenierung und Infragestellung des Rechtsinstituts des Majorats (d.h. die rechtliche Festlegung eines Vermögens als unteilbar und unveräußerlich). Vedder weist in ihrem Beitrag überzeugend nach, wie diese Verordnung in Geschichten von E.T.A. Hoffmann, Achim von Arnim und Honoré de Balzac nicht zur Stabilisierung des intergenerationellen Transfers, sondern ganz im Gegenteil zum Untergang von Geschlechtern führt: Nicht nur, weil sie durch ihre Perpetuierung bis in die Ewigkeit (d.h. ihre Naturalisierung) und ihren unlösbaren Vergangenheitsbezug die Zukunft unveränderbar festschreibt, sondern auch weil sie durch das Intervenieren von Hybridwesen und Bastarden, Zufällen und Undurschaubarkeiten immer wieder an die Grenzen der Klassifikation stößt. [28] Den mit diesen genealogischen Hybridisierungen einhergehenden Erkennungs- und Verkennungsmechanismen widmet Helmut MüllerSievers ein aufschlussreicher, wissenschaftshistorische und literaturwissenschaftliche Expertise kombinierender Beitrag. Ausgehend von der Aristotelischen Poetik analysiert Müller-Sievers Konstellationen von Anagnorisis, d.h. die plötzliche Wiedererkennung von Generationsmitgliedern, die sich in ihrer unheimlichen Zufälligkeit der Logik entzieht und somit auch »das sonst so gut versteckte Technische und Zufällige der dichterischen Produktion« (S. 160) bloßlegt. Er führt erfolgreich vor, wie dieser traditionelle Topos durch Entwicklungen in den Zeugungs- und Generationstheorien Anfang des 19. Jahrhunderts in eine Krise gerät und sich in zwei Paradigmen ausdifferenziert. Einerseits in eine so genannte präformationistische Anagnorisis, d.h. ein Erkennen von Ähnlichkeit auf Grund von zufällig ausgestreuten und (auf)gelesenen materiellen Zeichen oder physischen Prägungen; andererseits in eine so genannte epigenetische Fassung der Ähnlichkeit, nach der die eigentliche Wiedererkennung nicht auf der allegorischen Lektüre von Zeichen basiert, sondern auf einer (hermeneutischen) Introspektion der Betroffenen, der »ahnende[n] Antizipation eines je schon Gewußten« (S. 169). 9 Interessant ist aber vor allem, wie Literatur sowohl auf formaler als auch auf inhaltlicher Ebene (vgl. die obsessive Auseinandersetzung mit der Inzestthematik) auf diese »Begründungskrise des Generationenverhältnisses« reagiert: [29]

Wo das Vertrauen in die (freilich auch oft trügerischen) äußeren Zeichen der Verwandtschaft geschwunden, die symbolische, oder besser hermeneutische Lesart der individuellen Ähnlichkeit aber noch nicht gefestigt ist, interveniert die Literatur und spielt verschiedene Erkenntnisund Verkenntniskonstellationen durch, bis sich eine gewisse Sicherheit im Ahnen der Ahnen und Geschwister einstellt. (S. 166)

[30] Der Paradigmenwechsel im physiologischen Wissen über Zeugung ist auch der Ausgangspunkt von Stefan Willers Essay zur romantischen »Poetik der Zeugung um 1800«, dessen Komplexität und Subtilität man in einer summarischen Übersicht wie dieser unmöglich gerecht werden kann. Als Gravitationszentrum des epigenetischen Diskurses betrachtet Willer – wie Müller-Siever – das Unerforschliche oder Unbestimmte; er spricht von dem »Paradox, daß die Zeugung im Zuge ihrer Erforschung als schlechthin Unerforschliches bekräftigt wird« (S. 129). Gerade in diesem »Moment von Nicht-Wissen« (S. 129) gehen Wissen und Poetik, Empirie und Spekulation eine unzertrennbare Verbindung ein, das Problem der Darstellbarkeit der Zeugung rufe eine »Poetik der Zeugung« (S. 131) hervor. In Willers rhetorischen oder metaphorologischen Fokus rückt vor allem die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen Zeugungstheorien und Poetologien, zwischen Zeugen und Dichten. Akribische Lektüren stellen heraus, wie dieser generative Vorstellungskomplex auch Clemens Brentanos Poetik (und vor allem dessen Godwi-Roman) seinen Stempel aufdrückt. Anregend ist dabei vor allem Willers Hypothese, dass Generativität im Falle Brentanos nicht so sehr zur Konsolidierung der ›Genialität‹, sondern vielmehr zu ihrer Destabilisierung oder Entäußerung führe. In Brentanos verwilderten Romanen erfahren wir – so legt Willer nahe – nicht weniger als den Tod des Autors (oder des Subjekts) avant la lettre: Jegliche Individualität löst sich in ein unübersichtliches, jeden mit jedem verbindendes genealogisches Netzwerk auf, der Autor zerstreut und zerstört sich in meta- und parafiktionalen Arrangementen, er überlässt sich einer ma(ria)nischen Schreibbewegung oder der unkontrollierbaren Eigenbeweglichkeit der Schrift.

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Mediengenealogische Perspektiven

[32] Der zweite Teil des Generation-Bandes (»Konzepte von Genealogie: Bilder, Metaphern, Narrative«) und der erste Teil des Genealogie und Genetik-Bandes (»Genealogisch Konzepte und ihr Einzug in die Genetik«) ergänzen sich in ihrer mediengenealogischen Perspektive. Die einander kommentierenden und komplementierenden Aufsätze in diesen Sektionen tragen wesentlich zu einer Medienanalyse des ganzen Spektrums narrativer, tabellarischer, (ikono)graphischer, metaphorischer und symbolischer Darstellungsmodi bei. Weil diese Modi nicht nur transparente Transportmittel genealogischen Wissens sind, sondern dieses gerade mitkonstituieren, ist eine solche Medienanalyse unerlässlich für das Projekt einer Kulturgeschichte des genealogischen Denkens. Sigrid Weigel formuliert dies an anderer Stelle: [33]

Insofern läßt sich die Geschichte des genealogischen Wissens nur im Kontext der Geschichte seiner Medien und Repräsentationsweisen beschreiben. Oder genauer: Die Genealogie ist die Geschichte der symbolischen, ikonographischen und rhetorischen Praktiken, der Aufschreibesysteme und Kulturtechniken, in denen das Wissen von Geschlechtern und Gattungen oder von der Abfolge des

Lebens in der Zeit überliefert ist. 10 [34] Eine solche die Abfolge des Lebens registrierende Kulturtechnik präsentiert Helga Meise in ihrem Beitrag zum autobiographischen Aufzeichnungssystem der Kalenderführung in der höfischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts. Illustriert wird, wie die höfischen SchreiberInnen sich in den freien, aber zur gleichen Zeit medial normierten und begrenzten Schreibräumen enthüllen aber auch verhüllen – d.h. implizit, ungenannt bleiben. Darüber hinaus fungiert dieses Medium als »Überlieferungsträger« (S. 199), der ins dynastische Archiv übergeht und somit die Generationen miteinander verbindet: »Die Aufzeichnungspraxis ist um einen immer gegenwärtig, zum anderen steht sie im Bezug zu Vergangenheit und Zukunft« (S. 201). Meises Untersuchung des Archivs der HessenDarmstädischen Landgrafenfamilie legt dabei den Fokus vor allem auch auf Sophia Eleonoras (1609–1671) Funeralpublizistik, in der alle zur Verfügung stehenden genealogischen Repräsentationsmodelle kombiniert werden, um sie in Dienst weiblicher Selbstdarstellung zu stellen. [35] Die Rolle genealogischer Schemata in einem dynastischem Kontext wird auch in Kilian Hecks Beitrag in Genealogie und Genetik fokussiert. Konkret beleuchtet er in seinem historiographischen Aufsatz das komplexe ikonographische System der mittelalterlichen Ahnentafel, das zur Ermittlung und Ausstellung der Aszendenz des Probanden ihn in ein vielschichtiges, Tote und Lebende verknüpfendes Beziehungsgefüge einsetzt. Er geht dabei der Frage nach, wie diese Ahnentafeln diagrammatische Schemata (wie Stammbäume) mit mimetischen Momenten (wie Porträts) und codierten Symbolen (wie Ahnenwappen) kombinieren und welche Rolle deren Ausbau zu solchen hybriden, »perspektivischen, raumerfassenden Systemen« (S. 53) in der frühneuzeitlichen Machtpolitik spielte.

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Die Denkfigur des Stammbaums

[37] Eine Konstante in genealogischen Darstellungen scheint jedoch das ikonographische Schema des Stammbaums zu sein, auf das denn auch in beiden Sammelbänden großes Gewicht gelegt wird. Es handelt sich – so Weigel in Genealogie und Genetik – um eine äußerst flexibele »epistemologische Figur [...], mit deren Hilfe Bewegungen, die sich in der Zeit abspielen, im Raum dargestellt werden können« (S. 78). Insgesamt setzen sich vier BeiträgerInnen (Thomas Macho, Claudia Castaňeda, Carlo Ginzburg, Simone Roggenbuck) explizit und ausführlich mit dieser bildlichen Ikone, ihren kulturhistorischen Transformationen und ihrer transdisziplinären Attraktivität auseinander. [38] Einige Phasen oder Umbrüche in der Kulturgeschichte des Stammbaums werden in Thomas Machos »Stammbäume, Freiheitsbäume und Geniereligion. Anmerkungen zur Geschichte genealogischer Systeme« rekonstruiert. Was bei diesem Rekonstruktionsversuch herauskommt, sind gewandte, aber eher inkoherente Fragmente, deren Argumentationsstärke manchmal zu wünschen übrig lässt. Eine erste Phase, auf die Macho

eingeht, ist der Ursprung des Stammbaums aus der biblischen Erzählung vom Sündenfall und dem Baum des Wissens. Er spürt dessen zahlreiche Varianten im Mittelalter auf und beleuchtet vor allem die Transformation des Stammbaums zum so genannten spanischen Baum, dessen Komplexität den hierarchischen Schematismus des Grundmodells dekonstruiere. Ein zweiter wichtiger Umbruchsmoment ist nach Macho die Transformation des Stammbaums zum so genannten Freiheitsbaum der Französischen und Amerkanischen Revolution, der durch seine Kritik am feudalen oder hierarchischen Prinzip des Stammbaums zu einem »revolutionsoffizielle[n] Kultsymbol« (S. 35) wurde. Die Hypothese lautet, dass dieser revolutionäre Impetus im revolutionslosen Deutschland wiederum parodiert und domestiziert wurde im Festsymbol des Weihnachtsbaums. Macho beendet seinen Beitrag mit einigen Überlegungen zur »Geniereligion« (S. 39) des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, deren Züchtungs- oder Veredlungsgedanke entscheidend zur »Futurisierung der Genealogie« (S. 41) – wie sie exemplarisch in der Eugenik gipfelte – beigetragen habe. [39] Was in Machos Beitrag überraschenderweise außer Acht gelassen wird, nämlich die zentrale, »generativ[e]« (S. 58) Rolle, die das Denkmuster des Stammbaums in (der Entwicklung) dieser zukunftsorientierten Genealogie spielt(e), greift Claudia Castaňeda in ihrem Beitrag auf. Ohne dabei allerdings viel Erkenntnisgewinn zu erzielen, zeigt sie, wie die »Alltagstechnologie« des Stammbaums sich in den modernen Vererbungswissenschaften bewährt hat. Ihre radikale, von Foucaults Ordnung der Dinge inspirierte Trennung zwischen dem statischen, taxonomischen Raster des klassischen Zeitalters und dem dynamischen, der Historizität des Lebens Rechnung tragenden Stammbaum der Moderne spielt jedoch die spannungsvollen Interferenzen zwischen beiden Systemen herunter, denn, wie Sigrid Weigel schon bemerkte, mischen und widerstreiten sich im Schema des Stammbaums [40] immer schon zeitliche und taxonomische Dimensionen [...]. Die Figur des Baums kann damit als ein Schauplatz der Verhandlungen zwischen statischem Tableau und Scala naturae, zwischen klassifikatorischen und genealogischen, systematischen und historischen Modellen betrachtet werden. 11 [41] Diesem Zusammen- oder Widerspiel zwischen Konstanz und Variation wird wohl Rechnung getragen in den im Generation-Band erschienenen Aufsätzen von Carlo Ginzburg und Simone Roggenbuck, die die beiden vorhergehenden Beiträge an Komplexität und Innovativität weit übertreffen. In seinem Text »Familienähnlichkeiten und Stammbäume. Zwei kognitive Metaphern« lenkt Carlo Ginzburg unsere Aufmerksamkeit auf zwei transdisziplinäre Leitbilder oder »Figuren sowohl im büchstäblichen als auch im metaphorischen Verständnis« (S. 267). Eine erste solche Figur findet Ginzburg im Denken von »Familienähnlichkeiten«, einem Denken, das nach ihm entscheidend von Francis Galtons so genannten Kompositporträts geprägt wurde. Diese »generischen« (S. 270) Bilder kommen nach einer Überblendung individueller Porträts zustande und sollten die Essenz der betroffenen Gruppen ergreifen lassen. Obwohl diese

photographischen Experimente im Grunde der eugenischen »Erfassung bestimmter Gruppen zur Optimierung sozialer Kontrolle« (S. 278) dienen sollten, übten sie eine ungeheure Anziehungskraft auf verschiedene Denker aus. So legt Ginzburg erfolgreich dar, wie die Figur des Kompositbildes in die Theorien von Wittgenstein und Freud Eingang fand und dort interferierte mit dem verbreitesten »synoptischen Bild« (S. 281), dem des Stammbaums. [42] Roggenbucks sprachwissenschaftlicher Beitrag seinerseits zeichnet die Herauskristallisierung der »genealogische[n] Idee in der vergleichenden Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts« und ihre Verbildlichung in Stufen, Stammbäumen und Wellen nach. In ihrer Untersuchung der Parallelen und Interferenzen zwischen historischer Komparatistik und der Evolutionstheorie Darwins geht sie interessanterweise davon aus, dass sich die quasi-anatomische, Abstammungsverhältnisse etablierende Sprachvergleichung zunächst unabhängig von oder parallel mit der biologischen Theorie entwickelte und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der so genannten »biologistischen« Sprachwissenschaft August Schleichers eine intensive Wechselwirkung zwischen beiden zustande kam. Roggenbucks eingehende Analyse illustriert, wie Schleichers Versuch einer Neuformulierung der Sprachwissenschaft als »naturhistorische[r] Disciplin« (Schleicher, S. 308) sich aus Elementen von Darwins Evolutionstheorie, der positivistischen Wissenschaftsauffassung und der monistischen Naturidee [d.h. die Überzeugung, dass die gesamte organische und anorganische Welt unter einem allumfassenden mechanisch-kausalen Naturgesetz steht] zusammensetzt. Mit ihren vom Darwinschen Schema des tree of life herstammenden Sprachenstammbäumen sei Schleichers Sprachtheorie exemplarisch für den »transdisziplinären Synergie-Effekt[...]« (S. 313) des Stammbaums oder seinen »wissenschaftlichen Leitbildcharakter [...] im 19. Jahrhundert« (S. 311). Woher dieser wissenschaftliche Leitbildcharakter herrühren könnte, bringt Sigrid Weigel in einem anderwärts publizierten Aufsatz einsichtsvoll auf den Punkt: [43]

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Der Stammbaum, insbesondere die Baumikone markiert in der Geschichte genealogischer Figuren die Position einer imaginär strukturierten Synthese der vielfältigen Dimensionen, die in der Genealogie interagieren. Im Bild des Baumes sind die Schwierigkeiten einer Klärung der komplexen Probleme genealogischer Denkfiguren zugleich verdichtet und darin aufgehoben. Insofern muss der Baum tatsächlich als die Metapher genealogischen Wissens betrachtet werden, aber nicht als Metapher im Sinne einer übertragenen Redeweise, sondern als Meistertrope und Pathosformel, die zugleich als Symptom lesbar wird. 12

Genetik – Genese, Rhetorik und Phantasmen

[45] Wie Weigel in ihrem programmatischen Aufsatz »Der Text der Genetik« deutlich macht, ist die Herausarbeitung einer solchen metaphorologischen

Methode eine der Kraftlinien einer kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Genetik. Neben dieser Komponente, die Teil einer allgemeineren Diskursanalyse des wissenschaftlichen Modells der Genetik ausmacht, liegt das Hauptgewicht der bezüglichen Beiträge erstens auf einer »Analyse von Textualität und Rhetorik seiner wissenschaftshistorischen Genese und der spezifischen bildlichen oder unbegrifflichen Denkfiguren darin«, und zweitens auf einer Untersuchung der »impliziten Phantasmen wissenschaftlicher Projekte und d[er] vielfältigen Antworten der Einbildungskraft darauf in unterschiedlichen Genres und Medien« (S. 227). [46] Zunächst zur Genese des genetischen Denkens. Wie Sigrid Weigel in »Inkorporation der Genealogie durch die Genetik« bemerkt, verweist die »Beharrlichkeit, mit der genealogisches Wissen in der Form des Stammbaums dargestellt und überliefert wird, [...] auf die longue durée oder die anthropologische Dimension des Problems« (Genealogie, S. 75). Dieses Problem ist das komplexe Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Variabilität, Differenz und Identität, d.h. Vererbung. Vor allem die Texte von Staffan Müller-Wille, Ohad Parnes und Sigrid Weigel liefern grundlegende Beiträge zur Rekonstruktion der (Vor-)Geschichte einer »Epistemologie der Vererbung« (Parnes) und deren letzter Ausprägungsform, der modernen Genetik. [47] In Müller-Willes informativem Beitrag in Generation werden einige Varianten des Erblichkeitsdenkens und seinen Argumentationsschemata im »prä-genetisch[en]« (S. 216) Zeitalter dargestellt. Er unterscheidet drei prototypische Denkfiguren und analysiert deren Fortwirkung im genetischen Zeitalter: erstens die kosmologische Denkfigur der Konstellation bei Harvey, zweitens die präformistisch orientierte Denkfigur der Serie in der Theorie von Carl Linnaeus, und drittens Darwins Denkfigur der Formation und sein genealogisches Grundprinzip einer »Abstammung mit Veränderung (descent with modification)« (S. 230). [48] Vor allem Ohad Parnes’ Aufsatz ist hier aber erwähnenswert, weil er eine explizite thematische Brücke zwischen beiden Sammelbänden schlägt, indem er die enge Verwobenheit zwischen der Geschichte des Konzepts der Generation und der Geschichte des modernen Vererbungsbegriffs aufzeigt. Als Ursprung der modernen Genetik bestimmt er einen »fundamentalen konzeptuellen Bruch«, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogen hat. Seitdem wurde »die Unterscheidung zwischen individueller Variation und Stabilität der Spezies« (S. 236) hinfällig, da auch individuelle physiologische Eigenschaften auf einen »Mechanismus der intergenerationellen Übertragung« (S. 236) zurückgeführt wurden. [49] Zwei anverwandte generationale Denkfiguren förderten nach Parnes dieses radikale Umdenken der Vererbung: erstens die – soziologische – Denkfigur des »Wechsels der Generationen«, nach der Generationen als identifizierbare Einheiten nicht einfach aufeinander folgen, sondern auch miteinander interagieren und sich untereinander austauschen; zweitens das – biologische – Modell des »Generationswechsels«, in dem in generationalen Abfolgen gedacht wird, d.h. dass scheinbar individuelle

Eigenschaften unter generationale Gesetzmäßigkeiten subsumiert werden. Wiederum erscheint die Kategorie der Generation als »Mittler« oder »Nahtstelle« (S. 249): Generationen avancierten zum Erklärungsschema par excellence sowohl der Geisteswissenschaften als auch der biologischen Wissenschaften – die nicht unabhängig voneinander operierten, sondern gerade in engem Austausch miteinander (ent)standen und sich zur Konzeptualisierung ihrer Untersuchungsobjekte der selben Rhetorik und graphischen Mittel bedienten. Mit Hilfe des generationalen Erklärungsschemas ließen sich Stabilität und Wechsel sowohl von sozialen und kulturellen als auch von biologischen Phänomenen erklären. [50] Wie für Parnes sind auch für Weigel Theorien zur Erinnerung der Materie und die Konzeptualisierung und Visualisierung von »Übertragungsserien« (S. 253) entscheidende Schritte in der weiteren Entwicklung der Genetik. Zusammen mit dem Paradigmenwechsel in der Vererbungslehre von der Präformation zur Epigenesis löse die Annahme eines Gedächtnisses der Materie eine »Tendenz zur Internalisierung und Inkorporierung« (Genealogie, S. 80) aus: »Genealogie [fand] fortan vor allem im Organismus statt [...], [...] Phänomene der Abstammung und Vererbung [wurden] ins Innere des Körpers verlagert« (S. 85). Weigel geht davon aus, dass gerade diese Verlagerung des Fokus auf die unsichtbaren Mikrostrukturen des Organismus erst die Idee des Gens und somit die moderne Genetik ermöglichte. [51] Hier tritt auch das metaphorologische oder rhetorische Interesse des Bandes auf den Plan. In »Der Text der Genetik. Metaphorik als Symptom ungeklärter Probleme wissenschaftlicher Konzepte« führt Weigel vor, wie man sich zur Konzeptualisierung dieser »Elementarteilchen« auf einen »Metaphernmix« (S. 228) bezieht, der sich aus Konzepten aus der Buch(druck)kultur, dem alphabetischen Sprachsystem und der Informations- oder Kommunikationstheorie (S. 225) zusammensetzt. In expliziter Anlehnung an Hans Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit und konkreter seinen Text »Der genetische Code und seine Leser« sucht Weigel nach einem anderen Umgang mit Metaphorik, der diese nicht auf eine uneigentliche oder bildliche Redeweise reduziert, sondern gerade ihr Erkenntnis generierendes oder konstitutives Potential erkennt. Wie sich bereits in Weigels Einschätzung des Stammbaums erkennen ließ, plädiert Weigel für eine so genannte »symptomatische Lektüre« (S. 231), d.h. eine Betrachtungsweise, in der Metaphern und deren hybride Konglomerate »Zugang zu den Stellen des Nichtwissens, das im Diskurs des Wissens eingeschlossen ist« (S. 233), eröffnen. Aus diesem Gesichtswinkel ist Rhetorik »ein Verfahren der Wissenschaft im Umgang mit dem – immer und notwendig – Vorläufigen, Kontingenten und Ungeklärten ihrer Resultate« (S. 232). [52] Dass – wie Blumenberg schon betonte – aus einer solchen Metaphorik jedoch »im Handstreich ein Fachidiom zweiten Grades [entsteht]«, 13 d.h. ein heuristisches Modell, das seinen unreinen Ursprung oder blinde Flecken vergessen hat, ist eine Tendenz, die Pat Spallone in ihrem Aufsatz zum Konzept des so genannten Vorembryos anprangert. Sie demonstriert, wie die Unterscheidung zwischen Vorembryo und Embryo nicht zufällig mit

einer vierzehntägigen Sperre für Forschung an Humanembryonen zusammenfällt und somit nicht sosehr auf »naturgegebenen Fakten« basiert, als vielmehr durch »einen mächtigen Komplex gesellschaftlicher, kultureller, technischer und politischer Faktoren« (S. 159) vorangetrieben wird. Auf Kosten der Materialität des embryonalen Gebildes und der Identität der nicht »vorschwangeren« Frau und dank einer Verschleierung seiner eigenen Arbitrarität konnte sich das Konzept des Vorembryos zu einem wahren »Schöpfungsmythos der Embryologie« (S. 166) entwickeln. [53] Auf die Hypothese, dass ein von Wünschen und Ängsten besetztes NichtWissen Mythen, Geschichten oder fiktive Szenarien nach sich zieht, basieren die Beiträge von Henri Atlan, Susan Squier, Charlie Davison und Corina Caduff. Henri Atlan – der übrigens im Genetik-Band mit zwei Beiträgen vertreten ist, von denen der zweite aber in einen hermetischen Spezialistendiskurs zu verfallen droht – umreißt aus einer Art Meta-Position heraus die ethische Debatte um »Zellkerntransfer und Klonen« und versucht sie von Produkten der populären Einbildung zu befreien. Auch die anderen BeiträgerInnen befassen sich mit der Wechselwirkung zwischen Fakten und Fiktionen, dies jedoch unter ganz anderem Vorzeichen, denn sie gehen – wie Davison – davon aus, [54]

dass die Hoffnungen, Befürchtungen, Ansprüche, Träume, Mythen und Geschichten, welche die turbulente Welt der angewandten Genetik bevölkern, nicht nur ebenso interessant wie die Wissenschaft selbst sind – sie sind auch von ihr nicht zu unterscheiden. (S. 253)

[55] Als einschlägiger Fall dieser Interaktion zwischen science und fiction kann übrigens der Beitrag des renommierten Molekularbiologen Lee M. Silver, der seine These der »Absurdität des genetischen ›Eigentums‹« anhand von fiktiven aber plausiblen (Zwillings- und Klon-)Szenarien aufstellt, betrachtet werden. Sein Aufsatz konfrontiert den Leser mit den »Herausforderungen«, die das Auftreten der angewandten Genetik und die weit verbreitete Verfügbarkeit neuer Fortpflanzungstechnologien für traditionellere Familienformen und Genealogien bedeuten (S. 267). [56] Während Charlie Davison in »Mutanten, Klone und das Generationenspiel. Wieviel Angst haben die Briten vor der Schönen Neuen Welt?« die ängstlichen Reaktionen im britischen öffentlichen Diskurs angesichts der Technologie des Klonens und der von ihr ausgelösten »Verwandtschaftsverwirrung« (S. 259) registriert, demonstriert Corina Caduff in »Reproduktion und Generation. Die Klone in der Literatur« im Generation-Band, wie die Literatur als ein Schauplatz funktioniert, auf dem diese ängstigenden, grenzverwischenden Phänomene inszeniert und problematisiert werden. In ihrer Dramatisierung der Vorstellung einer massenhaften Menschenformierung und der »Problematik der Hyperverwandtschaft« (S. 24), d.h. der Aufspaltung von genetischer und altersmäßiger Generation, greife die Klon-Literatur aber weitgehend auf altbewährte Erzählmuster, wie z.B. die Dystopie und den Familien-/ Bildungsroman, zurück. Infolgedessen spricht Caduff von einer ›KlonLiteratur‹ in doppeltem Sinne: »[E]ine Literatur, die den Klon als Person zur

Darstellung bringt und die zugleich Narrative ihres eigenen Mediums reproduziert« (S. 29). [57] Die Phantasien und Ängste, mit denen die revolutionäre, vom Strangeways Laboratory entwickelte Technik der Gewebezüchtung in den 20er und 30er Jahren besetzt wurde, rücken ins Zentrum von Susan Squiers Aufmerksamkeit. Sie geht der Frage nach, wie diese Technik zu einer Umstrukturierung des menschlichen Lebens(verlaufs) führte und wie sich unterschiedliche Medien und Register an dieser Neudefinition des Menschen beteiligten: erstens wissenschaftliche Vorträge; zweitens futurologisch oder phantastisch anmutende Presseberichte über Experimente bei Strangeways; drittens von Strangeways-Forschern verfasste Gedichte. Durch Squiers Bloßlegung der Interferenzen zwischen diesen Rekonstruktionsvorgängen tritt »die konstruktive Natur sowohl der literarischen wie der wissenschaftlichen Praktiken zutage« (S. 108), was die Grenzen zwischen den »zwei Kulturen« durchlässig werden lässt. Dass gerade solche grenzüberschreitenden, polyperspektivischen Konglomerate anregende Gedankenanstöße bereithalten, illustrieren diese Sammelbände selbst, die einen grundlegenden Beitrag zu einer kritischen Kulturgeschichte des genealogischen Denkens leisten.

Arne De Winde Assistent für Forschung des Fonds für Wissenschaft Katholische Universität Leuven Literaturwissenschaft - Forschungseinheit “Text und Interpretation” Blijde-Inkomststraat 21 BE - 3000 Leuven E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 19.11.2006

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