Manuskript Bayern 2 - radioWissen

Geiz – Das Gift der Menschlichkeit Autor: Rolf Cantzen Redaktion: Bernhard Kastner Zitator 1: Diebe! Diebe! Räuber! Mörder! Gericht! Gerechter Gott! Ich bin verloren, sie haben mir die Kehle abgeschnitten, sie haben mir mein Geld gestohlen! Ich weiß nicht mehr, wo ich bin, wer ich bin, was ich tue. Ach, ach mein liebes Geld, mein liebes Geld, mein guter Freund! Dich haben sie mir genommen, dich haben sie mir entführt. Mit mir ist es aus, ich habe nichts mehr auf der Welt zu tun. Ohne dich kann ich nicht mehr leben. Ich bin fertig, ich kann nicht mehr. Ich sterbe, ich bin tot … Erzählerin: Die Stücke von Jean-Baptiste Molière sorgten meistens für größte Heiterkeit beim Publikum. Als jedoch die Komödie „Der Geizige“ 1668 uraufgeführt wurde, hielt sich die Begeisterung in Grenzen. O-Ton 1: Rainer Nitsche In dem Geiz-Stück, da hat er einen Bürger als Objekt seiner Komik ausgesucht und das kam bei den Bürgern nicht gut an, weil er es besser fand, wenn man sich über den Adel lustig machte. Sich über sich selbst lustig machen, dazu waren sie nicht in der Lage. Erzählerin: Rainer Nitsche ist ein Geiz-Experte. Er gab eine Textsammlungen zum Geiz heraus und schrieb für den eigenen Verlag das eher dünne „Große Buch vom Geiz“ zum Sparpreis von 9 Euro 95. Der Autor bekam – nebenbei bemerkt – kein Exemplar gratis. Zitator 1: Ich sterbe, ich bin tot, ich bin begraben. Will mich denn niemand wieder ins Leben zurückbringen und mir mein süßes Geld wiedergeben? Erzählerin: Kaum jemand amüsierte sich, als Molières Geizkragen Harpagon seine Tochter um die Mitgift prellen, seinen Sohn mit einer reichen Witwe verkuppeln will und seine Gäste mit billigem und zu knapp bemessenem Essen abspeist und sich beklagt, dass alle nur eins wollen – sein Geld. Zitator 1: Jeder kommt mir vor wie ein Dieb. Ich sehe keinen, der mir nicht verdächtig wäre! Erzählerin: Ein möglicher Grund dafür, weshalb das bürgerliche Publikum zunächst so verhalten reagierte: Es lachte nicht gern über sich selbst. Es erkannte sich selbst im Geizigen. Das meinen jedenfalls Kulturhistoriker und betonen: Geiz, knappes Kalkulieren, äußerste Sparsamkeit, Verzicht auf überflüssigen Konsum, die Weigerung, Geld für wohltätige Zwecke auszugeben – das waren weit verbreitete Eigenschaften des aufstrebenden

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Bürgertums im 17. Jahrhundert. In seinem „Geizigen“ überzeichnete er den Geiz der Bürgerlichen. O-Ton 2: Rainer Nitsche Es geht an die Substanz, also das Verhältnis zum Geld. Und das eben im Unterschied zum Adel, der mit dem Geld ja relativ großzügig umging, auch Molière gegenüber. Und das Bürgertum ging eben sehr knapp mit dem Geld um, natürlich aus bestimmten ökonomischen Gründen in erster Linie und nicht aus so einer verrückten Haltung wie der Geizige auf der Bühne, aber trotzdem, es ging an die Substanz. Sprecher: Geiz ist geil! Erzählerin: Zu Lebzeiten Molières durfte man sich nicht dazu bekennen. Geiz, oft gleichgesetzt mit „Habgier“ – lateinisch „avaritia“ – war eine Sünde, sogar eine Todsünde. Geiz galt als Verstoß gegen das christliche Gebot der Nächstenliebe, auch als Verstoß gegen die Gerechtigkeit. Doch die Todsünde war längst auf dem besten Weg, wenn nicht zu einer Tugend, so doch zu einem Prinzip wirtschaftlich erfolgreichen Verhaltens zu werden. Zu Habgier und Geiz gehörten auch andere Tugenden des Bürgertums: Sprecher: Disziplin, Selbstkontrolle, eine rationale Lebensführung, effektives Wirtschaften … Erzählerin: … das sich nicht von störenden Gefühlen wie Weichherzigkeit und Mitleid einschränken lassen darf. Zitator 2: Der entscheidende Punkt, meine Damen und Herren, ist: Habgier ist gut! Habgier funktioniert! Habgier ist richtig! Habgier scheidet das Wesentliche vom Unwesentlichen, sie verkörpert den Unternehmensgeist schlechthin. Gier in all ihren Formen, Lebensgier, Geldgier, Gier nach Liebe, Gier nach Wissen …, ist der Motor für den Aufstieg der Menschheit. Erzählerin: Ein zynischer Manager hält diese Rede in dem Film „Wall Street“ von Oliver Stone – der Streifen stammt aus dem Jahre 1987, zwei Jahrzehnte vor der Finanzkrise. Zitator 2: Habgier ist gut! Habgier funktioniert! Habgier ist richtig! Erzählerin: Eine Ausrichtung des Wirtschaftens an ethischen Maßstäben, an Werten wie Gerechtigkeit, Gleichheit, Mitmenschlichkeit, Solidarität widerspricht dem Unternehmensgeist. Sprecher: Geiz ist geil! O-Ton 3: Rainer Nitsche Das ist einfach nur eine tolle Erfindung, dieser Spruch. Erzählerin: … erfunden von einer Werbeagentur, eingesetzt von den verschiedensten Medien und avanciert zu einem festen Bestandteil der Alltagssprache.

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Sprecher: Geiz ist geil! Erzählerin: … es klingt gut durch die gleichen Anfangsbuchstaben, koppelt zwei traditionell wenig akzeptable Eigenschaften – Geiz und Geilheit – und es bricht das Tabu, die Ablehnung des Geizes: Geizige schauen nur aufs Geld. Hauptsache billig. Wie ein Produkt hergestellt wird, ist nebensächlich. Die Löhne der Arbeiter, die das Produkt herstellen – egal. Die Arbeitsbedingungen, zehn Stunden Tage sechs Tage die Woche in China – egal. Kinderarbeit – egal. Service, Beratung, die soziale Bedeutung des Kaufens und Verkaufens – egal. O-Ton 4: Rainer Nitsche Von der Struktur geht das schon in Richtung Geiz. Es verändert so das Kaufverhalten, letzten Endes auch das Verhältnis zu diesen kleinen Läden, die mit Leben zu tun haben, mit sozialen Verhalten. Diese Kampagne läuft auf eine ganz anderen Ebene als auf dieser verbalen Ebene, läuft es auf eine Reduktion hinaus. … Erzählerin: … die Reduktion auf den Preis. Produktion, Kauf und Verkauf werden zu einem ethikfreien Bereich. Sprecher: Geiz ist geil! Erzählerin: … das war die Antwort auf die Forderung nach einem verantwortlichen Verbraucherverhalten. Andere Werbesprüche können an dieser Reduktion anschließen. Zitator 2: Geiz ist geil. Wer mehr Geld zahlt ist blöd. Wer untergeht, ist nicht gut genug. Konkurrenz ist natürlich – auch Habgier ist in Ordnung … Erzählerin: Habgier ist das Verlangen, immer mehr zu besitzen. Geiz ist das Verlangen, Besitz anzuhäufen und zu behalten. In der Antike wurden diese beiden Aspekte nicht scharf unterschieden. Bereits das Getrieben-werden, die ungezähmte Gier, die Sucht war suspekt. Sie machte die Menschen abhängig, nahm ihnen die Souveränität. Profitsucht, Geiz, die Gier nach bloßem Besitz, das bloße Habenwollen galt als unwürdig und lächerlich. Eine gewisse Großzügigkeit und innere Unabhängigkeit von Geld und Besitz galt als Tugend des freien Mannes. Nicht „gentlemanlike“ war allerdings die demonstrative Zurschaustellung des Reichtums, das Protzen und die Verschwendung. In diesem Sinne analysiert Aristoteles in der „Nikomachischen Ethik“ den Geiz zusammen mit seinem Gegenteil, der Verschwendung, und stellt fest …: Zitator 1: … dass die Verschwendung und der Geiz ein Übermaß und ein Mangel sind, und zwar in zwei Dingen, dem Geben und Nehmen. Die Verschwendung tut im Geben … zu viel und im Nehmen zu wenig, der Geiz dagegen im Geben zu wenig und im Nehmen zu viel. Erzählerin: Diese zunächst ein wenig banal erscheinenden Feststellungen dienen Aristoteles dazu, die von ihm favorisierte „rechte Mitte“ zwischen Geiz und Verschwendung als Tugend zu empfehlen. Doch er bewertet den Geiz deutlich kritischer als die Verschwendung:

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Zitator 1: Im Geben zu viel zu tun, verrät keinen schlechten und gemeinen, sondern nur einen törichten Mann. Jedenfalls gilt der Verschwender dieser Art für viel besser als ein Geizhals auch darum, weil er vielen Menschen Gutes erweist, der Geizhals aber keinem, nicht einmal sich selbst. Erzählerin: Die Verschwendungssucht sei heilbar, versichert Aristoteles, der Geiz nicht: Zitator 1: Denn das Alter und jede Schwäche scheint geizig zu machen. Und der Geiz liegt mehr in der menschlichen Natur als die Verschwendung, da die meisten Menschen mehr Freude am Gelderwerb als am Geben haben. Erzählerin: Trotzdem - oder gerade deshalb: Zitator 1: Geiz ist unsittlicher als Verschwendung. Sprecher: Geiz verdirbt den Charakter … Erzählerin: … bedroht den Seelenfrieden, macht unzufrieden, kaltherzig, unsozial, hart. Und: Sprecher: Geiz verdirbt die Gesellschaft. Erzählerin: … hat negative soziale und politische Auswirkungen. Ungleich verteilter Reichtum destabilisiert die Gesellschaft und stört das soziale Gleichgewicht. Platons Idealgesellschaft ist deshalb eine kommunistische, in der Habgier und Geiz keinen Platz haben. Den griechischen und römischen Dichtern und Denkern des Altertums diente das glückliche - weil kommunistische Zeitalter - als Ideal und Utopie, als kritisches Korrektiv, an der sie die bestehende Gesellschaft maßen. Zitator 1: Einst lebten glücklich die Menschen, als die Flur von keinem Pächter bebaut ward, wo es noch keine Umgrenzungen gab mit Verteilung des Bodens, sondern ein Erwerb der Gesamtheit diente ... Erzählerin: ... das änderte sich, als jemand das Privateigentum erfand. Der römische Dichter Horaz sieht darin den Sündenfall der Menschheit: Zitator 2: Gott hat nämlich alle Dinge nicht diesem oder jenem gegeben, sondern dem Menschengeschlecht. Erzählerin: Diese kritische Position gegenüber der ungleichen Verteilung des Reichtums zieht sich durch die politische Philosophie vieler antiker Philosophen.

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Zitator 1: Gleichheit gab Natur den Menschen als Gesetz … Erzählerin: … das lehrt der Stoiker Dion Chrysostomos. Ist das Gesetz der Gleichheit verletzt … Zitator 1: … zerstört sie das Glück der Familie, das Gemeinwesen, das eigene Leben. Erzählerin: Diese Skepsis gegenüber ungleich verteiltem Reichtum verstärkte die Ablehnung der Habgier. Zitator 1: … Habgier und Geiz sind die schlimmsten Übel für die Menschen. Erzählerin: … das schlimmste Übel für eine Gesellschaft und ein Übel für den einzelnen Menschen – mit vielen Beispielen zeigt das Rainer Nitsche in seinen Büchern: O-Ton 5: Rainer Nitsche Der Geiz selber oder der Geizkragen ist jemand, der sich sozusagen aus bestimmten Gründen von all dem fernhält, was Leben ausmacht. Er entfernt sich aus einer Gesellschaft, die lebt. Und Leben heißt eben nicht nur einfach prassen, sondern Leben heißt eben auch Geselligkeit, Leben heißt, sich auf bestimmte Zufälle einlassen oder auf bestimmte Personen einlassen. Zu dem sozialen Verhalten gehört ja auch so eine Flexibilität. Und die hat der Geizkragen eigentlich nicht. Erzählerin: Folgt man dieser Typisierung, kann der Geizige nicht dumm sein. Jedenfalls muss er alles vorausschauend betrachten, organisieren, kontrollieren. O-Ton 6: Rainer Nitsche Das ist eigentlich die Voraussetzung um richtig gut als Geizkragen dazustehen, weil man das Leben dann tatsächlich so planen muss, dass solche unvorbereiteten Attacken, die dann auch den Geldbeutel treffen können, dann auch ausschließt. Ein Geizkragen geht nicht auf Reisen oder er reist nicht mit Gruppen oder er geht nicht irgendwo essen, wenn nicht klar ist, dass er nicht zahlen muss. Erzählerin: Der Geizige ist berechnend, hartherzig, asozial, egoistisch … O-Ton 7: Rainer Nitsche Das ist eine Reduktion des Lebens auf eine ganz, ganz schmale Spur. Erzählerin: … eine enge Einbahnstraße mit nur einem Ziel, das kein anderes neben sich duldet. Musik: (Hildegard von Bingen: Kyrie. Kurz einspielen, dann dem Folgenden unterlegen.) Zitator 1: Niemand kann zwei Herren dienen; … Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon.

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Erzählerin: Neues Testament, Matthäus, Kapitel 6, Vers 24. Fortgesetzt wird diese Bibelpassage mit einem Hinweis auf das Gottvertrauen: Zitator 1: Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. Ist nicht das Leben wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung? Seht euch die Vögel des Himmels an …. Erzählerin: … und so weiter, und dann kommt der Hinweis, dass „der Vater im Himmel“ schon für alles sorgen werde. Die Prioritäten sind damit klar: Gottvertrauen ist wichtiger als ängstliche Vorsorge, das Seelenheil erstrebenswerter als Reichtum, Habgier und Geiz mindern die Jenseitschancen. Andererseits finden sich auch Hinweise im Neuen Testament, dass man mit „seinen Pfunden wuchern soll“ – etwa im Gleichnis vom anvertrauten Geld. Zur Erinnerung: Ein Herr will auf Reisen gehen, vertraut seinen Dienern unterschiedliche Geldsummen an. Nach seiner Rückkehr haben zwei das Geld verdoppelt. Der Herr lobt sie. Ein dritter hat es vergraben: Zitator 1: Du bist ein schlechter und fauler Diener! Erzählerin: Das Fazit des Herrn: Zitator 1: ... wer hat, dem wird gegeben, und er wird im Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat. Erzählerin: Wörtlich und nicht als Gleichnis verstanden, lässt sich daraus das Gebot konstruieren, Geld zu machen. Eindeutig abgelehnt wird die Konzentration aufs Reichwerden vor allem bei Paulus. Im Sinne der griechischen Philosophen warnt Paulus in seinen Briefen: Zitator 2: Wer reich werden will, gerät in Versuchungen und Schlingen … Erzählerin: … und fügt hinzu: Zitator 2: Denn die Wurzel allen Übels ist die Habsucht. Nicht wenige, die ihr verfielen, sind vom Glauben abgeirrt und haben sich viele Qualen bereitet. Erzählerin: In der antiken Philosophie und im frühen Christentum sind Geiz und Habgier eindeutig Laster, der Reichtum ist, wenn nicht verwerflich, so doch problematisch. Die Frage ist auch, wie Reichtum erwirtschaftet wird. In der Antike, im Juden- und frühen Christentum und bis heute im Islam gilt es als verwerflich, Geld gegen Zins zu verleihen. Wer Zinsen nimmt, egal wie hoch, ist ein Wucherer. Zitator 1: ... hassenswert ist der Wucher, der aus dem Gelde selbst den Erwerb zieht ...

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Erzählerin: ... so Aristoteles und im Alten Testament heißt es: Zitator 2: Du sollst deinem Bruder dein Geld nicht auf Zinsen leihen ... Erzählerin: Auch im frühen Christentum verboten verschiedene Konzile den Geldverleih gegen Zinsen. Die Todsünde der Habgier und des Geizes wurden eng verbunden mit der Zinsnahme: Zitator 1: Du siehst nur Gold, denkst nur an Gold. Lieber siehst du das Gold als die Sonne. Das Getreide wird dir zu Gold, der Wein verdichtet sich dir zu Gold. Das Gold erzeugt sich selbst, indem es sich durch Zinsen mehrt. Und doch wirst du nie satt, und deine Gier findet nie ein Ziel. Erzählerin: ... wettert der Kirchenvater Basileus im 4. Jahrhundert, zu einer Zeit, als die Kirche noch nicht ganz so viele Reichtümer angehäuft hatte. Doch schon bald mauserte sich das Christentum zur Staatskirche, wurde selbst reich – und verstand den Geiz als schwere Sünde: O-Ton 8: Rainer Nitsche Die Erklärung des Geizes zur Todsünde. Also einmal war es in den alten Gesellschaften sozusagen eine Überlebensnotwendigkeit, den Geiz zu ächten oder zu ahnden, weil. Es gab ja keine sozialen Netze. Und die Leute, die krank waren der arm waren, die waren darauf angewiesen, auf die sogenannten Almosen. Die wurden dann auch tatsächlich gegeben und zwar in allen Kulturen. In der islamischen Kultur war das ganz weit verbreitet. … Erzählerin: Die Kirche verdammte den Geiz, forderte die Gläubigen auf, Almosen zu geben: O-Ton 9: Rainer Nitsche Auf der einen Seite eine kulturelle Leistung der Menschheit, wo dieses Almosen geben als Tugend galt und nicht Almosen geben, sprich Geiz, als Untugend, auf der anderen Seite hat sich im Mittelalter dann es doch so entwickelt, dass es eine Verschiebung der Verantwortung von der Kirche zu den Bürgern war. Erzählerin: Und: Die Kirche kooperierte mit den Reichen und Mächtigen und trennte die Todsünde des Geizes und der Habsucht vom „gottgewollten“ Reichtum. Es gab Widerstand. Die Franziskaner zum Beispiel verurteilten den „Mammon“ der Kirche. Doch die Kirchenfürsten besannen sich auf Passagen im Neuen Testament, in denen Jesus jene lobte, die mit ihren Pfründen wucherten. Zitator 2: Lieber habgierig als wollüstig! Erzählerin: ... schrieb um das Jahr 1430 in Rom der Sekretär der Kurie Poggio Bracciolini und relativierte die Todsünde "avaritia":

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Zitator 2: Die Habgierigen sind stark, weitblickend, fleißig, hart und maßvoll. Sie zeigen große Klugheit und noch größere Weisheit. Wir kennen Könige und Fürsten mit glänzendem Ruf, die habgierig waren. Wenn ich also ein Laster zu wählen hätte, wäre ich lieber habgierig als wollüstig. Erzählerin: Selbst im Vatikan stellten sich höchste kirchliche Würdenträger nicht vor diese harte Wahl. Sie waren beides. Interessant ist jedoch die einsetzende Rücksichtnahme auf wirtschaftliche Erfordernisse und das daraus folgende neue Menschenbild: Zitator 2: Alles, was wir tun, tun wir ja für Geld und Profit. Nimm den Profit weg, und die ganze Wirtschaft käme zum Stillstand. Erzählerin: ... und nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Theologie und Philosophie - meint jedenfalls Poggio Bracciolini: Zitator 2: Gelehrte treibt der Wunsch nach saftigen Honoraren. Und was soll ich von unseren Pfarrern sagen, deren Geldgier nur allzu offenkundig ist? Erzählerin: Die Theologie rüstete auf, wurde modern, besonders die protestantische. Der Schweizer Reformator Johann Calvin beruhigt die reicher werdenden Kaufleute im 15. Jahrhundert: Zitator 1: Es ist nicht sündhaft, reich zu sein. Sondern in Sünde fällt nur, wer sich auf seinem Vermögen ausruht und es zur Befriedigung seiner lasterhaften Begierden missbraucht. Erzählerin: Das heißt: Geld machen, reich werden, ohne den erworbenen Wohlstand zu genießen. Das machte dann auch den wirtschaftlichen Erfolg protestantischer Kaufleute aus: Geld verdienen, Geld neu investieren, noch mehr Geld verdienen. Zitator 1: Wenn Gott Euch einen Weg zeigt, auf dem ihr mehr gewinnen könnt und ihr weist dies zurück, dann weigert ihr euch, Gottes Verwalter zu sein und seine Gaben anzunehmen. Erzählerin: … versichert der englische protestantische Theologe Richard Baxter. Der deutsche Soziologe Max Weber analysierte in seiner "Protestantischen Ethik" diese Haltung. Max Weber versteht die rationale lustfeindliche Lebensführung der protestantischen Kaufleute und ihre Habgier, ihre rücksichtslose Geschäftemacherei als Initialzündung für den modernen Kapitalismus. Am beruflichen Erfolg glaubten diese Protestanten ablesen zu können, ob Gott sie für einen der wenigen Plätze im besseren Jenseits vorgesehen hat oder nicht. O-Ton 10: Rainer Nitsche … das heißt, je erfolgreicher jemand war, um so näher zu Gott konnte er sich auch fühlen, denn das war sozusagen auch die Ideologie der Calvinisten, je tüchtiger desto näher an Gott und damit hing dann auch zusammen, dass dann bei den Calvinisten Geld ausgeben verpönt war und Sparen war sozusagen die oberste Tugend.

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Erzählerin: So entwickelte sich peu à peu aus der Todsünde der Habgier und des Geizes fast eine Tugend. Sprecher: Geiz ist geil! Erzählerin: Nein, in der protestantischen Ethik geht es gerade um die Vermeidung dessen, was heute umgangs- oder werbesprachlich mit „geil“ bezeichnet wird, es geht um die Vermeidung von Genuss und Lust. Den hart arbeitenden, rational kalkulierenden und gefühlskalten protestantischen habsüchtigen Geizhälsen, wie sie Max Weber kennzeichnet, geht es ums Geldscheffeln, das unbeeindruckt bleibt von Gerechtigkeitserwägungen, Gleichheitsgeboten, von Mitleid und Nächstenliebe. Genau das aber wirft der Philosoph Kant dem „habsüchtigen Geiz“ vor: Zitator 1: Habsüchtiger Geiz ist der Hang zur Erweiterung seines Erwerbs der Mittel über die Schranken des wahren Bedürfnisses hinaus. Dieser kann als Verletzung der Pflicht der Wohltätigkeit gegen andere betrachtet werden. Erzählerin: Davon zu unterscheiden ist der „karge Geiz“ … Zitator 1: ... der auch Knickerei oder Knauserei genannt wird. Der karge Geiz ist eine Verengung seines eigenen Genusses unter das Maß des wahren Bedürfnisses. Es widerstreitet der Pflicht gegen sich selbst. Erzählerin: Der „habsüchtige Geiz“ schädigt andere, der „karge Geiz“ schädigt den Geizigen selbst. Beides ist nach Kant zu verurteilen. Moralisch zu verurteilen sind nach Kant bereits die Motive des Geizigen. Es geht dem Geizigen darum, etwas „haben“ zu wollen. Es geht ihm nicht darum, seine Bedürfnisse oder die Bedürfnisse der anderen befriedigen zu wollen. Kant versteht den Geiz auch nicht als Gegenpol der Verschwendung. Zwischen dem Geiz und Verschwendung kann es keinen goldenen Mittelweg geben, etwa die Sparsamkeit. Denn die Sparsamkeit ist Mittel zum Zweck, damit man in Notzeiten etwas hat. Geiz hingegen macht das Anhäufen von Reichtum zum Selbstzweck. Das macht ihn so destruktiv. Sprecher: Geiz ist geil! Erzählerin: … in diesem Sinne ist Geiz für den Geizigen „geil“ und in diesem Sinne wird er asozial und unempfindlich gegenüber Mitleidsregungen: Ein T-Shirt für 3 Euro … Sprecher: … geil! Erzählerin: Hergestellt in Bangladesch von 12-Jährigen Näherinnen, 12 Stunden pro Tag, für 60 Euro im Monat.

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Sprecher: Moralisieren ist „ungeil“! Geiz ist geil! Zitator 1: Der Geiz erniedrigt unser Herz, Erstickt die edlern Triebe. Und machet, der Vernunft zum Spott, Ein elend Gold zu deinem Gott. Erhalte mich, o Gott! Dabei Dass ich mir genügen lasse, Geiz ewig als Abgötterei Von mir entfern und hasse. Erzählerin: … so der aufgeklärte Dichter Fürchtegott Gellert. Erzählerin: Der Geizige hat ein gestörtes Verhältnis zu sich und der Welt. Das Verhältnis zu sich selbst, das Verhältnis zur Welt ist vom Geiz geprägt. Molières „Geiziger“ macht das sehr deutlich. Das Haben und Behalten ist mit Lust verbunden. Das stellte der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud fest. Zitator 2: Sie scheinen zu jenen Säuglingen gehört zu haben, die sich weigern, den Darm zu entleeren, wenn sie auf den Topf gesetzt werden, weil sie aus der Defäkation einen Lustnebengewinn beziehen; denn sie geben an, dass es ihnen noch in etwas späteren Jahren Vergnügen bereitet hat, den Stuhl zurückzuhalten und erinnern, … allerlei unziemliche Beschäftigungen mit dem zutage geförderten Kote. Erzählerin: Für diesen kranken Typus Mensch prägt Freud den Begriff des „analen Charakters“. Es sind Menschen, die zu einem lebendigen Austausch mit der Welt nicht fähig sind. Sie können nicht teilen, nicht lieben, nicht mit anderen gemeinsam Lust empfinden. Es fällt ihnen schwer, sich zu öffnen, sich in Frage zu stellen, sich zu verändern. Und: Sie fühlen sich ständig bedroht, sind aggressiv und ängstlich. O-Ton 11: Rainer Nitsche Der Geizkragen ist ein Einzelgänger, das hat mit der Natur der Sache zu tun. Es gibt keine Gruppe von 5 Geizkragen. Das funktioniert nicht. Also der Geizkragen ist ein Einzelkämpfer der Reduktion … Erzählerin: … der Reduktion auf das bloße „Haben“. Darin sieht der Psychoanalytiker Erich Fromm in seinem Buch „Haben oder Sein“ eine sehr verbreitete Charakterstruktur. Zitator 1: In der Existenzweise des Habens ist die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens, eine Beziehung, in der jedermann und alles, mich selbst eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will. Erzählerin: Das positive Gegenstück ist die Existenzweise des "Seins". Sie zielt nicht auf Beherrschung, Besitz und Kontrolle, sondern sie ist gekennzeichnet von Lebendigkeit und Offenheit.

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O-Ton 12: Rainer Nitsche Das heißt auch: Unterdrückung von Freude. Wenn man sich über etwas freut, ist das ja eine Teilnahme entweder an etwas, was einem selbst passiert oder etwas, was anderen Leuten passiert oder Freude an einer Situation. Und all das, was so etwas ausufern könnte, das muss der Geizkragen vermeiden. Er ist sozusagen ein extremer Zuchtmeister seiner selbst. Zitator 2: … ein geiziges Auge trocknet die Seele aus. Erzählerin: … so die Bibel. Und weiter: Zitator 2: Beschenk den Bruder, und gönn auch dir etwas; / denn in der Unterwelt ist kein Genuss mehr zu finden. Versage dir nicht das Glück des heutigen Tages; / an der Lust, die dir zusteht, geh nicht vorbei.

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