Joachim Reiss / Bundesverband Theater in Schulen e. V.

GEH MIR AUS DER SONNE! Die 6. Internationale Konferenz über Bildung durch Theater in Athen fordert mehr Licht für Schultheater

1.

Eine vorbildliche Veranstaltung

Dem begeisterten Bericht von Heike Schade, die 2006 den BVDS in der Athener Biennale vertrat, kann ich mich für 2008 voll anschließen. Dieses ausgezeichnet organisierte Festival mit etwa 500 Teilnehmern eine Konferenz zu nennen, ist eine glatte Untertreibung. Eine internationale Veranstaltung hatte ich mir allerdings etwas anders vorgestellt. Die große Mehrheit der Teilnehmer und die Hälfte der Referenten kamen aus Griechenland. Ein für uns noch schwer vorstellbares Phänomen machte das Besondere der Tagung aus: Experten aus aller Welt zu rufen, darunter viele IDEA-Repräsentanten, um mindestens die Hälfte der eigenen Mitglieder – griechische Theaterlehrer – mit weltweit aktuellen Fragen und Erkenntnissen zu konfrontieren, das ist eine großartige Idee, die offensichtlich bestens funktioniert. Diese gewaltige Anstrengung erbringen die Kollegen in unserem griechischen Partnerverband TENet fast völlig ehrenamtlich. Dieses Schultheater-Netzwerk wird von einem starken Team unter dem Vorsitzenden Nikos Govas getragen, das klug alle Ressourcen nutzt: Eine gut ausgestattete Schule, die sich am schulfreien Wochenende samt Aula und Klassenräumen komplett der Veranstaltung zur Verfügung stellt, die offensichtlich eher mäßig guten Beziehungen zum Bildungsministerium und seiner Abteilung für internationale Beziehungen (bei uns ein 16fach verwickeltes Problem), das griechische Jugendsekretariat, das IDEA-Netzwerk, mehrere nationale Vertretungen u.a. Unterstützer. Darunter das Athener Goethe-Institut, das freundlicherweise und großzügig dafür sorgte, dass die drei deutschen Referenten teilnehmen konnten: Christine Schmalor für die Ausbildung im prof. Theater (ITI, AKT-ZENT), Henning Fangauf vom Kinder- und Jugendtheaterzentrum und Joachim Reiss für den BVDS. Nicht nur für die Griechen war es neu, dass das deutsche Schultheater im Schulterschluß mit dem prof. Theater auftrat. Ein gutes Zeichen für die dringend nötige Intensivierung dieser Beziehung, die für die Zukunft des Fachs Theater in der Schule mit entscheidend sein dürfte.

 

 

  2.

Das Motto: Theater ins Zentrum!

Der Kongress beginnt am internationalen Theatertag, 27. März, mit dem Angebot, Theaterpraxis in Schulen zu besichtigen, und mit Vorträgen griechischer und internationaler Repräsentanten aus Bildung, prof. Theater und Schultheater. Hier hielt Christine Schmalor ihren Beitrag über „Artistic thinking“ als wichtigen Teil von „improvisation of life“ und schuf damit eine Verbindung zwischen prof. Theater und Theater in der Schule. Die festliche Eröffnung am Freitag, 28.3., bietet vom kurzen Pflichtauftritt des Bildungsministeriums bis zur aufmunternden Ansprache der „Alten Dame“ des britischen Schultheaters (Drama in Education) Dorothy Heathcote ein Feuerwerk, in dem auch Schülertheater nicht zu kurz kommt: 3 Meter hohe Stabfiguren mit überdimensionalen beweglichen Köpfen fliegen durch den Saal, Schülergruppen stellen zum 10-jährigen Jubiläum des TENet die bisherigen Konferenzthemen theatral und tänzerisch dar. Das Motto 2008 „Drama/Theater ins Zentrum“ kündet vom bildungspolitischen Ziel, das TENet mit dem Hamburger BVDS-Kongress von 2007 teilt: Theater ist kein Fach an griechischen Schulen, Theaterprojekte müssen täglich neu erkämpft werden – gegen die PISA-Mentalität, die Überlastung und kognitive Fehlorientierung des Schulsystems und dumme Schulleiter – ein Bild, das uns bekannt vorkommt. Auch in Griechenland lebt Schultheater von der Begeisterung der Theaterlehrer und ihren Veranstaltungen, bzw. denen ihres Verbandes. Für den deutschen Teilnehmer besonders interessant: Das engagierte und kenntnisreiche Plädoyer des Vorsitzenden der griechischen Lehrergewerkschaft, der sich an diesem Tag für das Schultheater öffentlich und weit aus dem Fenster lehnte. Man kann nur hoffen, dass die Veranstaltung trotz Olympiafackel eine Chance in den Medien hatte. England hat „Drama“ (angewandtes Darstellendes Spiel im Unterricht) und Theater in Griechenland stark inspiriert, die meisten der besonders aktiven Ehrenamtlichen haben in englischen Universitäten studiert. Aus dieser Geschichte erklärt sich die internationale Orientierung der griechischen Szene, die andererseits natürlich auch besonders stolz ist auf ihre eigene uralte Theatertradition. Um so erstaunlicher, dass griechische Schüler in der eigentlichen Konferenz von Freitag bis Sonntag kaum auf die Bühne kamen, dafür aber verschiedene prof. Theateraufführungen. Dadurch kam die Tanztheatergruppe des Schweriner GoetheGymnasiums, bekannt vom Schultheater der Länder, in eine besondere Position. Sie zeigte open air „Tides“, ein bewegendes facettenreiches und engagiertes Stück zum globalen Thema „Wasser“, mit dem sie bereits 2007 beim IDEA-Weltkongress in Hongkong ihre chinesischen Zuschauer begeisterten. Silke Gerhardt, Vorstandsmitglied des BVDS, war mit ihrer ausgezeichneten Arbeit erneut eine gute Botschafterin deutschen Schultheaters.

 

 

  3.

Im Kern: Arbeit an Identität und Profilierung

Alles Theater „garnierte“ letztlich das Hauptmenue der Konferenz: 50 Workshops! Jeder konnte an 4 Workshops von je 2,5 Stunden teilnehmen (es gab auch 5-stündige Angebote) und/oder an einer der 4 parallel zu den Workshops stattfindenden Mini-Fachtagungen. Wen die Vielfalt der Workshop-Themen interessiert, schaue bitte ins Programm auf der im übrigen ausgezeichnete Website des TENet: www.theatroEdu.gr Hier ist auch das umfangreiche Textmaterial, das die Konferenz schon im Vorfeld hervorrief, zu besichtigen. Die Themen der Mini-Fachtagungen seien kurz benannt: -

Theatre/Drama and formal Education (Theater im Unterricht und als Unterricht) Theatre in Education: Research and Practice (Theorie und Praxis des Schultheaters) Theatre, Education and Socio-Cultural changes (Theater, Bildung und sozialer Wandel) Arts and Education: Policies and Priorities (Kulturelle Bildung: Politik und Prioritäten)

Besonders spannend war in der ersten Gruppe die Auseinandersetzung mit Prof. Shifra Schonmann, Universität Haifa, die einer besonders eifrigen Verfechterin des holistischen Ansatzes entgegenhielt, dass Schultheater eine eigenständige Fachlichkeit hat und entsprechend qualifizierte Lehrer braucht, die Lösung des Problems mit dem Fach Theater also nicht darin bestehen kann, alle Künste in Projekten allgemeiner kultureller Praxis zu mischen oder gar aufzulösen. Ihr Vortrag beschäftigte sich mit der Frage nach dem Kern und dem Reichtum einer Theaterlehrer-Identität, die mehr ist als nur eine „Identity card“. Irgendwie stand es aber der alten englischen Schultheater-Lady Dorothy Heathcote mit ihrem immensen Erfahrungshintergrund in Schulen und Hochschulen zu, ein neues Paradigma der Pädagogik als ihre Erfindung zu verkünden: Weg vom industriellen Bildungsbegriff der Verabreichung von Vorgekautem hin zur Selbstbildung in einem lerngerechten Ambiente. Nicht wirklich neu, aber sicher noch lange innovativ! Unnötig zu betonen, dass das Modell des Theaterunterrichts mit seiner Projekt- und Schülerorientierung diesem Paradigma deutlich mehr entspricht als der Rest der deutschen Schulwirklichkeit. Es war gut, mit der freundlichen Unterstützung des Goethe-Instituts in meinem Workshop demonstrieren zu können, wie wir im DS-Unterricht der gym. Oberstufe curriculare Anforderungen und Leistungsbewertung mit kreativer Theaterarbeit in produktorientierten Projekten verbinden.

4.

Der Sonne entgegen? Perspektiven…

Wie unsereiner die Bildungspolitik dazu bringen könnte, die Potenziale des Schultheaters zu bemerken, zu schätzen und umzusetzen, das war Thema der Mini-Fachtagung Nr. 4. Wir

 

 

  hörten von Prof. Larry O’Farell (Universität Ottawa mit dem „UNESCO-Chair“ for Arts Education) über Dan Baron, dem IDEA-Präsidenten aus Brasilien, und der Vorsitzenden des griechischen Musiklehrerverbandes bis hin zu Joachim Reiss und anderen Referenten viele Tipps und Erfahrungen, aber leider kein Rezept. In Italien ruht die Hoffnung auf der Kooperation mit Künstlern und 70 regionalen Schultheater-Festivals, in Frankreich auf der unmittelbaren Unterrichtszusammenarbeit von Theaterlehrern und Schauspielern, in Griechenland auf der Unberechenbarkeit der Bildungspolitik, in Kanada auf breiter öffentlicher Unterstützung u.s.w.. Alle nationalen Verbände erhoffen sich viel von der UNESCO-Kampagne für Arts Education, die um 2000 begann und mit dem 1. Weltkongress in Lissabon 2006 ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte. Von dort weist die sog. „Road Map“ in Richtung Seoul, wo 2010 der nächste UNESCO-Weltkongress geplant ist. Bis dahin entscheidende Fortschritte zu machen, bleibt die Herausforderung der nächsten Jahre auch in Deutschland, bei der uns der internationale Rückenwind hoffentlich hilft. Die bisherige Tendenz des BVDS, den Weg alleine zu gehen, wird uns u.U. unsere bisherigen Fortschritte kosten, wenn es uns nicht gelingt, vom griechischen Beispiel angespornt, mit den prof. Theaterverbänden und den Theaterpädagogen in eine Reihe zu kommen, mit den Kulturinstitutionen und –verbänden zu kooperieren und die Solidarität der anderen künstlerischen Disziplinen zu gewinnen. Um in Deutschland mit dem gleichzuziehen, was die WAAE (World Alliance of Arts Education) durch die enge Kooperation der internationalen Verbände der Fächer Kunst, Musik und Theater (InSEA, ISME, IDEA) gegenüber der UNESCO erreicht hat, haben wir noch viel zu tun. Unsere Freunde in den Verbänden der Musik- und Kunstlehrer sind in Konkurrenz und eigenen Problemen erstarrt und halten die Schotten dicht, und uns gelingt es nicht, an die gut gestarteten Kooperationen der 90er Jahre anzuknüpfen. Glaubt jemand ernsthaft, das Theater in der Mittelstufe gegen die Ignoranz der prof. Theater und die Konkurrenzangst der anderen künstlerischen Fächer und der Theaterpädagogen durchsetzen zu können? Als hätte das Konferenz-Programm nicht für ausreichend Beschäftigung gesorgt, trafen sich die Vertreter des europäischen Netzwerks von IDEA zusätzlich, um über die anstehenden Projekte, Probleme und Perspektiven zu sprechen. Als größere Schritte stehen an: -

Die internationale Tagung in Wildbad-Kreuth zur Umsetzung der Road Map in Europa mit den Bemühungen um einen europ. UNESCO-Chair für Kulturelle Bildung Ende Mai 2008.

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Das 2. World Creativity Summit, Anfang Juni 2008 in Taipeh, als Fortsetzung des Arbeitsprozesses der WAAE (s.o.) ebenfalls mit dem Ziel, auf die UNESCO-Weltkonferenz 2010 in Seoul einzuwirken.

 

 

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Das 3. offizielle Treffen des IDEA-Europe-Netzwerks im European Performers House, Dänemark, Ende Juni.

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Das erste Pilotprojekt eines europäischen Schultheatertreffens in Lund, Schweden, Anfang November 2008, das mit finanziellen Problemen zu kämpfen hat.

Und wir? Wir sind froh, wenigstens 5 Workshopleiter aus verschiedenen europäischen Ländern zum Schultheater der Länder einzuladen… - Mehr ist jederzeit möglich und wird immer nötiger! Überall in Europs und darüber hinaus registrieren unsere Verbände die relativ neuen und machtvollen Bemühungen der Theater um die Schulen. Theater, Kultur- und Bildungspolitik werden damit lange zufrieden sein, bevor Theater als Fach endlich existieren wird – oder verschwindet. So die gemeinsame Sorge der Vertreter aus 12 europäischen Ländern spätabends in der Taverne unterhalb der Akropolis. Eine schöne Kulisse für eine Tragödie! Die Athener Konferenz aber war kein Trauerspiel, sondern ein produktives Vergnügen, das Zuversicht und Energie gab.