B eiträge

zu

F riedrich N ietzsche

Reto Winteler

Friedrich Nietzsche, der erste tragische Philosoph Eine Entdeckung

s chwaBe

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B eiträge zu F riedrich N ietzsche

Quellen, Studien und Texte zu Leben, Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches Begründet von David Marc Hoffmann

Herausgegeben von Andreas Urs Sommer Band 17

S chwabe Verlag B asel

B eiträge zu F riedrich N ietzsche

Reto Winteler

Friedrich Nietzsche, der erste tragische Philosoph Eine Entdeckung

S chwabe Verlag B asel

Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel

Copyright © 2014 Schwabe AG, Verlag, Basel, Schweiz Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teile darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oder elektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden. Lektorat: Angela Zoller, Schwabe Gesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, Schweiz ISBN Printausgabe 978-3-7965-3310-5 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-3311-2 [email protected] www.schwabeverlag.ch

Inhaltsverzeichnis

Siglen

7

Einleitung

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1. Der Antichrist als ganze «Umwerthung aller Werthe»

15

2. Nietzsche im Spiegel des Zarathustra

47

3. Der «Turiner Nietzsche» Höhepunkt und Untergang

131

4. Die Dionysos-Dithyramben

251

Bibliographie

309

Dank

317

Personenregister

319

Sach- und Begriffsregister

323

Siglen

Werk- und Briefausgaben Nietzsches Schriften und Briefe werden zitiert nach KSA bzw. KSB oder KGB (für die Briefe an Nietzsche). Die Nachlassnotate werden mit der Sigle NL nach KSA und ergänzend nach KGW nachgewiesen. KSA Kritische Studienausgabe. Sämtliche Werke in 15 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1980. KSB Kritische Studienausgabe. Sämtliche Briefe in 8 Bänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, Berlin, New York 1986. KGW Kritische Gesamtausgabe, Werke, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York 1967ff. KGW IX Kritische Gesamtausgabe, Werke, neunte Abteilung: Der handschriftliche Nachlass ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription, hg. von Marie-Luise Haase, Michael Kohlenbach und Martin Stingelin, Berlin, New York 2001ff. KGB Kritische Gesamtausgabe, Briefwechsel, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin, New York 1975.

Werke GT Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872]; Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus. Neue Ausgabe mit dem Versuch einer Selbstkritik [1886], in: KSA 1, S. 9–156. UB Unzeitgemässe Betrachtungen I–IV [1873–1876], in: KSA 1, S. 157–510.   DS Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller [1873].

8

Siglen

  HL Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874].   SE Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher [1874].   WB Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth [1876]. MA I Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band [1878], in: KSA 2, S. 9–366. MA II Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band [1879], in: KSA 2, S. 367–704.   VM Erste Abtheilung: Vermischte Meinungen und Sprüche [1879].   WS Zweite Abtheilung: Der Wanderer und sein Schatten [1879]. M Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile [1881], in: KSA 3, S. 9–331. IM Idyllen aus Messina [1882], in: KSA 3, S. 333–342. FW Die fröhliche Wissenschaft («la gaya scienza») [1882; 1887], in: KSA 3, S. 343–651. Za Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen I–IV [1883–1885], in: KSA 4, S. 9–404. JGB Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], in: KSA 5, S. 9–243. GM Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887], in: KSA 5, S. 245–412. WA Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: KSA 6, S. 9–53. GD Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt [1888], in: KSA 6, S. 55–161. AC Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum [1888], in: KSA 6, S. 165–254. EH Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888], in: KSA 6,­ S. 255–374. DD Dionysos-Dithyramben [1888/89], in: KSA 6, S. 375–411. NW Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen [1888/89], in: KSA 6, S. 413–445.

Einleitung «Er missfällt mir.» – Warum? – «Ich bin ihm nicht gewachsen.» – Hat je ein Mensch so geantwortet? JGB 185, KSA 5.104

Der Enttäuschte spricht. – «Ich horchte auf Widerhall, und ich hörte nur Lob –» JGB 99, KSA 5.91

Es hat seine Zeit gedauert, bis Nietzsche in der akademischen Philosophie ernst genommen wurde. Nun wäre es an der Zeit, ihn auch als jenen Philosophen eigener Art ernst zu nehmen, als der er sich selbst verstand und verstanden werden wollte. Hier scheint insbesondere die Nietzsche-Forschung an ihre Grenzen zu stoßen: Nietzsche zu verstehen, wie er sich selbst verstand, sei unmöglich und ergäbe auch keinen Sinn, da verstehen immer anders verstehen sei, schreibt Josef Simon in seinem programmatischen Aufsatz mit dem Titel «Das neue NietzscheBild». Dieses zeichnet sich nach Simon dadurch aus, dass man Nietzsche «zunehmend als einen Philosophen wie andere Philosophen auch» betrachtet: «Ist er dies aber? Er wollte es gewiß nicht sein. Aber kann man nicht auch in dieser Beziehung einen Autor besser verstehen, als er sich selbst verstand? Meine These lautet, daß man es zumindest versuchen muß, um ihm gerecht zu werden.»1 Diese Sätze machen vor allem eines 1

Josef Simon, Das neue Nietzsche-Bild, in: Nietzsche-Studien 21 (1992) S. 1. «Verstehen ist anders verstehen, es ist die Version gegebener Zeichen und Zeichentexte in andere, um zu einem besseren, auch konsistenteren Verständnis zu gelangen.» – Abgesehen davon, dass das beste und konsistenteste Verständnis Nietzsches nach wie vor in Ecce homo zu finden ist, liegt die Schwierigkeit beim Verstehen gerade dieses Philosophen tatsächlich darin, dass sein Denken, Fühlen, Wollen in der Regel in ein ganz anderes, einen ganz anderen «Affekt-Haushalt» übersetzt werden muss. An sich aber ist nicht einzusehen, weshalb Nietzsche nur mehr oder weniger missverstanden werden kann. (Im Vorwort des Antichrist weist Nietzsche ausdrücklich auf die Bedin-

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Einleitung

deutlich: Dass es einem Berufs-Philosophen unmöglich ist, dass es für ihn keinen Sinn ergibt, Nietzsche so zu verstehen, wie er sich selbst verstand. Simons Aufruf zu einem besseren Verstehen Nietzsches ist selbst Ausdruck jener grundlegenden Differenz und Distanz, die er bestreitet, die Nietzsche jedoch immer zwischen sich und der Universitäts-Philosophie gesehen hat. Er trenne seinen Begriff des Philosophen meilenweit ab von einem Begriff, der «sogar noch einen Kant in sich schliesst, nicht zu reden von den akademischen ‘Wiederkäuern’ und andren Professoren der Philosophie», schreibt Nietzsche in Ecce homo, wo er sich selbst als den «ersten t r a g i s c h e n P h i l o s o p h e n» charakterisiert. Dass er als solcher (auch ohne seine «cynische» Selbst-Darstellung) gerade für den Gelehrten eine Provokation bedeutet, liegt auf der Hand.2 Die These, Nietzsche «gerecht zu werden», indem man ihn in jene philosophische Gemeinschaft zurückholt, von der er sich so entschieden distanzierte, ist eine raffinierte Antwort auf diese Provokation. Sie ­gehört zu jener «Philosophie der ‘Regel’ im Kampfe mit der ‘Ausnahme’», die in Jenseits von Gut und Böse den Psychologen zum Studium empfohlen wird und widerspiegelt als neues Nietzsche-Bild tatsächlich den Triumph der akademischen Forschung über Nietzsche, des «wissenschaftlichen Arbeiters» über den Philosophen. Mir geht es im Folgenden also um diesen Philosophen, der nicht verwechselt werden will:3 den ersten tragischen Philosophen, der es als seine Aufgabe verstand, den modernen Menschen vor eine Entscheidung zu gungen hin, unter denen man ihn versteht und dann «m i t N o t h w e n d i g k e i t versteht».) – «Mir scheint die Bemühung, einen Denker in seinem eigensten Anliegen zu verstehen, auch dann unumgänglich zu sein, wenn man ihn – unter welchen ­Gesichtspunkten auch immer – ‘von aussen’ betrachten will», schreibt zwanzig Jahre vor Simons Beitrag Wolfgang Müller-Lauter im Vorwort seines Standardwerks Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin, New York 1971. Diese Bemühung aufzugeben, wäre tatsächlich fatal. Allerdings scheint mir gerade bei Müller-Lauters Versuch einer «immanenten Darstellung und Kritik der Philosophie Nietzsches» auch die Perspektive «von aussen» immer mit im Spiel zu sein. 2 Wenn es in der dritten Unzeitgemässen Betrachtung über Schopenhauer heißt, dieser habe durch nichts zahlreiche Gelehrte mehr beleidigt als dadurch, «dass er ihnen nicht ähnlich sieht» (SE 7, KSA 1.411), so trifft das vor allem auch auf Nietzsche selber zu. Schon diese frühe Schrift bringt das Distanz-Gefühl gegenüber seinem damaligen ­Berufsstand unmissverständlich zum Ausdruck. Diese Distanz aber scheint mir hier, im Gegensatz zum umgekehrten Fall, der Erkenntnis nicht im Wege zu stehen. Nietzsche kennt eben beides, den Typus des Gelehrten wie denjenigen des (neuen) Philosophen aus eigener Erfahrung. 3 Natürlich ist es wichtig, Nietzsche gegen die immer wiederkehrenden populären (gerade auch unter «Gebildeten» populären und von ihnen tradierten) Missverständnisse und Verleumdungen zu verteidigen. Es ist aber auch nötig, Nietzsche gegen seine aka-

Einleitung

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stellen, ihm einen Ausweg aus dem Nihilismus zu zeigen und selbst als Beispiel voranzugehen. Von einer postumen Lebendigkeit dieses Nietzsche kann nach wie vor keine Rede sein,4 und insofern ist er mit seiner Aufgabe tatsächlich gescheitert. Insofern aber ist auch unsere aufwendige Beschäftigung mit dem Philosophen, ist der moderne Klassiker Nietzsche ein sehr zwiespältiges Phänomen: Wir sind – zumindest angesichts der überbordenden Forschungsliteratur – heute nicht allzu weit davon entfernt, «Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra» zu errichten, wie Nietzsche es in irgendeiner Zukunft für möglich hielt (vgl. EH, Bücher 1, KSA 6.298). Wir sind jedoch sehr weit entfernt von «Institutionen […] in denen man lebt und lehrt, wie ich [Nietzsche] leben und lehren verstehe» (ebd.). Woran es nach wie vor fehlt sind jene großen Erzieher, welche «s e l b s t e r z o g e n sind, überlegene, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, s ü s s gewordene Culturen» (GD, Was den Deutschen abgeht 5, KSA 6.107). Anlässlich der Einweihung des Naumburger Nietzsche-Dokumentationszentrums blickt Werner Stegmaier optimistisch in die Zukunft der Nietzsche-Forschung: Auf der Grundlage eines Jahrhunderts intensiver systematischer Forschung gehe es nun darum, «eine Nietzsche-Philo­ logie [zu] fördern, die konsequent nach seinen eigenen Forderungen verfährt. Sie wird noch viele Generationen von Nietzsche-Forscherinnen und -Forschern beschäftigen und viele neue Nietzsches zutage treten lassen».5 Aber was liegt zuletzt an der Beschäftigung all dieser Nietzsche-Forscherinnen und -Forscher? Viele neue Nietzsches sollen zutage treten? – Ein paar wenige würden genügen … * Das vorliegende Buch ist in vier Teile gegliedert; es ist wichtig, diese der Reihe nach zu lesen. Im Zentrum des Ganzen steht das, was Nietzsche immer wieder als seine große «(Lebens-)Aufgabe» beschrieben hat, welche sich spätestens mit dem Zarathustra als Versuch einer Umwertung aller Werte benennen lässt. demischen Verteidiger zu verteidigen. Dass man damit zwangsläufig zu seinem unkritischen «Hagiographen» wird, ist nur ein weiteres populäres Missverständnis. 4 Dieser Nietzsche ist nicht der erfolgreiche «Trend-Designer» unserer Zeit (Peter ­Sloterdijk, Über die Verbesserung der guten Nachricht. Nietzsches fünftes «Evangelium», Frankfurt a.M. 2001, S. 54ff.), er ist – nach wie vor und mehr denn je – das böse Gewissen dieser Zeit. 5 Werner Stegmaier, Nietzsche im 21. Jahrhundert. Mittel und Ziele einer neuen Nietzsche-Philologie, in: Nietzscheforschung 16 (2009) S. 17–26, zit. S. 26.

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Einleitung

Der erste Teil6 beschäftigt sich mit der Frage, weshalb sich Nietzsche gegen Ende November 1888 plötzlich dazu entschließt, den Antichrist – bis dahin das «erste Buch» seines gut vorbereiteten «Hauptwerks» – zur ganzen Umwerthung zu bestimmen. Statt von dieser Entscheidung abzusehen oder sie in Anbetracht des nahen Zusammenbruchs jedenfalls nicht mehr sehr ernst zu nehmen, wird hier einmal ausdrücklich nach ­ihrem Sinn und Zustandekommen gefragt. Nietzsche entschließt sich im Zuge seines Rückblicks auf sein Leben und Werk zu diesem Schritt (der innerhalb der Entwicklungsgeschichte seines Denkens in Ecce homo implizit auch plausibel begründet wird). Seine ‘Wiederbegegnung’ mit Zarathustra scheint hier eine entscheidende Rolle zu spielen: In seiner großen Dichtung sieht Nietzsche sein positives Gegen-Ideal auf eine unüberbietbare Weise bereits gegeben, wobei sich Zarathustras höchste Form der Bejahung, sein dionysischer Geist gerade im vernichten­den Schlag gegen das «asketische Ideal», die lebensverneinende Moral manifestieren soll. Der zweite Teil konzentriert sich auf Nietzsches non plus ultra, Also sprach Zarathustra. Ausgehend von einer kurzen Interpretation der Dichtung am Leitfaden ihrer «Grundconception», dem Gedanken der ewigen Wiederkunft, wird die Aufmerksamkeit schließlich vor allem auf ihr Ende (und die verschiedenen Auslegungen des vierten und letzten Teiles) fokussiert. Wenn Nietzsche im Jahr der Umwerthung diesen letzten Teil vielsagend als ein «Zwischenspiel» bezeichnet, ist das insofern sinnvoll, als er selber nun als Vollender des Zarathustra-Werkes in Erscheinung tritt. Das, was er in Ecce homo als die «neinsagende, neinthuende Hälfte» seiner Aufgabe nach dem Zarathustra beschreibt, ist in diesem schon deutlich vorgezeichnet. Zarathustras zentrale ‘Lehren’ aber werden von Nietzsche in der Folge nicht aufgegeben: Sein Spätwerk beantwortet vielmehr die Frage, was ihn an diesen Lehren vor allem interessiert (und von Anfang an vor allem interessiert). Gegen die Meinung und Mahnung, dass Zarathustra nicht mit seinem Erfinder zu verwechseln sei, möchte ich also zeigen, dass sein «Sohn Zarathustra» Nietzsche tatsächlich in sich selbst bestärken, zu sich selbst und seiner entscheidenden Aufgabe ermutigen soll. Nietzsches Identifizierung mit Zarathustra ist deshalb auch im dritten Teil wichtig, der sich mit dem letzten Jahr im Leben des Philosophen, dem ‘Turiner Nietzsche’ und seinem tragischen Ende beschäftigt. 6

Dieser Teil entspricht (von einigen Ergänzungen abgesehen) dem in den NietzscheStudien 38 (2009) erschienenen Diskussions-Beitrag: Nietzsches Antichrist als (ganze) Umwerthung aller Werthe. Bemerkungen zum «Scheitern» eines «Hauptwerks». Ich danke dem Verlag De Gruyter für die Genehmigung zum Wiederabdruck.

Einleitung

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Ich behaupte, dass man diesen letzten Nietzsche bisher unweigerlich immer ‘von hinten’, seinem Ende im Wahnsinn her, gelesen hat. Im Unterschied dazu versuche ich hier ausdrücklich, ihn bis zuletzt aus seinem Denken, der Konsequenz seiner philosophischen Aufgabe heraus zu verstehen. Im Jahr 1888 war Nietzsche ein Autor, der seine Schriften seit dem (dritten) Zarathustra auf eigene Kosten drucken lassen musste und der nach der Veröffentlichung von über einem Dutzend Schriften auch für sein angekündigtes Hauptwerk «nicht die geringste Aussicht» hatte, dass es «auf andrem Wege zur Welt kommt als durch ‘Selbstdruck’» (Brief an seine Schwester, 15. Oktober 1887, KSB 8.167). Diese Isoliertheit stand in größtem Kontrast zu jenem «Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit», die seine Umwerthung bedeuten und (als «Herausforderung an Jedermann») provozieren sollte (EH, Schicksal 1 und 7). Nach der Beendigung seiner Aufgabe drohte sich genau das zu wiederholen, was Nietzsche um jeden Preis zu verhindern suchte: die für ihn geradezu traumatische Erfahrung nach der Veröffentlichung des Zarathustra. In dieser Situation setzte der Philosoph alles daran, sein Werk vor der Nichtbeachtung, aber auch vor seiner ‘Abwertung’ zu bewahren. Dieser dritte Teil setzt sich insbesondere kritisch mit der Auslegung von Karl Jaspers auseinander, dessen Einschätzung des letzten Nietzsche (insbesondere des «Pathologischen» dieses letzten Nietzsche) mir immer noch weit verbreitet scheint. Der vierte Teil schließlich enthält eine Interpretation von Nietzsches letztem Werk, den in der Forschung wenig beachteten Dionysos-Dithyramben. In diesem Teil werden die zentralen Themen und Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchung zusammengefasst: Das mit der anti­christlichen Umwerthung vollendete (zweite) «Hauptwerk»; Nietzsches Identifizierung mit seinem «Sohn» Zarathustra; die Frage des Wahnsinns bzw. des tragischen Endes des Philosophen. – Insofern sich in ihnen das tragische Pathos konzentriert, das den ‘ganzen’ Nietzsche auszeichnet, können die Dithyramben selbst als eine Art Zusammenfassung seines Denkens und Lebens betrachtet werden. Vor allem aber zum Verständnis des letzten Nietzsche scheinen mir diese «Lieder Zarathustra’s» unentbehrlich. Obwohl er für sein letztes Werk bekanntlich auf dichterische Fragmente aus der Zarathustra-Zeit zurückgreift, werden die Dithyramben also aus dem Kontext ihrer Entstehung heraus verstanden (und nicht nur trotz der Zeit ihrer Entstehung ernst genommen): Als ‘Begleitmusik’ zur letzten Periode im Leben des Philosophen, die den bewussten Abschluss seiner Lebensaufgabe bedeutet. Diesen Abschluss feiert Nietzsche hier vor allem auch als einen letzten Sieg über seinen großen Antipoden Richard Wagner.

1. Der Antichrist als ganze «Umwerthung aller Werthe» Ich mag nicht erzählen, w a s Alles fertig wurde: Alles ist fertig. Nietzsche an Carl Fuchs, 11. Dez. 1888, KSB 8.522

Man scheint in der Forschung allgemein davon auszugehen, dass die zentralen Fragen um Nietzsches ‘Hauptwerk’ mit Mazzino Montinaris Untersuchungen zum Nachlass endgültig beantwortet sind.1 Dies ist hinsichtlich der von Montinari aufgezeigten historischen Fakten auch zweifellos der Fall. Was die Interpretation dieser Fakten betrifft, so hat eine wirkliche Auseinandersetzung allerdings noch nicht einmal begonnen. Die Frage nach dem Zustandekommen von Nietzsches Entscheidung, den Antichrist plötzlich als vollendete «Umwerthung aller Werthe» zu betrachten, hat die Forschung bisher ebenso wenig beschäftigt wie diejenige nach der Plausibilität dieser Entscheidung, die Frage, inwiefern es tatsächlich sinnvoll ist, dieses «erste Buch» eines ursprünglich geplanten «Hauptwerks» als ganze, das heißt nicht bloß defizitäre, insbesondere um ihren positiv-konstruktiven Teil gebrachte Umwerthung zu verstehen. Thomas Brobjer bemerkt sehr zu Recht, wie wenig diese Hauptwerk-Problematik bisher Gegenstand der Nietzsche-Forschung gewesen und wie sehr die Diskussion hier immer wieder am ursprünglich geplanten «Willen zur Macht» und den Machenschaften des Nietzsche-Archivs hängen geblieben ist.2 Was die Frage nach dem Status 1

Vgl. Mazzino Montinari, Nietzsches Nachlass von 1885 bis 1888 oder Textkritik und Wille zur Macht, in: Jörg Salaquarda (Hg.), Nietzsche, Darmstadt 1980, S. 323–348. Zur Entwicklung des von Nietzsche geplanten ‘Hauptwerks’ vgl. auch den Kommentarband zur kritischen Studienausgabe (KSA 14.383ff.). 2 Thomas H. Brobjer, Nietzsche’s magnum opus, in: History of European Ideas 32 (2006) S. 278–294. Brobjer macht auf die zentrale Rolle aufmerksam, die ein solches Projekt seit der Zarathustra-Zeit in Nietzsches Leben und Denken spielte. Ab Herbst 1886 spricht Nietzsche ausdrücklich von jenem «Hauptwerk» unter dem Titel Der Wille zur Macht bzw. Umwerthung aller Werthe, dem insbesondere im so fruchtbaren

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Der Antichrist als ganze «Umwerthung aller Werthe»

des Antichrist betrifft, vermag mich allerdings auch Brobjers Beitrag nicht zu überzeugen. Bevor man darüber rätselt, was die Vollendung jenes ‘Hauptwerks’ wohl verhindert hat, sollte die Bestimmung des Antichrist zur ganzen «Umwerthung aller Werthe» erst einmal ernst genommen werden. Die Frage, ob Nietzsche zusammenbrach, nachdem er diese für ihn entscheidende Schrift vollendet hatte, oder ob er dieselbe nicht vollendete, weil er zusammenbrach, scheint mir jedenfalls sehr wichtig. Zunächst seien hier die wichtigsten Ergebnisse von Montinaris Textkritik noch einmal in Erinnerung gerufen: Zwischen dem 26. August und dem 3. September 1888 verzichtet Nietzsche auf den bis dahin geplanten «Willen zur Macht». Aus den umfangreichen Notizen zu diesem Werk entstanden die Götzen-Dämmerung und der Antichrist. Der Rest dieser späten Notate ist, wie Montinari trocken bemerkt – Nachlass.3 Nietzsche entwarf nach dem 3. September jedoch weiterhin Pläne für ein Hauptwerk unter dem neuen Titel «Umwerthung aller Werthe». Es existieren sechs Varianten einer solchen je vier Bücher umfassenden Umwerthung. Den Anfang macht in allen Plänen Der Antichrist als Kritik des Christentums. Ich zitiere den ersten und den letzten dieser sechs Entwürfe: Erstes Buch. D e r A n t i c h r i s t . Versuch einer Kritik des Christenthums. Zweites Buch. D e r f r e i e G e i s t . Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung. Drittes Buch. D e r I m m o r a l i s t . Kritik der verhängnissvollsten Art von Unwissenheit, der Moral. Viertes Buch. D i o n y s o s . Philosophie der ewigen Wiederkunft. (NL September 1888, KSA 13.545)

Jahr 1888 seine ganze Aufmerksamkeit gehörte. – Über den Umgang des NietzscheArchivs mit dem an sich bekannten Faktum einer im Antichrist vollendeten Umwerthung informiert David Marc Hoffmann, Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs. Supplementa Nietzscheana Bd. 2. Berlin, New York 1991. 3 Vgl. den Kommentar zur kritischen Studienausgabe, KSA 14.400.

Der Antichrist als ganze «Umwerthung aller Werthe»

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Der letzte, wahrscheinlich nach Beendigung des Antichrist niedergeschriebene Plan lautet: Der freie Geist Kritik der Philosophie als nihilistischer Bewegung Der Immoralist Kritik der Moral als der gefährlichsten Art der Unwissenheit Dionysos philosophos (NL Oktober 1888, KSA 13.613)

Montinari schreibt zur Geschichte dieser Entwürfe: Man bemerkt eine Schwankung in der Reihenfolge des zweiten und dritten Buches: die Kritik der Philosophie kommt an zweiter Stelle, die der Moral an dritter im ersten, zweiten und sechsten Plan; im dritten und vierten Plan kommt zunächst die Kritik der Moral, dann die der Philosophie. Die Gesamtkonzeption bleibt sich gleich: Nach der Kritik des Christentums, der Moral, der Philosophie, beabsichtigt N die Verkündigung seiner Philosophie. Diese ist die Philosophie des Dionysos, die Philosophie der ewigen Wiederkunft des Gleichen. (KSA 14.400)

Bekanntlich wurde eine solche Umwerthung in vier Büchern nie verwirklicht. Nietzsche erklärte stattdessen (zum ersten Mal in einem Brief an Georg Brandes vom 20. November 1888) den Antichrist zur ganzen «Umwerthung aller Werthe». Diese Entscheidung wird von den meisten Interpreten zwar wahr-, aber selten wirklich ernst genommen. Dagegen ist das Urteil weit verbreitet, dass Nietzsche am «positiven» Teil seiner Umwerthung, das heißt in letzter Konsequenz an dieser Umwerthung selbst, gescheitert oder dieser Aufgabe zumindest ausgewichen sei. «Die ‘Umwertung’ bleibt aus», überschreibt Curt Paul Janz in seiner großen Nietzsche-­ Biographie das letzte Kapitel im Leben des «freien Philosophen».4 Diese 4

Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie in drei Bänden, München, Wien 1978/79. Bd. 2, S. 580. Den Antichrist betrachtet Janz als eine weitere «unzeitgemässe Betrachtung», die Nietzsche in einer Art «Rohzustand» zurück ließ und die jedenfalls nicht als die von ihm versprochene «Umwertung aller Werte» gelten kann (vgl. ebd., S. 650). – Andererseits wird Nietzsches Umwerthung aller Werthe auch da, wo ihre Identifizierung mit dem Antichrist zur Kenntnis genommen wird, oft unwillkürlich mit Nietzsches Krankheit in Verbindung gebracht. Barbara von Reibnitz etwa spricht vom «‘Antichrist’, der geplanten ‘Umwerthung aller Werthe’, an der Nietzsche bis zu seiner Erkrankung gearbeitet hat» (Barbara von Reibnitz, Nietzsches ‘Griechischer Staat’ und das deutsche Kaiserreich, in: Der altsprachliche Unterricht 30/3 [1987]­ S. 86). In den letzten Turiner Monaten arbeitete Nietzsche an der Korrektur der ­Götzen-Dämmerung, an Ecce homo, Nietzsche contra Wagner und den Dionysos-­

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Der Antichrist als ganze «Umwerthung aller Werthe»

Einschätzung scheint mir nach wie vor charakteristisch für die Nietzsche-Forschung überhaupt. Als Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit5 hier ein Zitat aus Keith Ansell-Pearsons Einleitung zu A Compan­ ion to Nietzsche: The story of the works of 1888 is intimately bound up with the gradual abandonment of that project […] in the course of the year it was retitled and reconceived as Reval­ uation of All Values before being definitively shelved shortly before Nietzsche’s mental collapse – but its prospect haunted him till the end.6

Wenn Nietzsche die Aussicht auf dieses ‘Hauptwerk’ aber tatsächlich bis zum Schluss verfolgte (was nach Ansell-Pearson auch seine Hochstimmung begründet),7 kann er dasselbe doch nicht gleichzeitig definitiv aufgegeben haben. Angesprochen ist hier eine aktive Entscheidung vor dem Zusammenbruch: Aufgegeben (und in der Tat definitiv aufgegeben) hat Nietzsche damals jedoch nur jene Umwerthung in vier Büchern. Es geht hier eben nicht um die Frage, ob dieses lange vorbereitete ‘Hauptwerk’ schließlich aufgegeben, sondern welche Form desselben aufgegeben wurde. Anders als Nietzsche kann sich Ansell-Pearson offenbar nicht vom ursprünglichen Plan dieser Umwerthung lösen. Und anders als Nietzsche interpretiert er die «neinsagenden» Schriften des Jahres 1888 als lediglich vorbereitendes Zwischenspiel für eine neuerlich «jasagende» Philosophie jenes «Hauptwerks»: In preparation for the earth-shatteringly affirmative philosophy to come, he was concerned to settle his accounts and draw a line under as many as possible of his philosophical antagonisms, bringing to a conclusion the period of negativity inaugurated by Beyond Good and Evil.8 Dithyramben – und nicht mehr am Antichrist bzw. der geplanten Umwerthung aller Werthe. 5 Noch jünger ist die Nietzsche-Einführung von Werner Stegmaier. In deren Chronologie ist für das Jahr 1886 zunächst die Rede von Nietzsches Plan zu einem vierbändigen Hauptwerk unter dem Titel «Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwerthung aller Werthe»: «Immer neue Pläne dieser Art; das Hauptwerk kommt nicht zustande.» Zum Herbst 1888 heißt es dann: «Nach wenigen Tagen [in Turin] vorläufiger Abschluss von Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum (erscheint erst 1895), von Nietzsche noch in Sils-Maria vorbereitet und eine Zeit lang als I. Buch der ‘ U m w e r ­ t h u n g a l l e r W e r t h e ’ betrachtet» (Werner Stegmaier, Friedrich Nietzsche zur Einführung, Hamburg 2011, S. 55 bzw. S. 58). Das ist offenbar auch hier wichtiger als die Tatsache, dass Nietzsche den Antichrist schließlich als ganze Umwerthung versteht. 6 Keith Ansell-Pearson (Hg.), A Companion to Nietzsche, Blackwell Publishers 2006, Introduction, S. 18. 7 Nietzsche «wrote the works of 1888 in high spirited anticipation of the momentous impact he was shortly to have on the world» – nämlich mit der Veröffentlichung jenes «magnum opus» (ebd.). 8 Ebd.

Der Antichrist als ganze «Umwerthung aller Werthe»

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Wenn Nietzsche in Ecce homo seine Aufgabe in eine «jasagende» bzw. «neinsagende» Hälfte unterteilt, so umfasst letztere, beginnend mit Jenseits von Gut und Böse, für ihn jedoch offensichtlich die gesamte Umwerthung aller Werthe. Die Schriften des Jahres 1888 sind ohne Zweifel in engem Zusammenhang zu sehen mit jenem «great work to come». Dabei kann der Antichrist jedoch unmöglich selbst zu den vorbereitenden Schriften gerechnet werden. In diesem Werk sah Nietzsche schließlich das Potential, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke zu brechen bzw. die Zeitrechnung zu verändern. Das wird schon am Ende des Antichrist selbst (zu einer Zeit also, als das Projekt einer Umwerthung in vier Büchern immer noch aktuell war) ganz deutlich: Und man rechnet die Z e i t nach diesem dies nefastus, mit dem dies Verhängniss anhob, – nach dem e r s t e n Tag des Christenthums! – W a r u m n i c h t l i e b e r n a c h s e i n e m l e t z t e n ? – N a c h H e u t e ? – Umwerthung aller Werthe! … (AC 62, KSA 6.253)9

Der Antichrist wird von Nietzsche also durchaus nicht als Abschluss ­einer «period of negativity» verstanden, die lediglich den Boden für eine «earth-shatteringly affirmative philosophy» bereiten sollte. Als Höhepunkt ihrer «neinsagenden Hälfte» bildet diese Umwerthung vielmehr den Abschluss einer im Ganzen jasagenden Aufgabe. Und damit den – ausdrücklichen! – Abschluss von Nietzsches philosophischer Aufgabe überhaupt.

Nietzsches Gründe für die Abkehr vom Projekt einer Umwerthung in vier Büchern Was aber könnte Nietzsche im November 1888 dazu bewogen haben, seinen ursprünglichen Plan einer Umwerthung in vier Büchern plötzlich aufzugeben? Nach Beendigung des Antichrist, aber vor dessen Ver­ öffentlichung hält Nietzsche es für «unerlässlich, zu sagen, w e r i c h b i n» (EH, Vorwort 1, KSA 6.257). Er beginnt mit der Arbeit an Ecce homo. Am 20. November 1888 heißt es zu dieser Schrift in einem Brief an Georg Brandes: «Das Ganze ist das Vorspiel der U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e, das Werk, d a s f e r t i g v o r m i r l i e g t» (KSB 9

Nietzsche hätte eine solche Aussage kaum an dieser Stelle platziert, wenn er nicht tatsächlich schon diese Vollendung des Antichrist (am 30. September 1888) als entscheidendes Ereignis empfunden hätte. Das zeigt auch die besondere Erwähnung am Ende des Vorworts zur Götzen-Dämmerung (vgl. dazu auch Nietzsches Brief an Overbeck vom 18. Oktober 1888, KSB 8.453).

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Der Antichrist als ganze «Umwerthung aller Werthe»

8.482). Es ist dies, wie oben erwähnt, das erste Zeugnis dafür, dass Nietzsche nun den Antichrist als abgeschlossene Umwerthung betrachtet. «Meine U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e, mit dem Haupttitel ‘der Antichrist’ ist fertig», heißt es in einem Brief an Paul Deussen vom 26. November 1888 (KSB 8.492). Diese Entscheidung wird auch in Ecce homo eingetragen: Unter den Zusätzen, die Nietzsche nun in die Druckerei schickt, befindet sich auch das dritte Stück des Abschnitts über die Götzen-Dämmerung mit der Entstehungsgeschichte der Umwer­ thung (d.h. des Antichrist): Unmittelbar nach Beendigung des eben genannten Werks [Götzen-Dämmerung] und ohne auch nur einen Tag zu verlieren, griff ich die ungeheure Aufgabe der U m w e r ­ t h u n g an, in einem souverainen Gefühl von Stolz, dem nichts gleichkommt […]

In Turin war schließlich «nur das letzte Viertel des Werks noch abzu­ thun. Am 30. September grosser Sieg; Beendigung der Umwerthung [ursprünglich: «siebenter Tag»]; Müssiggang eines Gottes am Po entlang» (EH, GD 3, KSA 6.356, vgl. auch den «Prolog» zu Ecce homo, wo schließlich die «Umwerthung aller Werthe» – d.h. ausdrücklich nicht mehr nur deren erstes Buch – zu den «Geschenken» des vergangenen Jahrs gerechnet wird).10 Am 27. Dezember endlich schreibt Nietzsche an seinen Verleger Naumann, dass Ecce homo, «sobald es fertig ist», an die Übersetzer überzugehen habe. Für die U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e habe ich noch gar keinen Termin. Der Erfolg von E c c e h o m o muß hier erst vorangegangen sein. – Daß d a s Werk [d.h. eben die Umwerthung] druckfertig ist, habe ich Ihnen geschrieben. (KSB 8.553)

Sehen wir nun zunächst, wie die Herausgeber der kritischen Ausgabe, Giorgio Colli und Mazzino Montinari diese Umorientierung Nietzsches interpretieren. Montinari lässt in seiner «Chronik zu Nietzsches Leben» (KSA 15) das schlichte Faktum unkommentiert stehen. Als solches mutet Nietzsches plötzliches Umdenken zweifellos ziemlich seltsam an. Für Montinari gehört es zusammen mit den letzten Schriften von Ecce homo bis zu den politischen Proklamationen gegen das Deutschland des jungen Kaisers Wilhelms II. «in den scheinbar verwirrenden Abschluss von Nietzsches Lebenswerk, der das Ende seines Geistes bedeutete. Die Turiner Katastrophe kam, als Nietzsche wortwörtlich mit allem fertig war».11 10 «Die

U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e , die D i o n y s o s - D i t h y r a m b e n und, zur Erholung, die G ö t z e n - D ä m m e r u n g – Alles Geschenke dieses Jahrs, sogar seines letzten Vierteljahrs!» (EH, KSA 6.263) 11 Montinari, Nietzsches Nachlass, S. 348. – Nietzsches Turiner Zeit bedeutet für Montinari zugleich «Vollendung» seines Lebenswerks und «Ende, Zerstörung von Nietz-

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Ein Zusammenhang zwischen Nietzsches Entscheidung und seinem geistigen Zusammenbruch scheint auch für Colli gegeben: Erstaunlich ist, dass diese Niederlage – denn als solche muss die Aufgabe eines lang verfolgten Plans empfunden werden – mit keinem Absacken, keinem Zustand der Depression einhergeht, sondern sich im Gegenteil in einem Gefühl der Erleichterung äußert, als hätte man ein schweres Bündel abgestellt, ja in einer Überschwenglichkeit, einer irreversiblen Euphorie. Hier kommt das Pathologische ins Spiel, denn ein visionärer Impetus lässt die Frustration als Eroberung erscheinen, und zwar mit Hilfe einer anomalen Transposition, die hemmungslos nach raschen literarischen Realisierungen strebt.12

Das Aufgeben seiner ursprünglichen Pläne wird zwar selten explizit mit Nietzsches Krankheit erklärt. Unterschwellig bleibt diese Erklärung aber solange dominant, als man auf eine alternative Deutung verzichtet. Wenn Nietzsche das angekündigte ‘Hauptwerk’ in vier Teilen als solches nicht realisiert hat, «most reasonably the cause for this must be regarded to be his mental collapse», schreibt zuletzt auch Thomas ­Brobjer in seinem Aufsatz über Nietzsches magnum opus.13 Brobjer scheint dabei bestrebt, Nietzsches Änderung des ursprünglichen Plans möglichst in die Nähe seines Zusammenbruchs Anfang Januar 1889 zu rücken. Als einziges Zeugnis, das diese Änderung eindeutig belegt, wird hier der kurze Einleitungstext zum Ecce homo erwähnt: At the end of the preface, as a separate paragraph, is a short text originally dated on Nietzsche’s birthday, 15 October 1888, in which he in the first version again r­ efers to Der Antichrist as the first book of his «Hauptwerk». […] When Nietzsche revised this text in November and December, he struck out the date, but – significantly – continued to refer to Der Antichrist as the first volume of the «Hauptwerk». When Nietzsche carefully read the manuscript of Ecce homo during the first week of December – «weighing each word on a gold scale» – and then read the proofs during the middle of the month, he still kept referring to Der Antichrist as «the first book of the Revaluation» (my emphasis). However, just days before his mental collapse, 30 or 31 of December 1888, he sent instructions to his publisher to strike out the words «the first book of» and changed the text to: «The Revaluation of all Values, sches Geist» (vgl. Mazzino Montinari, Ein neuer Abschnitt in Nietzsches ‘Ecce homo’, in: Nietzsche-Studien 1 [1972] S. 388). Einen Einfluss von Nietzsches (Geistes-)Krankheit auf sein Denken glaubt Montinari «von den ersten Tagen seines Turiner Aufenthalts an» zu sehen. Seitdem mache sich «in allem, was Nietzsche schreibt, auch in seinen Briefen, eine unsägliche psychische Spannung bemerkbar, die sich gelegentlich auch als Euphorie äußert. Die Krankheit hat ihr Zerstörungswerk begonnen» (Mazzino Montinari, Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, übers. v. Renate Müller-Buck, Berlin, New York 1991, S. 128). 12 Vgl. Collis Nachwort zu Nietzsches Spätschriften in KSA 6.456. Insbesondere auf die von Colli bemerkte «irreversible» Euphorie des letzten Nietzsche – die Euphorie dessen, der mit berechtigtem Stolz auf eine vollendete Lebensaufgabe zurückblickt – wird im Kapitel über den «Turiner Nietzsche» ausführlich eingegangen. 13 Brobjer, Nietzsche’s magnum opus, S. 294, Anm. 66.

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Der Antichrist als ganze «Umwerthung aller Werthe» the Songs of Zarathustra, and, as relaxation, the Twilight of the Idols, my attempt to philosophize with a hammer – all of them gifts of this year, of its last quarter even!».14

Tatsächlich scheint es merkwürdig, wenn noch nach der sorgfältigen Prüfung des Ecce homo-Manuskripts von Anfang Dezember der Antichrist als «erstes Buch» der Umwerthung stehen bleibt. Die von B ­ robjer erwähnte Streichung des Datums über diesem Einleitungstext scheint zudem darauf hinzudeuten, dass Nietzsche nun tatsächlich ganz vom Ende her auf die «Geschenke» dieses Jahres zurückblickt. Gerade das aber ist nicht der Fall! Der Bezugspunkt bleibt hier nach wie vor der 15. Oktober, Nietzsches Geburtstag: «Nicht umsonst begrub ich heute mein vierundvierzigstes Jahr, ich d u r f t e es begraben, – was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich», heißt es unmittelbar vor dem von Brobjer zitierten Text. Aus der Perspektive, aus der Nietzsche hier beginnt, sich [sic!] sein Leben zu erzählen, ist und bleibt die Bezeichnung des Antichrist als «erstes Buch» der Umwerthung aller Werthe natürlich korrekt. Jene Änderung von Ende Dezember aber zeigt, dass es ihm zuletzt doch wichtiger war, in dieser zentralen Angelegenheit von Anfang an ganz eindeutig zu sein. – Die zweite Stelle in Ecce homo, an der Nietzsche in dieser Frage explizit wird, interpretiert Brobjer als unspezifischen Hinweis auf das geplante «Hauptwerk». «After some preamble, Nietzsche briefly again alludes to his writing of Der Antichrist or the first book of his Revaluation of all Values, without actually referring to its title»:15 So kommentiert Brobjer den (oben zitierten) letzten Abschnitt über die Götzen-Dämmerung in Ecce homo. Nietzsche bezieht sich hier jedoch eindeutig auf eine vollendete Umwerthung – und zwar schon in der ursprünglichen Version des Textes. Diese Version wurde am 26. November 1888 in die Druckerei geschickt, am selben Tag, an dem Nietzsche in seinem Brief an Paul Deussen den Antichrist als «fertige» Umwerthung aller Werthe bezeichnet. Anders als die genannten Interpreten (und entgegen der allgemeinen Neigung, den letzten Nietzsche ‘von hinten her’ zu lesen) sehe ich also keine Veranlassung, bei dieser Entscheidung das Pathologische ins Spiel zu bringen und halte es auch methodisch für geboten, zunächst nach Anhaltspunkten für eine andere Erklärung unseres Problems zu suchen. In dieser Zeit (um den 20. November 1888) steckt Nietzsche also mitten in der Arbeit an Ecce homo, genauer am Kapitel über seine eigenen 14 15

Ebd., S. 282f. Ebd., S. 284.

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Schriften.16 Das Wiederlesen dieser Schriften aber wird für ihn zum über Erwarten erfreulichen Erlebnis. Am 22. Dezember schreibt er an Heinrich Köselitz: Sehr curios! Ich verstehe seit 4 Wochen meine eignen Schriften, – mehr noch, ich schätze sie. Allen Ernstes, ich habe nie gewußt, was sie bedeuten; ich würde lügen, wenn ich sagen wollte, den Zarathustra ausgenommen, daß sie mir imponirt hätten […] Jetzt habe ich die absolute Überzeugung, daß Alles wohlgerathen ist, von Anfang an, – Alles Eins ist und Eins will. (KSB 8.545)

Schon am 9. Dezember heißt es (ebenfalls an Heinrich Köselitz): Ich blättere seit einigen Tagen in meiner Litteratur, d e r i c h j e t z t z u m e r s t e n M a l e m i c h g e w a c h s e n f ü h l e . Verstehen Sie das? Ich habe Alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt, – im Gegentheil! […] Über die d r i t t e und v i e r t e Unzeitgemäße werden Sie in E c c e h o m o eine Entdeckung lesen, daß Ihnen die Haare zu Berge stehn – mir standen sie auch zu Berge. Beide reden nur von mir, a n t i c i p a n d o … Weder Wagner, noch Schopenhauer kamen psychologisch drin vor … Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagen v e r s t a n d e n . – (KSB 8.515)

Beide Briefstellen beziehen sich auf den Zeitraum um den 20. November, in den Nietzsches Änderung seiner Pläne in Bezug auf die Umwer­ thung aller Werthe fällt. Diese Änderung hat also offenbar etwas mit der Beurteilung seiner früheren Schriften zu tun, denen er sich jetzt erst gewachsen fühlte. Dass die Begegnung mit seinem früheren Werk für Nietzsche zu einem solch überraschenden Erlebnis werden konnte, wirkt auf den ersten Blick vielleicht befremdlich (und im besonderen Fall jener Unzeitgemässen hat Nietzsche natürlich auch früher schon bemerkt, dass diese mehr mit ihm selbst als mit Wagner oder Schopenhauer zu tun haben). Vor allem seine extreme Fokussierung auf die ­jeweils gegenwärtige bzw. zukünftige Aufgabe lässt eine solche Über16

Am 6. November 1888 schickt Nietzsche seinem Verleger Naumann eine erste Fassung des Ecce homo mit der Bitte um einen Probedruck. Zusammen mit diesem Probedruck erhält er am 15. November von Naumann den Rat, dieser Schrift doch einen «mit Recensionen versehenen Katalog» seiner, Nietzsches, einzelnen Werke beizufügen, «so dass anstatt der üblichen Einen Seite Bücheranzeigen etwa für jedes titelmäs­ sig aufgeführte Werk eine halbe Seite in Aussicht zu nehmen wäre» (KGB III/6.350). Am 19. November schickt Nietzsche eine neue, erweiterte Fassung des Ecce homo in die Druckerei und schreibt dazu: «Die n e u e Schrift enthält über j e d e meiner früheren Schriften ein C a p i t e l , das den Titel der einzelnen Schrift zur Überschrift hat. Damit erledigt sich, wie ich glaube, Ihr Vorschlag: dem auch das widerspricht, daß es keine mittheilenswerthen Recensionen giebt» (an C.G. Naumann, KSB 8.480). Nietzsches Manuskript vom 19. November enthält tatsächlich bereits zahlreiche Texte über jede seiner Schriften (vgl. dazu den Kommentarband zur kritischen Studienausgabe, KSA 14.465ff.).

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raschung beim Rückblick jedoch glaubhaft erscheinen. Man müsse sich als Denker «vor allem Fertigen, Abgemachten zu schützen wissen», schreibt Nietzsche am 15. September 1888 an C. G. Naumann, er habe deshalb «f a s t n i e» seine eigenen Schriften bei sich (KSB 8.438).17 Wiederholt berichtet Nietzsche auch davon, dass er sein früher Geschriebenes vergessen habe. So heißt es zum Beispiel in einem Brief vom 30. März 1881: Wir müssen uns einen Schatz an Eigenem sammeln, für das Alter! Denn mit dem Gedächtniß ist es nichts, ich habe z.B. den Inhalt meiner frühern Schriften fast vergessen, und finde dies sehr angenehm, viel besser jedenfalls als wenn man alles früher Gedachte immer vor sich hätte und sich mit ihm auseinandersetzen müsste. Giebt es vielleicht doch eine solche Auseinandersetzung in mir, nun, so geht sie im «Unbewußten» vor sich, wie die Verdauung bei einem g e s u n d e n Menschen! Genug: wenn ich meine eignen Schriften sehe, ist es mir als ob ich alte Reiseabenteuer hörte, die ich vergessen hätte. (Brief an Heinrich Köselitz, KSB 6.77)18

Im ganz speziellen Fall des Zarathustra kommt allerdings noch hinzu, dass Nietzsche dieses Werk richtiggehend vergessen wollte, ja musste, da für ihn eine eigentliche Gefahr darin lag, dasselbe (und damit seine große «Aufgabe») zu Gesicht zu bekommen.19 Man darf also vermuten, 17

Auch als er 1886 die Vorreden für eine Neuausgabe seiner Bücher schrieb, hat Nietzsche offenbar auf ein Wiederlesen derselben verzichtet: «Es scheint mir nachträglich ein Glück, daß ich weder Menschliches, Allzumenschliches noch die Geburt der Tragödie zu Händen hatte, als ich diese Vorreden schrieb: denn, unter uns gesagt, ich halte alles dies Zeug nicht mehr aus» (an Köselitz, 31. Oktober 1886, KSB 7.274). (Damit soll natürlich nicht behauptet werden, dass Nietzsche vor Ecce homo ganz von ­einer Beschäftigung mit seinen früheren Werken abgesehen hat – Brobjer verweist z.B. auf eine eingehende Auseinandersetzung mit der Geburt der Tragödie im Frühjahr 1888, KSA 13.225ff.) 18 Am 13. Februar 1887 heißt es wiederum in einem Brief an Heinrich Köselitz: «Ich habe nämlich im letzten Oktober so geschwind wie möglich noch ein fünftes Buch zu besagter ‘Wissenschaft’ [der FW, R.W.] hinzu gekritzelt […] und bin jetzt selber einigermaßen neugierig, was ich damals eigentlich geschrieben haben mag. Es ist ganz weg aus meinem Gedächtnisse» (KSB 8.23). Schließlich wird dasselbe Phänomen von Nietzsche auch in Zusammenhang mit der Genealogie der Moral erwähnt – und im oben angetönten Sinn plausibel begründet: «Im Grunde hatte ich bloß den Titel der drei Abhandlungen im Gedächtniß: der Rest, das heißt der I n h a l t war mir flöten gegangen. Dies die Folge einer extremen geistigen Thätigkeit, die diesen Winter und dies Frühjahr ausfüllte und die gleichsam eine M a u e r dazwischen gelegt hatte» (an Meta von Salis, 22. August 1888, KSB 8.396f.). 19 Im Ecce homo schreibt Nietzsche vom «Meisterstück in der Kunst der Selbsterhaltung – der S e l b s t s u c h t … Angenommen nämlich, dass die Aufgabe, die Bestimmung, das S c h i c k s a l der Aufgabe über ein durchschnittliches Maass bedeutend hinausliegt, so würde keine Gefahr grösser als sich selbst mit dieser Aufgabe [die Nietzsche hier ausdrücklich als ‘U m w e r t h u n g d e r W e r t h e ’ benennt, R.W.] zu Gesicht zu bekommen […] wo nosce te ipsum das Recept zum Untergang wäre, wird Sich-Vergessen, Sich-M i s s v e r s t e h n , Sich-Verkleinern, -Verengern, -Vermittelmässigen zur Vernunft selber» (EH, Klug 9, KSA 6.293). Die Gefahr, die die

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dass seine Dichtung von Nietzsche in diesem Herbst 1888 nach langen Jahren tatsächlich zum ersten Mal wieder ausführlicher gelesen wurde (dafür sprechen insbesondere auch die zahlreichen Zarathustra-Zitate in Ecce homo), und ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass gerade diese Lektüre des Zarathustra seine Pläne in Bezug auf die Umwerthung entscheidend beeinflusst hat.20 Er habe jetzt «die absolute Überzeugung, dass Alles wohlgerathen ist, von Anfang an, – Alles Eins ist und Eins will», heißt es im oben zitierten Brief an Köselitz. Zumindest was Letzteres, die Kohärenz und Konsequenz seiner Texte betrifft, ist es allerdings bloß die «absolute Überzeugung», die sich hier von früheren Einschätzungen seines Werkes unterscheidet. Sein Vertrauen darauf, in der Hauptsache auf dem rechten Weg zu sein und – trotz allem – voranzukommen, seine «frohe Zuversichtlichkeit», dass seine Gedanken «aus einer gemeinsamen Wurzel heraus» entstanden und immer fester «in einander gewachsen und verwachsen sind» (vgl. GM, Vorrede 2, KSA 5.248), hat Nietzsche immer wieder zum Ausdruck gebracht. Anfang Mai 1888 schreibt er aus Turin: Ich habe fast jeden Tag ein, zwei Stunden jene Energie erreicht, um meine GesammtConception von O b e n n a c h U n t e n sehn zu können: wo die ungeheure Vielheit von Problemen, wie ein Relief und klar in den Linien, unter mir ausgebreitet lag. Dazu gehört ein maximum von Kraft, auf welches ich kaum mehr bei mir gehofft hatte. Es hängt Alles zusammen, es war schon seit Jahren Alles im rechten Gange, man baut seine Philosophie wie ein Biber, man ist nothwendig und weiß es nicht […] (Brief an Georg Brandes, KSB 8.310) Konfrontation mit seinem Zarathustra für ihn hatte, wird besonders dramatisch in einer Vorstufe von Ecce homo, Zarathustra geschildert (Za 5, KSA 14.497f.). Auch wenn Nietzsche den Sachverhalt hier zuspitzt: dass er die direkte Konfrontation mit dem Zarathustra möglichst meidet, ist plausibel und auf jeden Fall ernst zu nehmen. 20 In seinem Brief an Paul Deussen vom 26. November 1888, dem zweiten Zeugnis dafür, dass Nietzsche den Antichrist nun als ganze Umwerthung betrachtet, heißt es ausdrücklich, in Ecce homo werde «zum ersten Mal Licht über meinen Z a r a t h u s t r a gemacht» (KSB 8.492). Der Bezug auf Zarathustra ist tatsächlich in dieser ganzen Schrift, vom Vorwort bis zum letzten Kapitel «Warum ich ein Schicksal bin», sehr stark. – In seiner Kritik an meinem Beitrag (vgl. unten S. 37ff.) wendet Thomas ­Brobjer hier ein, eine solche «neue» Lektüre des Zarathustra sei unwahrscheinlich, Nietzsche scheine das Werk auch schon vor Mitte November 1888 wieder gelesen zu haben. Selbst die explizite Notiz: «Ich lese Zarathustra: aber wie konnte ich dergestalt meine Perlen vor die Deutschen werfen?» (NL Herbst 1887, KSA 12.451) kann sich jedoch auf eine ganz oberflächliche und zufällige Lektüre beziehen (womöglich sogar auf die in Anm. 19, bzw. in KSA 14.498 erwähnte). Mir kommt es hier darauf an, dass Nietzsche sich während seiner Arbeit an Ecce homo offensichtlich sehr intensiv mit seinem «non plus ultra» auseinandergesetzt hat (wobei die große Mehrheit der mit Zarathus­tra-Zitaten gespickten Stücke nach Montinaris Darstellung am oder nach dem 19. November in die Druckerei geschickt wurde). Natürlich ist bei dieser «neuen» Lektüre auch wichtig, dass Nietzsche seinen Zarathustra jetzt erstmals im Lichte des vollendeten Antichrist liest.

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Wenn Nietzsche nun auch nach Beendigung des Antichrist noch die Absicht hatte, seine Umwerthung in vier Büchern zu verwirklichen, wird die Arbeit daran mit Beginn des Ecce homo definitiv beendet. Die Tatsache, dass er sich nach Beendigung ihres ersten Buchs, aus größter Dankbarkeit heraus, zu diesem Rückblick auf sein Leben entschließt, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Nietzsche den Antichrist als entscheidenden Teil seiner Umwerthung betrachtete.21 Während seiner Arbeit an Ecce homo und in der Auseinandersetzung mit seinen früheren Schriften hat Nietzsche sich dann offensichtlich davon überzeugt, seine Aufgabe auf diese Weise, mit dieser Umwerthung (d.h. mit Ecce homo als «Vorrede» bzw. «Vorspiel» zum Antichrist) am besten zu erfüllen.22 Dass er seine «entscheidende» Philosophie schließlich in einer (gegenüber jenen ursprünglichen Plänen) weniger «systematischen» Darstellung besser aufgehoben sah, sollte dabei am wenigsten erstaunen. Nietzsches Widerstände gegen ein philosophisches System sind offensichtlich («Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit», heißt es bekanntlich in GD, Sprüche 26, KSA 6.63) und sicher nicht nur auf ein eigenes diesbezügliches Unvermögen zurückzuführen. «Ich mag nicht erzählen, w a s Alles fertig wurde: A l l e s i s t f e r t i g», heißt es schließlich am 11. Dezember in einem Brief an Carl Fuchs (KSB 8.522), nachdem Nietzsche am 6. Dezember mit der (vermeintlich) «letzten Manuscript-Revision von ‘E c c e h o m o’ fertig geworden» war (Brief an Strindberg, KSB 8.508) – und die Lebens-Aufgabe einer Umwertung aller Werte vollendet sah (vgl. auch EH, Klug 9, KSA 6.294). Sollte er damit der Darstellung seiner «positiven» Philosophie 21

Wahrscheinlich orientierte sich Nietzsche danach zunächst aus langer Gewohnheit weiterhin an jenem Plan, den er mit seinen Schriften dieses Jahres bereits einzuholen begann. Der Fall Wagner, die Götzen-Dämmerung (und dann auch Ecce homo selbst) scheinen tatsächlich sehr viel von den noch ausstehenden Büchern der Umwerthung aufzunehmen. Jedenfalls aber trifft nicht zu, wenn Brobjer schreibt, Nietzsches Notizbücher enthielten Pläne für diese restlichen drei Bücher «to the very end» (Nietzsche’s magnum opus, S. 296). Mit Beginn des Ecce homo wird die Arbeit an der Umwerthung offensichtlich beendet. Nicht bestreiten will ich hier natürlich «that Nietzsche’s late notes contain interesting material not included in his published books» (ebd., S. 284). Das gilt allerdings für den gesamten Nachlass. 22 Während bereits die Ecce homo-Abschnitte über Jenseits von Gut und Böse bzw. die Genealogie der Moral (die laut Kommentar von Colli/Montinari spätestens «Mitte November« fertig waren) gerade auf seine antichristliche Umwerthung verweisen, ist hier vor allem Nietzsches oben erwähnte Entdeckung beim Lesen seiner letzten beiden Unzeitgemässen noch einmal zu erwähnen. Insbesondere mit dem Bild, das Nietzsche in Schopenhauer als Erzieher vom «Schopenhauerischen Menschen» – einem unverkennbar dionysischen Menschen! – bzw. vom heroischen Philosophen zeichnet, dem Bild eines Richters der ihn umgebenden Kultur, konnte sich Nietzsche gerade als Autor des Antichrist identifizieren.

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einfach ausgewichen sein? – Letztere wurde von Nietzsche wie erwähnt unter dem Titel «Dionysos» zusammengefasst. Die Erläuterung dieses Begriffs aber steht nun tatsächlich im Zentrum des Ecce homo. «Mein Begriff ‘dionysisch’ wurde hier h ö c h s t e T h a t», schreibt Nietzsche im Abschnitt über Also sprach Zarathustra (vgl. EH, Za 6, KSA 6.343ff.). Er zitiert eine Stelle, an der Zarathustra die «h ö c h s t e A r t a l l e s S e i e n d e n» definiert und schließt daraus: «A b e r d a s i s t d e r B e g r i f f d e s D i o n y s o s s e l b s t» (ebd.). Nach weiteren Zarathustra-Zitaten folgt die Bestätigung: «A b e r d a s i s t d e r B e g r i f f d e s D i o n y s o s n o c h e i n m a l» (ebd.). Dies ist zweifellos die entscheidende Entdeckung, die Nietzsche beim Wiederlesen seines Werkes macht: Er sieht sein «positives» Ideal im Zarathustra und als «Typus Zarathustra» schon vollkommen gegeben. Zarathustras Aufgabe (die Nietzsche in Ecce homo ausdrücklich auch als seine eigene beschreibt), besteht zum einen im Lehren einer «höchste[n] Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann» (EH, Za 1, KSA 6.335), zum anderen in der «Entdeckung» bzw. «Vernichtung» der (christlichen) Moral. Beides aber sind notwendig zusammengehörende Aspekte ein und derselben Aufgabe einer Umwertung aller Werte. Im Abschnitt über Jenseits von Gut und Böse unterteilt Nietzsche seine Aufgabe in eine «jasagende» und eine «neinsagende, n e i n t h u e n d e Hälfte». Letztere (beginnend mit Jenseits von Gut und Böse) bedeutet «die Umwerthung der bisherigen Werthe selbst, der grosse Krieg, – die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung» (EH, JGB 1, KSA 6.350). Darüber, welche Entscheidung hier heraufbeschworen wird, lässt das Ende von Ecce homo dann keinen Zweifel: «Hat man mich verstanden? – », wird hier in aller Eindringlichkeit gefragt: «D i o n y s o s g e g e n d e n G e k r e u z i g t e n …» (EH, Schicksal 8 und 9, KSA 6.373f.). Ecce homo aber wurde von Nietzsche (wie schon das Vorwort ganz deutlich macht) offensichtlich in Hinblick auf seine bevorstehende Umwerthung konzipiert und wiederholt als deren «Vorrede» bezeichnet.23 Wenn er sich hier also vorstellt und den im Antichrist ausgetragenen großen Entscheidungskampf ankündigt, dann muss in dieser Schrift der Begriff des Dionysos zwangsläufig enthalten sein. Und eben dies ist – 23

Ecce homo sei «in jedem Sinne eine lange Vorrede» zur Umwerthung, schreibt Nietzsche am 6. November 1888 an seinen Verleger C. G. Naumann (KSB 8.464, vgl. auch Nietzsche an Köselitz, KSB 8.467). Diese enge Verknüpfung des Ecce homo mit dem Antichrist zeigt, dass es für Nietzsche offensichtlich entscheidend war, wer in dieser Umwerthung vernichtet. «Es hat nie ein Mensch mehr Recht zur Vernichtung gehabt als ich», heißt es am 8. Dezember 1888 in einem Brief an Helen Zimmern (KSB 8.512), wobei sich dieses Recht des Umwerters vor allem auf seine Unabhängigkeit und «Umfänglichkeit der Perspektive» bezieht (vgl. MA I, Vorrede 6, KSA 2.20f.).

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ganz besonders in jenem Abschnitt über Zarathustra – tatsächlich auch der Fall.24 Dabei ist für Nietzsche nun entscheidend, dass sich sein «positives» Gegen-Ideal gerade in diesem Antichrist und als Antichrist offenbart.25 24 Von

Ecce homo lässt sich tatsächlich sagen, dass Nietzsche hier die Titel der noch ausstehenden drei Bücher der ursprünglich geplanten Umwerthung («Der freie Geist» / «Der Immoralist» / «Dionysos philosophos»; vgl. oben S. 17) so konkret, d.h. so persönlich als möglich erläutert. – Außerdem ist insbesondere auch das letzte (erst im Oktober 1888 hinzugefügte) Kapitel der Götzen-Dämmerung der Erläuterung des ­Dionysischen gewidmet (vgl. GD, Was ich den Alten verdanke). Dazu schreibt Nietzsche Ende Oktober 1888 an Heinrich Köselitz: «Sind Sie zufrieden, daß ich den Schluß [der GD, R.W.] mit der D i o n y s o s - M o r a l gemacht habe? Es fiel mir ein, daß diese Reihe Begriffe um keinen Preis in diesem Vademecum meiner Philosophie fehlen dürfe» (KSB 8.462). 25 In Ecce homo, dieser «langen Vorrede» zu seiner «Umwerthung», stellt sich Nietzsche nicht nur vor als ein «Jünger des Philosophen Dionysos» (EH, Vorwort 2, KSA 6.258), sondern ausdrücklich auch als «der A n t i c h r i s t » (EH, Bücher 2, KSA 6.302), wobei beide Titel hier grundsätzlich aufeinander bezogen sind. Jörg Salaquarda hebt zu Recht die ursprünglich-positive Position hervor, auf die (auch) «der Antichrist» bei Nietzsche verweist; die Position jenes «fürsprechenden Instinkts des Lebens», dem eine Weltauslegung jenseits von Gut und Böse entspringt. Überzeugend macht Salaquarda dabei den Einfluss von Schopenhauers Antichrist-Definition auf Nietzsche geltend, der sich insbesondere im definitiven Titel und Untertitel seiner Umwerthung ­aller Werthe bemerkbar macht (Jörg Salaquarda, Der Antichrist, in: Nietzsche-Studien 2 [1973] S. 91–136). Im Zuge seiner Entscheidung, den Antichrist zur ganzen Umwer­ thung zu machen, wird «Der Antichrist. / Versuch einer Kritik des Christenthums» schließlich durch «Der Antichrist. / Fluch auf das Christenthum» ersetzt. Was auf den ersten Blick lediglich die Negation zu verschärfen scheint, verweist jedoch eben auf die positive Position, von der her im Antichrist argumentiert wird und die in diesem Titel tatsächlich aufgehoben ist. Bei Schopenhauer heißt es (im Nachtrag «Zur Ethik»): «Dass die Welt bloß eine physische, keine moralische, Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamentale Irrthum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im Grunde auch Das, was der Glaube als den Antichrist personificirt hat» (Parerga und Paralipomena II, § 109). Nietzsche hat wiederholt auf den «Fluch» hingewiesen, den Schopenhauer gegen denjenigen ausgesprochen habe, «der die Welt der moralischen Bedeutsamkeit entkleidet» (NL August-September 1885, KSA 11.626). Vor allem aber macht er deutlich, dass er diesen Schopenhauer’schen «Fluch» bewusst auf sich nimmt (explizit in NL Ende 1880, KSA 9.356), sich also jene «Perversität der Gesinnung» zu Eigen macht, die ihn zu «dem Antichristen» stempelt. In seiner dionysischen Weltsicht wird diese von Schopenhauer perhorreszierte Position allerdings positiv umgewertet, so dass umgekehrt die (aus dem Ressentiment ­geborene) moralisch-metaphysische Weltbetrachtung als das große ursprüngliche Verhängnis und Verderbnis der Menschheit erscheint. Es liegt deshalb in der Konsequenz seiner Umwertung, wenn Nietzsche den ‘Schopenhauer’schen Fluch’ (explizit mit jenem Untertitel des Antichrist) dem Christentum schließlich zurückgibt. In diesem Schopenhauer’schen Sinn aber hat sich Nietzsche tatsächlich schon mit seinem Erstling als «der Antichrist» zu erkennen gegeben. Obwohl er damals an einer metaphysischen Auslegung des Daseins noch unbedingt festhalten wollte, kämpft er schon hier im Namen des Dionysos gegen eine ausschließlich «m o r a l i s c h e Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins»: «Hier kommt jene ‘Perversität der Gesinnung’ zu Wort und Formel, gegenüber welcher Schopenhauer nicht müde geworden ist, im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern, – eine Philosophie, welche