Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. und des Christentums Teil I

REDE Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. TÜRKEI JOSEF SCHUSTER August 2007 www.kas.de/türkei www.kas.de Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozi...
Author: Martha Grosse
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REDE Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.

TÜRKEI JOSEF SCHUSTER August 2007 www.kas.de/türkei www.kas.de

Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit – Die Sozialethik des Islam und des Christentums – Teil I DIE PRINZIPIEN DER SOZIALLEHRE DER KATHOLISCHEN KIRCHE - VORTRAG VON JOSEF SCHUSTER

I. QUELLEN DER KATHOLISCHEN

von einer relativen Autonomie der irdischen

SOZIALLEHRE

Sachbereiche die Rede ist.1

Neben den Hauptquellen katholischer

Papst Pius XII. (1939 - 1958) widmete der

Theologie - Schrift und Tradition - gehört

Soziallehre zwar keine eigene Enzyklika, traf

vor allem die Soziallehre des Lehramtes

jedoch bedeutende Entscheidungen (z.B.

der Päpste zu den zentralen und unmittel-

Hinwendung zur Demokratie, 19442) und

baren Quellen. Zu den Sozialenzykliken

hielt zahlreiche sozialethische Ansprachen

der Päpste gehören:

(vgl. sog. "Soziale Summe" Pius XII.3). Papst Paul VI. veröffentlichte zwar nur die



Leo XIII., Rerum Novarum 1891

Enzyklika Populorum Progressio von 1967,



Pius XI., Quadragesimo Anno 1931

mit der er die Soziallehre in die Dimension



Johannes XXIII., Mater et Magistra

der Globalisierung hob, verfasste 1971 den

1961

Apostolischen Brief Octogesima Adveniens



Johannes XXIII., Pacem in terris 1963



Paul VI., Populorum Progressio 1967



Paul VI., Apostol. Schreiben: Octoge-

• • •

zialen und politischen Fragen. Ferner führte Paul VI. ein, dass der Neujahrstag in der kath. Kirche seit 1968 zugleich als Hochfest der Gottesmutter Maria und als Weltfrie-

sima Adveniens 1971

denstag gefeiert wird. Die wohl größte Auf-

Johannes Paul II., Laborem exercens

merksamkeit erzielte die Friedensenzyklika

1981

"Pacem in terris" von Papst Johannes XXIII.

Johannes Paul II., Sollicitudo Rei So-

im Jahre 1963. Manche Chronisten schrei-

cialis 1987

ben diesem Papst und seinem Nachfolger

Johannes Paul II., Centesimus Annus 1991.



und etliche kürzere Stellungnahmen zu so-

Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und

zu, dass die Welt vom III. Weltkrieg verschont blieb. Die Sozialenzykliken der Päpste richten sich nicht nur an die katholischen Christen, sondern an alle Menschen “guten

Frieden (Hg.), Kompendium der Sozi-

Willens”. Sie beanspruchen, dass ihr Lehr-

allehre der Kirche, Freiburg i. Br.

gehalt prinzipiell mit dem Licht der natürli-

2006.

chen Vernunft erkannt werden kann und dass ihre Prinzipien von universaler Geltung

Als wichtiges konziliares Dokument der jüngeren Tradition ist die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils “Gaudium et spes” zu nennen, in der ausdrücklich

sind. Referenz ist neben der Heiligen Schrift und der Tradition vor allem eine scholastisch geprägte Naturrechtslehre, die allerdings in und nach der Zeit des zweiten vatikanischen Konzils mehr geschichtlich orientiert und mit empirischen Erkenntnissen als

2

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

sozialethisch bedeutsamen Sachverhalten

kann, das soll ihnen auch überlassen blei-

methodisch weiterentwickelt wird.

ben. Der Staat hat die Aufgabe, wenn dazu Hilfe - in erster Linie finanzielle - nötig ist,

TÜRKEI

diese auch entsprechend zu gewähren. Das

JOSEF SCHUSTER

II. SOZIALETHISCHE PRINZIPIEN

August 2007

Person, Gerechtigkeit, Solidarität, Subsidia-

des Menschen aus, d.h. dass der Mensch ein

rität und Nachhaltigkeit Wer etwas unter

Gemeinschaftswesen ist und nur in Gemein-

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moralischer Rücksicht als gut oder schlecht,

schaft mit Seinesgleichen leben kann. Aus

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richtig oder falsch beurteilen will, der benö-

dieser fundamentalen Verwiesenheit aufein-

tigt für sein Urteil Maßstäbe. In der Regel

ander ergibt sich dann auch die Pflicht, in je

werden die grundlegenden Maßstäbe Prinzi-

unterschiedlichem Maße füreinander einzu-

pien genannt, die abgeleiteten entweder

stehen. Nachhaltigkeit beinhaltet die Aus-

Prinzipien mittlerer Reichweite oder auch

weitung des Prinzips der Solidarität auf die

Normen. Person, Gerechtigkeit, Solidarität

nachfolgenden Generationen, also auf Men-

und Subsidiarität durchziehen als grundle-

schen, die es noch gar nicht gibt, aber ge-

gende sozialethische Prinzipien die Sozial-

ben wird.

Solidaritätsprinzip geht von der Sozialität

lehre der katholischen Kirche. Diese Prinzipien haben in der Tradition katholischer So-

1. Das Personprinzip: ein Prinzip der Frei-

ziallehre schon eine längere Geschichte

heit

durchlaufen. Für das Prinzip der Nachhaltigkeit trifft das indes nicht zu. Es ist noch

In der Enz. Mater et Magistra (= MM) for-

recht jungen Datums - und im Zusammen-

muliert Papst Johannes XXIII. das Prinzip

hang mit den Fragen des Erhalts der natür-

der Personalität programmatisch für die ka-

lichen Lebensgrundlagen - also der Ökologie

tholische Soziallehre:

- entstanden. “Nach dem obersten Grundsatz dieser Lehre Dass sich beide christlichen Kirchen in ihrem

muss der Mensch Träger, Schöpfer und das

gemeinsamen Wort 1997 “Für eine Zukunft

Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen

in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort zur

sein. Und zwar der Mensch, sofern er von

wirtschaftlichen und sozialen Lage in

Natur aus auf Mit-Sein angelegt und

Deutschland”4 auf diese Prinzipien verstän-

zugleich zu einer höheren Ordnung berufen

digen konnten, ist insofern bemerkenswert,

ist, die die Natur übersteigt und diese

als beide Kirchen sich unterschiedlichen An-

zugleich überwindet. Dieses oberste Prinzip

sätzen und Traditionen in ihren Soziallehren

trägt und schützt die unantastbare Würde

verdanken: Die klassische katholische Sozi-

der menschlichen Person.”5

allehre argumentierte vor allem naturrechtlich, also philosophisch, auf der Basis eines

Die Formulierung “Ursprung, Träger und

auch philosophisch vermittelten christlichen

Ziel aller sozialen Institutionen ist und muss

Menschenbildes, während die evangelische

sein die menschliche Person” findet sich in

Sozialethik biblisch, also vornehmlich theo-

der Pastoralkonstitution des zweiten vatika-

logisch, argumentierte. Von der Sache her

nischen Konzils “Gaudium et spes”.6 MM

allerdings ist diese Übereinkunft auch gebo-

fügt noch verdeutlichend “Schöpfer” hinzu,

ten. Es handelt sich hierbei also nicht um

um eine wichtige Aussage zu unterstrei-

einen Kompromiss! Denn Gerechtigkeit, So-

chen: Soziale Institutionen, gesellschaftliche

lidarität und Subsidiarität sind nicht nur so-

Strukturen und Ordnungsgestalten werden

zialethische Prinzipien, sie sind zugleich Auf-

vom Menschen hervorgebracht. Es handelt

bauprinzipien einer gerechten Gesell-

sich bei ihnen nicht um logische Ableitungen

schaftsordnung: Das Subsidiaritätsprinzip

aus einer zeitlos gültigen Wesensordnung.

betont die Einmaligkeit des Einzelnen als

Als von Menschen hervorgebracht, sollen sie

Person und damit auch seine Eigenverant-

auch den Menschen und ihrem Wohl dienen.

wortung, die sich dann analog auf Familie,

Da der Mensch aber noch eine Berufung

gesellschaftliche Gruppen und Verbände

hat, die alle innerweltlichen Institutionen

ausweitet. Was von Einzelnen, von Familien,

und Ordnungsgestalten transzendiert, findet

Gruppen und Verbänden geleistet werden

die innerweltliche Ordnung ihren letzten

3

Maßstab in der unantastbaren Würde der

* Die iustitia distributiva - die austeilende

menschlichen Person, die ihr als “Bild und

Gerechtigkeit - umfasst die Pflichten, die

TÜRKEI

Gleichnis” des Schöpfers eignet. Zur Würde

der Staat bzw. die Gesellschaft gegenüber

JOSEF SCHUSTER

des Menschen heißt es in GS 17:

den Einzelnen hat.

August 2007

“Die Würde des Menschen verlangt daher,

Beide Formen der Gerechtigkeit zielen auf

dass er in bewusster und freier Wahl hand-

eine angemessene Verteilung von Rechten

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le, das heißt personal, von innen her be-

und Pflichten in einem Gemeinwesen.

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wegt und geführt und nicht unter blindem

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

innerem Drang oder unter bloßem äußerem

* Die iustitia commutativa - die ausglei-

Zwang. Eine solche Würde erwirbt der

chende Gerechtigkeit – auch Tauschgerech-

Mensch, wenn er sich aus aller Knechtschaft

tigkeit genannt - ordnet die Beziehung zwi-

der Leidenschaften befreit und sein Ziel in

schen den Gesellschaftsmitgliedern etwa im

freier Wahl des Guten verfolgt sowie sich

Hinblick auf den Handel, die Marktbeziehun-

die geeigneten Hilfsmittel wirksam und in

gen oder den Ausgleich von Leistung und

angestrengtem Bemühen verschafft. Die

Gegenleistung.

Freiheit des Menschen, die durch die Sünde verwundet ist, kann nur mit Hilfe der Gnade

Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit

Gottes die Hinordnung auf Gott zur vollen

stammt aus der Zeit der neuscholastischen

Wirksamkeit bringen.”

Prägung der Soziallehre.8 Ohne präzise Begriffsbestimmung kommt er in der Enz.

Das Prinzip der unbedingten Achtung der

Quadragesimo anno (1941) vor.9

Würde des Menschen findet vor allem in der Anerkennung der Menschenrechte seine

Ganz allgemein stellt die kirchliche Sozial-

Konkretion. Zu dieser geforderten Anerken-

lehre mit diesem Begriff den Bezug zur so-

nung gehören die individuellen Freiheits-

zialen Frage her, die im 19. und in der ers-

rechte wie Religions- und Gewissensfreiheit,

ten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster

zu deren kirchenamtlicher Anerkennung die

Linie mit der Arbeiterfrage assoziiert wurde.

Kirche erst im Zweiten Vatikanischen Konzil

Die Bedeutungsweite des Begriffs berück-

fand7, sowie die sozialen Grundrechte, die

sichtigend lässt sich soziale Gerechtigkeit

im wesentlichen Mitwirkungsrechte im ge-

als jene umfassende Gerechtigkeit verste-

sellschaftlichen und politischen Raum dar-

hen, die sich am Maßstab des Gemeinwohls

stellen. Die Freiheitsrechte beinhalten nicht

orientiert und besonders jene gesellschaftli-

nur Abwehrrecht gegenüber dem Staat,

chen Gruppen berücksichtigt, die sozial

sondern auch gegenüber Dritten.

schwach bzw. benachteiligt sind.

2. Das Prinzip der Gerechtigkeit

Generell gilt: Soziale Ordnungen sind wandelbar und deshalb der Gestaltungsverant-

Gerechtigkeit ist ein vieldeutiger Begriff. Er

wortung der Menschen überantwortet. Das

steht einmal für das Ganze der Moral. Theo-

bedeutet: Alle Mitglieder einer Gesellschaft

logisch bezeichnet er die Wirkungen der

haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten das

Rechtfertigungsgnade im sündigen Men-

Recht zur Teilhabe an der Gestaltung einer

schen, der durch Gottes ungeschuldete und

gerechten Gesellschaftsordnung. Diesen As-

freie Zuwendung vor diesem selbst gerecht

pekt sozialer Gerechtigkeit nennt man auch

wird; und unter sozialethischer Rücksicht

Beteiligungsgerechtigkeit.

spricht bereits Aristoteles von unterschiedlichen Arten der Gerechtigkeit:

Soziale Gerechtigkeit bedeutet ferner: besondere Fürsorge für jene, die nur teilweise

* Die iustitia legalis - Gesetzesgerechtigkeit

oder gar nicht am gesellschaftlichen Prozess

- bestimmt die Pflichten, die die Einzelnen

teilnehmen können. In besonderer Weise

gegenüber dem Staat haben und die in der

gilt dies für die Armen in einer Gesellschaft,

Regel gesetzlich festgelegt sind. Kriterien

weshalb sich im kirchlichen Sprachgebrauch

für Gerechtigkeit einer positiven Rechtsord-

der Ausdruck “Option für die Armen” etab-

nung ist deren Gemeinwohltauglichkeit.

4

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

liert hat, der seinen Befreiungstheologie

bzw. im Kontext der Entwicklungsproblema-

hat.

tik von weltweiter, globaler oder universaler Solidarität. So verstanden besteht Solidari-

TÜRKEI JOSEF SCHUSTER

3. Das Prinzip der Solidarität

August 2007

Solidarität ist zum Allerweltswort geworden,

tät darin, sich entschlossen für das Gemeinwohl bzw. das weltweite Gemeinwohl einzusetzen.

dem man im Zusammenhang mit sozialethiwww.kas.de/türkei

schen Überlegungen eine präzisere Bedeu-

Hierzu ein Passus aus der Enz. Solicitudo rei

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tung geben muss, als ihn die Alltagssprache

socialis:

bietet. Nach dem “Gemeinsamen Wort” meint Solidarität “zunächst die Tatsache

“Diejenigen, die am meisten Einfluss haben,

menschlicher Verbundenheit und mit-

weil sie über eine größere Anzahl von Gü-

menschlicher Schicksalsgemeinschaft. Wenn

tern und Dienstleistungen verfügen, sollen

Menschen aufgrund von Gemeinsamkeiten,

sich verantwortlich für die Schwächsten füh-

Ähnlichkeiten oder wechselseitigen Abhän-

len und bereit sein, Anteil an ihrem Besitz

gigkeiten entdecken, dass sie trotz vielfälti-

zu geben. Auf derselben Linie von Solidari-

ger Unterschiede dennoch ein “wir” bilden,

tät sollten die Schwächsten ihrerseits keine

kann aus dieser Tatsache ein Impuls zu so-

rein passive oder gesellschaftsfeindliche

lidarischem Handeln entstehen.”10 Verbun-

Haltung einnehmen, sondern selbst tun,

denheit bzw. die Erfahrung der Angewie-

was ihnen zukommt, wobei sie durchaus

senheit aufeinander fordert die ethische

auch ihre legitimen Rechte einfordern. Die

Gestaltung heraus. “Menschen, die sich so-

Gruppen der Mittelschicht ihrer-seits sollten

lidarisch verbunden wissen, erkennen und

nicht in egoistischer Weise auf ihren Eigen-

verfolgen gemeinsame Interessen und ver-

vorteil bestehen, sondern auch die Interes-

zichten auf eigennützige Vorteilssuche,

sen der anderen beachten.”12

wenn diese zu Lasten Dritter oder der Gemeinschaft geht.”11

Ich kann die Reichweite des Prinzips der Solidarität hier nur andeuten, nicht aber aus-

Nur am Rande sei vermerkt, dass die Erläu-

buchstabieren. Die Struktur der Gesetzli-

terung des Prinzips im Wort der beiden Kir-

chen Krankenversicherung (GKV), der Sozi-

chen eine Doppelstruktur aufweist: Einer-

alhilfe, ja der gesamten sozialen Siche-

seits ist Solidarität eine beschreibende Ka-

rungssysteme, beruht auf dem Solidaritäts-

tegorie, andererseits ein moralisches Prin-

prinzip: Im Notfalle, in dem der Einzelne

zip. Um hier logische Fehler zu vermeiden,

sich nicht selber helfen kann, sondern auf

müssen Ethiker sorgfältig zwischen dem de-

die Hilfe anderer angewiesen ist, treten die-

skriptiven und normativen Moment unter-

se helfend für ihn ein. Der Beitrag der Hilfe

scheiden. Noch eine weitere Unterscheidung

soll sich an Prinzipien der Gerechtigkeit ori-

ist geboten: Das Solidaritätsprinzip enthält

entieren, d.h. gestuft nach der Leistungsfä-

Pflichten, die sich aus dem menschenrecht-

higkeit der Einzelnen.

lichen Status der Person für die Glieder der Rechtsgemeinschaft und deren Kooperation

4. Das Prinzip der Subsidiarität

ableiten. Unter dieser Rücksicht ist Solidarität also eine Rechtspflicht. Davon zu unter-

Dieses Prinzip trägt der Einmaligkeit, der

scheiden ist Solidarität als mitmenschliche

unveräußerlichen Würde, die gerade in der

Anteilnahme am Los der Anderen, als frei-

Verantwortungsfähigkeit des Menschen

willige Hilfeleistung etwa durch Spenden im

gründet, und der Verantwortlichkeit der

Katastrophenfall usw. Es handelt sich hier-

menschlichen Person Rechnung. Von Seiten

bei dann um eine karitativ-verdienstliche

des Staates besteht die Pflicht, einzelnen,

Hilfestellung zum Wohl Hilfsbedürftiger.

gesellschaftlichen Gruppen und Institutio-

Traditionell spricht man in diesem Kontext

nen nicht Verantwortung zu übertragen,

von einer Tugendpflicht. Was hier beschrie-

denn der Staat hat hier nichts zu delegie-

ben wird, könnte man als Solidarität im

ren, sondern diese Verantwortung anzuer-

Nahbereich bezeichnen. Doch wir sprechen

kennen, indem er Entscheidungs- und

auch von gesellschaftlicher Solidarität

Handlungsräume für Einzelne wie

5

gesellschaftliche Gruppen eröffnet bzw.

unseren Nachfahren einige Erblasten zu hin-

durch das Recht schützt und garantiert. “Es

terlassen, auch wir konnten nicht am Punkt

TÜRKEI

muss vermieden werden, dass die Gesell-

Null beginnen, aber wir müssen so haushal-

JOSEF SCHUSTER

schaft, der Staat oder auch die Europäische

ten und wirtschaften, dass ein menschen-

Union Zuständigkeiten beanspruchen, die

würdiges Leben auch nach uns möglich

von nichtstaatlichen Trägern oder auf einer

bleibt. Das Prinzip der Nachhaltigkeit meint

unteren Ebene des Gemeinwesens ebenso

eine dauerhafte und zukunftsfähige Ent-

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gut oder besser wahrgenommen werden

wicklung unseres Haushaltens und Wirt-

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könnten.” Das bedeutet für den Staat: Er

schaftens. Ohne die Bewahrung der natürli-

hat sowohl Einzelnen wie gesellschaftlichen

chen Grundlagen unseres Lebens lässt sich

Gruppen jene Hilfe bereitzustellen, die nötig

keine Nachhaltigkeit erreichen. Die beiden

ist, damit sie diese Aufgabe wahrnehmen

Kirchen wollen das Bewusstsein dafür schär-

können. Das Subsidiaritätsprinzip wehrt ei-

fen, dass unsere sozialen, wirtschaftlichen

nem staatlichen Paternalismus und ermög-

und ökologischen Probleme miteinander zu

licht dadurch Vielfalt und Buntheit - auch

vernetzen sind. “Sie muss den Grundgedan-

und gerade im Erziehungs- und Bildungswe-

ken der Bewahrung der Schöpfung mit dem

sen, aber auch im Bereich der Sozialhilfe,

einer Weltgestaltung verbinden, welche der

der Kranken- und Altenpflege usw. Die posi-

Einbindung aller gesellschaftlichen Prozesse

tive Kehrseite zu einem wohlfahrtsstaatlich

in das allem menschlichen Tun vorgegebene

verfassten Gemeinwesen ist: Dem Einzelnen

umgreifende Netzwerk der Natur Rechnung

wie Gruppen wird im Rahmen ihrer Möglich-

trägt. Nur so können die Menschen ihrer

keiten Verantwortung für die Lebensgestal-

Verantwortung für die nachfolgenden Gene-

tung in je ihren Bereichen zugemutet. Da-

rationen gerecht werden. Eben dies will der

durch werden Energien frei, menschliche

Leitbegriff der nachhaltigen, d.h. dauerhaft

Fähigkeiten gefördert, Ideen, soziale Phan-

umweltgerechten Entwicklung zum Aus-

tasie und Initiativen können sich entfalten

druck bringen.”

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

August 2007

14

und zum gedeihlichen Aufbau einer Sozialkultur beitragen. Ich habe -weiß Gott - kei-

6. Schluss

ne Vorbehalte gegenüber Beamten. Es wäre m.E. aber schrecklich, trügen unsere Gesell-

Diese fünf Prinzipien, die ich Ihnen kurz

schaften die Züge einer Beamtenmentalität.

vorgestellt habe, bilden so etwas wie das

Sie würde auf Dauer an Ideen- und Initiativ-

Koordinatensystem einer Sozialethik, die

losigkeit ersticken.

den Herausforderungen der Gegenwart in Bezug auf die Wahrung der Würde des Men-

Weil gerade auch der Staat, insofern er sub-

schen und seiner Rechte, Arbeit, Sicherung

sidiär strukturiert ist, eine Unmenge Geld

der sozialen Systeme und Umwelt gerecht

spart, muss er in vielen Fällen Hilfe zur

werden will. Einzellösungen lassen sich al-

Selbsthilfe geben, weil sonst Einzelnen, Fa-

lerdings nicht im logischen Paradeschritt aus

milien, wie kleinen gesellschaftlichen Grup-

diesen Prinzipien gewinnen. In pluralistisch

pen Lasten aufgebürdet werden, die sie

verfassten modernen Gesellschaften bedarf

nicht tragen können.

es zudem der demokratischen Beteiligung aller an der Suche nach dem richtigen Weg

5. Das Prinzip der Nachhaltigkeit

sowohl national, europäisch wie weltweit. Durch den Prozess der Globalisierung sind

Unsere Erde und ihre natürlichen Güter sind

gerade in der Sozialpolitik einige Plausibili-

endlich begrenzt. Gewiss gibt es regenerier-

täten ins Wanken geraten. Religionen, die

bare Ressourcen wie Wasser, Energie, Nah-

eine mehr oder weniger weltweite Verbrei-

rung usw. “Die gegenwärtige Generation

tung haben, könnten in diesem globalen

darf nicht auf Kosten der Kinder und Kin-

Verständigungsprozess eine wichtige Aufga-

deskinder wirtschaften, die Ressourcen

be der Vermittlung haben.

verbrauchen, die Funktions- und Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft aushöhlen, Schulden machen und die Umwelt belasten.”13 Zwar kommen wir nicht umhin,

6

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Anmerkungen

TÜRKEI

1 Abk. GS 36 (Texte des 2. Vatikanischen

in der lateinamerikanischen Befreiungstheo-

JOSEF SCHUSTER

Konzils wie auch die Enzykliken werden in

logie hat.

9 Als regulatives Prinzip für die Wirtschaft (nr. 88). etabliert hat, der seinen Urspruch

der Regel nicht nach Seitenzahl sondern August 2007

nach Randziffer zitiert).

10 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit 116.

www.kas.de/türkei

2 Vgl. AAS 37(1945)10-23. 11 Ebd.

www.kas.de

3 A.F. Utz - J.F. Groner, Soziale Summe Pius XII. Aufbau und Entfaltung des gesell-

12 SRS 39. Vgl. auch Kompendium der So-

schaftlichen Lebens, Bde. I-III, Frei-

ziallehre der Kirche Nr. 192: “Die Solidarität

burg/Schw. 1954-1961.

bringt die angeborene Sozialität der menschlichen Person, die Gleichheit der

4 Hg. Sekretariat der Deutschen Bischofs-

Würde und der Rechte aller sowie den ge-

konferenz, Bonn 1997. Seitenangaben in

meinsamen Weg der Völker zu einer immer

Klammern beziehen sich im Folgenden auf

festeren Einheit in besonderer Weise zur

diesen Text.

Geltung.”

5 Mater et Magistra (= MM), 218-220.

13 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit 122.

6 GS 25, 1. 14 Ebd. 125 7 Vgl. die Erklärung zur Religionsfreiheit “Dignitatis humanae”. 8 Als Antwort auf die soziale Frage des 19.

Literatur in Auswahl

Jahrhunderts greifen die Theologen Luigi Taparelli (1793-1862) und Antonio Rosmini-

Zu den Quellentexten Katholischer Sozial-

Serbati (1797-1855) auf das klassische Ge-

lehre:

rechtigkeitsschema zurück und kombinieren kommuntative und distributive Gerechtig-

Utz, A.F - Galen, Brigitta Gräfin von: Die

keit zur iustitia socialis. Vgl. Wienfried Löff-

katholische Sozialdoktrin in ihrer geschicht-

ler, Soziale Gerechtigkeit. Wurzeln und Ge-

lichen Entfaltung. Eine Sammlung päpstli-

genwart eines Konzepts in der Christlichen

cher Dokumente vom 15. Jahrhundert bis in

Soziallehre, in: Peter Koller, Gerechtigkeit

die Gegenwart (Originaltexte mit Überset-

im politischen Diskurs, Wien 2001, 65-88

zung), 4 Bde., Aachen 1976.

(mit Literatur). Im Laufe seiner kurzen Geschichte hat es mehrere Interpretationsver-

Utz, A.F. - Groner, J-E.: Aufbau und Entfal-

suche gegeben. So wendet Joseph Höffner,

tung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale

Christliche Gesellschaftslehre, Kevelaer

Summe Pius XII; 3 Bde. Freiburg/Schw.

1997, S. 84, gegen den Versuch Gustav

1954-1961. Bundesverband der Katholi-

Gundlachs, soziale Gerechtigkeit als Über-

schen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB)

begriff zu begreifen, ein, dass die soziale

Deutschlands (Hg.): Texte zur katholischen

Gerechtigkeit als legale Gerechtigkeit zu

Soziallehre. Die sozialen Rundschreiben der

verstehen sei. Diese versteht er als Ge-

Päpste und andere kirchliche Dokumente

meinwohlgerechtigkeit. Vgl. ferner Oswald

mit einer Einführung von Oswald von Nell-

von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Frei-

Breuning SJ, Kevelaer 1977.

heit. Grundzüge katholischer Soziallehre, München Ç1985; knapp: Elmar Nass, Sozia-

Nell-Breuning, Oswald von: Die soziale En-

le Gerechtigkeit (= Kirche und Gesellschaft

zyklika. Erläuterungen zum

327), Köln 2006. Weltrundschreiben Papst Pius XI. über die gesellschaftliche Ordnung, Köln 1932.

7

Konrad-Adenauer-Stiftung e. V.

Gerechtigkeit und Freiheit, Wien 1980. Unsere Verantwortung. Für eine solidarische

TÜRKEI

Gesellschaft, Freiburg u.a. 1987.

JOSEF SCHUSTER

Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu August 2007

Kirche, Wirtschaft und

www.kas.de/türkei

Gesellschaft. Ein Lesebuch, hg. v. Friedhelm

www.kas.de

Hengsbach, Düsseldorf 1990. Zur Einführung wie zum Überblick

Anzenbacher, Arno: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn 1997. Heimbach-Steins, Marianne (Hg.): Christliche Sozialethik. Ein Lehrbuch I, Regensburg 2004. Kerber, Walter, Sozialethik, Stuttgart u.a. 1998.