Frauen mit einer Mission! Empowerment durch Begegnung in Nigeria

Frauen mit einer Mission! Empowerment durch Begegnung in Nigeria IMPRESSUM Herausgeber mission 21 evangelisches missionswerk basel Missionsstrasse 2...
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Frauen mit einer Mission! Empowerment durch Begegnung in Nigeria

IMPRESSUM Herausgeber mission 21 evangelisches missionswerk basel Missionsstrasse 21 4003 Basel © Dezember 2012 Verantwortlich Pfrn. Dr. Meehyun Chung Leiterin Stabsstelle Frauen und Gender mission 21 evangelisches missionswerk basel Missionsstrasse 21 4003 Basel Tel: +41 61 260 22 57; Fax: +41 61 260 22 68 E-Mail: [email protected] www.mission-21.org Titelbild Paul-Bernhard Elwert (Gavva, Northern Nigeria 2009) Spendenkonto Schweiz: Postcheck-Konto 40-726233-2 Deutschland: Sparkasse Lörrach-Rheinfelden, BLZ 683 500 48, Kontonummer 1032333

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Frauen mit einer Mission! – Empowerment durch Begegnung in Nigeria

Liebe Leserin, lieber Leser Welch ein Privileg, die wertvollen Geschichten von Frauen sammeln zu dürfen! Dieses Nigeria-Heft erscheint im Blick auf das 200-Jahr-Jubiläum der Basler Mission im Jahr 2015. Es handelt sich dabei um Berichte von Frauen über ihre eigenen Erfahrungen während ihrer Einsatzzeit. Neben schon existierenden Berichten von Frauen, die in Kamerun oder Malaysia im Einsatz waren, kann ich nun einen ähnlichen Sammelband zu Nigeria herausgeben. Auf meine Anfrage bei den Frauen erhalte ich meist bescheidene, zurückhaltende Antworten, als ob sie gar nichts Wichtiges getan hätten. Wenn ich dann aber detailliert weiterfrage, bekomme ich ausführliche Schilderungen, die ihre Arbeit und ihre Leistungen genau auflisten. Was hätten die Ehemänner in den Partnerländern wohl ohne ihre Unterstützung gemacht? Selbstaufopferung, Einschränkungen, Ängste und Haushalt sind einige Stichwörter, die Frauen weltweit betreffen. Ein Frauenleben besteht aus der endlosen Abfolge von Kochen, Waschen, Spülen. Kinderbetreuung, usw. In der Mission war es für Frauen nicht viel anders. Ganz im Gegenteil! Frauenarbeit wurde nicht als selbstständige Arbeit gesehen. Dies zeigt ein Zitat von Inspektor J. F. Josenhans: «Frauen sind ein Hemmschuh für die Mission.» 1 In der Tat wurde Mission in der christlichen Tradition als Männeraufgabe betrachtet und all die minderen (aber nötigen) Arbeiten zur Frauensache erklärt. Es fehlte einfach die Anerkennung. Für die Frauen bedeutete die Ausreise eine Gratwanderung zwischen Emanzipation oder Selbstverwirklichung und Aufopferung. Zudem stellte sich die Frage wiederholt, inwiefern der Transfer westlicher Kultur einer Durchsetzung bürgerlicher Werte in der Fremde gleichkam. Oder umgekehrt, inwiefern und ob überhaupt dabei auch afrikanische kulturelle Werte das europäische Umfeld befruchteten. Zu diesem Heft haben ein «mitausreisender Ehemann» als Sonderbeitrag, zwei ledige Frauen, aber mehrheitlich «mitausreisende Ehefrauen» beigetragen. Sie haben versucht, ihre Erfahrungen sichtbar zu machen. Das Thema «Mitausreisende Ehefrau» war seit den Anfängen der Mission ein wichtiger und strittiger Punkt. Ob als demütige Dienerin ihres Ehegatten oder als emanzipierte Frau, die selber etwas bewirken wollte – all diese mitausreisenden oder auch alleinstehenden Frauen haben enorm viel dazu beigetragen, dass die gesamte Missionsarbeit erst möglich wurde. Es gibt kein passendes Wort, das unseren Dank dafür adäquat ausdrücken würde. Das Bewusstsein und die kritischen, gleichwohl kreativ konstruktiven Rückmeldungen der Frauen haben in ihren Einsatzgebieten dazu geführt, dass heute die Bedingungen für ökumenische Mitarbeiterinnen unabhängig von ihrem Zivilstand etwas besser sind. Noch bleibt Nachholbedarf, aber es ist schrittweise gelungen, Verbesserungen einzuführen. Seit der Gründung von mission 21 gibt es auch viele mitarbeitende Ehemänner. Sie haben entweder keine konkrete Aufgabe oder dann nur ein Teilpensum. Sie sind Pioniere in der Umsetzung anderer Geschlechterrollen. Ich meine nicht, dass das europäische Modell weltweit gültig sein müsse. Aber es ist ein Schritt vorwärts in der Arbeitsteilung, wenn Frauen und Männer den Mut aufbringen, traditionelle Rollenzuteilungen aufzuweichen und zu überwinden. Hier können Frauen ihre eigenen Begabungen und ihre Kompetenzen ausserhalb des Haushalts und der Kinderbetreuung leben, während umgekehrt Männern ein grösserer Anteil an häuslicher Verantwortung zugestanden wird. Dazu lieferten die Basler Mission und mission 21 pionierhafte konkrete Beispiele. Die hier dargestellten Erfahrungen sind vielfältig und facettenreich. Allen ist aber gemeinsam, dass die Frauen bereichert nach Europa zurückgekehrt sind. Und viele pflegen 1

Waltraud Ch. Haas, «Erlitten und Erstritten. Der Befreiungsweg von Frauen in der Basler Mission 1816–1966». Basileia 1994, 31.

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ihre Solidarität mit den Frauen in Nigeria auf unterschiedliche Weise weiter. Ihre Dienste waren nicht ein reiner Abklatsch europäischer Ideen oder Kultur. Sie sind nicht in alten Verhaltensmustern stecken geblieben. Diese aufgeschriebenen Lernerfahrungen zeigen neue Muster von Schwesterlichkeit über nationale und kontinentale Grenzen hinweg. 2 Ich bedanke mich bei Anna Wegelin für ihre Korrektur und bei Samuel Heller für die Herstellung. Ich möchte meine Freude über die Fertigstellung dieses Heftes mit allen, die dazu beigetragen haben oder es nun zur Hand nehmen, teilen. So könnte unsere gemeinsame Freude vervielfacht werden. 15. November 2012 Pfrn. Dr. Meehyun Chung Leiterin Stabsstelle Frauen und Gender mission 21 evangelisches missionswerk basel

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Vgl. Ruth Epting, Kurze Zusammenfassung der Schwerpunkte der Gruppenarbeit, in: Missionsgeschichte aus der Sicht der Frau, hrsg. von der Basler Mission, Nr. 12, 1989, 63-64.

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INHALTVERZEICHNIS Meine Zeit in Nigeria Franziska Campbell .......................................................................................... 6 In Armut und Freude Renate Ellmenreich ........................................................................................... 8 Frauen in der Mission in Nigeria Elke Elwert .....................................................................................................11 Ins Ungewisse gehen – Alte Kultur und Aufbruch in Gavva Brigitte Fankhauser-Zurbrügg ...........................................................................13 Als Hebamme und Krankenschwester im Norden Nigerias Katharina Gerber .............................................................................................16 Geerdetes Leben Christine Gühne ..............................................................................................20 Erinnerungen aus meinen Jahren in Afrika Ursula Häselbarth ...........................................................................................23 «Mitausgereist» – Rollenbild einer verheirateten Frau im Kultur-Clash Catina Hieber ..................................................................................................25 Die mitausreisende Ehefrau Catina Hieber ..................................................................................................27 «Gehet hin und lernt» Catina Hieber ..................................................................................................30 «Ein Dach kann keiner alleine tragen» Maria Künne ...................................................................................................32 Meine Zeit als mitausgereiste Ehefrau in Nigeria Judith Quack ...................................................................................................36 Es geht auch anders – Erfahrungen in Nigeria Christine Reibenschuh ......................................................................................38 Status «accompanying wife» – Stellung «mitausreisende Ehefrau» Regula Rudolf .................................................................................................40 Kindergeschichten aus Nordnigeria Ruth Scheuner ................................................................................................45 «It’s a noble task» – «Es ist eine ehrenhafte Aufgabe» Jan Gühne ......................................................................................................48

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MEINE ZEIT IN NIGERIA Franziska Campbell

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Als wir am 15. Oktober 2007 in Abuja aus dem Flugzeug stiegen, war es wie in so vielen Büchern beschrieben. Die Hitze schlug uns entgegen, die Gerüche waren mir fremd, und all das löste in mir ein Kribbeln aus. Eine Vorfreude, aber auch eine Angst, sich falsch zu verhalten und die Kultur zu verletzen. Mein Mann Bruce, unser Sohn Justin und ich hatten uns nach intensiven Gesprächen, vielen Unsicherheiten und «Aufs und Abs» für eine Stelle bei mission 21 in Nigeria entschieden. Ich kann mich noch an die erste Fahrt in den Nordosten des Landes nur wenige Tage später erinnern. Dort sollte unser neues Zuhause in einem Dorf namens Kwarhi sein, und wir waren gespannt, wie wir uns in unserem neuen Umfeld einleben würden. Wir brachen gleich nach Sonnenaufgang in Jos, zirka 600 Kilometer südwestlich von Kwarhi, auf. Die Fahrt wurde zum Albtraum. Ich hatte in meiner Naivität irgendwo unterwegs ein Zuckerrohr gekauft und verspeist. Nicht viel später litt ich unter einer massiven Lebensmittelvergiftung. Es sollte leider nicht die letzte bleiben. Ich hatte dröhnende Kopf- und Gliederschmerzen, neben den üblichen Symptomen, die eine Lebensmittelvergiftung mit sich bringt. Dazu kam, dass eines der Transportfahrzeuge mit unserem Hab und Gut eine zeitraubende Panne erlitt, und die Strassen dermassen schlecht waren, dass ich glaubte, die Reise nehme kein Ende. Unser kleiner Sohn machte mustergültig mit, als sei es das Natürlichste der Welt, in einem alten Bus zwölf Stunden über wacklige Savannenpisten zu fahren. Als die Sonne bereits untergegangen war, erreichten wir endlich Kwarhi. Das Haus trafen wir ohne Strom an, und so zügelten wir im Dunkeln in unser neues Heim ein. Als wir am nächsten Morgen aufwachten, erschraken wir. Das Haus war schon zwei Jahre leer gestanden, und der Wüstenwind Harmattan hatte trotz der gut gemeinten Schnellreinigung einer Nachbarin seine Spuren hinterlassen. Also taten wir die nächsten zehn Tage nichts anderes als das Haus putzen. Danach kehrten wir wieder nach Jos zurück, um dort einen Hausa-Sprachkurs zu absolvieren. Leider lernten wir in dieser Zeit weniger Hausa als uns lieb war, aber umsomehr die Krankheit Malaria kennen, die wir in aller Härte durchmachen mussten. Ich wurde so schwer krank, dass ich für zwei Nächte ins Spital musste, und ich glaube, dass ich den nächsten Morgen vielleicht nicht mehr erlebt hätte, wenn sich Bruce nicht ein Herz gefasst und mich vom Bett in das Auto getragen hätte, um dann mit mir in die Notaufnahme zu fahren. Nach drei Monaten kamen wir verunsichert in das Dorf zurück. Bruce stürzte sich voll in die Arbeit, und ich musste erst einmal das afrikanische Kochen erlernen. Langsam wurde ich in die nigerianische Kochkunst eingeführt, was bereits mit dem Einkauf auf dem offenen Markt begann. Und ich gewann allmählich eine Sicherheit, die mir auch half, sehr gastfreundlich zu sein. Es kam oft vor, dass jemand pünktlich auf die Essenszeit vor der Tür stand, und ich begann, diese Art von Beziehungspflege zu schätzen. Vor allem aber hatte ich immer wieder mit Einsamkeit zu kämpfen. Ich war sehr bemüht, Kontakte zu knüpfen. Ich merkte bald, dass die Frauen im Dorf sehr respektvoll und scheu auf mich reagierten, sich jedoch in meiner Gegenwart erstmal nicht wohlfühlten. Schwierig war auch, dass wir über längere Perioden die einzigen internationalen Mitarbeitenden in der Region waren.

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Franziska Campell war als «mitausreisende Ehefrau» von Bruce Campbell 2007–2010 in Nigeria tätig, als Mutter als Sozialdiakonin.

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Das Gefühl der Einsamkeit rückte erst in den Hintergrund, als ich im August 2009 der Kulp Bible School zu unterrichten begann. Es handelte sich um das Fach HIV-Aids im biblischen Kontext, und ich konnte den Lehrplan selber zusammenstellen. Wir behandelten das Thema Aids, wir sprachen über Sexualität, diskutierten Verhütung bis hin zur Ethik und zu Gottesbildern. Ich bin meinen 15 Studierenden bis heute dankbar, dass sie sich so offen und aktiv am Unterricht beteiligt haben. Ich weiss nicht, ob sie viel gelernt haben, aber ich habe sehr viel profitiert. Eine andere Chance tat sich für mich auf, als die ehemaligen Missionare Regula Rudolf und Martin Wirth nach Nigeria kamen und für einen einwöchigen Kurs in unserer Umgebung weilten. So führten sie uns in die Kunst der natürlichen Medizin ein. Regula blieb etwas länger und hat mir in dieser Zeit auch geholfen, die nigerianische Kultur besser zu verstehen. Sie hatte mit ihrer Familie von 1972 bis 1984 in Nigeria gelebt. Was sich aus diesem Kurs heraus ergab, war eine Gruppe hochbegabter Frauen und Männer, die sich sehr für das Thema der natürlichen Medizin einsetzten. Dazu kam noch die Idee der energiesparenden Öfen. Jasibu, ein sehr motivierter Mann, fing schon nach einem kurzen Einführungsworkshop, den wir abhielten, an, die Öfen weiterzuentwickeln und auch für seine Familie und Freunde zu bauen. Mit einem Kreis von motivierten Männern und Frauen konnten wir bald Kurse anbieten, die das Bauen und die Anwendung der Öfen zum Thema hatten. Der Erfolg war überwältigend. Es war eine Freude, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Wir mussten sie nicht «anschieben», sondern waren Zeugen, wie motivierte Menschen die Führung übernahmen und förmlich abhoben mit ihren Ideen. Es war eine kleine Erfolgsgeschichte. Eine wichtige Strategie gegen die Einsamkeit war, dass wir regelmässig nach Jos reisten. In Jos war eine grosse internationale Gemeinschaft vorhanden. Wir konnten ein gutes soziales Netz aufbauen, und für mich war die Gemeinschaft mit anderen Missionaren eine grosse Hilfe. Ende November 2008, als wir uns gerade wieder einmal in Jos aufhielten, brach eine Krise aus. Das zu erleben, war etwas vom Schlimmsten in meinem Leben. Wir sassen zwei Tage auf einem Missionsareal fest, und um uns herum herrschte Krieg. Dann half uns die Britische Botschaft, die Stadt zu verlassen. Bis heute merke ich, wie tief mir dieses Erlebnis geht. Von da an häuften sich die Schreckensmeldungen. Boko Haram, eine islamische Sekte, erschien kurz darauf auf der Bildfläche und machte bald allen klar, dass sie keine Gnade kannten. Genau wegen dieser Sekte waren unsere letzten Monate in Nigeria geprägt von den Ängsten unserer Mitmenschen, die so manche Tagesgespräche dominierten. Dies bekamen wir besonders zu spüren, als eine kleine Gruppe Anhänger von Boko Haram versuchte, Moscheegänger im Nachbarort zur Gewalt zu bewegen. Unser Dorf geriet während mehr als einer Woche in Aufruhr. In der Nacht wurden Feuer rings um unser Dorf angezündet. Die Männer hielten Wache. Ich kann mich noch gut an ihre Silhouetten erinnern und an ihre tiefen, gedämpften Stimmen, die ich von unserem Schlafzimmer aus vernehmen konnte. Ich lag mit unserem zweiten Sohn hochschwanger in unserem Bett, neben mir ein Rucksack mit unseren Pässen, Trinkwasser und Geld, falls wir fliehen müssten. Einige Frauen unseres Dorfes waren mit ihren Kindern bereits in den Busch gegangen aus Angst vor der drohenden Gewalt. In den letzten Monaten verzichtete ich deshalb auf den Freitagsmarkt. Das war sonst immer mein Höhepunkt der Woche gewesen. Ich mochte den Markt. Die Begegnungen, die sich dort ergaben, schätzte ich immer sehr. Aber seit Boko Haram in der Region war, konnten unsere Freunde nicht mehr für meine Sicherheit garantieren. Also blieb ich traurigen Herzens zuhause. Mit aufgewühlten Gefühlen und lechzend nach Sicherheit, reiste ich noch vor Bruce nach fast drei Jahren aus Nigeria aus. Die Zeit in Nigeria hat Spuren hinterlassen. Ich habe die Nigerianer lieb gewonnen und Menschen getroffen, die mich tief beeindrucken. Ich konn7

te mit meiner Schwangerschaft und meinem fünfjährigen Justin zurückreisen und wusste mich schon bald in meiner ersehnten Sicherheit. Ich weiss, dass unsere Freunde, Christen wie auch Moslems, die wir zurückgelassen haben, Angst haben, aber nicht wie wir einfach fortgehen können. Sie meistern ihr Leben mit ihrem Glauben unter grossem Druck. Sie haben mir Einblicke in ihr Leben gegeben, und ich bin ihnen dankbar dafür. Ich werde sie für immer in meinem Herzen tragen.

IN ARMUT UND FREUDE Renate Ellmenreich4 Ich bin mit meinem Mann zusammen ausgereist, wir hatten aber beide verschiedene Arbeitsstellen, er in Mubi, ich in Gavva, etwa 170 Kilometer voneinander entfernt. Meine erste Aufgabe war, die Unterrichtsmaterialien für einen Alphabetisierungskurs für Frauen auf dem Lande zu erarbeiten und einzuführen. Ich habe mit einem einheimischen Team vom Literacy Programme gearbeitet, wir haben die Lehrer/innen nach dem Programm geschult, danach die Frauenklassen besucht und den Unterricht hospitiert und schliesslich die Prüfungen abgenommen. Meine zweite Aufgabe war, Kirchgemeinden zu beraten, die eine eigene Schule gründen wollten, da es oft nur Koranschulen gab. Drittens war ich verantwortlich für die neugegründete Kirchenzeitung. Was habe ich ihnen gegeben? Ich hoffe, ich habe ihnen viel geben können, zum Beispiel das Vertrauen darin, dass Frauen auch lesen, schreiben und andere Sprachen lernen können – durch mein eigenes Beispiel – aber auch, wie man Kartoffeln und Möhren (für sie neues Gemüse!) verarbeiten kann und schon kleine Kinder fördert.

Ja, die Frauen haben viel gelernt und viel verändert, seit die Menschen hier Christinnen und Christen geworden sind. Zwar knicken sie noch immer vor jedem männlichen Wesen ein, aber ihren eigenen Platz in der Gesellschaft, den gestalten sie. Natürlich gehorchen sie in der Regel ihren Männern und halten kulturelle Gepflogenheiten ein. Aber daneben bauen sie sich ihr eigenes Leben auf. Sie haben nicht nur ökonomisch und kulturell dazugelernt. Viele können jetzt lesen und schreiben, gehen sonntags mit ihrer Bibel in der Hand in die Kirche, wie Männer, und können nun auch in kirchliche Ämter gewählt werden. Und sie gestalten die Kirche mit. Nicht als Pfarrerinnen, die Frauenordination liegt noch in der Zukunft. Aber auf ihre Weise sind sie sehr präsent und kreativ.

Die Frauengruppe unserer Gemeinde plant am Sonntag wieder einen Missionsausflug. Ich würde gern mitfahren, aber die Vorsitzende erklärt mir auch diesmal wieder, dass sie das nicht für gut halten. Wenn eine Weisse dabei ist, würde das ihre Arbeit «verzerren». Gut, ich akzeptiere natürlich, und sie versprechen, mir genau zu berichten, wie es war, wenn sie zurück sind. Und hier summarisch zusammengefasst, was sie erzählten: Es beginnt damit, dass sie vorkochen, möglichst gute und haltbare Sachen. Die packen sie ein, mieten einen Kleinbus und fahren in eines der Dörfer in der Umgebung, in dem es noch keine christliche Gemeinde gibt. Sie gehen von Haus zu Haus, fragen nach den Kranken, Gebärenden, Sterbenden … Gehen zu ihnen: Hat dir heute schon jemand Wasser geholt? Hast du noch Feuerholz? Hast du Wäsche zu waschen? Und dann holen sie ihnen Wasser, sammeln

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als Erwachsenbildnerin und Beraterin von 1999 bis 2004 in der EYN-Kirche im Nordosten Nigerias tätig.

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Feuerholz, waschen Wäsche … Sie verteilen das mitgebrachte Essen an die, die sich nichts kochen konnten, und besuchen alle, die irgendeine Hilfe brauchen. Bis die Frauen sie fragen: Warum macht ihr das? Dann stellen sie sich auf den Dorfplatz und singen die Lieder, die sie sich dafür ausgedacht haben. Sie handeln davon, wie Gott uns liebt und dass wir darum unsere Mitmenschen lieben können, statt unseren eigenen Vorteil zu suchen. Sie handeln von der Kraft und der Wertschätzung, die Gott gerade auch den Frauen gibt und erzählen anschauliche Geschichten aus dem Leben, wie sie alle kennen, die Gottes Güte und Macht veranschaulichen. Man kann mit einiger Gewissheit voraussagen, dass es auch in diesem Dorf bald die ersten Taufbewerberinnen und -bewerber geben wird, und vermutlich haben sie in zwei oder drei Jahren eine Kirche gebaut und einen Pfarrer angestellt.5 Hier ein Auszug meines Dankesbriefes 6 , den ich 2003 nach einem Frauenkurs an die Frauen in Deutschland und der Schweiz geschrieben habe, die mit ihren Spenden den ersten Frauenkurs ermöglichlichten: «Was lange währt, wird endlich gut – endlich kann ich Euch den versprochenen Bericht über die Verwendung eurer Spenden schicken, und ich kann Euch sagen: Der erste Frauenkurs, den wir jetzt gerade beendet haben, war ein grosser Erfolg, wenn vielleicht nicht gerade quantitativ, so doch qualitativ. Aber der Reihe nach. Es hat gedauert, bis die Sache in Gang kam. Das lag zunächst daran, dass erst mal unser Board, das offizielle Aufsichtsgremium, einen Beschluss über die Implementierung fassen musste. Da kamen dann noch einige Änderungswünsche auf, und das überarbeitete Konzept musste neu eingereicht werden. Verwaltungswege sind auch in Nigeria lang und umständlich. Endlich konnten wir den Kurs ausschreiben. Das Echo war sehr gross, es gab spontan 26 Anmeldungen, obwohl wir nur 20 Plätze ausgeschrieben hatten. Aber dann kam das dicke Ende: Nur elf von den 26 Frauen kamen. Die anderen bekamen nicht die Erlaubnis von ihren Ehemännern, am Kurs teilzunehmen. Immerhin ging der Kurs einen Monat, das ist eine lange Zeit. Normalerweise organisieren sich die Frauen untereinander, was Essen kochen, Kinder betreuen und Wäsche waschen angeht. Trotzdem war es wohl vielen Ehemännern zu lang. So starteten wir mit einer recht überschaubaren Gruppe, die aber hatte es in sich. Powervoll und fleissig und interessiert. In der ersten Woche gab es Näh- und Strickunterricht. Die Gruppe wurde geteilt, und die beiden Lehrerinnen konnten sehr individuell unterrichten und waren deshalb sehr erfolgreich. Am Ende des Kurses hatten sich alle eine neue Bluse genäht, die meisten auch einen Rock, und alle haben mindestens eine Babygarnitur, bestehend aus Mützchen, Pullover und Söckchen plus Decke, gestrickt. In der zweiten Woche gab es Kochen und Ernährungslehre. Das war vielleicht das grösste Erlebnis: Haben wir doch von Euren Spenden erst mal das Restaurant einrichten können mit allerlei hilfreichem Gerät. So konnte ich zum Beispiel zwei Fleischwölfe auftreiben, aber auch Schneebesen und Reibe, Kartoffelschäler und Küchenmesser und manches andere waren sehr nützlich. Ausserdem kochten wir mit Propangas. Dazu hatten wir Gaskocher und -flaschen angeschafft, um in dieser verwüstenden Gegend Feuerholz zu sparen. Es gab auch neue Teller, Blümchen auf dem Tisch und Salz- und Pfefferstreuer. «Jetzt sieht es wie ein richtiges Restaurant aus», fanden alle. Zuerst lernten wir, mit Gas zu kochen. Nach zwei Tagen hat keine Frau mehr die Flamme einfach ausgepustet, sondern den Gaskocher richtig bedient. Dann haben wir uns in den Gebrauch der Küchengeräte eingeübt. Und morgens, mittags und abends haben wir für uns selbst gekocht. Den Plan dazu haben wir gemeinsam aufgestellt und haben alle Rezepte in einem eigenen Kochbuch zusammengestellt. Die Renner waren: Meatballs (Fri5 6

Renate Ellmenreich, Mein Gott Afrika, Leipzig 2008, 225-227 Renate Ellmenreich, Mein Gott Afrika, Leipzig 2008, 216-220

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kadellen), Kohlsuppe, Kartoffelbrei, Biltong (luftgetrocknetes Rindfleisch) und Kuchen. Wir haben uns nämlich auch einen eigenen Backofen gebaut, aus Lehm, und da wurde fast jeden zweiten Tag Kuchen gebacken. Und Gunnar, mein Mann, hat mit ihnen Marmelade gekocht. In der dritten Woche gab es Kindererziehung und eine Einführung: Wie gründen wir in unserer Gemeinde einen Kindergarten? Dabei hat uns eine Praktikantin aus Basel geholfen, die für ein gutes halbes Jahr hier arbeitet. Am meisten Spass hat wohl das Puppenstricken gemacht. Aber auch das Bilderbuch und die Musikinstrumente, die wir hergestellt haben, waren sehr willkommen. Wir haben freilich auch diskutiert über die Entwicklung des Kindes und eine gute Pflege und so manches Nützliche dazugelernt. Das konnten wir zum Teil ja auch gleich ausprobieren an den beiden Kleinkindern, die mit ihren Müttern an dem Kurs teilgenommen haben. Natürlich war das Grösste, überhaupt selber zu spielen, und so haben wir viele Lieder und Spiele gelernt. Zusätzlich gab es in dieser Woche Unterricht in Ökonomie. Den hat Gunnar gemacht. Jede durfte ein Geschäft, ein Restaurant oder etwas Ähnliches eröffnen und musste lernen, die genauen Preise zu kalkulieren und was sonst noch bei einer Geschäftsgründung zu beachten ist. Danach waren die Frauen allerdings fertig, das heisst, es ging nichts mehr rein in den Kopf. So haben wir zusammen beschlossen, die letzte vorgesehene Woche über Naturmedizin zu verschieben. Die werden wir also später nachholen. Stattdessen haben wir dann versucht, alles Angefangene fertigzustellen. Als alle Blusen genäht, Söckchen gestrickt und der Kohl aufgegessen war, haben wir einen schönen Abschluss gefeiert und allen Frauen ein Zeugnis überreicht, das ihnen bescheinigt, in welchen Fertigkeiten sie trainiert worden sind. Alles in allem war es ein schönes Erlebnis und ein guter Erfolg, wenn auch nicht gerade quantitativ. Aber vielleicht muss sich das nun erst mal herumsprechen, wie das geht mit den neuen Frauenkursen. Und wenn die ersten Frauen, die an diesem Kurs teilgenommen haben, ihr eigenes Business eröffnet haben werden und damit Erfolg haben, wird das wohl am meisten überzeugen. Es bleibt, Euch ein weiteres Mal ein ganz, ganz herzliches Dankeschön zu sagen. Vergelt's euch Gott!» Soweit mein Brief, den ich aus Gavva geschrieben habe. Was habe ich überhaupt nach diesem Einsatz nach Hause mitgenommen? Ich habe sehr viel von den Frauen dort gelernt, zum Beispiel Erdnussöl herzustellen, Wasser auf dem Kopf zu tragen, usw. Aber auch, in der Kirche laut zu singen und alle Kranken und Trauernden zu besuchen. Hier in Deutschland habe ich schon viele Vorträge über Mission und speziell über Nigeria gehalten, in Kirchgemeinden, Schulen und anderen Gruppen, gerade jetzt auch wegen der jüngsten schlimmen Entwicklung in Nigeria. Gottes Wort spricht immer wieder direkt in konkrete Situationen hinein. Das kann man nicht an einzelnen Versen festmachen. Besonders stark aber habe ich erfahren, dass die Kraft Jesu Christi unter den Schwachen mächtig ist. Die Frauen, die gesellschaftlich eine eher schwache Stellung haben, sind oft das tragende Fundament und das Gerüst der Kirche. Und sie geben ihren Glauben weiter. Das ist millionenfache alltägliche Mission.

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FRAUEN IN DER MISSION IN NIGERIA Elke Elwert7 Ich war zwar nicht für mission 21 in Nigeria. Trotzdem schreibe ich hier meine Gedanken auf, da wir in Nigeria in guter, enger Kooperation, die bis heute andauert, mit den «Baslern» zusammenarbeiteten. Ich lebte von Mitte 1989 bis Anfang 1993 mit meiner Familie in Bauchi, Nord-Nigeria. Damals war der Ort noch eine prosperierende, ländlich geprägte Stadt mit zirka 100’000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Als Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates liegt der Ort an einer relativ gut ausgebauten Fernstrasse. Für viele ökumenische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus unterschiedlichen Ländern und Projekten war Bauchi ein wichtiger «Streckenposten» nach langen, beschwerlichen Autofahrten über löchrige Strassen. So diente unser Zuhause als gut genutzter Pausenstopp, um Wasservorräte aufzufüllen und um sich zu erholen auf dem Weg von Osten aus den unterschiedlichsten «Busch»-Stationen, darunter Mubi, Gavva, Garkida, Biu, Jalingo oder Numan. Ihr Weg führte sie in die für Europäerinnen und Europäer klimatisch und versorgungsmässig attraktive Grossstadt Jos, wo es Lebensmittelvorräte, zum Beispiel frisches Gemüse, Milchpulver und andere besondere Sachen, zu kaufen gab und wo viele Missionen ihre Zentrale, das «Headquarter», hatten. In den YMCA-Häusern in Bauchi gab es fast immer Wasser, ein funktionierendes WC, manchmal sogar selbstgebackenen Kuchen. Es gab Begegnungen mit netten Menschen und den Austausch von Informationen der anderen Missionare sowie von Ereignissen, die nicht in den «Nigerian News» standen. Damals noch ohne Telefon und vor der revolutionären Handyzeit, waren diese Besuche Highlights – auch wenn sie fast immer ohne vorherige Ankündigung geschahen. Das machte unseren Alltag spannend und abwechslungsreich. Kein Tag war wie der andere! Wir waren im August 1989 zu dritt im Auftrag des Evangelischen Jugendwerks Württemberg, beziehungsweise des CVJM-Gesamtverbandes, nach Nigeria aufgebrochen; «Dienste in Übersee» war die vermittelnde Organisation. Der Abschied fiel uns nicht leicht: von unserer Familie, von der Kirchengemeinde, in der wir mitarbeiteten, von den Freundinnen und Freunden, die wir schätzten. Peter war als Schreiner und Sozialarbeiter für die Schreiner-Lehrwerkstatt des YMCA (Young Men’s Christian Association) Bauchi angefragt. Dort bekommen – bis heute – arbeitslose junge Nigerianer eine berufliche Ausbildung und damit auch eine Zukunftsperspektive. Ich, Elke, hatte erreicht – und für die damalige Zeit war das nicht selbstverständlich –, einen kleinen, eigenen Vertrag als Erzieherin und Sozialpädagogin im YMCA- Kindergarten und der dazugehörigen Grundschule zu bekommen. Auch der Englischunterricht bei den Schreinern einmal pro Woche gehörte zu meinen regelmässigen Aufgaben. Dass mir der Status der «mit ausreisenden Ehefrau» für die vier Jahre unseres Lebens in Nigeria nicht genügen würde, wusste ich bereits im Voraus; deshalb hatte ich um einen eigenen Vertrag gebeten. Schon seit vielen Jahren war ich der Arbeit in Nigeria verbunden gewesen. Als Jugendliche hatte ich 1976 bei einem Aufbaulager mitgearbeitet und später (1982) als Erzieherin ehrenamtlich im gleichen Projekt des YMCA Bauchi den Kindergarten zusammen mit zwei Nigerianerinnen begonnen. Es war mir klar, dass ich dort auch weiter mitarbeiten würde und gebraucht sein würde, es dem nigerianischen YMCA jedoch an Finanzen mangelte. So genehmigte der CVJM-Gesamtverband in Kassel schliesslich eine 25-Prozent-Stelle für mich, und wir sagten zu. 7

Tätig als Erzieherin und Pädagogin in Nordnigeria

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Dieses Für-mich-und-für-einen-eigenen-Vertrag-Eintreten war ein erster wichtiger Schritt für das, was ich als Frau durch die Jahre in Nigeria gelernt habe. Das biblische Wort, dass jeder Arbeiter und jede Arbeiterin ihren gerechten Lohn verdienen, ist mir dabei immer Orientierung und Hilfe gewesen. Pepe, unser Ältester, war bei der Ausreise gerade anderthalb Jahre alt und besuchte in Bauchi die Pre Primary- und später die Primary School. Heute studiert er Theologie und ist Mitglied der Synode der Evangelischen Mission in Solidarität EMS in Stuttgart. Immer wieder beeindruckte es mich mitzuerleben, wie sehr Kinder in der dortigen Gesellschaft im Alltag Türen öffnen und Brücken schlagen. Von Anfang an sind sie wichtige Mitglieder des Sozialwesens, gehören dazu und werden wahrgenommen! Viele Kontakte haben sich durch Pepe ganz einfach ergeben. Freundschaften, die bis heute andauern. Ein wichtiger Lernschritt war mir die Begegnung mit nigerianischen Frauen, die mir in ihrer Unterschiedlichkeit sehr nahe kamen. Es waren Begegnungen mit Frauen wie: -

Hashiya, die muslimische Nachbarin, die mir eine Zeitlang im Haushalt half. Als wir sie kennen lernten, hatte ihr Ehemann sich gerade eine zweite Frau genommen, da Hashiya ihm keine Kinder gebar. Ein legaler Vorgang in ihrem kulturellen Kontext. Auch die zweite Frau gebar ihm keine Kinder. Beide Frauen trennten sich später von ihrem Mann. Es waren weniger die Worte zwischen uns – ihr Englisch und mein Haussa waren nicht gut genug. Es war vielmehr das, was sie in den Beziehungen unserer Familie miterlebte, beobachtete. Das, was sie selbst wahrnahm und worüber sie nachzudenken begann: eine andere Beziehung zwischen Mann und Frau – partnerschaftlicher… so formulierte sie es bei einer späteren Begegnung.

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Em-Biu, die Kräuterfrau, die mit uns auf dem Grundstück lebte. Sie war immer viel in der Wildnis unterwegs, kletterte in ihrem hohen Alter noch auf Bäumen herum und verkaufte ihre selbst hergestellte Medizin erfolgreich auf dem Markt in Bauchi. Obwohl sie nie eine Schule besucht hatte, gab es viel, was ich von ihr lernen konnte: ihre unerschütterliche Lebensenergie, auch ihre z.T. heftige Gefühlsbezogenheit… als kinderlose Frau hatte sie es ganz und gar nicht leicht gehabt; aber sie ließ sich nicht unterkriegen, ging ihren eigenen Weg tapfer.

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Rifkatu, eine junge, gut ausgebildete Frau, die – wie ich – versuchte, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Tradition und Moderne... ein Spagat, der ihr viel Kraft abverlangte. Bis heute verbindet uns ein enges Band an Freundschaft.

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Und Syntiki, die Krankenschwester vom „General Hospital Bauchi“. Ihr tiefer Glaube und das Vertrauen in Gottes gute Macht – trotz oder vielleicht gerade wegen vielen medizinischen Unwägbarkeiten, die sie im Krankenhaus täglich erlebte – beeindruckten mich nachhaltig. Durch ihre Anteilnahme in schwierigen Situationen, wie dem Verkehrsunfall von Peter (mit unfreiwilligem Heimataufenthalt), oder auch beim wöchentlichen Austausch mit ihr und anderen Frauen in der YMCA -Frauenbibelstunde, kamen wir uns näher. Ihr fast kindlicher und doch so reifer Glaube hat mich tief berührt und ist mir bis heute Vorbild.…

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Aber auch Rose aus dem Philippinen, die ich über Syntiki kennen lernte, als sie nach einem schweren Verkehrsunfall ohne Versorgung von Angehörigen im Krankenhaus lag – Arbeitsmigrantin wie ich, aber im Gegensatz zu mir unterprivilegiert und ohne den Rückhalt einer Organisation…

Eine weitere, wichtige Erkenntnis ist mir heute, dass ich die Jahre in Nigeria als unerlässliche Ausbildungszeit für die Rückkehr nach Deutschland, für unseren Alltag im Hier und Jetzt, sehe. Nigeria hat mein Christsein, das sehr verinnerlicht war, politisiert. Der Schritt, in unserer Gesellschaft für mehr Gerechtigkeit, für faire Preise und Fairen Handel einzustehen, ist eine logische Konsequenz aus dem, was wir an harter Arbeit der Bauern und Bäuerinnen sahen: sie pflanzen Kakao, Erdnüsse, Baumwolle, Mais und anderes und

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Frauen mit einer Mission! – Empowerment durch Begegnung in Nigeria

bekommen dafür schlechte Preise. Zu wenig, um davon leben zu können…wir in Europa freuen uns über billige Bananen und günstigen Kaffeepreis…. Deshalb hab ich über 10 Jahre meines Lebens ehrenamtlich am Aufbau eines Weltladens in Reutlingen mitgearbeitet, und die Themen von Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung unserer Schöpfung sind mir bis heute wichtig. Und noch etwas ist mir immer mehr bewusst geworden: Ich habe durch die Jahre in Nigeria gelernt, mit anderen kirchlichen, religiösen oder auch sonstigen Gruppierungen und Organisationen unvoreingenommen und gerne zusammen zu arbeiten. Andersartiges kann ich schätzen und stehen lassen, weiß, dass wir trotz Unterschieden voneinander und miteinander lernen können. So erlebten wir vor Ort eine gute Kooperation mit den EYN-Geschwistern, mit Methodisten, Baptisten, Anglikanern, Lutheranern, Katholiken, COCIN- oder ECWA-Mitgliedern, Charismatikern, Freikirchlern aller Art usw… aber auch ein gutes Miteinander mit Muslimen, mit vielen NGO (Nichtregierungsorganisation) -Leuten aus anderen Ländern usw. Fremd blieben uns der deutsche Auslandspfarrer mit seinem kolonialen Gehabe und ein paar Kreuzritter mit übersteigertem Missionseifer aus Europa und Amerika. Mit diesen allen hat uns das Anliegen verbunden, mit unserem Dasein dazu beizutragen, dass diese Welt friedlicher und gerechter werden kann – ein gutes Leben für nächste Generationen noch möglich ist oder, wie ich es als Christin formuliere: in den Fuß-stapfen Jesu zu gehen, wie es das Lied aus Ghana ausdrückt: Do you know, Christian, you are a sermon in shoes Jesus calls upon you to spread the Gospel news. So walk it and talk it teach it and preach it Know it and show it live it and give it a sermon in shoes

INS UNGEWISSE GEHEN? ALTE KULTUR UND AUFBRUCH IN GAVVA Brigitte Fankhauser-Zurbrügg8 Wir sind auf einer uns unbekannten Strecke in den Bergen unterwegs – vor uns erhebt sich, noch weit oben, der langgezogene Grat, der bis zu unserem Ziel zu begehen ist. Was mag da auf mich warten, könnte es heikel werden, gefährlich gar? Ein mulmiges Gefühl breitet sich in mir aus, schon jetzt Herzklopfen – es ist nicht mehr der reine Genuss. Ich versuche mich mental zu beruhigen, mein Inneres kreist um Vertrauen – darauf, dass wir ja überall in Gottes „Händen“ aufgehoben sind. Aber es kehrt keine Ruhe in mir ein. Mir wird bewusst, dass ich im voraus Gewissheit über den Weg haben möchte, dass genau das nicht möglich ist und dass Vertrauen nicht das Wunder bedeutet, über etwaige Schwierigkeiten einfach hinweggehoben zu werden. Vertrauen verlangt von mir die Entscheidung, auf das Ungewisse zuzugehen, genau die Schritte zu tun, die ich jetzt so scheue. Ein nigerianisches Sprichwort fällt mir dazu ein, in Haussa: „Tashi, in taimake ka, in ji Allah“ – Steh auf, damit ich dir helfe, sagt Gott, oder auch: dann helfe ich dir. Meine Gedanken schweifen weit weg, viele Jahre zurück in jene Zeit vor mehr als 40 Jahren, als mein Mann und ich die einmalige Gelegenheit hatten, in Gavva zu leben, jenem 8

ausgereist mit ihrem Mann,Theologe; ohne eigenen Vertrag, freie Tätigkeit, Nigeria 1965 - 69

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Dorf in abgelegener Gegend der Mandaraberge im äussersten Nordosten Nigerias, die Gehöfte verstreut entlang des mit Felsblöcken übersäten Abhangs, zu einem dramatischen Ereignis, wo ein junger Christ gegenüber der ganzen Dorfgemeinschaft aus einer althergebrachten, überlebenswichtigen Tradition kurzerhand ausbrach... Meine eben gemachte Erfahrung mit dem Gehen ins Ungewisse verbindet mich plötzlich mit jener Begebenheit. Doch nun der Reihe nach: Als wir im Januar 1966 in Gavva ankamen, gab es schon vereinzelt Zeichen eines Aufbruchs in Neues; dennoch erlebten wir die herkömmliche Kultur und Lebensweise noch in einer überwältigenden Fülle. Während mein Mann einen Auftrag hatte, als Theologe in der schon bestehenden, damals noch kleinen nigerianischen EYN-Kirche mitzuarbeiten, war ich vertraglich ungebunden und konnte mich frei ausrichten. Ich engagierte mich in der Frauenklasse von Martha Scheytt, wo die Frauen Nähen (nach Wunsch auch Stricken), Lesen und Schreiben lernen konnten, und da die Familien damals höchstens die Buben in die eben erst eröffneten Schulen schickten, leitete ich eine Mädchengruppe, damit auch sie Lesen und Schreiben lernen (und Fussball spielen!) konnten. Ganz besonders aber galt mein Interesse der uralten Kultur, der Art und Weise, wie diese Menschen mit so wenig an Materiellem, fern von unserer lauten und hektischen Technik, aus tiefer, respektvoller Verbundenheit mit den Ahnen und ihrem Erbe sich ihre eigene Zivilisation geschaffen hatten, die ihnen ein geordnetes Zusammenleben erlaubte und nicht nur das Überleben von Jahr zu Jahr in diesem kargen Landstrich und seinem extrem fordernden Klima sicherte, sondern auch noch eine reiche Gestaltung des Jahreslaufs hervorbrachte, mit Festen, eigener Musik auf selbstgefertigten Instrumenten, Liedern und Tänzen. Ich liebte es, den melancholischen Melodien zu lauschen, sie teilweise auch spielen zu lernen. Bei so vielen alltäglichen Verrichtungen war ich bloss „Endakteurin“, nur gewohnt, Schalter zu drehen, Knöpfe aller Art zu drücken, Hebel oder Hahnen zu betätigen, ohne wissen zu müssen, wie das alles funktionierte, geschweige denn irgendein Gerät selbst herstellen zu können. Hier aber waren die Menschen noch imstande, alles selber von Hand zu fertigen, was sie für ihr Leben brauchten, aus dem überlieferten Wissen und Können der Vorfahren und ihrer eigenen Geschicklichkeit. Mich beeindruckte immer wieder, mit welcher Sorgfalt sie mit den wenigen Materialien umgingen, die ihnen zur Verfügung standen. Sie erwuchs aus dem ständigen Umgang mit den Ahnen. Deren überliefertes Erbe war die Lebensgrundlage der Lebenden, und nur die Pflege dieser Beziehung konnte ein Weiterleben sichern. Alles, was zum Leben nötig war, kam aus der Erde, und alles konnte wieder zu Erde werden, wenn es nicht mehr zu gebrauchen war. Was für ein Gegensatz zu unserer technischen Zivilisation, ihren zerstörten Naturkreisläufen, Abfall- und Umweltproblemen! Ein Bild, das mir von unserer ersten Ankunft geblieben ist: Männer kommen uns entgegen, um die Hüften mit einem Ziegenfell bekleidet, mit Speeren und Dolchen bewaffnet und mit erhobener Faust grüssend... Seltsamerweise erschreckte mich das nicht, ich empfand nie Angst, im Gegenteil. Von Beginn an war mir, als ob sich in mir tief unten ein Bodendeckel geöffnet hätte, der bis jetzt immer verschlossen gewesen war und von dem ich nicht gewusst hatte. Er führte hinunter in eigene Tiefen eines unbestimmbar alten Ursprungs. Intuitiv und sofort spürte ich: hier kehre ich heim in eine uralte Schicht in mir selbst. Der Funke hatte gezündet; hier begegnete ich etwas Wertvollem, von dem wir uns in Europa schon längst entfernt hatten, wohl viel zu weit, das mich faszinierte, mit grossem Respekt erfüllte und in das ich mich weiter vertiefen wollte. Ich war viel unterwegs und begann, alles aufzuschreiben, was ich selber miterlebte, in Erfahrung bringen, sehen und hören konnte. Das tat ich damals ohne weitere Absicht, einfach aus meinem persönlichen Interesse heraus. 14

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In den vielen Jahren seither hat sich das Leben dort ja ungeheuer gewandelt. Seit längerer Zeit beschäftigte es mich, dass mit dem Wegsterben der alten Menschen die Erinnerungen an die kulturellen Wurzeln in Gefahr waren, der Bevölkerung von Gavva unwiederbringlich verloren zu gehen und dass nun wir hergekommenen Europäer zu Bewahrern ihrer Kultur geworden sind, indem wir noch Fotoaufnahmen oder schriftliche Aufzeichnungen haben. Vor etwa anderthalb Jahren begann von dort her ein erwachtes Interesse an der frühern Kultur auf mich zuzukommen, worauf ich meine umfangreiche Dokumentation über Leben und Kultur in Gavva auf Englisch übersetzte, bebildert mit Fotos meines Mannes, um auf diese Weise den Menschen von Gavva etwas von dem zurückzugeben, was für mich in der damaligen Begegnung eine so tief bereichernde Erfahrung geworden war.9 Und nun, in diesem ganzen Zusammenhang, das eingangs erwähnte Ereignis: Es geschah gegen Ende der Regenzeit. Die Zeit des wiederholten Hackens und Lockerns der Hirsefelder war vorbei, die Körner reiften, die Ernte war nah. Tagsüber widerhallten die Felsen vom düstern Brüllen der Hörner, das die gierigen Affen von den Feldern fernhalten sollte, nachts ertönten von den grossen Felsblöcken am Berg herunter liebliche, mehrstimmige Melodien, von Burschen in Gruppen auf Antilopenhörnern geblasen, um sie herum im Kreis tanzende Mädchen, zum guten Gedeihen der Ernte. Dann war die Hirse reif, ja so sehr sogar, dass die Körner bereits herauszufallen begannen. Es war eindrücklich zu sehen, dass Tag für Tag noch niemand ernten ging. Auf gar keinen Fall durfte das ein Einzelner tun, solange nicht die Ernte von der ganzen Dorfgemeinschaft in einem besondern Ritus für die Menschen losgebeten war, der verlangte, dass ein Tier um die Felder geführt und dann geopfert wurde. Warnaghkana, ein junger Christ und Familienvater, wartete aber nicht und begann eines Morgens ganz allein seine Ernte. Es gab einen Riesenaufruhr unter der Bevölkerung. Erst recht durfte nun niemand ernten. Es muss für die Menschen ein Akt ungeheurer Verletzung überlebenswichtiger Regeln gewesen sein, eine Bedrohung und Gefährdung eigenen Überlebens. Zur Wiedergutmachung und Ermöglichung des dringend notwendigen Erntens wurde von ihm eine Ziege gefordert, was er verweigerte. Sein Vater konnte die steigende Spannung nicht mehr länger ertragen und gab heimlich das geforderte Tier; denn sein Sohn war in Gefahr, für seinen Übergriff umgebracht zu werden. Zurück zu meiner Erfahrung mit Vertrauen und Schritten ins Ungewisse, kann ich mir vorstellen, dass dieser junge Mann wohl vor einer schwierigen Entscheidung gestanden haben muss. Er war ja selbst in der alten Kultur aufgewachsen und das Bewusstsein auch in ihm verwurzelt, dass das Überleben durchs Jahr ja nur unter Einhaltung der überlieferten Pflichten gesichert war. Ging er da für seine ganze Familie nicht ein unerhörtes Risiko ein? Wir hatten die Menschen immer mal wieder sagen gehört, für sie und für Europäer gälten andere Wirklichkeiten... Gerne möchte ich jetzt mit Warnaghkana über den damaligen Augenblick seiner Entscheidung sprechen können... Dieses Ereignis hat für mich aber zusätzlich besonders von der Seite der afrikanischen Tradition her eine sehr grosse Bedeutung. Was hier zu Beginn der Ernte geschehen war, erwies sich als dramatischer Zusammenprall verschiedener Haltungen in Bezug auf menschliche Arbeit im Verhältnis zur Natur. Es war, als hätte mir jemand einen Spiegel vorgehalten: Hier hatte sich eine alte Kultur die Sensibilität dafür bewahrt, dass die Produkte der Natur, auch wenn sie von Männern und Frauen hart erarbeitet wurden, nichts ihnen selbstverständlich Zustehendes waren. Man achtete sie respektvoll als Geschenk, und ein Geschenk geht man sich keinesfalls einfach „nehmen“. Ich wurde mir schmerzhaft bewusst, an welchen Punkt uns der westliche Lebensstil weltweit geführt hat: zu einem Nehmen ohne Grenzen. 9

Vgl. Brigitte Fankhauser: „Notes on some aspects of culture and daily life in Gavva“, 103 Seiten, 2012; zum Gestehungspreis von Fr. 50.–, erhältlich bei Brigitte Fankhauser, Fürstensteinhof 22, CH-4107 Ettingen, oder EMail: [email protected]

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Die zornige Reaktion der Bevölkerung von Gavva auf das Vorpreschen dieses jungen Christen sollte in meinen Augen nie „abergläubisch“ genannt werden. Hier offenbarte sich noch ganz ungebrochen ein ursprünglich in der ganzen Menschheit (nicht nur in Afrika, sondern auch in andern Kulturen der Welt, früher auch in Europa) tief verwurzeltes altes Gefühl, dass gegenüber den Kräften der Natur, von der wir total abhängig sind, höchster Respekt und Sorgfalt zu beachten sind. In diesem Zusammenhang sei zum Abschluss an den über 2500 Jahre alten PrometheusMythos erinnert: Er offenbart eine ähnliche Haltung wie in Gavva erlebt. Offensichtlich empfanden auch die alten Griechen, dass das, was die Menschen aus der Natur empfingen und verwendeten, ihnen nicht einfach gehörte und zustand, und interessanterweise wurde der Gebrauch des Feuers nicht als Errungenschaft der Menschen aus ihrer Intelligenz und Geschicklichkeit verstanden, sondern als räuberischer Übergriff in einen Bereich, der ihnen nicht zustand, als unerhörte Überschreitung einer unsichtbaren und sehr empfindlichen Schranke. Den Wert alter Traditionen zu erkennen, bedeutet nicht, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Es geht um Sichten und Transformieren dessen, was wir aus dem Erbe und der Weisheit unserer Vorfahren zu unserm Wohl und dem unserer Nachkommen bewahren wollen.

ALS HEBAMME UND KRANKENSCHWESTER IM NORDEN NIGERIAS10 Katharina Gerber11 Als knapp Dreissigjährige beschloss ich, Katharina Gerber, Krankenschwester aus Bern, in England eine Zusatzausbildung zur Hebamme zu absolvieren, um mit der Basler Mission einen Einsatz in Nordnigeria zu machen. Jede Woche schrieb ich einen kürzeren, meist aber auch längeren Brief aus Nordnigeria an meine Eltern auf meiner Hermes-BabySchreibmaschine. Mein Vater hat diese Briefe fein säuberlich in einem Ordner abgelegt, deshalb sind die Erfahrungen und Ereignisse aus dieser Zeit praxisnah und berührend erhalten, dokumentiert und nachlesbar. Historischer Hintergrund der Arbeit der Basler Mission in Nordnigeria Ende der 1960er Jahre tobte in Nigeria der Biafrakrieg, welcher bildgewaltig in den westlichen Medien behandelt wurde. Die Bilder der Kinder mit den von Fehlernährung geschwollenen Bäuchen gingen um die Welt. Schon in den späten 1950er Jahren hatte sich die Basler Mission im Norden Nigerias installiert. Die erste Station wurde 1959 in Gavva in den Mandarabergen an der Grenze zum heutigen Kamerun gegründet. Sowohl Nigeria wie auch der westliche Teil Kameruns gehörten zu dieser Zeit in britisches Mandatsgebiet. Die Gegend war vorwiegend vom Islam und von traditionellen Religionen geprägt, was die christlich motivierte Arbeit der Basler Mission nicht immer einfach machte. Zudem lag das Gebiet in einer sehr abgele-

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Der Artikel wurde von Anna Thandi Sommer in enger Zusammenarbeit mit Katharina Gerber verfasst und beruht hauptsächlich auf einem Interview vom 14.08.2012 in Bern. Anna Thandi Sommer ist Historikerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv der Basler Mission. 11 Brigitte Gerber war tätig als Hebamme und Krankenschwester im Spital in Ngoshe in Nordnigeria mit der Basler Mission, 1973–75.

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genen Gegend, und die Infrastruktur war rudimentär. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten noch nicht viele Europäerinnen und Europäer den Weg in diese Region gefunden.12 Die medizinische Arbeit Mit dem Einverständnis der Bezirksverwaltung gründete Missionar Werner Schöni zusammen mit der Krankenschwester Lydia Flachsmann und dem Bauingenieur Franz Leutert die erste Missionsstation. Vor allem die medizinische Hilfe wurde von den Leuten nach anfänglicher grosser Skepsis immer besser angenommen und hoch geschätzt. Sie trug dazu bei, zwischen den Ethnien Konflikte und Gräben abzubauen und half, Brücken zu bauen. Die Patientinnen und Patienten kamen aus zum Teil sehr weit entfernten Gegenden in die ambulanten Sprechstunden. Die Idee kam auf, einheimische «Barfuss-Doktoren» auszubilden. Diese lernten, die häufigsten Krankheiten an einfachen Symptomen zu erkennen und zu unterscheiden. Die entsprechenden Medikamente und das Verbandsmaterial für erste Behandlungen wurden vom Spital zur Verfügung gestellt. Die «Barfuss-Doktoren» suchten zu Fuss oder mit dem Fahrrad weit entlegene Dörfer und Gehöfte auf und boten ihre wichtige Dienstleistung an. 1966 wurde das Krankenhaus in Ngoshe eröffnet. Die medizinischen Ziele des Spitals konzentrierten sich in erster Line auf präventive Arbeit: Infektionsverhütung, TetanusProphylaxe bei Neugeborenen, Geburtsvorbereitung, sauberes Wasser und Kochen für Kleinkinder. Schnell etablierte sich das Missionsspital zu einem medizinischen Zentrum in der Region mit gutem Ruf. Die Ausbildung von lokalem Personal war von Anfang an ein zentrales Anliegen der Basler Mission, da es in der Gegend noch keine entsprechenden Ausbildungen gab. Die Auszubildenden stammten meist aus Taufklassen, in welchen die Menschen Lesen und Schreiben lernten. Die Krankenschwestern waren auch im mobilen Einsatz tätig. Sie stationierten sich zwei Mal wöchentlich unter grossen Bäumen in den Zentren der Dörfer, um schwangere Frauen, Mütter und Kinder unter fünf Jahren zu beraten, sie über Gesundheitsfragen zu informieren und das Gewicht der Kinder zu kontrollieren. Sie verteilten auch Medikamente wie Malaria-Prophylaxe und Eisentabletten. Drei family centres13 mit überdachten Feuerstellen waren Aufenthaltsorte für die Angehörigen. Ein weiteres wichtiges Gebäude des Spitalareals waren das Waschhaus und die Schneiderei. Im Waschhaus wurden die Leintücher des Spitals täglich gewaschen und an der Sonne im Freien getrocknet. Die blauen Leintücher sahen sowohl an der Leine als auch auf den Betten freundlich aus und waren leicht zu erkennen, falls sie irrtümlich mal mit nach Hause genommen wurden. In der Schneiderei wurde rund um das Jahr geschneidert, nebst der Wäsche für die Betten der Patientinnen und Patienten wurden dem Spitalpersonal auch pro Jahr zwei Sets Spitalkleidung zur Verfügung gestellt. Diese Kleidung bestand für Männer aus zwei paar Hosen und weissen Kitteln und für die Frauen aus zwei blauen, einteiligen Kleidern. Das Herzstück der medizinischen Arbeit war die rural medical work14, welche nebst der erwähnten Gesundheitsarbeit auch Unterricht in Hygienefragen und gesunder Ernährung wie auch Aufklärung in Krankheitsursachen und deren Vermeidung beinhaltete. Das Team, welches die medizinische Versorgung in den umliegenden Dörfern leistete, bestand aus einer Krankenschwester, einem Übersetzer und zwei Helfern, welche mit dem Landrover unterwegs waren. Leider waren die Bemühungen, selbstverwaltete Gesund12

Der Film «Mandara – Zauber der schwarzen Wildnis» von René Gardi (mit Charles Zbinden, 1959) spielt in diesem Gebiet auf der Grenze zwischen Nigeria und Kamerun. 13 Die Patientinnen und Patienten brachten Angehörige mit, welche sie mit Essen versorgten und für sie kochten. Das Spital stellte zu diesem Zweck in den family-centres überdachte Kochstellen und Wasserzugang zur Verfügung, da es keine Spitalküche gab. 14 Gesundheitsaufklärung / Gesundheitsversorgung im ländlichen Gebiet.

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heitsposten in den Dörfern einzurichten, in den ersten Jahren noch nicht erfolgreich. Was funktionierte, waren die «Barfuss-Doktoren», welche von der Krankenhausapotheke versorgt wurden. Das Netzwerk, welches von der rural medical work gesponnen wurde, basierte auf dem Krankenhaus als Zentrum, in welchem ausgebildet wurde und von wo aus die nötigen Hilfsmittel zur Verfügung gestellt wurden. 1976 übergab die Basler Mission das Krankenhaus in Ngoshe und die gesamte im Gebiet von Gavva aufgebaute Gesundheitsarbeit an die nigerianischen Behörden. Vorbereitungen für den Einsatz Anfang der 1970er Jahre machte ich mich als junge diplomierte Krankenschwester auf die Suche nach einer neuen Herausforderung. Abenteuerlust und die Freude, Neues zu entdecken motivierten mich, einen Einsatz mit einer international tätigen Organisation zu leisten. Die Basler Mission war, abgesehen von der staatlichen Entwicklungshilfe und dem Schweizerischen Roten Kreuz, eine der wichtigsten Schweizer Organisationen für Einsätze in Übersee. Ihre Arbeit imponierte mir, weil die Organisation auf mehr als hundertfünfzig Jahre Erfahrung zurückblicken konnte und auch, weil sie den Fokus der Arbeit schon immer auf Hilfe zur Selbsthilfe gelegt hatte. Das Rote Kreuz koordinierte Einsätze in Katastrophengebieten, dies reizte mich aber nicht. Lieber wollte ich meine Erfahrung in Aufbauarbeit stecken. Nach einem ersten Gespräch mit Fritz Raaflaub, dem damaligen Afrikareferenten der Basler Mission, beschloss ich, eine Zusatzausbildung als Hebamme in England zu machen. Eine grosse Hürde zur Hebammenausbildung in England war die Registrierung als «State Registered Nurse», also die Anerkennung des Schweizer Diploms in England. Während dieser einjährigen Wartezeit musste ich diverse befristete Einsätze in der Schweiz wahrnehmen, denn erst mit der Registrierung konnte die Anmeldung an einer Schule in England erfolgen. In dieser Zeit fanden auch der Erstausreisenden-Kurs mit psychologischem Sensibilitätstraining statt, darunter Fahrunterricht in unwegsamem Gelände im Wald mit einem Schweizer Armee-Jeep mit Vierradantrieb und Zwischengas. Obwohl Ausbildungsplätze an Hebammenschulen in England rar waren, konnte eine Schule gefunden werden, an welcher ich die Hebammenausbildung absolvieren konnte. Sie bot mir einen Ausbildungsplatz in London an. Die Reise führte also zuerst einmal in die Hauptstadt Grossbritanniens. Dank dem Arbeitsvertrag mit der Basler Mission, welcher einen damals üblichen Lohn garantierte, waren die Weiterbildung zur Hebamme, die Weiterbildungen in Tropenmedizin und im Tropenlabor in London und Tübingen, sowie der Verdienstausfall der Zwischenzeiten finanziell tragbar. Mit der Basler Mission in Nordnigeria Als erstes waren drei Monate Sprachaufenthalt in Jos 15 vorgesehen. Hausa, die lingua franca der Region, ist eine wichtige Handelssprache. Die Übersetzer des Krankenhauses konnten Hausa in einheimische Sprachen übersetzen. Ngoshe liegt in einem Gebiet mit mindestens sechs unterschiedlichen Ethnien und ihren entsprechenden, zum Teil grundlegend verschiedenen Sprachen. Mit dem Erlernen der Sprache werden gleichzeitig auch Bräuche, Rituale und wichtige Merkmale der Kultur und Gewohnheiten erfahren. Ich kam in Ngoshe im August 1972 an. Die Hirse stand zweimannshoch rund um das Haus und entlang der schmalen Wege. Es roch nach Erde und Getreide, man hörte Geräusche aus benachbarten Gehöften: Bellende Hunde, krähende Hähne, gackernde Hühner – sie blieben alle unsichtbar wegen der hohen Hirse, welche die Orientierung schwierig machte. Die Gegend war bergig und karg. Die Kollegin von der Basler Mission war noch im Heimaturlaub, und ich war allein im Haus. Umfeld und Wohnsituation waren unbekannt, neu und fremd. Unsicherheit und vor allem Angst mussten abgelegt werden. Die Nachtwächter versprachen Sicherheit und Ruhe und sorgten so für einen ruhigen Schlaf. Das faszinierende Leben in dieser fremden, wunderbaren Welt Afrikas nahm seinen intensiven Anfang. 15

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Regionale Hauptstadt der heutigen Provinz Plateau.

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Das Leben in Nordnigeria unterschied sich fundamental von demjenigen in der Schweiz. Ich lebte auf dem Grundstück des Spitals von Ngoshe, in einem Bungalow. Auch der Rest der ausländischen Belegschaft wohnte auf dem Grundstück. Ein «europäischer Tropenhaushalt» vereinte Vorteile von beiden Kontinenten. So wurde nigerianisches Trockenfleisch hergestellt, Gemüse gedörrt oder sterilisiert und tropische Früchte zu Kompott und Konfitüren verarbeitet. Das asibiti16 von Ngoshe In der Poliklinik wurden alle ambulanten Patienten registriert. Bis zum Mittag war die lange Warteschlange am Guichet schon von Weitem sichtbar. Die Patienten begaben sich alsdann entweder zum Arzt oder zur Apotheke, wo Verbände angelegt, Wunden versorgt und Medikamente abgegeben wurden. Die Medikamente und das Verbandmaterial konnten über eine Missionsstation der SUM17 weiter südlich in Jos, bezogen werden. Bestellungen wurden per Radio-Funk aufgegeben. Es gab keinen Telefonanschluss, und das Handy-Zeitalter war noch Dekaden weit entfernt. Morgens um sieben Uhr musste immer eine Person vom Missionsteam im Spital am Funk sich melden und konnte, wenn die Station aufgerufen wurde, Meldungen entgegennehmen oder selber Meldungen weiter geben. Dieser morgendliche Funk war unsere einzige tägliche Kommunikationsstelle mit der Aussenwelt. Die Einsätze wurden per Funk koordiniert. Jeden Morgen versammelten sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor dem Spital. Es wurde gesungen, gebetet und die Arbeit für Aussendienst und Spital verteilt. Das ambulante Team brach alsdann auf, um in Dörfern Kinder zu impfen und zu wiegen, werdende Mütter zu beraten, Malaria zu behandeln und die unter dem grossen Baum versammelte Bevölkerung in Sachen genereller Hygiene zu unterrichten. Ein grosses Problem, nebst der hohen Säuglingssterblichkeit, war auch das Unwissen der Mütter bezüglich des Abstillens. Es geschah oft, dass eine Mutter nach der Geburt eines Kindes aufhörte, das ältere zu stillen, ohne es entwöhnt zu haben. Dies führte dazu, dass das ältere Kind nicht auf die neue Nahrungsform vorbereitet war und schliesslich an Mangel- und Unterernährung starb. Wichtige Räumlichkeiten des Spitals waren die Apotheke, der Operations- und Sterilisationsraum, der Gebärsaal mit Wöchnerinnenzimmer, zwei grosse Krankenstationen und ein Röntgentraum. Die Krankenstationen waren sehr einfach mit je 20 weissen Eisenbetten ausgestattet. Zwischen den Betten platzierten die Angehörigen ihre Bastmatten und übernachteten dort beim Patienten, da die Nächte bitter kalt sein können. Am Morgen mussten alle Matten ausgeräumt werden, damit der Boden mit Wasser abgespritzt und geputzt werden konnte. Es galt die Abmachung, dass sich während der Visite der Krankenschwester oder des Arztes alle registrierten Patientinnen und Patienten auf ihr Bett legten oder setzten. Strom gab es nur abends während dreier Stunden. Dann wurden im Spital Verbandmaterial, Instrumente und Spritzen sterilisiert, im Haushalt wurde gebügelt oder die Elektrizität anderweitig genutzt, zum Beispiel zum Betreiben der Klimaanlage in den Schlafzimmern. Wenn um neun Uhr abends das Licht ausging, wurden die Petrollampen angezündet oder man liess sich gerne im gekühlten Zimmer müde ins Bett fallen. Die Kühlschränke funktionierten mit Kerosin. Bei hoher Hitze am Tag musste ihre Leistung mit kalten Wickeln unterstützt werden Man legte grosse nasse Tücher um sie, um durch die Verdunstungskälte die Kühlung zu gewährleisten. Wenn im Spital die Kühlschränke ausfielen, war das fast schlimmer als ein Todesfall. Die Nachtwächter mussten die Kühlschränke regelmässig kontrollieren und entweder lernen, die Dochte selber zu schneiden oder jemanden rufen, der das machen konnte, damit die Kühlschränke nicht 16

Hausa für «Spital». Sudan United Mission, eine amerikanische Partnermission, mit welcher die Basler Mission eng zusammenarbeitete.

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mehr rauchten. Der Ausfall der Kühlschränke war gleichbedeutend mit dem Verfall sämtlicher Impfstoffe, Antiseren gegen Schlangengift und Antibiotika. Die Tagestemperaturen stiegen oftmals bis zu 50 Grad am Schatten, bei sehr niedriger Luftfeuchtigkeit war das aber zum Glück eingermassen erträglich. Wenn die Nächte bis auf 18 Grad abkühlten, empfand man das als kalt. Einmal pro Woche kam der Postbote vorbei, um Post abzuholen und um eingehende Post nach je dreistündigem Fussmarsch im heissen Plastik-Postsack zu uns zu bringen. Am Freitagabend wussten alle: Morgen früh müssen die Briefe fertig sein, dann ging es wieder eine Woche bis zum nächsten Postabgang. Es war viel Arbeit, die Tag für Tag anstand und erledigt werden musste. Obwohl das Leben als alleinstehende Frau nicht immer einfach war, war es alles andere als einsam. Oft versammelten sich Polizisten und Lehrer aus dem Dorf; beide Berufsgruppen bezogen ihren Lohn vom Staat und hatten somit mehr zur Verfügung als andere, um mit den Angestellten des Krankenhauses zu diskutieren und von ihrem Wissen zu profitieren. Eine willkommene Abwechslung bot auch ein in der Region ansässiger, amerikanischer Pilot, welcher ab und zu mit Neuigkeiten aus dem Rest der Welt im Gepäck Halt in Ngoshe machte. Das Spital war eine beliebte Anlaufstelle für Reisende und Touristen aller Art, und so kam der Austausch mit der Aussenwelt nicht zu kurz. Überhaupt war die Entourage des asibiti ein bunter Haufen. Heute mag es fortschrittlich anmuten, dass beim Spitalpersonal die Religionszugehörigkeit eine sekundäre Rolle spielte. Was zählte, waren die Ausbildung und der Wille, die Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Es arbeiteten im heute so zerstrittenen, von religiösen Konflikten heimgesuchten Norden Nigerias Christen, Muslime und Musliminnen und Angehörige traditioneller Religionen Hand in Hand. Diese wichtige Erinnerung lässt hoffen, dass Nigeria eines Tages auch wieder in Frieden leben kann. Quellen: -

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Interview mit Katharina Gerber in Bern am 14.08.2012 Private Briefe von Katharina Gerber an ihre Eltern aus den Jahren 1972–74. «Nicht durch Heer oder Kraft. 50 Jahre Zusammenarbeit zwischen Basler Mission, mission 21 und der Kirche der Geschwister in Nigeria». mission 21 (Hrsg.), Basel 2010. «Pionierdienst im Norden von Nigeria». Otto Schanbacher und Erich Künne, Basel 1978.

GEERDETES LEBEN Christine Gühne18 Wenn ich Linda Ayuba Sini beschreiben will – die Frau, die in den letzten zwei Jahren zu einer Freundin für mich geworden ist –, dann möchte ich nicht meine eigenen Worte an den Anfang stellen. Ich möchte lieber zu alten, bewährten Worten greifen, in denen eingefangen ist, was das Leben ausmacht: «Da machte Gott der Herr den Menschen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.

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Pfarrerin, 2007–2010 zusammen mit ihrer Familie im TEE College der Geschwisterkirche E.Y.N. in Mubi und in Jos als Beraterin tätig.

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Frauen mit einer Mission! – Empowerment durch Begegnung in Nigeria

(...) Und Gott sprach: (...) Im Schweisse deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, von der du genommen bist. Denn du bist Erde, und sollst zur Erde werden.» (Aus Genesis 2 und 3) Linda, 41 Jahre alt, lebt auf der Erde und mit der Erde. Sie lebt von dem, was sie auf dem Feld erntet, das sie jedes Jahr neu pachten muss: Mais, Erdnüsse, Bohnen. Sie wohnt in einer Lehmhütte mit einem kleinen Innenhof, in dem auf der Feuerstelle das Essen gekocht wird. Sie schläft auf einer dünnen Matte, die auf dem Lehmboden in ihrer Hütte liegt. Das «Badezimmer», wenn man es denn so nennen will, besteht aus einem Loch im Erdboden und einer Schale mit Wasser. Dieses Wasser wird in der Regenzeit an Wasserstellen in der Nähe des Flusses geholt und in Eimern auf dem Kopf nach Hause getragen. In der Trockenzeit muss sie es von «Push-Push-Fahrern» kaufen – das sind junge Männer, die Wasserkanister in grossen Schubkarren an der zentralen Wasserpumpe der Stadt auffüllen, ausfahren und verteilen. Fortbewegung und Transport finden zu Fuss und mit Kopf und Händen statt – nur selten leistet sie sich ein Mopedtaxi, um auf den Markt oder auf das weit ausserhalb ihrer Stadt gelegene Feld zu kommen. Ein Leben auf der Erde und mit der Erde – das hat wahrlich nichts Romantisches an sich, sondern ist hart und mühsam und entbehrungsreich. So hart, wie ich mir das als Europäerin kaum vorstellen kann. In ihrem Leben kommt nichts von dem vor, was wir unter Komfort, Sicherheit und Annehmlichkeiten verbuchen: eine erfrischende Dusche, die Krankenversicherung, ein Hobby oder gar Urlaub, ab und zu ein Kinofilm oder Cafébesuch, der Service von Müllabfuhr und Feuerwehr, ein Nachmittag auf dem Sofa mit einem Buch, Hausarzt und Facharzt in Reichweite, gesichertes Einkommen in einem selbst gewählten Beruf oder Schutz durch staatlich garantiertes Recht. Linda hat die Secondary School besucht und damit immerhin etwas mehr Bildung genossen als viele ihrer Nachbarinnen. Sie spricht zum Beispiel recht gut Englisch. Doch sie konnte daraus nicht viel machen: Nach der Schule heiratete sie und wurde Mutter. Sie bekam neun Kinder, die sie zu Hause in der Lehmhütte alleine (!) zur Welt brachte. Nach der Geburt legte sie jedesmal das Kind auf den Boden, und wenn es anfing zu schreien, war dies das Signal für die Nachbarinnen, vorbeizukommen und warmes Wasser für sie vorzubereiten. Vier ihrer Kinder musste sie wieder der Erde zurückgeben – sie starben im Baby- und Kleinkindalter. Der Schmerz und die Trauer um ihre verstorbenen Kinder sind seither in ihr an allen Tagen ihres Lebens. In der Folgezeit musste sie hart arbeiten, um die fünf Kinder, die ihr geblieben waren, zu ernähren: Anna, Himman, Alfa, Julie und Suleimanu. Eigentlich wollte sie nach Julie keine weiteren Kinder mehr, denn sie war ein Frühchen, das nur knapp überlebte und eine leichte geistige Behinderung zurückbehalten hat. Doch die Verwandten ihres Mannes waren der Ansicht, dass nur ein Sohn (Himman) in der Familie zu wenig sei, daher musste sie nochmals schwanger werden – und Suleimanu kam zur Welt. In ihrer Ehe hat Linda keine guten Erfahrungen gemacht: Generell haben Frauen in Nigeria einen extrem niedrigen Status und sind ausschliesslich dazu da, um für Männer dreierlei sicherzustellen: «good sex, good children and good farming», guten Sex, gute Kinder und gute Feldarbeit. Bei ihr kam noch als Problem hinzu, dass ihr Mann bald nach der Heirat ein Alkoholproblem entwickelte. Eigentlich ist das Trinken von Alkohol unter Christen in Nordnigeria tabu, aber selbst mit einem Tabu lässt sich dieses Problem nicht aus der Welt schaffen. Von dieser Zeit an war sie für den Lebensunterhalt der Familie allein verantwortlich, weil ihr Mann das Geld, das er durch Handwerksarbeiten verdiente, der Familie nicht mehr zur Verfügung stellte. Neben der Landwirtschaft begann sie nun noch mit der Arbeit als Marktfrau: Sie kauft sackweise Getreide, schleppt es zum Zentralmarkt von Mubi und verkauft es dort in kleineren Einheiten weiter. Sie kocht Kose (frittiertes Bohnenmus), Kulli-Kulli (Kekse aus Erdnüssen), und Kunnu (Getreidebrei zum Trinken) und schickt ihre Kinder damit auf den Markt. Mit winzigen Beträgen finanziert sie so Wasser und Feuerholz, die Pacht für ihr Feld, den notwendigen Dünger und das Schulgeld für ihre Kinder. Allerdings kann sie sich nur die Government School, die staatliche Schule leisten, denn die privaten Schulen sind viel zu teuer. In einer solchen staatlichen Schule 21

sind zirka 100 Kinder in einer Klasse. Es gibt weder Hefte noch Bücher noch Stifte. Wenn Unterricht stattfindet (ungefähr die Hälfte des Schuljahres fällt aus, weil gestreikt wird), besteht er darin, dass die Kinder im Chor das Alphabet aufsagen, bis Hundert zählen und die Namen der nigerianischen Bundesstaaten mit ihren Hauptstädten nennen. Das Resultat: Ihre Tochter Alfa, die mittlerweile 13 Jahre alt ist, konnte nach fünf Schuljahren keine Silbe lesen. Dieser Standard entspricht der nachwachsenden Generation in weiten Teilen Nordnigerias. Er verheisst für die Zukunft wahrlich nichts Gutes! Auch die Landwirtschaft ist über die Jahre mühsamer und schwieriger geworden. Die Erde, von der Linda lebt, ist mittlerweile ausgelaugt und nicht mehr fruchtbar, weil die Bevölkerung so schnell wächst, dass keine Brachen mehr möglich sind und jedes Jahr so viel Mais wie möglich aus dem Boden herausgeholt werden muss. Land wird knapper, die Pacht und Düngemittel werden teurer, und die Regenzeit wird immer kürzer. In Nordnigeria ist es offensichtlich, dass diejenigen am meisten unter dem Klimawandel leiden, die am wenigsten dazu beigetragen haben: Während in ihrer Kindheit der Regen zwischen Ende März und Mitte April einsetzte, begann die Regenzeit in diesem Jahr nicht vor Ende Juni, und erst in den Tagen Anfang Juli konnte ausgesät werden. Nun ist es fraglich, ob der Mais in der kurzen Zeit bis Anfang Oktober reif werden wird – denn ab Mitte Oktober ist schon wieder Trockenzeit, und es stehen viele Monate ohne einen einzigen Regentropfen vor der Tür. Dazu kommt der Konflikt der Bauern mit den Fulani-Nomaden, die hier am Rande der Sahelzone auf der Suche nach Weideland für ihre Rinder die Herden immer wieder durch Felder treiben und zerstören, was angepflanzt worden ist. Linda oder ihr Sohn Himman übernachten dann manchmal auf der Farm, um die Pflanzung zu schützen. Die Ernährung wird schmaler und einseitiger, weil die Erträge sinken und gleichzeitig die Lebensmittelpreise enorm steigen. Früher gehörten zum Beispiel Eier zum Speiseplan jeder Familie. Doch mittlerweile sind sie zu Luxusnahrung und «rich man’s food», ReicheLeute-Essen geworden, das Linda sich längst nicht mehr leisten kann. Wenn der fünfjährige Suleimanu mit meinem gleichaltrigen Sohn Elias auf unserer Veranda spielt und die beiden sich nackt mit Wasser bespritzen, sehe ich deutlich, was dieser Unterschied in der Ernährung ausmacht: Suleimanu besteht nur aus Haut und Knochen, ich kann seine Rippen zählen, und am Kopf hat er immer wieder diese weissen Flecken, die auf Mangelernährung hindeuten. Natürlich ist jede Krankheit in der Familie eine Katastrophe: Es kostet Geld, ins Krankenhaus zu gehen und Medikamente zu kaufen. Selbst wenn Linda das Geld dafür hat, ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine richtige Diagnose gestellt und die passende Therapie verordnet wird: Es gibt keine gut ausgebildeten Ärzte, und die, die es gibt, verschreiben unisono Antibiotika und Antimalariamittel in grosser Menge, weil sie nichts anderes kennen. Sollte das nichts helfen, kann man ja immer noch den Blinddarm herausnehmen – und damit ist die Palette der medizinischen Versorgung auch schon ausgeschöpft. Wenn Linda mir von ihrem Leben erzählt, dann bin ich immer wieder aufs Neue sprachlos und fassungslos. Manchmal habe ich geweint, wenn sie mir aus ihrem Alltag erzählt hat. Zu viel ist für mich einfach unbegreiflich: Dass die Verwandten ihres Mannes darüber entscheiden, wie viele Kinder sie zu bekommen hat. Dass sie den Tod von vier Kindern erlebt und ausgehalten hat und daran nicht innerlich zerbrochen oder einfach verrückt geworden ist. Dass sie immer noch ihren Mann miternährt und versorgt, der sie so schlecht und entwürdigend behandelt – letztes Jahr verkaufte er zum Beispiel einen Teil ihrer Ernteerträge, um seine Sucht damit zu finanzieren. Das Erstaunlichste an all dem aber ist für mich: Linda ist eine Frau, die immer wieder zur Fröhlichkeit zurückfindet. Immer wieder aufs Neue höre ich sie singen: alleine, mit ihren und unseren Kindern, in der Frauengruppe ihrer Gemeinde und im Chor. Sie hat die Kraft, trotz aller Probleme und Widrigkeiten nicht aufzugeben und jeden Tag aufs Neue an die Arbeit zu gehen. Sie hat das Lachen nicht verlernt, macht gern Spässe und verbietet mir strengstens, mich um sie zu sorgen. «Gott ist doch da», sagt sie zu mir, «er wird uns helfen. Wenn es zu viel wird, dann setze ich mich hin und lese in meiner Bibel. Das mache ich solange, bis ich getröstet bin. Ja, wir haben hier in Nigeria grosse Probleme, 22

Frauen mit einer Mission! – Empowerment durch Begegnung in Nigeria

und mit meinem Mann steht es schlimm. Aber heute, für diesen Tag, bin ich am Leben. Wie sollte ich da nicht fröhlich sein und singen?» Das sagt sie nicht etwa aus Naivität, sondern auf dem Hintergrund all der Lebenserfahrungen, die sie gemacht hat. Und während ich darüber grüble, wie ich ihr helfen kann – ob ich ihr Geld oder Lebensmittel schenken soll oder lieber nicht, weil ich sie dann dem Neid und der Missgunst ihrer Umgebung aussetze –, hat sie schon wieder mir geholfen und mir neuen Mut gemacht. Liegt es vielleicht daran, dass sie in allem, was ihr Leben ausmacht – in ihrem Alltag, ihrer Arbeit und ihrem Glauben – auf eine Weise geerdet ist, die ich nicht kenne? Weiss, dass wir Erde sind und Gott uns unser Leben auf der Erde schenkt – und sie nicht mehr und nichts anderes sein will? Wenn ich ihr «helfen» will, komme ich schnell an meine Grenzen, weil ich den Rahmen ihrer Lebensbedingen und der hiesigen kulturellen Prägungen nicht verändern kann. Aber ich lerne jeden Tag von ihr, wie ein durch und durch geerdetes Leben aussieht, das mit viel Hoffnung auf eine erneuerte Erde erfüllt ist.

ERINNERUNGEN AUS MEINEN JAHREN IN AFRIKA Ursula Häselbarth

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Ich schaue zurück auf 10 Jahre in Afrika – eine bewegte Zeit, die uns sehr bereichert hat. Fünfeinhalb Jahre arbeiteten mein Mann und ich in der Ära der Apartheid in Südafrika (1963–1968). Wegen unserer Haltung in der Rassenfrage wurden wir schliesslich von der Regierung in Pretoria ausgewiesen. Von 1972 bis 1977 lebten wir dann in Nigeria. Mein Mann lehrte als Dozent am Theological College of Northern Nigeria in Bukuru, wo zukünftige Pfarrer verschiedener evangelischer Kirchen ausgebildet wurden. Für mich begann die erste Ausreise 1963 mit einer Depression. Es fiel mir damals schwer, die Heimat zu verlassen. Dass ich mir Trauer und Tränen nicht erlaubte, trug sicher zur Depression mit bei. Doch nach dem Sprachstudium und dem ersten Zusammenleben mit Afrikanerinnen wurde in Nord-Transvaal und dann in Natal daraus eine grosse Liebe für das Land. Ich erlebte wunderbare Abenteuer mit Gott und Menschen. Besonders die Frauen hatten einen wichtigen Einfluss auf mich und meine Lebensweise. Diese oft schwer geprüften Frauen strahlten trotz allem Leid noch Fröhlichkeit aus. Die, welche eigentlich nichts zu lachen hatten in ihrer Armut, lehrten mich ihr Dennoch zum Leben. Vor der zweiten Ausreise in den Siebziger Jahren, diesmal in die Plateau-Region von Nigeria mit der Basler Mission, konnte ich Abschiedsschmerz und Trauer besser zulassen und war auch ohne neue Sprachkenntnisse schnell integriert in die Gemeinschaft am College. Auch unsere vier Kinder fanden sich in der neuen Welt bald zurecht. Sie konnten eine amerikanisch geführte Schule in der nahe gelegenen Stadt Jos besuchen. Als ehemalige Lehrerin gründete ich eine neue kleine Schule auf dem College-Gelände, die als ein Kindergarten begann und heute eine Sekundarschule geworden ist. Am meisten bewegte mich das Leben der sogenannten «nurse-girls», Kindermädchen, welche die kleineren Kinder der Studenten hüten und oft auf dem Rücken herumtragen mussten, weit weg von ihren Eltern und ihrer Heimat waren und keine Ausbildung in Aussicht hatten. Nun bekamen auch sie die Gelegenheit, mit den anderen Kindern Englisch und erstes Rechnen, Schreiben und Lesen zu lernen. Eine Lehrerin aus dem Volk der Yoruba unterrichtete sie mit viel Engagement und Schwung. Weil ich keine feste Anstellung hatte, machte es mir Freude zu sehen, wo eine Lücke war und mein Einsatz etwas bringen 19

Ursula Häselbarth aus Selbitz D war von 1972–77 als «mitausgereiste Ehefrau» von Pfarrer Dr. Hans Häselbarth für die Basler Mission in Bukuru, Nigeria. Ihre vier gemeinsamen Kinder waren mit dabei.

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könnte. Ich war beweglich und wurde daher für verschiedene Bereiche angefragt. Einiges davon will ich hier aufzählen. Gerne erinnere ich mich an Geburten in den Studentenfamilien. Jedes Mal buk ich einen schwarz-weissen (!) Marmorkuchen, und eine Traube von Kindern führte mich jedesmal zum Haus der Wöchnerin. Das wurde zur Tradition, denn es wurden viele Kinder geboren und der Kuchen wurde immer schon erwartet. Weil die Wohnungen der Studenten keinen Backofen hatten, konnten die Familien selber nicht backen. Einmalig in jenen Jahren war für mich auch, dass ich eine Aktion zur Polio-Prophylaxe durchführen konnte. Zwei Kinder waren angesteckt worden und ich musste das ernst nehmen. Es wurde eine fröhliche und aufregende Aktion, die Zuckerstückchen mit dem Impfstoff an etwa 50 Kinder und an ihre Mütter zu verteilen. Heute wäre das nicht mehr möglich und auch nicht mehr nötig. Ich unterrichtete die Frauen der Studenten im Neuen Testament, in Ethik und im Singen. Die wunderbaren Lieder der verschiedenen Sprachgruppen mit ihrem Rhythmus konnte ich selber als Deutsche nicht lernen. Mir tat das sehr leid, denn sie waren wertvoll und meist unbeeinflusst vom europäisch geprägten Liedgut. Daher musste in jeder Stunde eine Frau aus einer Sprachgruppe ihre Mitstudenten eines ihrer Lieblingslieder lehren. Ich übernahm dann lieber das Einstudieren eines Liedes in englischer Sprache. So sang der gemischte Frauenchor dann Lieder der Margi, der Tiv, der Yoruba, der Bura, der Birom oder der Hausa, usw. Ich wollte den Schatz der traditionellen Musik fördern und zum Stolz der Frauen machen. Es war schön zu sehen, wie auch schulisch schwach begabte Frauen die Gabe hatten, traditionelle Weisen zu singen und anzuleiten. Vom Unterricht im Neuen Testament ist mir kaum etwas in Erinnerung geblieben, nur, dass er mir und den Frauen sehr lieb wurde. Öfter besuchte uns ein älterer Moslem im weissen Gewand. Ohne viel zu fragen, setzte er sich in unserem Wohnzimmer in einen Sessel und begann, in einer Bibel in Hausa zu lesen. Dann schüttelte er oft voll Verwunderung den Kopf und rief laut: «Kai Bibel» – ein Ruf höchsten Erstaunens über Entdeckungen im Evangelium. Wo hören wir das in Deutschland? Zwischen Moslems und Christen gab es damals noch keine Spannungen in unserer Region. Im Ethikunterricht war ein Hauptthema das Eheleben: Wie führt man eine christliche Ehe und wie kann man Glück in einer Partnerschaft erleben? Eines Tages besuchten uns zwei Gesandte der Kommunität Christusbruderschaft in Selbitz, einem evangelischen Kloster in Oberfranken. Die Studenten und ihre Frauen konnten die beiden zölibatär lebenden Gäste über ihr Leben ausfragen, weil sie drei Wochen mit ihnen im Studentendorf zusammenwohnten. Dabei äusserten sie den Wunsch nach einer solchen Lebensform auch in Afrika – auch deshalb, weil eine solche Alternative die Ehe als eine Wahl in Freiheit nicht ab- sondern aufwertet. Die Frauen stehen ja in der afrikanischen Tradition oft unter dem Druck, unbedingt Kinder gebären zu müssen, um Menschen zu sein. Ein christlicher Mann und eine durch dass Christsein befreite Frau haben es oft schwer, als gleiche Partner in ihren neuen Rollen zu leben und einander glücklich zu machen. Leichter taten sich da jene, die mit einem an Jahren älteren christlichen Paar wie uns zusammenlebten , zum Beispiel als Haushaltsgehilfen. Vorbilder überzeugen und reizen oft mehr zum Erkunden und Lernen als viel Belehrung. Unser Steward Hamidu und seine junge Frau Saratu haben jedenfalls einen fröhlicheren und lockeren Umgang miteinander gelernt, bei dem keiner seine Würde verliert. Von meiner Familie und von unseren vier Kindern erzähle ich gerne, wie schnell wir uns einleben konnten. Bei der Ausreise waren unsere beiden Töchter 10 und 8 Jahre alt. Sie gingen gerne zur Schule und integrierten sich in das damals englisch-amerikanische Schulmilieu. Unsere Söhne, damals 7 und 3, freuten sich besonders am Spielen mit den afrikanischen Jungen – bis hin zum Genuss gerösteter Ameisen. Der Ältere baute ein Hühnerhaus aus sonnengetrockneten Lehmziegeln. Das war eine Kopie eines Gehöfts der Hausa mit weissem Kalkmuster und kleinen Hörnchen an den vier Ecken. 24

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Wie viel schwerer fiel dann die Heimkehr nach Deutschland. Obwohl wir alle Kinder um ein Jahr in der Schule zurück stuften, brauchten sie Hilfe. Eine Zeit lang wurde unser Älterer zum «Klassenclown» in der Schule und er duzte seinen Lieblingslehrer. Später sagte er: «Ihr wisst gar nicht, wie viel ich einsetzen musste, um mich zu integrieren!» Ja, wir wussten damals vieles nicht und hätten den Kindern nach der Rückkehr nach Deutschland mehr helfen sollen. Denoch schaut unsere ganze Familie dankbar auf diese zehn Afrika-Jahre zurück. Wie gut, dass mein Mann diesen Wunsch hatte, in den missionarischen Dienst zu gehen und mir besonders im ersten Jahr half, mich einzuleben und meine Tränen trocknete.

«MITAUSGEREIST» – ROLLENBILD EINER VERHEIRATETEN FRAU IM KULTUR-CLASH Catina Hieber20 Wir lebten vom Herbst 1978 bis Frühjahr 1986 in Nordnigeria, als «fraternal workers» der Nigerianischen Geschwisterkirche EYN. Ausgereist waren mein Mann und ich mit zwei Kindern, das dritte Kind wurde dort geboren, eine bis heute unvergessliche Erfahrung. Mit viel Freude und Energie besuchten wir in den ersten vier Monaten einen Sprachkurs, um Hausa, eine der drei Landessprachen, zu lernen, die vor allem im Norden Nigerias als Verkehrs- und Arbeitssprache gebraucht wird. Wir hatten das Glück, den Sprachkurs und unsere ersten Erfahrungen in dieser neuen Umgebung und Kultur nicht allein, sondern zusammen mit einer anderen Familie von «fraternal workers» zu machen. Ein gelungener Start. Angekommen an unserem eigentlichen Wirkungsort in Shaffa (Borno State), stellte ich fest, dass, im Unterschied zu den Männern, viele Frauen im Dorf kaum Hausa verstanden und untereinander nur die Lokalsprache Bura, eine der 200 Stammessprachen redeten. Dies machte die Kommunikation mit den Frauen anfänglich etwas kompliziert. Wir lebten in einem kleinen Dorf – ohne fliessendes Wasser und ohne Strom – allein als Weisse in einer alten Missionsstation und waren in vielem selbstversorgend. Für mich als eine Frau, die in der Stadt aufgewachsen ist, bedeutete dies eine grosse Umstellung. Vieles musste ich dazulernen: Brot backen, Gemüse einmachen und Fleisch pökeln, Trinkwasser filtern, Windeln waschen an der offenen Feuerstelle, usw. Überlebenswichtig war – bei Temperaturen von zum Teil 40 Grad am Schatten! – auch das «zärtliche Hätscheln» der Kerosinflamme unter dem Kühlschrank sowie das «mit einem Ohr stetige Hinhören» auf den hoffentlich doch ganz regelmässig klopfenden Ton der Wasserpumpe! Natürlich hatten wir auch Hühner, Kaninchen, Katze und Hund, sowie einen Gemüsegarten und Felder mit Erdnüsschen und Hirse zu bewirtschaften. Grundsätzlich fand ich das «neue» Leben äusserst spannend. Oft kam ich mir jedoch dabei vor, wie zurückversetzt in Grossmutters Zeiten! Manchmal aber war alles zusammen trotz der Unterstützung durch Hausangestellte etwas (zu) viel und erschöpfend neben der Fürsorge für die noch sehr kleinen drei Kinder. (Zum Glück wurde es das ganze Jahr über früh dunkel, sodass man beim spärlichen Schein der Kerosinlampe kaum mehr viel arbeitete, gemütlich zusammen sass und todmüde ins Bett sank.) Bedrängender als die viele Arbeit waren jedoch ein immer wieder aufkommendes Gefühl der Einsamkeit und die Frage nach dem Sinn. Oft kam es mir vor, als wäre ich auf einem Schloss eingesperrt – schöne Aussicht, genügend Wasser und zu essen – alles Dinge, von denen die umliegende Bevölkerung nur träumen konnte. Trotzdem musste ich meine ganze Energie dafür aufwenden, um unser Überleben zu sichern, sprich: im afrikanischen ländlichen Kontext einen mehr oder weniger europäischen 20

Catina Hieber lebte als «mitausgereiste Ehefrau» 1978–1986 in Shaffa (Borno State), Nigeria. 1980 begann sie als Lehrerin beim beim WTC (Women Teacher’s College) in Shaffa.

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Haushalt zu führen mit abwechslungsreichem Essen, viele angekündigte und nicht angekündigte Gäste zu bewirten und daneben sicherzustellen, dass Kakerlaken und anderes Ungeziefer im Haus nicht die Oberhand bekamen! Immer wieder ging mir durch den Kopf: Eigentlich war ich doch nach Afrika gekommen, um, ähnlich wie mein Mann in seiner Arbeit als Koordinator des theologischen Weiterbildungsprogramms „Theological Education by Extension“, mit der Bevölkerung einen echten Austausch zu pflegen, in Kontakt zu kommen mit den Menschen, den afrikanischen Frauen, und zusammen mit ihnen etwas zu lernen und zu gestalten. Natürlich habe ich bei meinen täglichen spätnachmittäglichen Spaziergängen durchs Dorf – dann waren die Leute vom Feld zurück – viele Leute, vor allem Frauen kennen gelernt und habe im Laufe der Zeit mit einigen eine enge Beziehung aufgebaut. Doch hätte ich mir als Theologin auch eine «echte» Aufgabe gewünscht, eine Verantwortung für ein Projekt,bei dem ich etwas hätte mit aufbauen können. Ich hatte doch nicht studiert, um wie im traditionellen Rollenverständnis nach der Heirat ausschliesslich Hausfrau zu sein und dann noch eine wie zu Grossmutters Zeiten! Das passte gar nicht zu meinem feministischen Selbstverständnis. Meine Motivation nach Afrika zu gehen, kam – typisch für die 1970er Jahre – aus einem gesellschaftspolitischen Ansatz. Ich wollte auch meinen Beitrag leisten für eine gerechtere Welt. Wie die meisten «mitausgereisten Ehefrauen» fand dann allerdings auch ich mit der Zeit meine Nische, in der ich aktiv werden konnte: ein Wirkungsfeld, in dem ich meine Befriedigung fand. Denn als wir von unserem ersten Heimaturlaub nach Nordnigeria zurückkehrten, entstand in unserem Dorf – praktisch von einem Tag zum andern – ein Lehrerinnenseminar. Plötzlich war da wie aus dem Boden gestampft eine Schule! Dann ging alles ganz schnell. Ich bekam ein Teilpensum in Religionsunterricht mit Vertrag und allem was dazu gehörte. Für mich war es grandios, auf diese Weise Teil einer Institution zu sein. Damit hatte ich eine feste Aufgabe, bekam Einblick in die Funktionsweise einer staatlichen Schule, lernte das Bildungswesen kennen und durfte mitwirken an der Ausbildung von jungen Lehrerinnen. Ebenso wurde ich Teil der Lehrerschaft und konnte, wenn auch in bescheidenem Mass, mithelfen, die Schule zu gestalten. Und wie kam das berufliche Engagement bei der afrikanischen Bevölkerung an? In der Schweiz wäre dies damals gar nicht gut angekommen. Hinter vorgehaltener Hand hätten die Leute – Männer wie Frauen – gemunkelt: «Warum muss diese Frau nun noch ausser Haus arbeiten, wo sie doch drei kleine Kinder zu Hause hat und es ihr sonst nicht an Arbeit fehlt! Sie hat es doch nicht nötig, ihr Mann verdient doch genug!» Im afrikanischen Kontext wurde dies gerade umgekehrt gesehen. «Wie gut! Endlich mal eine Weisse, die sich nicht von ihrem Ehemann 'aushalten' lässt, sondern selber einen finanziellen Beitrag zum Haushalt leistet.» Im afrikanischen Kontext ist es normal, dass Frauen alles tun, um für sich und vor allem auch für ihre Kinder mit aufkommen zu können. Männer, vor allem wenn sie mehrere Frauen haben, können nicht für alle sorgen. Deshalb ist eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit von ihrem Ehemann für eine afrikanische Frau von zentraler Bedeutung. Deshalb legt sie Wert darauf, dass sie mindestens ihr eigenes Feld hat. Schlagartig ist mir aufgegangen, dass unser Rollenbild nicht eins zu eins auf afrikanische Frauen zu übertragen ist und vorsichtig angeschaut werden muss! Für mich waren die Jahre in Nigeria eine anstrengende, doch sehr bereichernde Zeit, die mein Leben tief geprägt hat. Ich empfand es schon damals und empfinde es noch heute als ein ganz besonderes Privileg, dass ich die Chance hatte, in eine mir so fremde Kultur eintauchen zu dürfen und mein Leben davon mitbestimmen zu lassen. Nach unserer Rückkehr in die Schweiz fiel es mir schwer, mich hier wieder einzuleben, schwerer als vorher das Einleben in Nordnigeria.

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DIE MITAUSREISENDE EHEFRAU21 Catina Hieber22 Aufgrund meiner Erfahrungen als «mitausgereiste Ehefrau» habe ich nach unserer Rückkehr im Jahr 1986 einen Bericht zu Handen des Komitees und der Geschäftsleitung der Basler Mission (BM) sowie der Frauenkommission verfasst. Ziel des Berichtes war es, die Rolle der «mitausgereisten Ehefrau» etwas differenzierter zu betrachten und gewisse Fragen aufzuwerfen, wie: Soll das Potential von gut ausgebildeten Frauen nur aufgrund der eigenen Initiative zum Zug kommen oder könnte es von der Partnerkirche besser genutzt werden? Will die Basler Mission dazu beitragen, unser westeuropäisches traditionelles Frauenbild weiter zu tradieren, ohne nach den Konsequenzen zu fragen? Und sollte sie als fortschrittliche Institution eine Vorreiterrolle in unserem gesellschaftlichen Kontext übernehmen und partnerschaftliche Arbeitsverträge fördern im Sinne von Jobsharing, Arbeitsteilung? Der Bericht wurde damals rege diskutiert, auch unter späteren «mitausreisenden Ehefrauen», und hat wohl auch einige Veränderungen auf institutioneller Ebene bewirkt. Anbei ausgewählte Ausschnitte aus dem Teil des Schlussberichtes zur Analyse der Situation der «mitausreisenden Ehefrau» sowie die darin vorgeschlagenen Verbesserungsmöglichkeiten für die aussendende Missionsgesellschaft. Die «mitausreisende Ehefrau» In der Mission sind die Zeiten vorbei, in denen sich die Ehefrau als «demütige Dienerin» versteht, die alles tut, um den Dienst ihres Ehegatten zu ermöglichen. Heute geht es vielmehr darum, dass sich die Frau integrieren kann in die neue fremde Gesellschaft in Übersee und in die Partnerkirche, in deren Dienst sie beide stehen. Es geht aber auch darum, dass die Chance, dass Frauen aus- und mitreisen, viel zu wenig genutzt wird. Haben nicht gerade Frauen einen anderen Zugang und ein anderes Empfinden für Zusammenhänge, die ablaufen? Natürlich ist die Integration der Ehefrau weitgehend von ihrer Persönlichkeit und von ihrer Motivation abhängig. Doch daneben sind auch Strukturen bestimmend. Darauf möchte ich näher eingehen und vier Punkte hervorheben. -

Abgeschnitten-Sein von bisherigen Beziehungen und gelebten Strukturen Wohl ist es jedem Ehepaar, das sich zur Ausreise bereit erklärt, klar, dass Beziehungen und Freundschaften nicht mehr in gleicher Weise gepflegt werden können wie bisher. Dennoch hat diese Tatsache für die «mitausreisende Ehefrau» einen anderen Stellenwert als für ihren Partner. Auf einen Schlag fallen sämtliche Bereiche weg, in denen sie Beziehungen hatte. Eltern, Geschwister und Verwandte, Bekannte und Freunde, Studien- und Arbeitskollegen –Plötzlich fällt das ganze Feld von Beziehungen, das einen bis dahin getragen und geprägt hat, weg 23. Zwar ist dies zunächst für beide Partner gleich. Doch während der Ehemann zwangsläufig durch die berufliche Arbeit kontinuierlich neue Beziehungen aufbaut, ist dies für die «mitausreisende Ehefrau»anders. Sie ist strukturell isoliert.

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Hineingestellt-sein in eine aufwendige Haushaltsführung Es ist wohl unbestritten, dass die Haushaltsführung in allen Ländern in Übersee viel aufwendiger ist als hier. Vor allem der Bereich der Nahrungsbeschaffung und Vorratshaltung muss mit mehr Sorgfalt und Voraussicht geführt werden, als dies hierzulande

21 Schlussbericht von 1986 zu Handen des Komitees und der Geschäftsleitung der Basler Mission sowie der Frauenkommission, gekürzt und angepasst von der Autorin. 22 Als «mitausgereiste Ehefrau» lebte ich 1978–1986 in Shaffa (Borno State), Nigeria und seit 1980 war ich als Lehrerin beim beim WTC (Women Teachers College) in Shaffa tätig. 23 Damals gab es noch nicht die Kommunikationsmittel wie heute: kein Mail, keine Telefon, kaum Poststellen.

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üblich ist. Das Lebensmittelangebot ist knapp und man muss gezwungenermaßen viel mehr von Grund auf selber machen. Auch diese Tatsache stellt ein strukturelles Problem dar und sollte im Vorbereitungskurs, in der Planung der Arbeitsbeschreibung und der Frage der Rollenverteilung diskutiert und gut überdacht werden. -

Leben in einer ausgeprägt patriarchalen Gesellschaft Jede Ausreise nach Übersee bedeutet eine Ausreise in eine stark patriarchal geprägte Gesellschaft. Dies wird meistens von den überseeischen Kirchen unkritisch akzeptiert und gilt als selbstverständlich, wenn es nicht gar noch speziell gefördert wird. Für eine engagierte Frau ist es in einer patriarchalen Gesellschaft und Kirche nicht einfach, ihre Rolle zu finden. Wie lebt man als Frau in einer derartigen Gesellschaft? Wie hält man das überhaupt aus? Wie kann und will ich mich verhalten? Bisher habe ich in der Diskussion über die «mitausreisende Ehefrau» noch nie gehört, dass dieser Punkt speziell angesprochen wurde.

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Leben in einer Gesellschaft mit eindeutig festgelegten Rollen zwischen Mann und Frau In Übersee sind in den meisten Kulturen die Rollen strikt getrennt. Was eine Frau macht, macht kein Mann, und was ein Mann macht – ist „Männersache“! da wagt auch keine Frau sich einzumischen. Für uns, die wir eine solch starke Rollenteilung nicht (mehr) gewohnt sind, ist es somit viel schwieriger, unsere Rolle in dieser Gesellschaft, in der wir einerseits uns selber bleiben aber auch in gewissem Sinn solidarisch leben wollen, zu finden.

Am Anfang unseres Aufenthaltes in Nord-Nigeria kümmerte ich mich nicht um die starke Rollenteilung von Mann und Frau. Zu Hause teilten wir die Arbeit auf, wie wir es gewohnt waren und wie es uns richtig schien, und ausser Haus verhielt ich mich so, wie es mir besser gefiel. So hielt ich mich meistens bei den Männern auf. Da war es viel interessanter, da wurde diskutiert über Politik und Kirche. Ich konnte mich mit ihnen über fast alles unterhalten. Viele hatten einen grösseren Horizont (mehr Bildung) als die Frauen. Natürlich unterhielt ich mich auch mit den Frauen. Ich interessierte mich für ihre Arbeit und ging auch oft mit ihnen zum Brunnen, auf das Feld oder in die Mühle. Ich fühlte mich in einer besonders privilegierten Stellung, da ich bei beiden Geschlechtern mitmachen konnte und durfte. Im Laufe der Jahre änderte sich dies. Ich konnte nicht mehr so tun, als wäre ich weder Frau noch Mann. Ich gehörte zur Frauenseite. Ich wollte mich auch bewusst stärker auf sie einlassen. Ich wollte ihre Probleme spüren und mich mit ihnen solidarisch zeigen. Das empfand ich auch als schwierig. Immer wieder sah ich die Frauen viel erdulden, sah, wie sie ihre unterordnende Rolle annahmen, ohne sie zu hinterfragen. Was bedeutet da solidarisch sein als Frau? Welche Rolle nehmen wir da als Frauen vom Westen ein? Verbesserungsvorschläge und Lösungsmöglichkeiten Bisher wurde die «mitausreisende Ehefrau» mit ihren Problemen allein gelassen. Sie musste selbst herausfinden, wie sie sich zurechtfinden soll. Die folgenden Vorschläge sollen Anregungen sein und Hilfen bieten, die schon in der Planung der Ausreise mitbedacht werden sollten. 1. Jedes Ehepaar sollte unbedingt schon von Anfang an die Frage der Rolle der Frau und ihrer Aufgabe in Übersee angehen und planen. 2. Die BM/EMS (Evangelische Mission in Solidarität in Stuttgart) sollte die Ehefrauen darin ermutigen und bestärken, eine Aufgabe zu übernehmen. Sie sollte die Frauen überzeugen, dass gerade in einer Kirche, in der 50 Prozent Frauen sind, der Beitrag der Frauen wichtig ist. 3. Bei Ehepaaren sollten unbedingt zwei Verträge abgeschlossen werden. Jeder Ehepartner/in sollte ein eigenes Gebiet zugeordnet bekommen, für das er beziehungsweise sie gegenüber der aussendenden Mission verantwortlich ist.

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4. Die BM/EMS sollte bei jeder Anfrage einer Partnerkirche für einen ökumenischen Mitarbeiter (fraternal worker) zurückfragen, welche Aufgaben die «mitausreisende Ehefrau» übernehmen könnte. Sie darf die Frauen nicht mehr ins Blaue hinaus aussenden! (Für die Partnerkirchen ist eine solche Frage nicht fremd, da jede Frau, die eine Ausbildung hat, ihren Beruf auch ausübt.) 5. Sollte es in einem konkreten Fall schwierig sein, eine Aufgabe für die Frau in der Zusammenarbeit mit der Partnerkirche zu erwirken, ist es die Aufgabe der BM/EMS, einen konkreten Arbeitsauftrag zu formulieren. Zum Beispiel: -

Liedgutsammlung für ein Singbuch aus Dritte-Welt-Liedern Entwurf für Sonntagsschuleinheiten über Mission / Dritte Welt wissenschaftliche Studie über die Rolle der Frau in der Tradition, in der Umbruchsphase von heute, usw. Rezepte oder Essgewohnheiten für einen Brot-für-alle -Kalender. Die Aufträge und Themen könnten im Zusammenhang mit Ehemaligen oder mit den entsprechenden Stellen, die eine solche Hilfe beanspruchen, ausgearbeitet werden. Man sollte die Chance der vielen Frauen im Feld nicht ungenutzt lassen.

6. Die Arbeitsaufträge für die Frau sollten nicht im Sinn einer Doppelbelastung abgeschlossen werden, sondern im Sinn einer Doppelintegration und einer ganzheitlichen Nutzung der Chancen, dass zwei ebenbürtige Partner ausgesandt sind. Das bedeutet, dass alle anfallende Arbeit von Haushalt, Kinderbetreuung und Erziehung gemeinsam getragen werden muss. 7. Es werden zwei Arbeitsverträge zu je 50 Stellenprozenten abgeschlossen. (Die Partnerkirchen rechnen ohnehin nicht in Prozenten. Dies ist eine westliche Erfindung.) Die Konsequenz davon wäre, dass der „Weisse“ nicht mehr in der Lage ist, ein Pensum zu bewältigen, das ein allfälliger einheimischer Kollege oder Nachfolger ohnehin nicht schafft. Somit wären zwei Arbeitsverträge ein weiterer Schritt zur Integration, wobei ich hier Integration von Schwarz und Weiss meine, das heisst, von fraternal worker und überseeischen Mitarbeitern. Also ein Schritt weiter auf unserem Weg zur «mutual mission», Partnerschaft im weitesten Sinn. 8. Bei einer solchen Gestaltung der Arbeitsverträge könnte die BM/EMS Pionierarbeit leisten: - im Entwickeln von neuen Modellen für partnerschaftliche Lösungen in der Arbeitswelt; Modelle, die wir als Christen, die den ganzheitlichen Menschen in Jesu vertreten, so dringend nötig haben. - In der Integration von Arbeit und Leben in der Familie.(Vereinbarkeit von Beruf und Familie) Modelle, die wir hier und in Übersee dringend brauchen. - christlichen Beitrag zu gerechterer Verteilung von Chancen zwischen Männern und Frauen in der heutigen Gesellschaft, und damit Zeugnis abgeben für eine Welt ohne Diskriminierung der „Arbeitswelt“.

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«GEHET HIN UND LERNT»24 Catina Hieber25 1986 Jahresthema der KEM (Kooperation der Evangelischen Kirchen) Seit ben und sich

drei Monaten sind wir zurück in der Schweiz. Wir haben unseren etwas mehr als siejährigen Dienst in der EYN – Geschwisterkirche Nigeria – vor kurzem abgeschlossen versuchen, uns hier wieder zurecht zu finden. Es ist also ein guter Zeitpunkt, um rückblickend die Frage zu stellen: „Was habe ich gelernt?“.

Auch wenn damals bei unserer Ausreise das Jahresthema der KEM (Kooperation der Evangelischen Kirchen) nicht so lautete, so war doch genau das „Gehet hin und lernt“ unser Leitmotiv, das uns vor acht Jahren bewog, unsere damalige Tätigkeit aufzugeben, um uns in einer Aufgabe in Übersee zu engagieren.Heute möchte ich von drei Erfahrungen berichten, die ich besonders aus der Perspektive der „mitausreisenden Ehefrau“ – so wurden Ehefrauen von „Fraternal Workers“ genannt – gemacht habe. Meine erste Erfahrung soll zeigen, dass immer dann, wenn man hingeht und sich auf etwas einlässt, man selbst der- oder diejenige ist, die den grössten Lernprozess mitmacht. Es geht dabei um meine Erfahrungen mit den Frauen in Nigeria, genauer mit Frauen aus Shaffa, unserem Wohnort, und aus unserer Kirche. War ich doch schon ausgesprochen als Ehefrau, also als Begleitperson, ausgereist, schien es mir nahe liegend und wichtig, mich bewusst auf die Frauen einzulassen. Ich wollte spüren, wie sie leben, was sie bewegt und bedrückt und welche Aufgaben und Verantwortungen sie haben. Dabei ging es mir auch darum heraus zu finden, wie sie selber ihre Situation empfinden und wie ihr Lebensgefühl ist. Ich nützte jede Gelegenheit, um die Frauen besser kennen zu lernen, sei es in ihrem Alltag oder in Gruppen. Dabei bemerkte ich, welch große Last den Frauen aufgebürdet wird, sowohl körperlich (mit Haus – und Feldarbeit) als auch in Bezug auf die Verantwortung für das Wohl der Familie. Mir fiel auf, dass fast überall – zu Hause, im Alltag und in der Kirche – Frauen die Hauptlast trugen. Immer wieder konnte ich es kaum fassen, wie viel Frauen insgesamt leisten. Gleichzeitig registrierte ich aber auch, dass sie im Vergleich dazu kaum Rechte hatten, weder in der Familie, noch in Kirche und Gesellschaft. Ich stellte mir vor, dass solch ein Leben recht bedrückend sein müsse. Zu meinem Erstaunen stellte ich jedoch fest, dass die Frauen selbst ihre Situation nicht als ungerecht empfanden. Sie akzeptierten diese Machtverhältnisse als durchaus richtig und ordneten sich der Rolle unter, die ihnen zugedacht war. Als Frau, die ich mich gerne für die Befreiung von Frauen eingesetzt hätte, war das nicht einfach zu akzeptieren. Klar war mir aber bald, dass es nicht die Aufgabe einer weissen Europäerin sein konnte, hier massiv einzugreifen und solche Einstellungen als unevangelische zu brandmarken. (Ich wollte nicht in die Kolonisationsfalle treten!!) Anstoss zu Veränderungen mussten selbstverständlich von den Afrikanerinnen selbst kommen. Natürlich tat es mir jedes Mal weh, wenn ich sah, wie in Zusammenkünften christlicher Frauengruppen ausgerechnet die Frauen selbst sich gegenseitig zur Unterordnung unter den Mann bestärkten und betonten, wie Gehorsam ihre oberste Frauen-Pflicht sei. Doch wichtiger als Neues zu predigen schien mir, mit ihnen zusammen zu sein und ihnen zu zeigen, dass sie mir wichtig waren. Ich war es also, die hier den ersten Lernprozess durchmachen musste. Meine Vorstellungen von Engagement bei den Frauen musste ich gründlich revidieren und andere Wege der Solidarität suchen.Trotz meiner Zurückhaltung durfte ich zu meiner Überraschung bei unserem Abschied nach mehr als sieben Jahren feststellen, dass einige Frauen selber begonnen hatten, ihre Rolle kritisch zu hinterfragen. Eine Frau meinte: „Du hast Recht, 24

gehalten anlässlich des Missionsfestes der Basler Mission 1986 – leicht angepasst. Als „mitausgereiste Ehefrau“ lebte 1978 – 1986 in Shaffa (Borno State), Nigeria und seit 1980 tätig als Lehrerin beim beim WTC (Women Teachsers College) Shaffa 25

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uns Frauen wird alles zugemutet und die Männer ziehen sich aus allem zurück.“ Auch die Reaktion eines Kirchenführers freute mich, der sagte: „Die Saat, die du gesät hast, kann nur langsam aufgehen. Komm in 20 Jahren wieder und du wirst sehen, was dein Wirken gefruchtet hat.“ Meine zweite Erfahrung soll zeigen, dass man bei jedem Hingehen, sich Einlassen, auch Erfahrungen in Strukturen macht, in die man hinein gestellt ist. (als Weisse in afrikanischem Umfeld, als „Missionar In“ als Kirchliche Mitarbeiterin) und was es bedeutet, wenn diese Strukturen teilweise fehlen. Zunächst nahm ich wahr, dass es mir viel schwerer fiel, mich als „mitausgereiste“ Ehefrau zurecht zu finden, als ich mir dies vorgestellt hatte. Im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass dies wesentlich mit der (fehlenden) Struktur und unklaren Rolle zusammenhängt, in der ich mich als mitausgereiste Ehefrau bewegte. Während vor jeder Ausreise eines „ fraternal workers“ seine Rolle klar definiert wird und genau überlegt wird, wie sein Einsatz gestaltet werden soll, so dass es für Mission und Partnerkirche sinnvoll ist, wird die Frage nach der Rolle der mitausreisenden Ehefrau kaum gestellt. Man sagt einfach: „Du wirst schon eine Nische finden, in der du dich sinnvoll einbringen kannst.“ Und tatsächlich findet auch fast jede Frau nach einer gewissen Zeit ihr selbst gewähltes Betätigungsfeld. Dabei wäre es ebenso wichtig, im Vorfeld ihre Rolle genauer zu definieren. Wie versteht sie sich? Wo soll sie eingebunden werden? Ansonsten bleiben wichtige Fragen und Chancen ausser acht. Denn sind es nicht auch die Frauen, die einen wichtigen Beitrag zum interkulturellen Austausch leisten könnten? Haben nicht sie zu vielen Erfahrungsfeldern, insbesondre zu den Lebensrealitäten von Frauen, einen ganz anderen Zugang? Bleiben da nicht grosse Möglichkeiten ungenutzt? Die Frage der Rolle der Ehefrau und ihres Beitrags wird auch bei ökumenischen Mitarbeitern, welche aus Übersee zu uns kommen, kaum gestellt. Diese Frauen sind oft mit einer noch viel schwierigeren Aufgabe konfrontiert als ihre Ehepartner aus überseeischen Partnerkirchen. Auch sie lässt man oft einfach selbst wursteln. In dieser Hinsicht sollten auch bei uns weitere Schritte gemacht werden. Mit meiner letzten Erfahrung will ich zeigen, dass man in Uebersee auch Lernprozesse macht, die einem erst rückblickend bewusst werden, nämlich dann, wenn man in der eigenen Gesellschaft wieder Fuss zu fassen versucht. Zurückgekehrt stelle ich plötzlich fest, dass ich „Bürgerin verschiedener Welten“ geworden bin. Da sind Gewohnheiten normal geworden, die eindeutig aus der nigerianischen Gesellschaft übernommen sind und die nun bis tief ins Herz hinein zu mir gehörenm und umgekehrt gibt es Dinge, die mir in der eigenen Gesellschaft und Kirche fremd und unverständlich geworden sind. Eine solche Erfahrung machte ich beim Einzug in unsere neue Wohnung bei der Rückkehr aus Nigeria. In der nigerianischen Gesellschaft ist das „Grüssen“ das A und O. Man grüsst sich nicht einfach mit einem „Guten Tag!“, sondern man fragt ausführlich nach dem Ergehen der Familie, den Kindern, der Arbeit und nach dem Wohlbefinden insgesamt. Denn es ist wichtig, sein Gegenüber in seiner Gesamtheit wahrzunehmen. Kaum waren die Möbel ausgepackt, ging ich von Wohnung zu Wohnung, um jede unserer fünf mitbewohnenden Familien zu begrüssen und uns vorzustellen. Während in Afrika wohl schon jeder Mitbewohner selber gekommen wäre, wenn möglich sogar mit einer Schale Erdnüsschen oder einem Reisessen, wusste kaum jemand, was sie mit meinem „Gruss-Besuch“ anfangen sollten. Die Türe ging nur ein Spältchen auf, dann kam eine hilflose Antwort und zuletzt vielleicht noch ein verkrampftes Lächeln. Kurzum, es kam mir viel Unbeholfenheit entgegen. Schlagartig wurde es mir wieder bewusst. Bei uns will niemand mit niemandem etwas zu tun haben. Jeder und jede schaut für sich selbst und ist froh, wenn andere einem nicht zu nahe kommen. Das Gefühl, letztlich doch irgendwie voneinander abhängig zu sein, in einer einzigen Welt zu leben und deshalb auch in irgendeiner Form füreinander da zu sein, ist uns in unserer heutigen Gesellschaft ziemlich abhanden gekommen. Am Anfang fanden es unsere Kinder in der Schweiz paradiesisch. So viel Luxus waren sie nicht gewohnt. Dies fing schon beim Wasser an, das einfach aus der Leitung sprudelte 31

und sogar warm war, wenn man dies wollte. Beim Einräumen unserer Sachen gerieten sie bei jedem Stück, das aus den Kisten zum Vorschein kam, mehr ausser sich: „Mama, Papa ist es wahr, dass wir so viele schöne Sachen haben? Toll ist es in der Schweiz.“ Doch kaum waren ein paar Wochen vergangen, da tönte es anders: „In der Schweiz darf man ja nichts“! Wir erlebten, wie Kinderspiel – im Unterschied zum Autolärm – als unzumutbar empfunden wurde und Kinder herum geschoben werden. Hauptsache, sie stören die Erwachsenen nicht. Während mir schon früher klar war, dass in der Schweiz manches eng ist, nimmt mir diese Enge heute manchmal fast den Atem. Wie viel könnten wir da von der Offenheit und der Großherzigkeit Afrikas lernen! Wieder neu hier Fuss fassend, wurde mir bewusst, wie oft wir SchweizerInnen unwillig sind, uns auf Neues einzulassen und uns schwer tun, aus Einsichten Konsequenzen zu ziehen. Sind nicht gerade wir es, die behaupten, die Probleme der armen Länder wären schnell und einfach gelöst, wenn diese Länder nur endlich mal mit gewissen Dingen ernst machen würden, z.B mit konsequenter Familienplanung, Hygiene, gesunder Ernährung und effizienter Landwirtschaft etc, etc. Aber wie sieht es denn bei uns aus? Sollten nicht auch wir wissen, was für unsere Zukunft nötig ist? Trotz Waldsterben, Verseuchung unserer landwirtschaftlichen Böden und Tschernobyl – Realitäten, deren Brisanz unbestritten ist – ist mit Ausnahme einiger weniger Engagierter kaum jemand bereit, die entsprechenden Konsequenzen bezüglich des eigenen Lebensstils zu ziehen. Der Individualverkehr blüht weiter, die Stromproduzenten steigern jährlich ihren Absatz, der Energieverschleiß nimmt zu, die Umwelt leidet etc, etc. Aus diesen Beispielen wird deutlich, dass das KEM Thema «Gehet hin und lernt» ganz sicher nicht etwas ist, das nur den Kopf betrifft, sondern etwas, bei dem auch das Herz mitgeht, den ganzen Menschen einbezieht und verändert. Dies sind Prozesse, die auch Jesus mit seinem Wirken ausgelöst hat. Für viel Fragwürdiges, das bei uns als selbstverständlich hingenommen wird, sind mir durch unseren Aufenthalt in Afrika die Augen aufgegangen: z.B. wie arm wir sind in unserm Sinn für Gemeinschaft, wie wenig bewusst es uns ist, dass wir alle abhängige Wesen sind und wie wenig wir bereit sind, im Miteinander unser Leben zu bewältigen. Meine Hoffnung ist, dass meine Augen sich nicht allzu schnell wieder an das gewöhnen, was hier als normal gilt, sondern dass ich weiter mit der Vision von mehr Wärme und Bezogenheit lebe. Dass ich weiter dran bleibe, aus dem Gelernten und Erfahrenen mit andern zusammen Schritte zu wagen und sie aneinanderreihe zu einem gemeinsamen Weg.

«EIN DACH KANN KEINER ALLEINE TRAGEN» …sagt ein nigerianisches Sprichwort – und dies muss man dort auch nicht! Maria Künne26 Im Juni 1974 kamen mein Mann und ich mit unserem fast dreijährigen Andreas nach Mubi – endlich angekommen in unserem neuen Zuhause. Ein gutes Gefühl nach der Ausreise im Januar, dem Hausa-Sprachkurs in Jos für uns beide und dann ebenfalls noch dort einem Einführungsseminar für die Theological Education by Extension-Arbeit meines Mannes. Wir wohnten etwas ausserhalb der Stadt und ein wenig höher, auf dem grossen Areal der alten Missionsstation, mit schönen alten Bäumen. Gleich hinter dem Haus begannen die Felder. Es war Regenzeit und alles wunderbar grün. Die Hirse stand schon hoch. Vor dem Haus konnte man weit über die Stadt und die Ebene schauen bis hinüber zu den Manda26 Maria Künne wirkte als «mitausgereiste Ehefrau» von Erich Künne von 1974–1984 in Nordnigeria, wo sie 2005 einen Kurzeinsatz als senior expert, pensionierte Fachperson machte.

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rabergen. Bei unseren ersten kurzen Spaziergängen auf den Feldwegen probierten wir unser noch holpriges Hausa aus, und die Einheimischen, die zu Fuss oder majestätisch auf dem Fahrrad unterwegs waren, nahmen dies sehr freundlich auf. Aus «unserer» Kirche, der Kirche der Geschwister (EYN), kamen Nachbarn vorbei, um uns willkommen zu heixxen. «Cenn», sagten sie, «ihr seht zwar ziemlich anders aus als wir, aber als Christen seid ihr unsere Geschwister.» Ihre Kinder wurden die Spielgefährten unseres Sohnes, der dann viel schneller fliessend Hausa konnte als wir. Wir waren froh, dass nigerianische Kollegen uns dabei weiterhalfen und unser Hausangestellter mich immer wieder mal fragte: «Darf ich Ihr Hausa ein wenig erweitern?» So erlebten wir ganz neu den Gründungstext der EYN aus dem Epheserbrief 2,19: «So seid ihr nun nicht länger Fremde und Gäste. Ihr gehört mit zum Volk Gottes und seid in Gottes Hausgemeinschaft aufgenommen.» Die Nachbarn luden uns auch ein, sie zu besuchen. Das tat ich oft mit unserem Sohn und kam so mit den einheimischen Frauen ins Gespräch. Ich lernte ihren Alltag kennen und ihre enorme Arbeit, für eine zehnköpfige Familie zu sorgen und auch noch bei der Feldarbeit mitzuhelfen. Fragte ich nach der Zahl ihrer Kinder, hiess es immer: so und so viele Geburten (zum Beispiel elf) und so und so viele lebende Kinder (zum Beispiel acht, oft auch weniger). Die von der nahen Bibelschule kommende Kunde, dass Familienplanung möglich war, bedeutete für viele Frauen eine Erlösung. Dass die Frauen sich trotz der enormen Belastung ihre Freundlichkeit, ihre Fröhlichkeit und ihr Lachen bewahrten, beeindruckte mich tief. Es war für mich und uns eine besondere Erfahrung, den nigerianischen Familien so nahe zu sein. Als wir am Anfang einmal nicht im Gottesdienst waren, weil wir noch Mühe hatten mit der einheimischen Sprache, kamen die Nachbarn nach der Kirche ganz besorgt und fragten, ob wir krank wären … Über die kirchliche Frauengruppe bekam ich mit der Zeit noch mehr Einblick; davon später mehr. Das junge Land Nigeria war zu unserer Zeit dort (1974–84) in Aufbruchstimmung und erlebte eine gute Entwicklung. Die Regierung investierte in Bildung, Gesund-heitswesen und Strassenbau, schickte Delegationen ins Ausland, zum Beispiel nach Europa (GB/Commonwealth) und auch nach Asien, um zusätzliche Fachkräfte anzuwerben. 1976 wurde die kostenlose allgemeine Primarschulbildung eingeführt: Jedes Dorf sollte eine Schule bekommen und die Schulpflicht galt fortan auch für Mädchen. Und was hatte das alles mit mir zu tun? Lassen Sie mich einen kurzen Überblick geben: Ich habe den Aufbau des TEE Fernstudiums zusammen mit der amerikanischen Partnermission miterlebt unter grossem Einsatz von Reverend Mai Sule Biu, dem charismatischen Kirchenführer der ersten Zeit und väterlichen Berater und Freund meines Mannes. Ich habe die Freundschaft mit seiner Familie miterlebt und die Entstehung eines TEEKursbuches. Unsere zwei jüngeren Kinder wurden in Garkida in dem von der CBM gegründeten Krankenhaus geboren – ideale Bedingungen für die Familie auf dem EYN-Compound in Mubi; gute nigerianische Nachbarn; viele Freunde für die Kinder. Die Gemeinschaft in dem Frauennetzwerk (ZME) war sehr gut. Es bestanden gute Kontakte zu den von der Regierung eingestellten Ausländern (es gab damals noch nicht genügend qualifizierte Nigerianer) an höheren Schulen und Krankenhäusern: Inder, Pakistanis, Philippinos, Ägypter, Polen, Russen, Engländer und Iren). Wichtig war auch das Forum des International Women’s Club Mubi, gegründet von meiner schon lange in Nigeria arbeitenden CBM-Nachbarin Mary Eikenberry. Nicht zu ver-gessen sind die andern CBM-Mitarbeiter und natürlich die Leute der Basler Mission vor Ort. Die gemeinsame Arbeit in der EYN-Geschwisterkirche und die gute Gemeinschaft dabe war eine sehr bereichernde Erfahrung. Ganz in unserer Nähe wohnte eine junge indische Familie aus England. Der Mann war Dozent an der neuen Federal School of Arts and Science für Uni-Vorkurse. Der Rektor bat die Frau des Dozenten, eine Lehrerin und begnadete Erzieherin, eine nursery school, ei33

nen Kindergarten für die Kinder des internationalen Kollegiums aufzubauen, was sie mit viel Elan und guten Ideen tat. Spielzeug kaufte sie teils von zurückkehrenden Familien, teils liess sie Lernspiele von örtlichen Schreinern herstellen. Neben dem Spielen liess sie jedes Kind in seinem eigenen Tempo lernen. Dazu bereitete sie täglich für jedes Kind eine Seite in seinem Arbeitsheft vor, damit es nebst dem Unterricht in der Gruppe selbständig lernen konnte. Auch unser Andreas und die Kinder der Familie Rudolf konnten den Kindergarten besuchen. Da die indische Familie leider vorzeitig nach England zurückkehren musste, führte die Leiterin, die für mich eine gute Freundin geworden war, mich in die Arbeit ein. Sodass ich nach dem Einleben als Familienfrau für einige Zeit die Leitung übernehmen und meine inzwischen geborene kleine Tochter einfach mitnehmen konnte. Die Kinder aus drei Kontinenten spielten wunderbar zusammen, inszenierten eigene Ge-schichten, Hochzeiten, afrikanische und andere Märchen – herrlich! Ich lernte viel dazu; vor meiner Heirat hatte ich an einer Sekundarschule in der Schweiz und an einem Lehrerinnenseminar in Kamerun gearbeitet. Mit der neuen Schulpflicht auch für Mädchen gab es an der Kulp Bible School (16 km von Mubi entfernt) ein Problem: Vorher hatten in den Studentenfamilien immer die grösseren Mädchen die Kleinkinder gehütet, wenn die Mütter im Unterricht waren – was nun? Die Lehrersfrauen, nigerianische sowie amerikanische und europäische, die ja selbst auch unterrichteten, schlugen vor, eine Kinderkrippe und einen Kindergarten zu eröffnen, was der damalige Rektor Rev.Bitrus Bdliya sofort unterstützte: «Eine christliche Schule, die sich nicht um das Wohl der Kinder kümmert, ist keine christliche Schule.» So kam ich dazu, meine neuen Erfahrungen nun auf Hausa anzuwenden und mit Beratung und Unterstützung einer nigerianischen Lehrersfrau das Projekt zu verwirklichen. Auch die Mütter waren beteiligt. Frau Margaret A. Ulea hatte eine sehr gute Art, auf die Bedenken der Mütter, für die Kinderkrippen und Kindergärten Neu-land waren, einzugehen und ihnen die Spiel- und Lernmöglichkeiten zu erklären. Sie kannte auch zwei nigerianische Frauen von Angestellten der Schule, die eine besondere Gabe hatten für den Umgang mit den kleineren Kindern. Diese beiden Frauen wuchsen schnell in die Arbeit hinein, erfanden neue Spielformen und brachten Lieder und Geschichten ein, die sie kannten. Jede Woche gab es für die Mütter im Lehrplan nun eine Stunde über die Entwicklung von Kindern: Wir besprachen, was sie bewegte, ich bat sie auch, Märchen aus ihren Heimatdörfern zu sammeln, und abwechselnd arbeiteten immer einige in den verschiedenen Gruppen mit. Die Väter halfen, eine erste provisorische Hütte aus Strohmatten zu errichten und später ein Lehmhaus zu bauen. Bei unserer Rückkehr fiel mir der Abschied von der nigerianischen Kollegin, den Mitarbeiterinnen, den Kindern und Frauen wirklich schwer. Nun aber zurück zu den ZME-Frauengruppen. Man müsste einen eigenen Bericht schreiben: über ihren starken Glauben, ihre Zuversicht und Hoffnung; über ihren Zusammenhalt, ihr soziales Netzwerk; über die Dynamik ihrer Lieder, in denen sie Bibeltexte lebendig werden liessen; über ihre regionalen Treffen und die Verbindung mit dem Kirchenbund von Nordnigeria (ausgedrückt durch eine gemeinsame Uni-form mit den LeitBibelversen wie Matt.5,9: «Selig sind die Friedensstifter», auf Hausa «masu kulla ZUMUNTA», das heisst, «die sich um Gemeinschaft bemühen») Dazu ein Erlebnis nach dem Tod meines Vaters: Ich hatte ihn während seiner Krank-heit noch in der Schweiz besucht, aber nach meiner Rückkehr nach Nigeria starb er unerwartet schnell. Warum war ich jetzt so weit weg? Es gab damals nur wöchentliche Flüge nach Europa, nichts zu machen. Bald aber kamen schon die ersten Nachbarn, um uns zu trösten, und das half uns sehr. Eine der Frauen, die mit ihrem Mann gekommen war, schickte beim Abschied am Tor ihren Mann voraus und meinen Mann zurück zum Haus und sagte dann zu mir: «Määdle, ich weiss, in deinem Kopf drehen sich jetzt die Gedanken und Fragen im Kreis: 'Warum kann ich nicht dort sein und meiner Mutter beistehen und bei der Familie mithelfen?' Du darfst nicht so den-ken, das ist nicht gut. Denn Gott weiss dies

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alles und wird sich um deine Mutter und deine Familie kümmern und ihnen Menschen schicken, die ihnen beistehen.» Das hat mich zutiefst getröstet. Am nächsten Tag strömte die grosse Frauengruppe unserer Stadtkirche, über sechzig Frauen, durchs Tor auf unseren Compound. Sie liessen sich unter den Bäumen nieder, beteten mit uns und sangen ihre hoffnungsvollen Lieder. Später kam sogar noch die Frauengruppe eines Aussenbezirks, wie dies die Gruppen sonst auch bei Geburten und Krankheit machten, wenn sie den Familien beistanden. Bei Trauerfällen kochten sie oft eine ganze Woche für die Trauergäste. Die Schwerpunkte der wöchentlichen Treffen waren Bibelarbeit, die christliche Fami-lie und der Gesundheitsunterricht. Die Leiterinnen waren sehr engagierte, erfahrene Frauen, die auch Probleme sehr behutsam angingen und viel Beratung machten. In jedem Quartier gab es eine verantwortliche Frau, die «Mutter des Quartiers». Die kümmerte sich um ihre Frauen und trug Gebetsanliegen in die grosse Gemeinschaft. Die Verkündigung geschah vor allem durch den Chor mit der ZME, begleitet von Rhythmusinstrumenten. Der Chor sang immer auch in den Gottesdiensten. Bei den regionalen Treffen gab es einen regen Austausch von den vielen neuen Liedern, die fortlaufend in den Gruppen entstanden. Für mich bleibt unvergesslich: Die ZME hatte ein Abzeichen, das mit der Nähmaschine auf Stoff gestickt und dann ausgeschnitten worden war, die drei Buchstaben in ein Oval eingefügt. Diese Abzeichen waren sehr beliebt, wurden über das Leitungskomitee bestellt und dann von einem Schneider gestickt. Um das mühsame Vorzeichnen mit Bleistift und Kartonschablone zu ersetzen, wurde das Motiv bei einem Stempelschnitzer bestellt. Die Sekretärin bat mich, den fertigen Stempel in der Stadt abzuholen. Nun stellte ich fest, dass beim E in ZME einer der Querbalken nicht richtig in das Oval passte und sagte zur Sekretärin, ich fände das unmöglich – Hunderte von Abzeichen sollten so werden. Sie sah das Problem und meinte, wir sollten zusammen nochmals zu dem Stempelschnitzer gehen: «Aber lass mich dann einfach machen.» Und so begann sie mit der üblichen Begrüssung, fragte nach dem Ergehen der Familie, sagte zum Schnitzer, wie sehr er sich doch bemüht habe, eine so schwierige Vorlage umzusetzen, der Stempel sei eigentlich sehr schön geworden, nur ... Und dann sprach ganz vorsichtig das eigentliche Problem an. Ja, dann müsse er wohl doch einen neuen Stempel machen, antwortete der Mann – eine einvernehmliche Regelung, bei der das Gesicht beiderseits gewahrt wurde. Das hat mich sehr beeindruckt. Denn auch bei vielleicht berechtigter Kritik muss man diese dem anderen nicht «wie einen nassen Waschlappen ins Gesicht klatschen» (nach Max Frisch). Gerne erinnere ich mich an den Stossseufzer eines nigerianischen Freundes: Bei Problemen seien wir manchmal übervorsichtig und würden sie gar nicht richtig ansprachen. «Ihr Europäer habt oft recht, seid aber manchmal so direkt und macht jemandem das Herz kaputt», meinte er. Wenn man nur beides zusammenbringen könnte!

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MEINE ZEIT ALS MITAUSGEREISTE EHEFRAU IN NIGERIA Judith Quack27 Diese Zeilen sind ein Rückblick aus sehr grosser Distanz. Mitausgereiste Ehefrau zu sein war für mich kein einfacher Status. Ich war sehr jung, als wir nach Nigeria gingen, nämlich genau 26 Jahre alt, und hatte bereits ein zweijähriges Kind. Während unseres Aufenthalts sind unsere beiden weiteren Kinder geboren, in der Dispensary in Shuwa, 10 Kilometer südlich von Gulak. Diese beiden Geburten in Nigeria bei irischen Nonnen und Hebammen gehören zu meinen glücklichsten Erlebnissen. Es war einfach nur gut, in einer solch kinderfreundlichen Gesellschaft zwei gesunde Kinder zu bekommen und sie ohne Klinik- und Hygienevorschriften in eigener Verantwortung versorgen zu können. Unsere Kinder hatten eine sehr gute Zeit in Gulak, und ich bin überzeugt davon, dass dies einer der Gründe ist, warum sie bis heute so gut im Leben stehen. Eine junge Mutter mit zwei oder drei Kindern zu sein, ist auch in Deutschland oder in der Schweiz eine grosse Herausforderung. Von der Frauenbewegung beeinflusst, war für mich vieles in Frage gestellt, was für meine eigene Mutter noch selbstverständlich war, ohne dass ich neue Antworten gefunden hatte. Dazu kam, dass die dörfliche Gemeinschaft in Gulak sehr traditionell war. Frauen hatten eine festgelegte Rolle und diese wurde auch kaum hinterfragt. Die Bibel wurde wörtlich genommen, und die entsprechenden Bibelstellen, die die Unterordnung der Frau betreffen, wurden gerne und oft im Frauenkreis wiedergegeben. Wir als weisse Familie waren etwas Besonderes und wurden mit einer freundlichen Distanz behandelt. Dies war ein Konglomerat von Fakten, das mir diese Zeit – neben allen schönen und beeindruckenden Erfahrungen mit den Menschen im Dorf und in der Kirche – nicht immer leicht gemacht hat. Glücklicherweise hatten wir mit Catina und Albrecht Hieber schon den Kurs in Basel und den Sprachkurs in Jos besucht. Dabei hat sich eine vertrauensvolle Freundschaft zwischen uns Vieren entwickelt. Bei unseren gegenseitigen Besuchen konnte ich dann vieles von dem thematisieren, was schwierig war und mich an meine Grenzen gebracht hatte. Auch die andern Basler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben uns immer unterstützt. Neben Schwangerschaften, Stillen und Kinder-Versorgen blieb mir auch nicht so viel Zeit für eigenes Tun. Von drei Dingen möchte ich berichten Unseren beiden Angestellten im Haushalt habe ich regelmäßig Lesen und Schreiben beigebracht. Es war mir wichtig, dass sie neben dem Gehalt noch anders profitieren können von ihrer Arbeit in unserem Haus. Ob dies wirklich sinnvoll und von Erfolg gekrönt war, muss ich bezweifeln. Es ist für Erwachsene sehr schwer, so spät noch lesen und schreiben zu lernen und ich war und bin keine ausgebildete Lehrerin. Auf Anfrage von Peter Rudolf habe ich in der KBS Gesundheitsunterricht gegeben. Dies bot mir die Herausforderung, die mir gut tat, und ich beschloss, diesen gleichen Unterricht auch dem Frauenkreis im Dorf anzubieten. So habe ich an zwei gänzlich verschiedenen Orten unterrichtet und die interessante Erfahrung gemacht, dass die Frauen im Dorf, die ich ja zum Teil kannte, viel zurückhaltender waren als die Frauen in der KBS, die in einer Schulsituation auf Zeit lebten. Die Letzteren konnten viel offener fragen und sich einbringen, da sie nicht von Nachbarn und Familie kontrolliert wurden.

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Judith Quack war von 1978 bis 1983 in Gulak, Nordnigeria. Sie war als Ehefrau von Jürgen Quack mitausgereist. Die Aufgabe ihres Mann war es, Fortbildungskurse für Religionslehrpersonen durchzuführen. Judith Quack ist Krankenschwester und hat drei erwachsene Kinder. Zwei davon sind in Nigeria geboren.

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Um die Frauen, die ja zum Teil Analphabetinnen waren, gut zu erreichen, habe ich mit Hilfe von Geschichten (story-telling) unterrichtet, in deren Verlauf die wichtigen Lerninhalte vorkamen. Die Frauen haben diese Geschichten dann auch als Drama gespielt, was viel Spass gemacht hat. Manchmal musste ich allerdings aufpassen, dass der wesentliche Lerninhalt vor lauter Spielfreude nicht völlig verändert wurde. Zusammen mit Regula Rudolf habe ich später das Heft «Kiwon Lafiya» geschrieben, das Grundlagen von gesundem Essen, wichtigen Krankheiten bei Erwachsenen und Kindern und Physiologie beinhaltet. Es ist ein kleines Heft geworden, aber für Regula und mich war es doch ein grosses Werk, weil es in Hausa geschrieben und mit Zeichnungen illustriert wurde und möglichst leicht verständlich sein sollte. Mein Mann hat mich unentwegt dazu ermutigt, mir die Zeit zum Schreiben zu nehmen, und hat dafür unsere Kinder versorgt. Peter Rudolf hat das Hausa korrigiert und uns beraten. So konnte das Werk gelingen und es wurde viele Jahre für den Unterricht in den Frauenklassen benützt. Im ersten Kapitel des Buches geht es um die Inhaltsstoffe der Nahrung, also Kohlehydrate, Eiweiss, Fett und Spurenelemente. Insbesondere wird der Wert von eiweißhaltiger Nahrung für Säuglinge und Kleinkinder herausgestellt. Durch geschickte Kombination von Erdnüssen und Gemüse kann der Eiweissbedarf auch ohne täglichen Fleischkonsum gedeckt werden. Fleisch war und ist für viele Familien unerschwinglich und kommt nur einmal wöchentlich oder noch seltener auf den Speisezettel. Für manche Mütter war es auch wichtig zu erfahren, dass kleine Kinder mindestens fünfmal am Tag und möglichst abwechslungsreich essen sollten. Das ist in einer Kultur, wo häufig nur zweimal am Tag eine grosse Portion gegessen wird, nicht so einfach zu bewerkstelligen. Auch der Wert von Muttermilch und von einheimischen Produkten war nicht allen Frauen klar, galten doch Pulvermilch und gekaufte Produkte aus dem Supermarkt (zum Beispiel Cola) als modern und deswegen auch als gut. Eine weiteres Kapitel handelt von den gängigen Tropenkrankheiten, die häufig vorkommen. Da sollten die Frauen wissen, welche Symptome es gibt, was jede selber tun kann und wann sie in eine Dispensary oder in ein Spital gehen sollten. Bei all diesen Krankheiten spielt natürlich auch Hygiene eine wichtige Rolle. Auch dies ist nicht so einfach in einem Umfeld, wo fliessendes Wasser Luxus ist und nur wenigen Privilegierten vorbehalten bleibt. Durchfall, der viele kleine Kinder das Leben kostet, ist ein besonders wichtiges Kapitel, weil mit einer einfachen Salz-Zucker-Lösung dem Austrocknen und den darauf folgenden tödlichen Komplikationen gewehrt werden kann. Wir haben auch ein Kapitel zu Schwangerschaft, Geburt und Familienplanung geschrieben. Es war in der ländlichen Bevölkerung nicht selbstverständlich, über solch «heikle» Themen zu sprechen, und manchmal fehlten den Frauen die Begriffe, um Fortpflanzungsorgane anders als mit Schimpfwörtern zu benennen. Schwangerschaftsverhütung war ein besonders schwieriges Thema, da doch alle Kinder von Gott kommen. Ein aufgeklärter Mann hat es einmal so auf den Punkt gebracht: Im Kopf wissen wir, dass wir nicht so viele Kinder haben sollten, wir wollen ja, dass sie alle in die Schule gehen können und etwas lernen, aber mit dem Herzen wollen wir immer noch viele Kinder. Eine wichtige Lektion für mein Leben habe ich zum Umgang mit dem Tod gelernt. Dass der Tod unerbittlich zum Leben dazu gehört, das konnte ich in Afrika lernen. Dass man unverzüglich die Angehörigen besucht, wenn jemand gestorben ist, dass man Essen mitbringt und viel Zeit hat, dass alles andere unwichtig wird in solchen Momenten, hat mich beeindruckt und geprägt. Auch Trauern darf man und die Toten werden nicht verschwiegen. Eine Frau, die nach der Zahl ihrer Kinder gefragt wird, antwortet ganz selbstverständlich: «Ich habe sechs

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Kinder, zwei leben nicht mehr.» Diese Erfahrungen haben mir später privat und während meiner Arbeit in der Hospizbewegung in Deutschland sehr geholfen. Was habe ich also gelernt? -

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Dass man auch ganz anders leben kann als in Deutschland oder Europa. Dass es nicht einfach ist, als noch junge Frau eine Identität zu entwickeln, wenn die kulturellen und materiellen Unterschiede so gross sind und die Theologie wenig befreiend ist. Dass Lebensfreude nicht von materiellem Wohlstand abhängig ist und nicht mit materiellem Wohlstand wächst. Dass Kinder ein willkommenes Geschenk Gottes sind und nicht lästig oder der Karriere schaden. Dass es ein wunderbares Gefühl und die unschlagbar beste Methode ist, einen Säugling auf dem Rücken zu tragen. Dass man mit viel weniger auch gut leben kann. Geduld und Demut gegenüber dem Leben. Unerschütterliches Gottvertrauen. Dass sprachfähige Freunde lebensrettend sein können.

Unsere damaligen Rundbriefe haben den Titel «Lehrjahre in Nigeria». Das waren sie in erster Linie für mich, Lehrjahre mit vielen schönen und manchen schwierigen Erfahrungen.

ES GEHT AUCH ANDERS – ERFAHRUNGEN IN NIGERIA Christine Reibenschuh28 «Halleluja, Euch schickt der Himmel!» So wurden wir mit Begeisterung in Kwarhi am Kulp Bible College begrüsst. Was als halbjähriges Praktikum während eines unbezahlten Urlaubs geplant worden war, entwickelte sich zu einem Einsatz während eines Semesters als Lehrende am Bible College. Kurz nach unserer Hochzeit im August 1997 flogen wir, mein Mann Marcus Maitland und ich, nach Kano. Mit der Basler Mission fädelten wir einen Einsatz als Lehrende im Kulp Bible College ein. Es war der Prototyp eines Einsatzes des PEP!-Programms (Professionals Exposure Program), noch bevor es dieses Weiterbildungsangebot für junge Fachkräfte offiziell gab. Wir stellten uns so zwei bis vier Lektionen pro Woche vor und planten, in der übrigen Zeit die afrikanische Kultur besser kennenzulernen und nach Bedarf da und dort mitzuhelfen. Erfüllt mit sehr viel Neugier und Freude reisten wir los, um in die afrikanische Welt einzutauchen,. Wir wurden für eine ganze Lehrstelle «eingesetzt». Die Freude, gebraucht zu werden, war grösser als der Schreck. Immerhin liess man uns vier Tage Zeit, um auch innerlich anzukommen und die ersten Lektionen vorzubereiten. Für meinen Mann war das Ganze zumindest sprachlich eine nicht ganz so grosse Herausforderung: Er ist zweisprachig (Englisch und Deutsch) aufgewachsen. Das gründliche Erlernen des Hausa war für uns in dieser kurzen Zeit unrealistisch. Ich konnte zwar schon damals gut Englisch – aber in englischer Sprache Theologie zu lehren, das ist dann doch etwas ganz anderes. So begann ich meine Lektionen Wort für Wort aufzuschreiben. Ade gemütliches Praktikum!

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Pfarrerin Christine Reibenschuh Maitland, Hittnau ZH, reiste 1997 zusammen mit ihrem Ehemann Marcus Maitland, auch im Pfarrberuf, mit der Basler Mission nach Kwahri, um währen einem Semester am Kulb Bible College zu unterrichten.

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Frauen mit einer Mission! – Empowerment durch Begegnung in Nigeria

Diese grosse Herausforderung war im Grunde die beste Ausgangslage für mich. Die grösste Herausforderung stellte sich unabhängig davon, dass wir in Nigeria waren. Ich war, nach neun Jahren Einzelpfarramt, frisch verheiratet mit 36 Jahren, und es ging um das Einleben ins grosse Wir als Paar. Obwohl ich viele Jahre in Wohngemeinschaften gelebt und in Teams gearbeitet hatte, war ich es doch gewohnt, selber zu entscheiden. Alle wesentlichen Weichen musste und durfte ich stellen. Ich besprach zwar alle wichtigen Entscheide immer mit Freundinnen und Freunden, aber letztlich entschied ich, so wie ich es für richtig empfand. Und nun war da dieser Mann, mit dem ich auf Gedeih und Verderb liiert war. Alle Entscheide betrafen nun nicht nur mich alleine, sondern auch noch ihn und eine eventuelle zukünftige Familie. Welch ein Paradigmenwechsel! Da war Nigeria völlig überraschend für mich der beste Nährboden, um meinen Weg als Ehefrau zu finden. Einerseits hatte ich meine anerkannte Aufgabe als ordinierte Theologin. Ich wurde – vor allem auch von Frauen – nach meinen Erfahrungen in unserer Zürcher Kirche gefragt und von meinen Studierenden als Lehrende ernst genommen und konnte ihnen etwas von meinem Wissen und meinen Erfahrungen weitergeben. Das war äusserst befriedigend. Vor allem mit solch aufmerksamen, ja, wissbegierigen Schülern. Andererseits kam ich in Nordnigeria in eine eher ländliche traditionelle Kultur, in der Männer- und Frauenwelten noch sehr getrennt waren. Frauen trafen sich untereinander zur Arbeit auf dem Feld oder in der Küche. Männer unternahmen ihre Dinge ohne Frauen. Ungewohnt, aber in meiner Situation hilfreich. Von den Frauen der ZME, der Frauengemeinschaft der verheirateten Frauen in der Geschwisterkirche E.Y.N., wurde ich herzlich aufgenommen und von den wenigen Englisch sprechenden älteren und jüngeren Frauen wurde ich mit Offenheit und Freundschaft beschenkt. So konnte ich in dieser traditionellen Welt meine ersten Schritte als «gestandene» Ehefrau tun, wurde ernst genommen und durfte einfach mitgehen. Natürlich war ich als Weisse und gut ausgebildete Frau in einer Sonderrolle und musste nicht um Sympathie und Anerkennung kämpfen – die bekam ich einfach, allzu oft mehr, als mir lieb war. Und doch merkte ich, wie mir diese traditionelle Rolle zum Einstieg ins Eheleben gut tat. Vielleicht auch nur, weil ich wusste, dass das nicht allzu lange so bleiben würde. Für einmal war einfach klar, was ich als Frau zu tun und zu lassen hatte, und ich musste mich vorerst einmal nicht selbst neu erfinden. Andrerseits waren diese Frauen, die ich kennenlernte (sie waren natürlich die Gebildeteren unter den Ehefrauen der Studenten oder selber Studierende und waren des Englischen mächtig) stolz und selbstbewusst. Sie waren sich sehr bewusst, welch grossen Anteil am Leben in der Kirche und in der Familie sie haben und dass sie ihr Lebensumfeld massgeblich mitgestalten. Immer wieder wurden sie auch von den Männern als die eigentlichen Stützen der Kirche erwähnt (ohne dass sie deswegen politisch mehr zu sagen gehabt hätten …). Ich bin eine feministisch geprägte Theologin und war 1988 die erste Frau im Alleinpfarramt im Kanton Zürich. Ich musste mich damals auch in der Schweiz immer wieder erklären («Können Sie auch einen Mann beerdigen?») und dies ist ja noch keine 100 Jahre her! Allerdings kamen solche Fragen vor allem aus bürgerlich geprägten Kreisen. In meiner kleinen, traditionellen Bauerngemeinde in der Schweiz wurde ich ganz einfach als Pfarrerin ernst genommen; mein Geschlecht war kein Thema. In Nigeria merkte ich sehr schnell, dass die Frauen (auch) andere Sorgen hatten als die Ordination und die rechtliche Gleichstellung in der Kirche. Sie hatten – vielleicht ähnlich wie in der traditionellländlich geprägten Schweiz – durchaus ihre Stellung und ihre Wertschätzung, wenn sich diese auch nicht immer in (kirchen-)politischen Ämtern niederschlug. Im traditionellen Umfeld gilt wohl überall auf der Welt, dass die Gesellschaft es sich schlicht und einfach gar nicht leisten kann, auf die Fähigkeiten und die Arbeitskraft der Frauen zu verzichten. Deshalb haben Frauen im traditionell-bäuerlichen Umfeld bei uns im Norden wie auch im Süden ihren Platz. Natürlich gab es auch Momente, in denen das Frau-Mann-Thema eine Rolle spielte. Ausgelöst durch mehrere tragische Todesfälle in der Studentengemeinschaft, regten wir mit der Schulleitung eine Krankenkasse für Studierende an (was leider an den Finanzen 39

scheiterte). Da ich etwas Ähnliches aus einem anderen Projekt in Indien kannte, brachte ich dieses Thema im Lehrerkollegium vor. Worauf das Thema zwar freundlich angehört wurde – um dann wie ein Stein im Wasser zu versinken. Als mein Mann die Idee an der nächsten Sitzung, mit meinen Notizen und denselben Worten, wieder aufnahm, war die Begeisterung gross! Mit der Zeit lernten wir diese Mechanismen einfach zu nutzen. Die nigerianischen Frauen tun dies ja auch so … Nigeria war nicht mein erster längerer Auslandaufenthalt. Ich war schon zuvor in der Zentralafrikanischen Republik und in Indien in der Kirche im Einsatz gewesen. Immer kam ich viel «reicher» zurück als bei meiner Ausreise. Immer war mein wichtigster Grundsatz, dass ich offen sein will und zuerst einmal einfach verstehen möchte. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass es nicht an mir ist, das Leben unserer Brüder und Schwestern im Süden zu verändern, sondern dass nur sie den Weg finden können, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen. Verändernd ist aber natürlich die Begegnung. Und diese Veränderung ist keine Einbahnstrasse. Da meine Einsätze immer nur kurz waren, lag der Schwerpunkt immer beim Lernen und Beobachten und Verstehen. Natürlich stellte ich in Gesprächen auch kritische Fragen, auch, um besser zu verstehen. Aber mir ist bewusst, dass der Moment, in dem die wirklich kritische Auseinandersetzung beginnt und in dem es beiden Seiten ans Lebendige geht, bei Kurzeinsätzen nicht gleichermassen erfahrbar wird, wie dies bei einem längeren Einsatz der Fall wäre. Ich hatte nie den Eindruck, genug zu verstehen, um das Verhalten der anderen in Frage stellen zu dürfen. So war der «Schatz», den ich aus meiner Zeit in Kwahri mit nach Hause nehmen durfte, einmal mehr die Erfahrung, dass Leben und Glauben auch noch ganz anders funktionieren können als in unserer behüteten, westlichen Welt. Meine Erfahrungen in Nigeria zeigten zum Beispiel, dass nicht jedes Projekt finanziell gesichert sein muss, um es zu beginnen, wenn man dessen Notwendigkeit erkennt. Gottvertrauen und die Hoffnungskraft der Beteiligten setzen unglaubliche Energien frei, die letztlich auch finanziell sichtbar werden. Welches Gremium hat bei uns den Mut, ohne finanzielle Sicherheiten, alleine im Vertrauen auf Gott und weil es notwendig ist, etwas zu beginnen? Ich bin mir bewusst, dass wir in einer anderen Welt leben. Aber ich bin unendlich froh um diese Fragen, die mich bis in die Gegenwart begleiten. Sie machen mir immer wieder klar: Es geht auch anders, einfacher. Unsere Art und Weise zu leben und zu glauben, ist nicht die einzig richtige! Nigeria – es geht auch anders: Dies bleibt und auch die wertvollen Beziehungen, die trotz der Kommunikationshindernisse zum Teil weitergeführt werden konnten. Welch ein Schatz mir diese Freundinnen und Freunde sind!

STATUS «ACCOMPANYING WIFE» – STELLUNG «MITAUSREISENDE EHEFRAU» Regula Rudolf29 «Und Sie, Frau Pfarrer, Sie werden bestimmt etwas finden, das Ihnen entspricht.» Mit diesen Worten endete im Herbst 1970 das lange Gespräch zwischen meinem Mann Peter, mir und Dr. Fritz Raaflaub im Basler Missionshaus. Ich nickte zustimmend zu Dr. Raaflaubs Satz, hatte aber in Wahrheit keine Ahnung, was dieses «etwas» sein könnte, das ich finden würde. Klar war, dass Peter Dozent an der

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Regula Rudolf war als «mitausgereiste Ehefrau» mit ihrem Mann, dem Pfarrer Peter Rudolf, und ihren zwei Kindern von 1972–1985 für die Basler Mission in Kwarhi/Mubi, Nigeria. Ihr Mann unterrichtete dort an der Kulp Bible School..

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Kulp Bible School in der Nähe von Mubi sein würde. Ebenso klar war, dass ich ihn begleiten würde, mit unserm damals gerade 6 Monate alten Sohn Matthias. Vorausgegangen waren wochenlange Diskussionen zwischen Peter und mir: Ist Mission noch nötig? Sollen wir uns melden? Ist es richtig, gut, wenn wir uns melden? Das Gespräch in Basel beseitigte die Zweifel. Wir schrieben eine Bewerbung, teilten diesen Entschluss unsern Eltern mit und informierten auch unsere Gemeinde in Brusio. Im Herbst 1971 verliessen wir unser erstes gemeinsames Heim in der Schweiz, packten alles ein und zogen ins Basler Missionshaus. Ich war mit unserem zweiten Kind schwanger, David kam im Januar 1972 zur Welt. Ein Englandaufenthalt mit zwei kleinen Kindern, das abgelehnte Visum und grosse Unsicherheit über unsere Zukunft prägten die nächsten Monate. Und dann, ganz plötzlich und unerwartet, kam der Anruf: Euer Visum ist gekommen, ihr könnt ausreisen! Am 9. November 1972 flogen wir nach Kano, am nächsten Morgen weiter nach Maiduguri.30 Wir wurden von Otto Schanbacher und Heinz Schneider abgeholt und nach Gavva gebracht. Die ersten Wochen brachten unendlich viel Neues: Gerüche, Geräusche, Umgebung, Menschen, Pflanzen – alles war neu, alles war so anders als in der Schweiz. Ich lernte, in einem alten Gasbackofen Brot zu backen, Fleisch – wenn welches zu kaufen war – durch den Fleischwolf zu drehen und mit ganz wenig Wasser unsere kleinen Buben sauber zu halten. Esther Schneider, schon besser geübt im tropischen Haushalt, half mir mit Rat und Tat. Einmal ging ich mit ihr auf den lokalen Markt. Palmnüsse in der Grösse von grossen Kokosnüssen wurden zum Verkauf angeboten. Wir fragten, auf Englisch und mit rudimentärem Hausa, ob die Nüsse essbar seien. Die Antwort war:«Ja» – und eine lange Erklärung folgte, die wir aber nicht verstanden. Wir kauften zwei Nüsse. Wir wollten nicht immer nur europäisch essen, sondern auch die einheimischen Speisen kennen lernen. Zuhause spalteten wir die Nüsse, fanden keinen weichen Kern und kochten darum die Stücke in einer Tomatensauce im Dampfkochtopf. Dazu gab es den unvermeidlichen Reis. Der Kommentar unserer Ehemänner war: «Ihr könntet gerade so gut Stuhlbeine kochen, das ist völlig ungeniessbar!» So gab's halt nur Reis mit Tomatensauce, die einen eigenartigen Geschmack hatte. Ich habe nie mehr Palmnüsse zu kochen versucht, sondern hielt mich an Vertrauteres wie einheimische Blätter als Spinat und Böhnchen in allen Farben und Formen. Erst Jahre später kam ich hinter das Geheimnis der Palmnüsse: Sie werden Ende der Regenzeit geerntet und dann tief im Boden vergraben. In der nächsten Regenzeit beginnen sie zu spriessen. Noch bevor die Schosse sichtbar sind, werden diese ausgegraben, gereinigt und gekocht und telquel gegessen. Der Geschmack ist leicht bitter und fad, das Ganze sehr faserig. Die Schosse wurden nie mein Leibgericht! Im Januar 1973 begann der Hausa-Sprachkurs in Kano, den Peter und ich besuchen konnten. Im Juli, mitten in der Regenzeit, konnten wir endlich an die Kulp Bible School ziehen, das uns zugewiesene Haus einrichten und – nach zehn Wohnungswechseln in gut anderthalb Jahren mit zwei kleinen Kindern – wieder heimisch werden. Der volle Name der Kulp Bible School lautete «Kulp Bible School – a Christian Rural Bible Centre». Etwa 60 verheiratete Männer besuchten die drei Jahre Grundkurs und 20 den

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Allgemeine Angaben: Ausreise nach Nigeria: November 1972; Heimaturlaub 1975, 1978, 1980 1982, 1984; definitive Rückreise: Juni 1985. Die ganzen zwölfeinhalb Jahre war die Familie Rudolf auf dem Gelände der Kulp Bible School stationiert, sie, wie damals üblich, ohne eigenen Auftrag. Zu ihrer Person: Geboren 1944 in Zürich, Ausbildung zuerst als Verwaltungsangestellte, dann als Sozialarbeiterin.

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zweijährigen Aufbaukurs. Ihre Frauen mussten die Frauenschule besuchen. Für die allermeisten Frauen war es der erste Kontakt mit Schule, Lesen und Schreiben überhaupt und oft auch der erste Aufenthalt ausserhalb ihres Dorfes mit seinen festgefügten, traditionellen Strukturen. Neben den biblischen Fächern wurden Männer und Frauen auch in Hygiene, Gartenbau und Landwirtschaft unterrichtet. Jede Studentenfamilie lebte in einem kleinen Häuschen mit Küchenhütte und hatte die ihr zugeteilten Felder nach den neu erlernten Methoden mit Hirse, Erdnüssen und Baumwolle oder rotem Pfeffer zu bewirtschaften. Peter begann im August 1973 mit dem Unterricht, ich war Hausfrau und Mutter. Durch die amerikanischen Mitarbeiter an der Schule wurde ich in die Vorratshaltung eingeführt, denn das Angebot an Gemüse war nach der Regenzeit sehr gering. Bald füllten Einmachgläser mit Tomaten, Bohnen, Zuckermais und Tamarindensaft meinen Vorratsraum. Die Gläser, Anleitung und Hinweise bekam ich von unseren amerikanischen Nachbarinnen, Kitty Winfield und Carolee Ogburn. Die Verständigung mit den nigerianischen Mitarbeitern war schwierig, denn mein Hausa war trotz Sprachkurs nicht gut genug für ein richtiges Gespräch. Oft fühlte ich mich sehr einsam und verlassen. Die Hausarbeit wurde zum grössten Teil durch unseren Hausangestellten Ishaya erledigt. Er lernte auch, gutes Brot zu backen. Durch meine dritte Schwangerschaft 1974 ergaben sich mehr gemeinsame Anknüpfungspunkte mit den Nachbarinnen. Unsere Tochter Susanne kam im September 1974 im Missionsspital Lassa zur Welt. Von den Frauen lernte ich, wie man ein Kind mit nur einem Tuch festgebunden auf dem Rücken trägt. Susanne schien es zu gefallen, meist schlief sie dann rasch ein. Ihre grossen Brüder spielten häufig draussen und lernten auch rasch Hausa. Nur: Das «etwas», das mir in Basel verheissen worden war, hatte ich noch immer nicht gefunden. Oft fragte ich mich, wie lange ich ohne konkrete Aufgabe, als «Nur-Hausfrau», die ja für die Hausarbeit einen Steward hatte, mein Leben gestalten könne. Das «etwas» fehlte eindeutig. So reiste ich nach dem Heimaturlaub im Juni 1975 mit zwiespältigen Gefühlen wieder aus. Aber dann änderte sich die Situation: Eine Nachbarin fragte mich, warum ich eigentlich nicht arbeiten würde. Zu meiner Antwort, dass mich nie jemand um Mitarbeit gefragt hätte, schüttelte sie ungläubig den Kopf. Wie die Verbindungen weitergingen, weiss ich nicht, aber für das zweite Semester 1975 fragte mich der Schulleiter der Frauenschule, ob ich eine Klasse in Biblischer Geschichte unterrichten würde. Gerne sagte ich zu. Allerdings war mir dabei nicht klar, auf was ich mich eingelassen hatte: Fortan musste ich nämlich für jeden Tag eine Lektion vorbereiten – auf Hausa! Peter unterstützte mich sehr, gab mir Tipps und Ratschläge und half mir, eigene Ideen umzusetzen. Meine Sprachkenntnisse verbesserten sich rasch. Das bedeutete vorerst: Ich konnte immer besser sagen, was ich wollte, hatte aber immer noch Mühe, die Antworten zu verstehen. Auch für die Frauen war Hausa eine Fremdsprache. Dazu waren mir ihre Denkmuster und Argumentationen oft unverständlich. Zum Glück fanden sich in jeder Klasse Frauen, die mich und die anderen Frauen verstanden und mir und der Klasse erklärten, wer was sagen wollte. Eines der grössten Probleme war der Mangel an geeignetem Lehrmaterial. Ausser der Bibel in altmodischem, schwer verständlichem Hausa war nichts da. Darum begannen Peter und ich 1976, mit Material aus der Schweiz ein Bibelgeschichtenbuch zu schreiben, zuerst für das Neue Testament, später auch für das Alte. Das Buch wurde in der Schweiz gedruckt, die Auflagen (gesamthaft 30'000 NT und 25'000 AT) waren immer sehr rasch ausverkauft. Es blieb nicht bei der einen Stunde Biblische Geschichte. Bald kamen Hygiene und Kinderpflege dazu, einmal sogar Rechnen – aber das war für die Frauen und für mich keine

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gute Erfahrung, weil ich die traditionellen Rechenweisen der Frauen einfach nicht verstand. Einmal übernahm ich mit Hannatu Yusufu Mshelia eine Klasse im Kochunterricht. Auch das war schwierig: Ich wollte die tägliche Ernährung verbessern, die Frauen hingegen wollten «moderne» Sachen kochen lernen und sogar Brot und Kuchen backen. Da es keine Backöfen gab, entwickelten wir aus einem grossen alten Wasserkrug einen Backofen, sammelten Büchsen als Brotformen und waren sehr stolz auf unser feines Brot. Eine Holz sparende Kochstelle, die ich mit einer Frau baute, fand aber keinen Anklang; die Zeit war noch nicht reif dafür. Der Hygieneunterricht führte zu weiteren «Arbeitszweigen»: Mit dem Krankenpfleger der Schule versuchte ich, die Mütter- und Säuglingsberatung wieder zu beleben. Familienplanung war immer wieder ein Thema. Viele Frauen hatten schon sechs oder mehr Kinder und hätten sich dringend eine längere Pause gewünscht. Wenn der amerikanische Arzt des «Rural Health Programmes» von Garkida her kam, funktionierte ich unser Schlafzimmer in eine Familienplanungsklinik um. Vorausgegangen waren immer viele Gespräche, viel Aufklärung und bei den Ehemännern Werben um Verständnis für die Lage der Frauen. Auf der Suche nach einer besseren Ernährung für die Kinder stiess ich auf eine alte Publikation über Sojabohnen. Durch Beziehungen konnte ich bei einer anderen Mission einen Sack Bohnen kaufen und begann, zuerst in unserm grossen Gemüsegarten Sojabohnen anzupflanzen. Als das recht gut ging, fragte ich 1977 die Leiterinnen der lokalen kirchlichen Frauengruppe, ob Interesse da wäre, die Bohnen gemeinsam anzupflanzen und gemeinsam kochen zu lernen. Es war ein echtes Abenteuer: Immer wieder gab es lange Diskussionen, manchmal Streit, auch die mangelnden Regenfälle gefährdeten das Projekt. Aber am Schluss feierten wir ein Sojabohnen-Fest. Wir verarbeiteten die Bohnen zu Mehl, das ohne grossen Aufwand mit dem täglichen Hirse-Erdnussbrei gekocht werden konnte und so den Kleinsten eine bessere Ernährung sicherte. Aus dem Hygieneunterricht bei den Frauen und bei den Männern erwuchs ein neues Projekt: Gemeinsam mit Judith Quack fasste ich 1982/83 das Wichtigste in einem Büchlein zusammen. So entstand «Kiwon Lafiya», übersetzt «Gesundheitspflege». Das Buch wurde von allen Frauengruppen im Nordnigerianischen Kirchenbund als Lehrmittel für Frauengruppen in den Dörfern empfohlen. Im Gesamten druckten wir 24'000 Exemplare. Unser Lehrmittel war einmalig im kirchlichen Kontext: Wir schrieben neben den Kapiteln über Ernährung und Gesundheitsvorsorge auch ein Kapitel über «Frau und Mann» (sexuelle Aufklärung) und «Schwangerschaft und Familienplanung». Was hätten wir in all den Jahren ohne unsere Nachbarn und Freunde getan? Einmal kam unser Nachbar Malam Karagama und sagte: «Maman Susanna, ich muss mit dir reden.» Am Tag zuvor war er gekommen, als wir beim Essen waren, und ich hatte ihn gefragt: «Willst du mit uns essen?». Er hatte höflich abgelehnt und war bald weggegangen. Nun aber war er gekommen, um mir zu sagen, dass ich mich nach nigerianischem Verständnis sehr unhöflich benommen hätte. «Wenn du fragst: 'Willst du essen?', dann heisst das, dass du mir nichts geben willst. Hast du aber genug Essen zubereitet und willst mit mir teilen, dann musst du einen Teller füllen und einfach vor mich hinstellen und sagen: 'ga shi, ka ci', 'Hier ist es, iss!'». Diese und andere Lektionen habe ich nie vergessen. Es war ein Zeichen grossen Vertrauens, dass Malam Karagama uns solche Fehler immer wieder aufzeigte. Unvergesslich ist mir auch die Begebenheit mit einer Studentenfrau. Wir standen abends plaudernd vor dem Haus, als Saratu sagte: «Ich muss gehen, es ist Zeit, Feuer zu machen – also zu kochen.» «Wenn ich nur wüsste, was ich kochen soll», seufzte Saratu. «Dir geht es wie mir, ich weiss auch nicht, was ich machen soll», war meine Antwort. Saratu schaute mich an und sagte nach einem Moment: «Du weisst nicht, was du kochen sollst, weil du so grosse Auswahl hast – ich weiss nicht, was ich kochen soll, weil ich 43

nichts habe für die Sauce zum Hirsebrei.» Ich weiss nicht mehr, was ich antwortete, aber mein Umgang mit dem (für unsere Vorstellungen) sehr bescheidenen Angebot an Lebensmitteln hat sich nachhaltig verändert. Und unsere Kinder? Das ist der schwierige und schmerzhafte Teil der Geschichte: Sie mussten ab der ersten Klasse Grundschule nach Jos ins Internat und dort in die amerikanische Schule. Bald war ihnen Englisch vertrauter als Schweizerdeutsch. Zwar besuchten wir sie so oft als möglich, aber die Reise von fast 600 Kilometern über teils sehr schlechte Strassen machten Kurzbesuche fast unmöglich. Zweimal im Jahr kamen sie für die Ferien nach Hause, an Weihnachten und im Sommer. Ich bin sehr dankbar, dass die Kinder heute sagen, bei allem Schweren überwiege das Positive dieser Erfahrung. «Und Sie, Frau Pfarrer, Sie werden bestimmt etwas finden, das Ihnen entspricht.» Ich fand nicht einfach «etwas»; ich fand ein ganzes Feld, einen grossen Garten. Ich konnte Freundschaften knüpfen, die bis heute andauern. Ich lernte mich selber besser kennen, gewann mehr Selbstvertrauen und Unabhängigkeit. Das Unbestimmte «etwas» gab mir die Freiheit, vieles auszuprobieren. Da war kein genau formuliertes Profil, kein Auftrag, den ich in einer bestimmten Zeit zu erfüllen hatte und der bestimmte Resultate zu bringen hatte. Ich bin mir aber im Klaren, dass ich an der Kulp Bible School als «mitausgereiste Ehefrau» eine Chance hatte, die ich nie gehabt hätte, wenn wir in einem Dorf gewohnt hätten. An der Schule gab es Strukturen, die das Ausprobieren möglich machten, das wäre im Dorf ganz anders gewesen. «Tu, was dir vor die Hände kommt, denn Gott ist mit dir» (1. Sam 10,7) – dieser Satz hat mich begleitet und immer wieder ermuntert. Ich bin sicher, dass ich selber dabei am meisten beschenkt wurde. Im Juni 1985 kehrten wir endgültig in die Schweiz zurück. Unsere Kinder waren nun 15, 13 und 11 Jahre alt. Wir wollten, dass sie auch in der Schweiz heimisch werden und den Anschluss für eine Ausbildung finden konnten. Peter übernahm das Pfarramt von Davos Monstein und Wiesen, die Kinder besuchten die Schulen in Davos. Nun war ich wieder «Nur-Hausfrau», hatte keine Aufgaben, keinen Wirkungsbereich mehr. Nicht nur klimatisch fiel mir das Einleben schwer. Die Dorfbewohner waren recht verschlossen, kaum jemand interessierte sich für unsere Erfahrungen im Ausland. Mission war für viele ein Reizwort, Menschen aus Afrika wurden generell als rückständig gesehen, man sprach von «Negern». Es dauerte lange, bis ich wieder Nachbarn und Bekannte fand, bei denen ich einfach mal vorbeischauen konnte, wie das in Nigeria üblich gewesen war. «Tu, was dir vor die Hände kommt» – anfänglich war da wieder gar nichts, wie 1972 in Nigeria. Erst mit der Zeit ergaben sich Aufgaben. Das erste war die Sonntagschule, die ich zusammen mit einer Frau aufbaute. Bald hatten wir zwei Gruppen, die «Grossen» und die «Kleinen». Einmal führten wir sogar ein «Sonntagschullager zu Hause» durch: jeden Morgen eine Geschichte, gemeinsames Essen, am Nachmittag basteln und spielen. Viele Mütter halfen uns mit dem Kochen und Betreuen der Kinder. Auch daraus ergaben sich Kontakte und Beziehungen. Durch Peters Arbeit im kantonalen Amt für Mission und Ökumene hatten wir immer wieder Gäste aus Übersee in unserem kleinen Dorf. Oft wirkten sie im Gottesdienst mit. Besonders schön war es, wenn wir Freunde aus Nigeria beherbergen und unsere Hausakenntnisse auffrischen konnten. Die Kinder im Dorf verloren ihre Scheu vor unseren Gästen. Und einmal erzählte ein Vater, sein siebenjähriger Sohn hätte ihn zurechtgewiesen, als er von «Negern» sprach: «Papa, heute sagt man Afrikaner, nicht Neger!» Besondere Erlebnisse waren unsere Besuche in Nigeria. 1992 reisten wir als Familie nach Nigeria. Für unsere Kinder war es ein Wiedersehen mit der Kinderheimat mit schönen und auch belastenden Erinnerungen. 1994 reisten wir mit einer Gruppe Bündner Pfarrer und Gemeindegliedern nach Nigeria. Wir besuchten verschiedene Gemeinden und erleb44

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ten überwältigende Gastfreundschaft. Weitere Besuche folgten 1996, 2000 und 2008. Beim letzten Mal half ich in einem Kurs für Naturheilmedizin mit einheimischen Pflanzen mit, eine spannende Sache! Ob es heute für «mitausreisende Ehefrauen» noch die Möglichkeit gibt, so vieles auszuprobieren und so einen Platz in der Gesellschaft zu finden, weiss ich nicht. Die Kirche ist sehr stark gewachsen und hat eine Vielzahl an gut ausgebildeten und selbstbewussten Frauen, die alle neben Familie und Haushalt einer Berufstätigkeit nachgehen. Diplome sind sehr wichtig – ich bin als Sozialarbeiterin ausgebildet, aber mein Unterrichten und die Aufgaben in Familienplanung und Gesundheitswesen waren «learning by doing», ich habe keine Ausbildungsabschlüsse dafür. Ob weitere Besuche folgen? Nigeria hat sich sehr verändert: Das Handy ist allgegenwärtig, die Dörfer und Städte sind stark gewachsen, das Konsumgüterangebot sehr viel grösser als wir je geträumt hatten. Im Nordosten des Landes herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände durch die Sekte Boko Haram, eine islamistische Gruppe. Die Angst und Not unserer Freunde bewegt mich sehr.

KINDERGESCHICHTEN AUS NORDNIGERIA Ruth Scheuner31 Ich war einige Wochen im Land, als ein afrikanischer Mitarbeiter mit einem unbekannten Mann, der ein ungefähr zwei Tage altes Kindlein trug, vor der Haustüre stand. Der Mitarbeitende verwies auf das Kindlein, dessen Mutter sei bei der Geburt gestorben. Er bat mich für dessen Vater, es aufzunehmen. Ohne weitere Überlegungen willigte ich ein. Vom Spital lieh ich ein Kinderbettchen. Das Kindlein – ein Mädchen – schlief. Später trank es abgekochtes Wasser, dann Milch aus Milchpulver und schlief. Nachts, das Bettlein stand in meinem Zimmer, hörte ich es weinen. Das traf mich im Innersten. Ich versorgte das Mädchen und legte es ins Bettchen zurück. Und wieder weinte das Kindlein. Was war ihm während oder nach der Geburt zugestossen? Es folgten viele Tage, an denen unser Koch, wenn ich im Spital war, das Kindlein pflegte, und viele Nächte, in denen es unaufhörlich weinte und ich es hin und her trug. Fortschritte oder Entwicklungen, wie sie von einem Kindlein zu erwarten gewesen wären, gab es keine. Schliesslich bat ich den Arzt um Hilfe. Doch auch sie nützte nichts. Wir unterrichteten den Vater über den kritischen Zustand des Säuglings. Er meldete sich nicht. Das Mädchen starb. Wieder versuchten wir, den Vater zu erreichen, doch nichts geschah. Ich bat einen Mitarbeitenden, das Kindlein an der Grenze des Spitalareals zu beerdigen. Zwei Tage später erschien der Vater, nahm Kenntnis vom Tod seiner Tochter und ging von dannen. Das Kinderbettlein stand noch einige Tage im Haus, bevor ich die Kraft fand, es ins Spital zurück zu bringen. Frau R. kam aus dem Süden Nigerias, war in zweiter Generation Christin und lebte mit ihrer Familie im Quartier der Spitalangestellten. Ihr Mann arbeitete im Spital. Es war Frau R., die mich bat, mit ihr eine Art Sonntagschulvorbereitung zu machen. Wir trafen uns einmal wöchentlich. Immer hatte Frau R. eine biblische Geschichte vorbereitet, las diese vor und machte Vorschläge, wie sie diese zu erzählen gedenke. Ich konnte sie einfach bei ihrer Arbeit unterstützen und ihr immer wieder zu verstehen geben, wie kindergerecht sie vorging. Sie sang mit den Kindern Lieder aus dem Kirchengesangbuch mit vielen Kehrversen und ausladender Mimik und Gestik. Sie hatte keine Mühe, die grosse Klasse mit allen Altersgruppen vom Kleinkind bis zu den Jugendlichen in ihren Bann zu ziehen. Ihre 31

Ruth Scheuner arbeitete von 1970–72 als Krankenschwester und Hebamme in Nord-Nigeria

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Ausstrahlung war warm und mütterlich. Bis heute wirkt ihre Arbeit bei den jetzt erwachsenen Menschen nach. Dafür bin ich Frau R. sehr dankbar. An einem Sonntagnachmittag wurde mir mitgeteilt, eine Frau, die ihr erstes Kindlein bekommen sollte, habe Fieber, das aber mit keinem Anti-Malariamittel gesenkt werden könne. Wie ein Blitz durchfuhr mich der Gedanke, es könnte sich um eine Krankheit im Zusammenhang mit ihrer Schwangerschaft und Geburt handeln. Die Krankheitszeichen der Frau liessen keine Zweifel offen. Ich befürchtete, diese Krankheit könnte das Leben von Mutter und Kind gefährden. Zudem wussten wir nicht, ob das Kindlein bereits Schaden genommen hatte. Wir hatten die nötigen Medikamente und begannen mit der Therapie. Wir baten die Mitarbeitenden, den Familienmitgliedern die ernste Lage von Mutter und Kind zu erklären. Nach geraumer Zeit wurde die Frau ruhiger. Das Fieber sank, die Medikamente schienen ihre Wirkung zu tun. In der Nacht kam das Kindlein zur Welt, es lebte nicht mehr. Die Mutter aber lebte. Wieder baten wir, die Angehörigen über die noch ernste Lage zu informieren. Wir liessen sie wissen, die Frau würde noch Medikamente benötigen. Es würde einige Tage dauern, bis die kritische Zeit vorbei wäre. Die Mitglieder der Familie, die abwechslungsweise bei der Patientin blieben, zeigten Respekt und Verständnis. Daraus war zu schliessen, dass die Mitarbeitenden diese ausgezeichnet informiert hatten. Die folgenden Tage verliefen komplikationslos. Allmählich begann auch ich an das Überleben der Frau zu glauben. Sie konnte – ohne ihr totes Kindlein – das Spital verlassen. Ich schaute dem Familienzug lange, lange nach. Meine Dankbarkeit war grenzenlos. Der zwölfjährige Knabe – er hatte in einem weit entfernten Gehöft gelebt – starb im Spital. Er war von Frauen seiner Familie umsorgt gewesen; es gäbe keine Männer im Gehöft, wurde uns gesagt. Das war aussergewöhnlich. Gegen unsere Gepflogenheiten boten wir den Frauen an, sie ein Stück ihres Heimweges mit dem Auto zu fahren. Es war Nacht, als wir aufbrachen. Vorsichtig fuhren wir auf der Naturstrasse mit Schlaglöchern. Ein Trauerzug. Die Frauen hatten in der zweiten Reihe des Autos Platz genommen, der verstorbene Jugendliche lag auf der Ladefläche. Die Frauen baten uns, weitab der Strasse anzuhalten. Sie würden die letzte Wegstrecke zu Fuss gehen wollen. Sie halfen einander, den verstorbenen Knaben einer der Frauen auf den Rücken zu legen. Mit ihrer Last und der gestorbenen Hoffnung für Familie und Gehöft, verschwanden sie in der Nacht. Wir aber standen unter tropischem Sternenhimmel, eine unbeschreibbare Fülle von Leuchten und Funkeln, und hörten in der Stille unseren eigenen Atem. Staunend und traurig durchlebten wir die Unmöglichkeit, Bilder und Erlebtes erfassen zu können. Die «Delegation» einer Familie kam mit einem Mädchen und einer Ziege ins Spital. Mir wurde gesagt, ich hätte einem Kind das Leben gerettet. Ich konnte mich trotz ihrer Beschreibungen nicht an die Begegnung erinnern, und «Leben gerettet» hatte ich ohnehin nicht. Die Angehörigen verwiesen immer wieder auf das Mädchen, das wieder gesund sei. Ich zeigte Freude darüber. Sie wollten mir mit der Ziege danken. Ein solches Geschenk war ein grosser Reichtum. Konnte ich eine solche Gabe annehmen? Die Mitarbeitenden empfahlen Annahme; Ablehnung wäre respektlos und beleidigend. Ich war hin- und hergerissen, ja, auch entsetzt über eine solche Gabe. Schliesslich nahm ich sie dennoch dankend an. Die Familie trat den langen Heimweg an. Ich verkaufte die Ziege einem Mitarbeitenden, dessen Frau vor kurzer Zeit Zwillinge bekommen hatte. Er bezahlte einen Symbolpreis. Ich legte das Geld in die Sparbüchse für zahlungsunfähige Menschen, die Nahrungsmittel kaufen mussten. Das Geld daraus kam meistens wieder Kindern zugute. Für mich aber stellte sich die Frage, ob ich als Angehörige bereit gewesen wäre, auf europäische Verhältnisse übertragen, in einer solchen Situation ein Fahrrad bester Marke zu verschenken? Mitten in der Nacht weckte mich der Nachtwächter. Es sei ein Ehepaar gekommen, die Frau könne ihr Kindlein nicht zur Welt bringen. Sie kämen aus dem Hinterland und hätten einen weiten Fussmarsch hinter sich. Ob sie während der Nacht kamen, um von niemandem gesehen zu werden, wusste ich nicht. Weder Frau noch Mann sprachen Hausa, sie 46

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sprachen ausschliesslich ihren Dorfdialekt. Der Nachtwächter verstand sie auch nicht. Mit der portablen Kerosinlampe, der einzigen Lichtquelle, begrüsste ich die Hilfesuchenden. Der Mann wollte bis nach der Geburt bleiben, das war aussergewöhnlich. Ich untersuchte die Frau und stellte ein missgebildetes Kindlein fest, was der Grund der Geburtsverzögerung war. Wie aber konnte ich dies ihnen sagen? Ich versuchte es mit Zeichen und Gesten. Der Mann schien zu verstehen. Das Kindlein kam zur Welt, es lebte noch. Ich versorgte die Frau, der Vater und ich standen beim sterbenden Kindlein, ohne helfen zu können. Es lag mit Tüchern bedeckt, sodass es nicht frieren musste, und rang nach Luft. Nach seinem letzten Atemzug wickelte ich es in Tücher und übergab es betroffen und traurig seinem Vater. Er trug dieses vor sich her in die Nacht hinaus. Die Frau durfte sich zwei Tage lang bei uns ausruhen. Unvergessen bleibt der Mann, der in Begleitung einer Angestellten mit einem kerngesunden Knaben bei uns vorsprach. Er bat uns, das Kind aufzunehmen. Wir erbaten uns Bedenkzeit aus und nahmen das Kind vorläufig auf. Dass ein Knabe so weitergereicht wurde, war eigenartig; wäre es ein Mädchen gewesen, wäre das nichts Besonderes gewesen. Wir beschlossen, der Vater müsse eine Art Verzichtserklärung abgeben und diese mit seinem Fingerabdruck bestätigen. So setzten wir einen entsprechenden Brief auf und liessen dem Vater ausrichten, er solle sich auf dem Polizeiposten melden. Wir gingen mit Brief und Kindlein dorthin, um die Sache zu regeln. Die Polizeibeamten waren sehr kooperativ. Nach gründlicher Information des Vaters gab dieser seinen Fingerabdruck. Alle Beteiligten erhielten eine Kopie des Schreibens. Und wieder waren die Spitalangestellten hilfreich. Sie suchten eine Pflegefamilie für das Kindlein. Das Wunder geschah: Sie fanden diese nach einiger Zeit. Das war für damalige Verhältnisse ausserordentlich, war doch Hilfe durch «Fremde», das heisst, ausserhalb der eigenen Sippe, kaum üblich. Der Knabe wuchs in guten Verhältnissen auf. Aus ihm ist heute ein geachteter Mann mit eigener Familie und eigenem Gehöft geworden. Die unzähligen gesunden und kranken Kinder, die vor dem Sprechstundentrakt des Spitals mit ihren Angehörigen auf eine Konsultation warteten, verspürten keine Langeweile. Sie pflegten sich Steinchen oder Hirsehälmchen zwischen ihre Zehen zu legen. Dem Spiel hingegeben, begannen sie am rechten oder linken Fuss, füllten die Reihe, fuhren am anderen Fuss weiter, betrachteten ihr Werk, hoben es auf und begannen von neuem. Ihr Tun entlockte mir immer ein Lächeln. Meine Sehnsucht nach einer solch spielerischen Art des Seins ist bis heute unerfüllt geblieben. Was habe ich von den Frauen gelernt? Hingabe an ihr Leben, Mutterliebe, Durchhaltevermögen «trotz allem», Fröhlichkeit, Singen mit einzigartiger Ausstrahlung, ErgriffenSein vom, gelebtes Evangelium, und eine Verbundenheit untereinander, die nicht von Menschen gemacht sein kann. Was habe ich ihnen gegeben? Die Frage müsste von den Frauen beantwortet werden können. Verglichen mit dem, was ich von ihnen bekam, wohl wenig. Ich versuchte jedenfalls, mit ihnen das tägliche Leben zu teilen. Ich denke, das ist mir zumindest teilweise gelungen. Was ist geblieben? Eine tiefe Dankbarkeit für Begegnung und Erlebtes. Grosser Respekt vor den Menschen, die ihre harten Lebensbedingungen annahmen und Gastfreundschaft, Freude, Fröhlichkeit und Herzlichkeit ausstrahlten und mich aufnahmen; Frauen, die mit ihrem Singen und Beten die Welt verändern, die als Trägerinnen der Gesellschaft da sind und wirken und fremde Menschen daran teilhaben lassen. Ich verspüre noch heute eine Verbundenheit mit ihnen, die nicht von Menschen gemacht sein kann. So habe ich in der Schweiz Zeugnis gegeben, Persönliches erzählt und Gespräche geführt. Ich habe auch Vorträge mit Bildern aus meiner Zeit in Nord-Nigeria in Kirchgemeinden und in anderen Gremien gehalten, sowohl in der lokalen Kirchenpflege als auch in Veranstaltungen der Basler Mission oder in der Krankenpflege-Ausbildung.

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Mein Aussendungsspruch (in Sacharja 13, 8), «Ich will euch erretten (erlösen), dass ihr ein Segen sein sollt»: Dieser Vers stellte zwischen uns allen – mir persönlich, den afrikanischen Menschen, denen ich begegnet war und jenen, die in Europa unsere Arbeit begleiteten – eine innere Verbindung her.

«IT’S A NOBLE TASK» – «ES IST EINE EHRENHAFTE AUFGABE» Jan Gühne32 Schon im Bewerbungsgespräch bei mission21 war die „ungewohnte“ Rollenaufteilung zwischen meiner Frau Christine (sie sollte als Beraterin in einem theologischen Fernstudienprogramm (TEE) in Mubi (Nordostnigeria) arbeiten) und mir, Jan Gühne (offiziell: mitausreisender Ehepartner), ein Thema. Was ich denn dort so tun wollte, wurde ich gefragt. Ich entgegnete, dass wir ja schließlich zwei kleine Kinder hätten und es mir sicher nicht langweilig werden würde. Bisher hätte ich schon immer meine Aufgaben finden können. Wie recht ich da hatte! Wie sehr es für Mann und Frau dort festgelegte Rollen gibt, wurde uns im Willkommensbrief der einheimischen Partnerkirche schon deutlich. Obwohl meine Frau die Stelleninhaberin ist, wurde der Brief mit „Dear brother Jan and family“ (Lieber Bruder Jan und Familie) direkt an mich gerichtet. Da musste meine Frau schon mal schlucken und wir ahnten, worauf wir uns einstellen mussten. Wobei man sich auf Nigeria eigentlich nicht einstellen kann – durch Länderberichte und andere Informationsquellen haben wir uns beide unterschiedlich auf unseren Einsatz, der zunächst für drei Jahre geplant war, vorbereitet. Als Mann interessiert man sich eher für harte Fakten und Einschätzungen. Wie sehen die Straßen aus, wie kann man dort zu Geld kommen, soll ich mein Werkzeug mitnehmen und wenn ja, welches? Wie kommt man dort an ein Auto – und welche Art von Auto ist für die dortige Situation angemessen? Für Christine lag der Fokus auf der zukünftigen Stelle vor Ort – was würde von ihr verlangt werden, was würde sie in der theologischen Bildung voraussetzen können und welche Themen würden in den kommenden Jahren bearbeitet werden? Alles, was dazu im Vorfeld in Erfahrung zu bringen war, ließ nur einen Schluss zu – es würde nicht einfach werden. Vor allem unter den Vorzeichen, dass dort nur einige Jahre zuvor ein Kind einer deutschen Familie gestorben und der direkte Vorgänger von uns ebenfalls den Einsatz nicht überlebt hatte. So dachte ich mir, dass es wohl das Beste sei, keine Vorstellungen und Wünsche von Afrika südlich der Sahara aufkommen zu lassen (trotz der oft negativen Schlagzeilen über Nigeria und auch gerade wegen meiner vorherigen Erfahrung des Einlebens in fremden Kulturen in Lateinamerika und Nahem Osten). Vielmehr wollte ich mich mit einer maximalen Offenheit und Unvoreingenommenheit unserem neuen Leben in Nigeria stellen und so schnell wie möglich lernen, wie ich die Herausforderungen meistern kann, um damit Schaden und Gefahren von meiner Familie abzuhalten. Die Ankunft und das Einleben in Jos und Mubi ging dann doch an die Grenze des Erträglichen und oft auch darüber hinaus. Von „Enttäuschung“ kann keine Rede sein, da ich möglichst im Vorfeld keinerlei Täuschungen erliegen wollte. Als Ökumenischem Mitarbeiter und Mann liegt einem ein einzigartiges Aufgabenfeld zu Füßen – es braucht dort „hand“feste Generalisten, die sich für nichts zu schade sind. Sei 32 Als «mitausreisenden Ehemann» von Christine Gühne zusammen mit seiner Familie in Mubi und in Jos 2007– 2010 gelebt.

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Frauen mit einer Mission! – Empowerment durch Begegnung in Nigeria

es, in brütender Hitze beim Automechaniker die Reparatur zu überwachen, Wasserrohre und Solaranlagen zu reparieren, medizinische Diagnosen zu stellen, Generatoren und energieeffiziente Öfen zu bauen oder das Haus zu renovieren. Aber eben auch in meinem Fall mit einfachen Mitteln das Essen zu kochen oder das Brot zu backen. Gleichzeitig benötigt man interkulturelle Kompetenz, beispielsweise um einen Streit auf „afrikanisch“ zu lösen, so dass alle ohne Gesichtsverlust davonkommen. Und es braucht Geduld, Geduld, Geduld,... Als Begleiter meiner Frau habe ich mich als Stütze, Partner und notwendige Hilfe verstanden – was in der bisherigen traditionellen Rollenverteilung der Missionare auch nicht anders war – nur eben in umgekehrter Reihenfolge. Ohne den „Ehe“-Partner kann man in so abgelegenen Gegenden kaum leben oder sogar überleben. Dafür ist der Alltag von solch vielen, teilweise uns unbekannten großen und kleinen Problemen durchzogen, dass eine glatte Grenzziehung zwischen Erwerbseinkunft und Hausarbeit, wie hier in Europa, nicht möglich ist. Wenn wir beispielsweise wieder einmal kein Wasser oder keinen Strom hatten, dann war es erst einmal meine Aufgabe, mich um diese Dinge zu kümmern. Vorher war an inhaltliche Arbeit im TEE Programm nicht zu denken. Ich denke, dass ich mit aus diesem Grund bei mission21 mit einem Teilzeitvertrag angestellt war. Durch die unterschiedlichen Talente und Gaben von meiner Frau und mir waren wir in Nigeria zusammen in unserem Programm schlagkräftiger und effizienter, als wenn „nur“ ein Mann der Hauptakteur nach außen gewesen wäre. Viele Dinge werden und können nur von Männern erledigt werden. Ein Handwerker jeglicher Profession würde eine Frau als Auftragsgeberin nicht wirklich ernst nehmen. Falls es schließlich über die Arbeitskosten oder die Qualität der Arbeit zu einem Streit kommen sollte, was nicht selten geschah, dann würde „sie“ allein schon wegen ihres Geschlechtes eine schlechtere Verhandlungsposition innehaben. So brachte uns zum Beispiel der Buchhalter des Pensionsfonds auf dem gleichen Gelände in Mubi nach langem Insistieren und Reklamieren endlich den Anteil am Dieselgeld für unseren gemeinsamen Stromgenerator. Da ich leider nicht anwesend war, wollte er jedoch die Quittung nicht von Christine unterschreiben lassen und das Geld ihr nicht aushändigen. Dies ging mir aber doch zu weit, da es sich hier um ein Programm auf unserem gleichen Gelände handelte. Nach 1 ½ Jahren des Zusammenlebens in Mubi sollten zumindest diese Kollegen gelernt haben, dass Christine als Consultant hierher gekommen ist und dass sie eine kleine Quittung unterschreiben darf. So ließ ich den Buchhalter extra nochmals kommen, und er musste das Geld nun doch Christine überreichen. An diesem kleinen Beispiel wird deutlich, wie sehr das traditionelle afrikanische Rollenverständnis den Alltag im Compound und noch viel stärker auch außerhalb im Norden Nigerias prägt. Aus meiner Erfahrung vor Ort wäre eine Frau als mitausreisende Partnerin viel stärker auf ihre Rolle im Haushalt und mit den Kindern fixiert gewesen, als ich es war. Schließlich hatten wir ja auch eine Kinderfrau für Magdalena und einen Betreuer für Elias eingestellt, so dass ich zumindest vormittags eine große Freiheit hatte, mir meine Tätigkeiten auszusuchen oder die notwendigen Arbeiten oder Reparaturen auszuführen. Außerdem kam eine Vielzahl ungeahnter Zusatzaufgaben auf mich zu, die mich von ganz unterschiedlicher Seite her forderten: Vier Wochen lang begleitete ich eine WorkcamperGruppe durch das Land und stellte sowohl das praktische als auch das inhaltliche Programm zusammen. Eine solche deutsch-amerikanisch-schweizerisch-nigerianische Gemengelage ist schon aufgrund ihrer eigenen interkulturellen Zusammensetzung eine Herausforderung – im Kontext Nordnigeria mit seinen logistischen Unwägbarkeiten und Gefahren ist es jedoch ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Die Zusammenarbeit mit meinem nigerianischen Kollegen Reverend Anthony Ndamsai auf Augenhöhe war für ihn und mich wertvoll: Er hatte es zuvor noch nicht erlebt, dass ein „Bature“ (ein Weißer) mit einem Nigerianer zusammen die Reisekasse verwaltet oder ihm auch einmal das eigene Auto ausleiht. Wir lernten miteinander und voneinander, und auf diese Weise sind wertvolle Freundschaften entstanden mit Menschen aus völlig anderen Hintergründen, die man sich in Europa kaum vorstellen kann. Viele lange Gespräche habe ich geführt, um 49

teilweise zu verstehen und um ein wenig verstanden zu werden: mit unserem direkten Projektpartner Reverend Daniel I. Yumuna, mit anderen Mitarbeitern im TEE und im weiteren Umkreis der EYN. Mit Daniel habe ich wochenlang Märkte abgegrast auf der Suche nach einer Druckmaschine für die Kursmaterialien des TEE-Programms und nach Ersatzteilen für den Generator. Außerdem begann ich damit, die Idee des TEE-Gründers aus den Siebziger Jahren, Erich Künne, wieder vor Ort zu beleben und zu verbreiten: den Bau energieeffizienter Lehmöfen, die viel weniger Holz zum Kochen benötigen und damit ökonomisch und ökologisch sinnvoller sind als das herkömmliche Drei-Steine-Feuer in der heißen Landschaft der Trockensavanne. Ich habe viel gelernt in dieser Zeit: darüber, wie Logik kulturell geprägt ist, wie unterschiedlich Erziehung und Familie in den jeweiligen Kulturen funktioniert, was Kommunikation in einer traditionell geprägten Kultur ausmacht, wie verschieden die Wertvorstellungen und Ziele von Menschen sein können. Ich habe mit Menschen zusammengearbeitet, die keinen Tag ihres Lebens in der Schule verbracht haben. Ich konnte ihnen einiges vermitteln und ich habe sie gefordert und gefördert – aber ich habe sehr wohl auch von ihnen gelernt: in Bereichen, in denen ich es nicht vermutet hätte. Mein Hauptprojekt wurde die Planung und der Aufbau der Solaranlage für den TEECompound in Mubi. Die unzuverlässige Stromversorgung erwies sich als ein Kernproblem der Programmarbeit, und hier entwickelte ich eine Lösung, um eine konstante Off-GridVersorgung sicherzustellen. Ich betrieb zunächst Informationsarbeit und Fundraising hierfür in der nigerianischen Kirche und in Europa, bis ich die technischen Einzelteile kaufen und schließlich auch aufbauen und in Betrieb nehmen konnte. Diese Anlage hat das Leben und Arbeiten auf dem Compound deutlich verändert. Christine konnte mit den Angestellten des Programms und Nachbarinnen auf dem Compound eine ganz andere Beziehung eingehen, als dies einem Mann jemals möglich gewesen wäre. Die Ehen zwischen christlichen Nigerianern sind sicher auch von Zuneigung getragen, aber eben nicht nur. Man versteht sich auch als Zweckgemeinschaft, um den rauen Alltag, die Kindererziehung, die Landwirtschaft und die Verpflichtungen gegenüber der Verwandtschaft zu meistern. Ich denke, dass dies mit ein Grund für das vollkommene Fehlen von Zeichen der Zärtlichkeit und Nähe nach außen hin ist. Kommt eine Frau nach einem mehrtägigen Outreach mit der Frauenorganisation ZME nach Hause, gibt es nur ein zaghaftes „Hello“. Ebenso berührt ein Mann seine Frau nie, wenn er nach Hause zurück kommt. Am Sonntag in der Kirche oder bei diversen Festivitäten wird überhaupt nicht ersichtlich, wer nun mit wem verheiratet ist. Die Frauen und die Männer gruppieren sich unter ihresgleichen zusammen. Nur manchmal kann man beim Einsteigen in die Autos und Besteigen der Motorräder erahnen, wer mit wem zusammengehört. Für manche Nigerianer war es dennoch eine kaum nachvollziehbare Rollenverteilung zwischen Christine und mir. Ein Beamter der Immigrationsbehörde, der unsere Visa und Arbeitserlaubnisbescheinigungen überprüfte, wollte mir partout nicht glauben, dass ich nicht offiziell „arbeite“, sondern mich „nur“ um die Familie kümmere. Der Direktor unseres Projektes, Daniel Yumuna, musste bei der Überprüfung meine Aussage von seiner Seite nochmals bestätigen. Er wählte dabei eine Begründung, die uns bis heute erheitert. Die Aufzucht der Kinder und die Mühen im Compound seien ja schließlich eine ehrenhafte Aufgabe: „It’s a noble task.“

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