Universität Bielefeld

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Forschungs- und Entwicklungsplan 2006-2008

Heterogenität in der gymnasialen Oberstufe. Möglichkeiten und Grenzen individueller Förderung und schulischer Beratung am Beispiel einer Versuchsschule Dritter Bericht des Forschungs- und Entwicklungsprojekts „Heterogenität in der gymnasialen Oberstufe. Individuelle Förderung auf dem Weg zur Hochschulreife“

Sebastian Boller, Adriane-Bettina Kobusch, Marlene Müller, Silke Roether, Elke Rosowski, Agnes Schneider unter Mitarbeit von Stephan Holz und Martina Möller

Bielefeld, September 2008

Vorbemerkung und Aufbau des Berichts Das Projekt „Heterogenität in der gymnasialen Oberstufe: Individuelle Förderung auf dem Weg zur Hochschulreife“ wurde im Forschungs- und Entwicklungsplan 2004-2006 ins Leben gerufen. Es ist strukturell im Schnittfeld von LehrerInnenforschung und Evaluation zu verorten und verfolgt das Ziel, die pädagogische Praxis der Versuchsschule Oberstufen-Kolleg praxisnah zu erforschen, sie hierdurch weiterzuentwickeln und relevante Erkenntnisse in den schulpädagogischen Diskurs einzubringen. Da Heterogenität seit der Gründung des Oberstufen-Kollegs vor gut dreißig Jahren ein zentrales Handlungsfeld der Versuchsschule ist (vgl. z.B. Huber/ Wenzel 1996), kann die hier dokumentierte Arbeit im Kontext der organisationalen Weiterentwicklung und bildungspolitischen (Neu-)Positionierung der Einrichtung – auch und besonders im Kontext des im Jahr 2004 durchgeführten Peer-Reviews – gesehen werden. Der vorliegende Bericht schließt an die beiden bereits vorliegenden Zwischenberichte und Publikationen der Projektgruppe an (vgl. Boller/ Marth/ Müller/ Rosowski/ Schneider 2006; Boller/ Rosowski 2007; Boller/ Müller/ Rosowski/ Schneider 2007; Boller/ Kobusch/ Marth/ Müller/ Roether/ Rosowski/ Schneider 2008) und erweitert diese um die inzwischen gewonnenen Untersuchungsergebnisse. Der vorliegende Bericht wurde – wie das gesamte Projekt – arbeitsteilig realisiert. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass sich die Teamstruktur im Berichtszeitraum veränderte, sich also der strukturelle Wandel des Forschungsmodells in der Projektgruppe abbildet: Während zu Beginn des Projektes lediglich zwei LehrerInnen aus dem Kollegium der Versuchsschule zur Forschungsgruppe gehörten, erweiterte sich das Team ab September 2006 um weitere zwei Lehrerinnen. Insgesamt beteiligten sich in der Berichtsphase vier LehrerInnen der Versuchsschule Oberstufen-Kolleg sowie drei Mitglieder des Teams Wissenschaftliche Leitung am Projekt. Der Berichts wurde – in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Arbeitsbereichen – von allen Gruppenmitgliedern erstellt, d.h. bestimmte thematische Teilbereiche des Berichts wurden von einzelnen Personen bearbeitet, die Textteile zusammengesetzt und abschließend redaktionell bearbeitet. Der Bericht gliedert sich in drei Teile: In Teil I werden die theoretischen Grundlagen für die Studie gelegt, zentrale Begriffe eingeführt, forschungsleitende Fragestellungen entwickelt und methodische Aspekte erörtert. Teil II führt in die Untersuchung am Oberstufen-Kolleg ein: Nach einer Beschreibung des Forschungsfeldes und der Datenbasis werden in vier Kapiteln die qualitativen Untersuchungsergebnisse vorgestellt. Die Praxis individueller Förderung und Beratung an der Versuchsschule wird aus den Perspektiven der SchülerInnen, der Lehrkräfte als ExpertInnen und der Schule als Organisation beschrieben. Während es bei den SchülerInneninterviews um die Rekonstruktion subjektiver Wahrnehmungsweisen und Nutzungsformen schulischer Beratung und Förderung geht, werden anhand der Lehrendeninterviews grundlegende Aspekte des professionellen und organisationalen Handelns im Kontext von Förderung und Beratung untersucht. Die Dokumentenanalyse fungiert als rahmengebende Beschreibung und Zusammenschau der gegenwärtigen Struktur der Förderung und Beratung am Oberstufen-Kolleg und war Basis für die Lehrendeninterviews.

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I. Thematische Einordnung, Problemaufriss und Fragestellung ........ 6 1. Einflussfaktoren auf den Schulerfolg........................................................................ 6 1.1 Folgen gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse ........................................... 6 1.2 Soziale Herkunft und Schulerfolg ........................................................................... 8 1.3 Das Schulklima als Bedingungsfaktor für das Lernen: Konsequenzen für individuelle Förderung und schulische Beratung .......................................................... 11 1.4 Begriffliche und theoretische Grundlagen im Kontext von Heterogenität und individueller Förderung ................................................................................................ 13 1.4.1 Bildungstheoretische Überlegungen zum Begriff Heterogenität........................... 13 1.4.2 Individuelle Förderung, Beratung und Diagnose.................................................. 14 1.5 Untersuchung von Motiven, Zielen und Lernerwartungen der KollegiatInnen ......... 16 1.5.1 Die Entschlüsselung bestehender Motive, Ziele und Lernerwartungen und ihre Bedeutung für den Lernprozess ............................................................................ 16 1.5.2 Handlungstypen als Ausdruck bestehender Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster..................................................................................................... 18 2. Forschungsfragen und Forschungsziele .................................................................. 20

II. Individuelle Förderung in der Oberstufe. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung an einer Versuchsschule......................... 23 3. Methodische Herangehensweise und Forschungsdesign......................................... 23 3.1 Das problemzentrierte Interview im Forschungskontext ......................................... 24 3.1.1 Kurzfragebogen als Ergänzung der problemzentrierten Interviews ..................... 25 3.1.2 Telefoninterviews mit AbbrecherInnen ................................................................ 25 3.2 Das ExpertInneninterview im Forschungskontext................................................... 25 3.3 Die Dokumentenanalyse im Forschungskontext .................................................... 26 4. Das Oberstufen-Kolleg als Forschungsfeld. Elemente schulischer Förder- und Beratungsangebote im Überblick ................................................................................. 27 5. Stichprobenbeschreibung ........................................................................................ 31 5.1 Stichprobenbeschreibung der KollegiatInnen im 1. Ausbildungssemester.............. 31 5.2 Stichprobenbeschreibung der KollegiatInnen im 5. Ausbildungssemester.............. 33 5.3 Vorzeitige AbbrecherInnen und Rückgestufte ........................................................ 34 5.4 Perspektiven für die Auswertung der Interviews mit rückgestufen SchülerInnen .... 39 6. Qualitative Analyse Teil I: Portraits der SchülerInnen............................................... 40 6.1 Lebensweltliche Bedingungen und schulrelevante Einflussfaktoren....................... 40 6.2 Vier SchülerInnen im Porträt .................................................................................. 41 6.2.1 Tom: „Also, dass das auf jeden Fall die richtige Schule für mich ist, das ist mir eigentlich immer klar gewesen“.............................................................................. 42

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6.2.2 Jennifer: „So - ohne was zu machen, oder selbstständig was zu machen kommt man hier gar nicht weit, man muss sich halt um alles kümmern“ ...................... 48 6.2.3 Ludwig: „Man muss schon ein paar Ansätze bieten und ein paar Möglichkeiten bieten und – ja, einfach dem Schüler geben, was er braucht in dem Moment“ ...................................................................................................................... 54 6.2.4 Asrin: „Wenn ich halt wirklich Probleme hatte, dann wurde da auch drauf eingegangen. Ich wurde behandelt wie ein erwachsener Mensch“............................... 60 6.3 Lernerfahrungen weiterer SchülerInnen im tabellarischen Überblick ...................... 69 7. Qualitative Analyse Teil II: Bedingungen schulischer Beratung und individueller Förderung aus Sicht der SchülerInnen......................................................................... 73 7.1 Wahrnehmung, Attribuierung und Inanspruchnahme von Instrumenten psychosozialer und sozio-emotiver Beratung .......................................................................... 73 7.1.1 Schulsozialarbeit................................................................................................. 73 7.1.2 Psycho-soziale Beratung .................................................................................... 75 7.1.3 Tutoriat ............................................................................................................... 76 7.2 Wahrnehmung, Attribuierung und Inanspruchnahme von Instrumenten schulorganisatorischer Beratung.................................................................................. 80 7.2.1 Schulorganisatorische Informationsangebote...................................................... 80 7.2.2 Laufbahnberatung............................................................................................... 82 7.3 Das Schul- und Unterrichtsklima im Oberstufen-Kolleg als Einflussfaktor für individuelles Lernen ..................................................................................................... 85 8. Qualitative Analyse Teil III: Bedingungen schulischer Beratung und individueller Förderung aus Sicht der Lehrkräfte und der Versuchschule als Organisation .............. 96 8.1 Dokumentenanalyse und ExpertInneninterview. Methodische Vorbemerkungen.... 96 8.2 Zusammenfassung wesentlicher Ergebnisse in exemplarischen Handlungsfeldern......................................................................................................... 97 8.2.1 Tutoriat ............................................................................................................... 97 8.2.2 Laufbahnberatung............................................................................................... 100 8.2.3 Pädagogische Leitung......................................................................................... 103 8.2.4 Schulsozialarbeit................................................................................................. 106 8.2.5 Psycho-soziale Beratung .................................................................................... 108 8.3 Fazit Dokumentenanalyse und ExpertInneninterviews ........................................... 111 9. Qualitative Analyse Teil IV: Handlungstypen als Ausdruck bestehender Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster ..................................................................... 116 9.1 Handlungstypen: Motive, Ziele und Lernerwartungen der KollegiatInnen ............... 116 9.1.1 Der alternative Typus: „Lernen, weil’s mir Spaß macht“, „weil das Klima am OS anders ist“.............................................................................................................. 117 9.1.2 Der entwicklungsorientierte Typus: „das Richtige für mich selbst zu finden, auch wenn der Weg über Umwege führt“..................................................................... 120 9.1.3 Der erfolgsorientierte Leistungstypus: „Besser und schneller (...) werden und bloß nicht faulenzen“.................................................................................................... 123 4

9.1.4 Der schulorientierte pragmatische Anforderungstypus: „Dass mehrfaches Nachfragen erlaubt ist und man sich selbstständiger um Sachen kümmern muss“ ..... 125 9.1.5 Entwicklungsperspektiven im Ausbildungsverlauf ............................................... 128

III. Individuelle Förderung in der Oberstufe. Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und weiterführende Überlegungen .................... 130 10. Zusammenfassung der Ergebnisse........................................................................ 130 11. Schlussfolgerungen für die Entwicklung der Förder- und Beratungsstruktur des Oberstufen-Kollegs ...................................................................................................... 134 12. Schlussfolgerungen für den schulpraktischen Diskurs zu Beratung und individueller Förderung und Ausblick ........................................................................... 136 Literatur ....................................................................................................................... 140 Anhang ....................................................................................................................... 145 Arbeits- und Zeitplan für den Forschungs- und Entwicklungsplan 2008-2010 Publikationen, Kooperationen, Tagungsbeiträge Instrumente

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I. Thematische Einordnung, Problemaufriss und Fragestellung In Teil I des Berichts werden die theoretischen, begrifflichen und methodischen Grundlagen der Studie gelegt. Kapitel 1 thematisiert relevante Einflussfaktoren auf den Schulerfolg von Schülern und geht der Frage nach, welche Ziele und Lernerwartungen Schüler mit dem Unterricht in der Oberstufe verfolgen und stellt das Konzept der Handlungstypen vor. Hierauf aufbauend werden in Kapitel 2 die forschungsleitenden Fragestellungen und Explorationshypothesen vorgestellt, um in Kapitel 3 die methodischen und methodologischen Prämissen der Untersuchung erläutern zu können.

1. Einflussfaktoren auf den Schulerfolg Im Folgenden werden anhand empirischer Studien zentrale Einflussfaktoren auf den Schulerfolg von SchülerInnen dargestellt. Dabei kristallisieren sich besonders der soziale und kulturelle Hintergrund, das Geschlecht und das Ausmaß der familialen Unterstützung als den Schulerfolg beeinflussende Faktoren heraus. Die Darstellung umfasst ferner das Schulklima als Faktor, der auf Schulerfolg sowie den Prozess der Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen einwirkt. Die Erläuterungen institutioneller und personeller Bedingungen des Schulerfolgs wären jedoch unvollständig ohne Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Rahmung, d.h. der Bedingungen des Aufwachsens im 21. Jahrhundert. Deshalb wird einleitend auf die Folgen gesellschaftlicher Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse für Jugendliche bzw. die Lebensphase Jugend insgesamt eingegangen. 1.1 Folgen gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse Im Folgenden werden wir die allgemeine Lebenssituation, Wertorientierungen und Bildungsaspirationen Jugendlicher in einer pluralen Gesellschaft thematisieren. Diese Aspekte sind für die Untersuchung schulischer Bildungsverläufe und die Frage nach dem Einfluss schulischer Beratung und Förderung relevant, da sie auf die Schullaufbahnen junger Menschen nachhaltigen Einfluss ausüben. Allgemeine Lebenssituation Jugendlicher Die Lebensphase Jugend und damit das Verständnis der „Schülerbiographie“ entstand im Zuge des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses, der sich u.a. durch Ausdehnung der Schulzeit sowie durch Institutionalisierung und Ausdifferenzierung der Jugendbiographie charakterisieren lässt (vgl. Helsper 2004; Hurrelmann 1999). In pluralisierten und individualisierten Gesellschaften zeichnet sich die Lebensphase Jugend durch eine Vielfalt von Lebensentwürfen und -verläufen aus. Typologien von Jugend können sich – je nach Forschungsperspektive – an den Dimensionen gesellschaftliche Schicht, Sozialstatus, soziale (Problem-) Gruppe, Organisationsform oder auch subkultureller Stil orientieren. Wie für alle Jugendlichen und jungen Erwachsenen gilt auch für die SchülerInnen des Oberstufen-Kollegs (im Folgenden der institutionellen Tradition entsprechend als KollegiatInnen bezeichnet), dass der gesamte Alltag ihrer Jugendzeit stark durch den Schulbesuch geprägt und bestimmt wird. Mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess und der damit verbundenen Expansion des Bildungswesens gehen eine Verlängerung der Schulbesuchszeit und eine zeitliche Verlagerung der Berufseintrittsphase einher. Allerdings drücken sich „schicht- und geschlechtsspezifische 6

Unterschiede (...) nicht mehr so sehr in der Tatsache des Schulbesuchs aus, sondern in der Art der besuchten Schule und der Langzeitperspektive für Beruf und Lebenschancen, die mit dem Schulbesuch verbunden sind“ (Hurrelmann 1999, S. 30). Neuere empirische Studien zur Jugendphase zeigen, dass Beruf, Arbeitsmarkt, Familie, Bildung, Sicherheit und Karriere wichtige Themen und Entwicklungsprojekte für Jugendliche sind. Die aktuelle Shell-Studie (vgl. Hurrelmann/ Albert 2006) illustriert, dass bei Jugendlichen trotz des steigenden gesellschaftlichen Drucks (Arbeitslosigkeit, verschärfte Konkurrenz, Schwierigkeit beruflicher Orientierung) eine insgesamt positive Grundstimmung vorhanden ist. Die junge Generation zeichnet sich im intensivierten Wettbewerb um Lebenschancen durch ein hohes Maß an Pragmatismus, Sicherheitsstreben und Leistungsbereitschaft aus: Jugendliche wollen konkrete Probleme und Fragen, die mit persönlichen Möglichkeiten verbunden sind, gezielt in Angriff nehmen und für ihre Zukunft nutzen. Dabei versuchen sie, Chancen aktiv wahrzunehmen und mit dem Leben in der „reflexiven Moderne“ (vgl. Beck 1986) verbundene persönliche Risiken zu minimieren. Sie verknüpfen eher traditionelle Werte mit ‚modernen’ Werten auf flexible und pragmatische Weise. Jugendliche sehen in einem guten, d.h. möglichst hohen Bildungsabschluss den Schlüssel zu gesellschaftlichem Erfolg und sind bereit, für eine Zugangsberechtigung zu höheren gesellschaftlichen Positionen ein hohes Maß an Zeit und Engagement zu investieren. Gleichwohl nimmt aufgrund der prekären Lage am Arbeitsmarkt und der sich verändernden Bedingungen an Hochschulen der Leistungsdruck auf die junge Generation ständig zu. In Bezug auf motivationale und normative Orientierungen und Lebensstile zeigen sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede: Mädchen und junge Frauen sind tendenziell leistungsbereiter und ehrgeiziger als Jungen und junge Männer. Entsprechend streben mittlerweile mehr Mädchen und junge Frauen eine höhere Schulbildung an als Jungen und junge Männer. Die Vereinbarung von Familie und Karriere bzw. Beruf ist in der Wahrnehmung der Jugendlichen – auch junger Frauen – nicht (mehr) ausgeschlossen. Obwohl in Familien mit Migrationshintergrund nach wie vor traditionelle weibliche Lebensverläufe häufiger anzutreffen sind als in Familien ohne Migrationshintergrund, können heute insbesondere die Mädchen und jungen Frauen als Motor des Wertewandels bzw. der Umorientierung der Lebenskonzepte der jüngeren Generation angesehen werden. Ungeachtet dieser Globaltrends zeigt sich jedoch immer wieder, dass die Lebenssituationen und -entwürfe Jugendlicher äußerst vielfältig sind. Tendenziell spaltet sich die Population der Jugendlichen in zwei Teile: Die breite Mehrheit strebt gesellschaftlichen Aufstieg an und definiert ihn in erster Linie über die berufliche Position. Als Voraussetzung und Instrument dafür wird eine gute schulische Ausbildung angesehen. Der Zugang zu hohen beruflichen Positionen wird über das Schulsystem angestrebt, das als instrumenteller Türöffner fungiert. Diese Gruppe der „selbstbewussten Macher und pragmatischen Idealisten“ (vgl. Hurrelmann/ Albert 2002), d.h. der BildungsaufsteigerInnen, blickt äußerst zuversichtlich in der Zukunft und sieht Möglichkeiten zur selbstständigen Gestaltung des eigenen Lebens: Die Orientierung an Beruf, Karriere, neuen Technologien und Leistungsbereitschaft gewinnt an Gewicht. In der zweiten Gruppe der „robusten Materialisten und Unauffälligen“ (vgl. Hurrelmann/ Albert 2002) befinden sich viele potenzielle ‚Risiko-Jugendliche’. Diese jungen Erwachsenen, die ein eher niedriges Bildungsniveau aufweisen, verbinden mit der eigenen Zukunft eher problematische Aspekte: Sie sind mit ihrer Lebenssituation unzufriedener und bezweifeln stärker die Möglichkeit der Verwirklichung ihrer beruflichen Wünsche. Selbsteinschätzung, Bildungsaspirationen, Zuversicht in die eigene Zukunft und deren Gestaltbarkeit sowie 7

Hoffnung auf Schulerfolg sind geringer. Das heißt, dass leistungsbereite, selbstständige und – nach eigener Auskunft – zuversichtlichere Jugendliche einer Gruppe von „Bildungsverlierern“ mit schwächerem sozialem Hintergrund und weniger positiver Grundhaltung gegenüberstehen. Hohe Bildungsaspiration steht dabei in engem Zusammenhang mit schulischer Leistungsbereitschaft. Nach wie vor hat das Bildungsniveau des Elternhauses einen entscheidenden Einfluss auf die Bildungsorientierung der Jugendlichen: „Während drei Viertel der Schülerinnen und Schüler, deren Väter Abitur haben, ebenfalls das Abitur oder eine fachgebundene Hochschulreife anstreben, gilt dies mit einem Viertel nur für eine Minderheit der Schülerinnen und Schüler aus Familien mit Volksschul- oder einfachem Hauptschulabschluss.“ (Hurrelmann/ Albert 2002, S. 18; vgl. auch Baumert/ Schümer 2001). Ein für die vorliegende Untersuchung bedeutsamer Befund ist die Relevanz von Unterstützungsnetzwerken innerhalb und außerhalb der Familie (vgl. Hurrelmann/ Albert 2002). Es zeigt sich, dass diese Netzwerke sozial benachteiligten Jugendlichen weniger Unterstützungsressourcen bereitstellen als sozial besser gestellten. Das kulturelle Kapital wirkt sich auf den Schulerfolg der Jugendlichen und die Kommunikation zwischen Lehrkräften und Schülern aus und hat daher hohe Relevanz für die schulische Förderpraxis.. D.h., zwischen sozialer Herkunft, Schulerfolg, kulturellem Kapital und den Lebenschancen junger Menschen besteht ein enger Zusammenhang (vgl. Raiser 2008). 1.2 Soziale Herkunft und Schulerfolg Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Ausgangsituation und der Stellung Jugendlicher in der Gesellschaft wird im Folgenden der Blick auf die Schule als Türöffnungs- bzw. Allokationsinstanz für gesellschaftliche Teilhabe gerichtet. Dabei wird auf wesentliche Zusammenhänge zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg sowie auf die Bedingungen für schulische Beratung und Förderung eingegangen. Klassenwiederholungen, Schulformwechsel und Ausbildungsabbrüche Wie die bildungssoziologische Forschung zeigt, entfaltet sich die Wirkung der sozialen Herkunft insbesondere an den Gelenkstellen des deutschen Schulsystems: den Übergängen nach der Grundschule, der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II (vgl. Allmendinger/ Dietrich 2004; Köller/ Watermann/ Trautwein u.a. 2004). Diese institutionellen Übergansprozesse zwischen den Schulstufen sind für Selektivität und Durchlässigkeit des Schulsystems von zentraler Bedeutung, wobei die Lernmilieus der unterschiedlichen Schulformen sich wiederum auf Schulleistungen, Bildungsaspirationen, individuelle Motive und Ziele und die tatsächlichen Bildungswege auswirken. Betrachtet man Einschulungspraxis, Klassenwiederholungen und Schulformwechsel als wesentliche Marker der Schullaufbahn, so zeigt sich, dass die Durchlässigkeit im deutschen Schulsystem, also die Möglichkeit des Wechsels zwischen den Schulformen, vor allem eine Durchlässigkeit ‚nach unten’ darstellt (vgl. Bellenberg 1999). Nach Daten des Statistischen Bundesamts für das Schuljahr 1998/99 sind Jugendliche mit Migrationshintergrund „fast doppelt so stark an den Hauptschulen und weniger als halb so stark an den Gymnasien vertreten wie es ihrem Anteil an den Schülerinnen und Schülern der allgemeinbildenden Schulen insgesamt entspricht“ (Karakasoglu-Aydin

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2001, S. 282).1 Für Kinder mit Migrationshintergrund gibt es ein doppelt so hohes Risiko wie für Kinder deutscher Herkunft, eine Klasse wiederholen zu müssen (vgl. Schümer/ Tillmann/ Weiß 2002). Sie sind vor allem in der Grundschule von Klassenwiederholungen bedroht, was für Kinder deutscher Herkunft nur in geringem Ausmaß zutrifft. Für diese steigt jedoch sprunghaft das Risiko einer Wiederholung der Klassenstufen 7 und 8. Die geschlechtsspezifische Betrachtung von Schullaufbahnen zeigt ferner, dass Mädchen durchgängig seltener als Jungen problematische Brüche der Schullaufbahn erleben: Sie werden seltener zurückgestellt, wiederholen Klassen seltener, steigen seltener in Hauptoder Realschulen ab und häufiger in höhere Schulformen auf (vgl. Bellenberg 1999). Krohne und Meier (2004) zeigen anhand der PISA-Ergebnisse, dass 27% aller 15jährigen Jungen, aber nur 20% der gleichaltrigen Mädchen mindestens einmal eine Klasse wiederholen mussten. Dieser geschlechtsspezifische Unterschied trifft auf alle Schulformen zu, ist jedoch an Gymnasien mit einem Unterschied von 4,9 Prozentpunkten zwischen den Geschlechtern am geringsten. Trotz der in den vergangenen Jahren verstärkten Forschungsaktivität im Bereich schulischer Bildungsbiographien und der großen Bedeutung schulischer Erfahrungsmuster für den Lebensverlauf sind mit Helsper (2004) Forschungsdefizite festzustellen. Diese bestehen vor allem im Bereich qualitativer biographischer Analysen unterschiedlicher SchülerInnengruppen über verschiedene Schulformen hinweg sowie bei Untersuchungen bestimmter SchülerInnengruppen (z.B. Aufstiegsorientierte, MigrantInnen, Schulverweigernde usw.) oder geschlechtsbezogener Fragen. Gleichwohl lohnt es sich, einen Blick auf bereits vorliegende Studien zu werfen. Schullaufbahnen, schulische Erfahrungen und Einfluss der Eltern Schulische Erfahrungen und Lernprozesse sowie damit verbundene institutionelle Übergangsprozesse, die zur Strukturierung der Schulkarriere beitragen, sind bei der Analyse schulischer Erfahrungsmuster und Verlaufsformen besonders relevant (vgl. Helsper 2004). Bei der Analyse (schul)biographischer Verläufe geht es in erster Linie um die Frage, „wie die institutionellen schulischen Übergänge und Rollenanforderungen individuell erfahren, gedeutet, erzählt und in den lebensgeschichtlichen Gesamtzusammenhang eingebettet werden“ (ebd., S. 907). Mit dieser Betrachtungsweise lässt sich innerhalb der schulbiographischen Forschung eine Abkehr von dichotomisierenden Verlaufsmustern (z.B. Versagen vs. Erfolg) in Richtung einer stärkeren Auffächerung und Individualisierung von Entwicklungsverläufen feststellen. So untersuchte etwa Kramer (2002) die „Passung“ zwischen Schulkultur (schulkulturelle Ordnung usw.) und SchülerInnenbiographie (familiale Entwürfe, Leistungsorientierung usw.) und fand, dass die Bezüge zwischen Familie und Schule äußerst komplex und scheinbar harmonische Passungen zwischen familialem und schulischem Milieu durchaus spannungsreich und ambivalent sein können. Sander und Vollbrecht (1985) kommen in einer qualitativen Längsschnittstudie über biographische und lebensweltliche Erfahrungen 13- bis 15-Jähriger zu dem Ergebnis, dass Jugendliche, die keine langfristigen Bildungskarrieren anstreben, Schule als wenig sinnstiftend wahrnehmen und dazu neigen, sie v.a. als Ort der Jugendkultur und des Treffens von Freunden zu definieren. Dementsprechend zeigt Helsper (2004) auf, dass

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In den alten Ländern der Bundesrepublik Deutschland sind 19,2% der 15jährigen SchülerInnen Kinder, deren beide Elternteile im Ausland geboren sind (vgl. Baumert/Schümer 2001).

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„jene Heranwachsende, die längerfristige Bildungsambitionen haben, die Schule zumindest in dieser Perspektive als bedeutsam [erleben]“ (ebd., S. 908). Hurrelmann und Wolf (1986) konnten nachweisen, dass Schulerfolg und -versagen noch lange nach der Schulzeit subjektiv hoch relevant sein können, da sie die Selbstwirksamkeitserwartungen und das Selbstbild des jungen Menschen beeinflussen. Schulische Anerkennungsprozesse, Erfolg, Versagen, Klassenwiederholungen oder „Schulabstieg“ können für die Jugendphase eine „gravierende biographische Relevanz“ (Helsper 2004, S. 909) haben, ebenso wie Familie, Peers und Alltagsinteraktionen mit Lehrpersonen unterstützende oder hemmende Wirkungen entfalten können. LehrerInnen können unter bestimmten Umständen und v.a. für Jugendliche aus problembelasteten Familien „als biographisch bedeutsame, nicht ersetzbare Bezugspersonen“ (ebd., S. 910) fungieren und die schlechten Startchancen der Heranwachsenden partiell kompensieren, was jedoch v.a. im Falle junger MigrantInneen ein Vertrauensverhältnis zwischen LehrerInnen und SchülerInnen voraussetzt (vgl. Raiser 2008). Als bedeutsame Einflussfaktoren für Schulerfolg und Verlauf der Schullaufbahn gelten wie oben ausgeführt neben der sozialen Herkunft besonders das Geschlecht der Jugendlichen und der Migrationshintergrund der Herkunftsfamilie. Schulze und Soja (2003) untersuchen, wie es schulisch zunächst wenig erfolgreichen jungen MigrantInnen gelingt, auf Umwegen höhere Schulabschlüsse zu erwerben. Deutlich wird dabei ein Muster der „verschlungenen Bildungspfade“, eine Strategie, mit der sie auf ungünstige Startbedingungen, unzureichende pädagogische Unterstützung und Diskriminierungserfahrungen reagieren. Die untersuchten Schullaufbahnen verlaufen dabei nicht geradlinig, sondern mit mehrfachen Wechseln: Es finden sich meist keine eindeutigen Aufwärts- oder Abwärtsbewegungen, sondern Schulwechsel, die tendenziell zunächst ‚nach unten’, später dann wieder zu höher qualifizierenden Abschlüssen führen. Angesichts dieser Befunde liegt es nahe, den Blick der Forschung auf solche SchülerInnen zu richten, die als „Bildungsaufsteiger“ bezeichnet werden können: insbesondere SchülerInnen mit nicht-linearen Schullaufbahnen, wozu häufig Jugendliche mit Migrationshintergrund gehören. So konnte Raiser (2008) zeigen, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund, die im gegliederten Schulsystem erfolgreich sind, motiviert sind, die (unabgeschlossene) Migrationsgeschichte der Familie bzw. der Eltern erfolgreich zu Ende zu führen. Sie stehen dabei häufig unter nicht unerheblichem Druck, da sie es sind, die den von den eigenen Eltern nicht erreichten Bildungsaufstieg realisieren sollen. Unterstützung erhalten sie dabei häufig von älteren Geschwistern oder aber von einzelnen Lehrkräften, „die ihr Talent erkennen und sich ihrer in besonderer Weise annehmen. In den Berichten erfolgreicher Migranten spielen diese Lehrkräfte oftmals eine wichtige Rolle, weniger aufgrund der aktiven inhaltlichen Förderung als vielmehr wegen des Vertrauens, das in ihre Fähigkeiten gesetzt wurde“ (ebd., 14). Verknüpfung unterschiedlicher Bildungsorte Da jugendliche Lebenswelten hochgradig plural sind, ist aus pädagogischer Perspektive davon auszugehen, dass eine erfolgreiche Förderung individueller Bildungsprozesse am ehesten durch die Verknüpfung unterschiedlicher Bildungsorte, Lernwelten und Strukturen der Gelegenheiten für Kompetenzerwerb gelingen kann. Mit dieser Prämisse wird zweierlei angesprochen: die systematische Fokussierung unterschiedlicher faktischer wie möglicher Orte der Bildung einerseits sowie das Verhältnis dieser Bildungsorte und Lernwelten zur Schule andererseits. Der Kompetenzerwerb bei Jugendlichen ist nicht nur vom Bildungsort Schule abhängig, sondern wird ganz wesentlich auch von nicht-

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schulischen Lernwelten beeinflusst, angefangen von Familie und Peers über Medien bis zu organisierten Freizeitaktivitäten oder der Berufswelt (vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2006; Hurrelmann/ Albert 2006). Die genannten Lernwelten sind im Gegensatz zu institutionalisierten Bildungsorten zwar weitaus instabiler und deutlich weniger standardisiert, jedoch in hohem Maße bildungsrelevant. Entsprechend wird informellen Bildungsprozessen und der Öffnung von Schule eine steigende Bedeutung beigemessen. Die Förderung kultureller, instrumenteller, sozialer und personaler Kompetenzen wird zum Ziel einer umfassenden Unterstützung im Lernort Schule. Zu dem Ziel einer umfassenden schulischen Unterstützung tragen nicht zuletzt auch die zwischenmenschlichen, kommunikationsbezogenen und räumlichen Bedingungen des Lernens, also die Gesamtheit der schulischen Lernbedingungen bei. Hiermit ist der Komplex des Schulklimas angesprochen. 1.3 Das Schulklima als Bedingungsfaktor für das Lernen: Konsequenzen für individuelle Förderung und schulische Beratung Neben sozialer Herkunft, Geschlecht, Migrationsstatus und schulischer Unterstützungsleistung übt das Schulklima einen moderierenden Einfluss auf den Lernerfolg von SchülerInnen aus. Meta-Analysen zum Einfluss des Schulklimas auf Schulleistungsvariablen belegen den Zusammenhang schulstruktureller Aspekte wie Klassenklima oder LehrerInnen-SchülerInnen-Kommunikation mit den Leistungen von SchülerInnen (vgl. Fend 1977; Haertel/ Walberg/ Haertel 1981, Zumhasch 1999). Ungeklärt bleiben jedoch meist die den Modellen zugrunde liegenden Ursache-WirkungsZusammenhänge. Das Schulklima ist nicht nur wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch für die Entwicklung des Lern- und Arbeitsverhaltens. Ergebnisse der Schulklimaforschung zeigen, dass die Wahrnehmung negativer schulischer Klimaaspekte durch die Schüler die Akzeptanz schulischer Beratungs- und Förderkontakte beeinträchtigt, während positive Klimamerkmale (z.B. als schwach ausgeprägte Hierarchien zwischen Lehrenden und Lernenden, geringer Leistungs- und Konkurrenzdruck) das notwendige Vertrauen zur freiwilligen Gesprächsaufnahme fördern. Beratungsangebote, die von SchülerInnen nicht als Möglichkeit zur Lösung eigener Probleme erfahren werden, sind nutzlos. Daher besteht auf dem Hintergrund der Ergebnisse der Schulklimaforschung die Annahme, dass das Lern- und Schulklima Auswirkungen darauf hat, inwieweit SchülerInnen schulinterne Personen als Ratgeber und Förderer bei schulischen Fragen und bestehenden Problemen in Anspruch nehmen (vgl. Zumhasch 1999). Fend (1977) definiert in seiner als ‚klassisch’ zu bezeichnenden Studie den Begriff Schulklima wie folgt: „Unter Schulklima verstehen wir (…), das, was Schüler und Lehrer schaffen, wenn sie die für sich allein toten gesetzlichen und institutionellen Regelungen von ‚Schule halten’ zu lebendigen Interaktionsformen des Lehrens und Lernens gestalten“ (ebd., S. 15). Seine weitere Auffächerung des Begriffs umfasst drei Dimensionen: Inhaltsaspekte: Leistungsdruck und Disziplindruck (traditional vs. progressiv; kritisch vs. unkritisch);  

Interaktionsformen: restriktive Kontrolle und Mitbestimmung (autoritär vs. liberal; höflich-distanziert vs. gemeinschaftsorientiert); Beziehungsstrukturen: Lehrerengagement und Anonymität (kooperativ vs. kompetitiv; vertrauensvoll vs. feindselig).

Fends Untersuchung nutzt als Kategorien zur Erfassung des Schulklimas Leistungsdruck, Leistungsbereitschaft, Selbstbewusstsein, Schulinvolvement, Hausaufgabenzeit, 11

abweichendes Verhalten, Partizipationsverhalten und Konfliktregelungen. Er konnte nachweisen, dass Schulverdrossenheit mit erhöhtem Anpassungsdruck steigt und einschüchterndes LehrerInnenverhalten das Selbstvertrauen der SchülerInnen negativ beeinflusst. Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen wahrgenommener Reglementierung durch Lehrpersonen und einem allgemeinen Mangel an SchülerInnenzentriertheit und Freundlichkeit. Der stärkste Zusammenhang zwischen Leistungsdruck und Sozialisationseffekten fand sich jedoch mit dem Selbstbewusstsein: Hoher Leistungsdruck verstärkt Angst, reduziert Erfolgszuversicht, erhöht Leistungsresignation und schwächt das Selbstwertgefühl. Als Dimension zur Charakterisierung des schulischen Sozialisationskontextes wird in diesem Zusammenhang der Grad der Repressivität bzw. des Anpassungsdrucks hervorgehoben, den Fend für vergleichbar grundlegend hält wie Anregungsgehalt oder Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten. Der positive Pol zu Repressivität ließe sich als „Gewährung von Autonomie und Selbstständigkeit, Reversibilität der Sozialbeziehungen und Argumentativität“ (Fend 1977, S. 73) umschreiben. Es kann kaum überraschen, dass die enge Verflechtung von Lernerfolg und erlebtem Schulklima Konsequenzen für die schulische Beratungspraxis und schulisches Beratungsund Förderhandeln insgesamt hat. Demnach wirkt sich ein von Akzeptanz, Vertrauen und Offenheit geprägtes Verhältnis zwischen LehrerInnen und SchülerInnen und der Lernenden untereinander positiv auf die Bereitschaft zu freiwilliger, selbst initiierter Nachfrage nach Beratung und Förderung aus. Subjektiv als restriktiv erlebte Verhaltensweisen auf Seiten der Lehrkräfte, negativ erlebte Konkurrenz zwischen den SchülerInnen sowie Ablehnung und Ausgrenzung Einzelner verringern entsprechend die Akzeptanz der Lehrkräfte als Beratungs- und Förderpersonen. Ein Problem schulischer Beratung besteht jedoch darin, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen und die damit verbundenen Berufs- und Lebensperspektiven (z.B. berufsbiographische Ungewissheit, mehrmalige Berufswechsel, Revidieren und Neuformulieren von Entscheidungen) und damit verbundene Problemkonstellationen hochgradig individualisiert und kaum vorhersehbar oder standardisierbar sind: „Offenheit der Perspektiven und Verunsicherung bei der Lebens- und Berufsplanung führen zunehmend dazu, dass Beratung    

keine zweifelsfrei ‚richtigen’ Problemlösungen, keine langfristig prognostizierbar erfolgreichen Handlungsstrategien, keine allgemein angemessenen Entscheidungen und keine zuverlässig optimalen Entwicklungswege mehr aufzeigen kann“ (Grewe 2005, S. 8f.).

Vor diesem Hintergrund plädiert Grewe für weiteren Ausbau und Flexibilisierung von Beratungssystemen. Aufgabe schulischer Beratung und Förderung ist es demnach weniger, aktuelle Probleme zu lösen, sondern jungen Menschen zu helfen, personale und soziale Strukturen aufzubauen, die einen konstruktiven und flexiblen Umgang mit im Lebensverlauf auftretenden Schwierigkeiten und Entscheidungssituationen erlauben. Damit ist zunächst einmal vor allem die Perspektive der Lehrpersonen umschrieben. Wie aber nehmen SchülerInnen schulische Beratung und Förderung wahr und wie nutzen sie diese Angebote? Querschnittsuntersuchungen zur subjektiven Wahrnehmung schulischer Beratungsangebote durch SchülerInnen als NutzerInnen zeigen, dass es neben Eltern und engen Freunden in erster Linie LehrerInnen sind, die bei schulischen Fragen (vor allem bei Schul- und Berufswahlentscheidungen) und Problemen (z.B. bei Konflikten zwischen Lehrpersonen und SchülerInnen) angesprochen werden (vgl. Zumhasch 1999). Dabei können Relevanz und ‚Attraktivität’ von GesprächspartnerInnen hinsichtlich

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unterschiedlicher Beratungsanlässe sehr stark variieren, d.h. SchülerInnen wählen bewusst und zielorientiert aus dem Spektrum vorhandener Beratungsmöglichkeiten aus. Neben aktuellen situativen Gegebenheiten haben Alter, Geschlecht und Schulform der SchülerInnen Einfluss auf die Bereitschaft, Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen. Außerdem zeigt sich, dass sich die Beratungsprinzipien „Vertraulichkeit“ und „Freiwilligkeit“ positiv auf Nutzung und Erfolg schulischer Beratung auswirken, d.h. es kann von einem Einfluss des Schul- und Klassenklimas auf die Beratungsbereitschaft ausgegangen werden. Von den SchülerInnen als negativ wahrgenommener Leistungsdruck, Konkurrenz untereinander sowie sanktionierendes Verhalten seitens der Lehrkräfte kann sich jedoch nachteilig auf die Inanspruchnahme schulischer Beratung auswirken. Diese Befunde gilt es in dieser Studie bei der in Teil II vorzunehmenden Analyse der Aussagen der Schüler zu ihrem Beratungs- und Förderbedarf im Blick zu behalten. 1.4 Begriffliche und theoretische Grundlagen im Kontext von Heterogenität und individueller Förderung Heterogenität, individuelle Förderung und – damit verbunden – Beratung und pädagogische Diagnostik sind schillernde Begriffe der aktuellen schulpädagogischen Debatte. Als bildungspolitisch z.T. instrumentalisierte und schulpädagogisch inflationär verwendete Modeworte mit appellativer Wirkung sind sie jedoch von begrifflichen und konzeptionellen Unschärfen und mangelnder inhaltlicher Füllung gekennzeichnet (vgl. Boller/ Rosowski/ Stroot 2008). Deshalb soll im Folgenden ein genauerer Blick auf zentrale Begriffe im Kontext der Studie geworfen werden. 1.4.1 Bildungstheoretische Überlegungen zum Begriff Heterogenität „Heterogen“ heißt „verschiedenen Ursprungs“ und bezeichnet speziell die Ungleichartigkeit der Teile in einem zusammengesetzten Ganzen. Daneben wird Heterogenität häufig als Streuung um oder Differenz zu einer unterstellten Norm definiert und ist damit immer kontextbezogen. Heterogenität bedeutet diesem Verständnis nach eine Zuschreibung von Unterschieden aufgrund von Kriterien, deren Bedeutung von sozialen Normen und persönlichen Interessen abhängt (vgl. Brügelmann 2001). Die aktuellen Debatten in der Erziehungswissenschaft zu Differenz und Gleichheit (vgl. Lutz/Wenning 2001) sind Folgen eines gestiegenen gesellschaftlichen Pluralitätsbewusstseins, das nach Krüger-Potratz (1999) nicht nur mit Hinnahme, sondern Anerkennung des Anderen und einem Verständnis von Demokratie als Recht auf Gleichheit und als Recht auf Dissens verbunden ist. Heterogenität als Kennzeichen einer auf Individualisierung und Pluralisierung ausgerichteten Lebensweise moderner Gesellschaften lässt sich in allen Bereichen gesellschaftlichen Lebens darstellen und in die Dimensionen soziale und kulturelle Heterogenität, Leistungsheterogenität, Geschlechter-, Alters- und Interessensheterogenität einteilen. Als Rahmenbedingungen haben diese Heterogenitätsdimensionen direkt oder indirekt Einfluss auf die Möglichkeiten der Bildungsbeteiligung und das Lernverhalten einzelne SchülerInnen: Huber (1996) und Bosse (2003) problematisieren eine vielfach „verdrängte Heterogenität in der Oberstufe“ (ebd., S. 25ff.), da im Oberstufenunterricht des Gymnasiums häufig von leistungs- und interessenshomogenen Lerngruppen ausgegangen und die bestehende faktische Unterschiedlichkeit der SchülerInnen ausblendet werde, anstatt eine innere Differenzierung des Lernens und Konzepte zur individuellen Förderung zu entwickeln und

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somit Unterschiede jeglicher Art als Chance und Ressource für Lernprozesse zu begreifen und zu nutzen. Heterogenität stellt in diesem Kontext ein Phänomen dar, das insbesondere didaktisch auf der Ebene des Unterrichts wahrgenommen und aufgegriffen werden sollte. Zur Frage des unterrichtlichen Umgangs mit Heterogenität ist in den vergangenen Jahren eine steigende Publikationstätigkeit zu verzeichnen (vgl. z.B. Bildungskommission der Heinrich-Böll-Stiftung 2004; Boller/ Rosowski/ Stroot 2007; Kunze/ Solzbacher 2008). 1.4.2 Individuelle Förderung, Beratung und Diagnose Der Terminus individuelle Förderung hat mittlerweile einen festen Platz in der bildungspolitischen und schulpädagogischen Debatte und Eingang in die Schulgesetze mehrerer Bundesländer gefunden (vgl. Stroot 2008). Individuelle Förderung soll eine Wende in der schulischen Praxis symbolisieren: Es geht um eine angemessene Förderung aller SchülerInnen, d.h. jede/r Einzelne soll gemäß ihrer/seiner Fähigkeiten gefördert und unterstützt werden. Das schließt ebenso Breitenförderung und Defizitausgleich ein wie die Förderung besonders begabter SchülerInnen. Ungeachtet der Unschärfe des Begriffs verstehen wir in diesem Zusammenhang unter individueller Förderung eine spezifische Art der Ermutigung (encouragement) und Selbstbefähigung (empowerment) ‚auf Augenhöhe’. Diesem Verständnis liegt ein emanzipatorischer Anspruch zu Grunde, der sich durch Orientierung an der Person des Gegenübers und ihrer Eigenarten, aktuellen und potenziellen Kompetenzen und ihrer Lebenssituation charakterisieren lässt. Unterschiedliche Formen schülerzentrierter Beratung und Unterstützung auf der Basis von pädagogischer Diagnostik verstehen wir als ressourcenorientierte Begleitung bei der Herausbildung unterschiedlicher sozialer, fachlicher und überfachlicher Kompetenzen. Unter Unterstützung verstehen wir in diesem Zusammenhang eine punktuelle Art individueller Förderung in einem konkreten Lernprozess. Ziel individueller Förderung ist die Förderung aller SchülerInnen unter Berücksichtigung der jeweils gegebenen Voraussetzungen. Individuelle Förderung soll ziel- und lösungsorientiert durch Kooperation der zu fördernden und der fördernden Personen (Z.B. Lehrkräfte, Schulpsychologen, Schulsozialarbeiter usw.) erfolgen, wobei Aufgabenbereiche und Gegenstände von Förderung klar definiert werden müssen. Individuelle Förderung erfolgt im Unterricht und darüber hinaus. Bereiche und Instrumente individueller Förderung von SchülerInnen können sein:      

individuelle Förderempfehlungen oder Lernvereinbarungen; systematischer Einsatz von Feedback-Instrumenten zur Kompetenzentwicklung; gezielte Persönlichkeitsstärkung; Entwicklung spezifischer sozialer Kompetenzen; Entwicklung eines geeigneten Zeitmanagements; Unterstützung beim Finden und Formulieren von Interessen und Zielen.

Eine so verstandene Förderung beruht auf unterschiedlichen Methoden und Verfahren (z.B. Unterrichtskonzepte und Lernarrangements, Trainings etc.) und auf Methodenvariation. Zur Professionalisierung individueller Förderung gehören u.a. die Ausund Fortbildung der Lehrkräfte in Diagnoseund Beratungskompetenz, Unterrichtsmethoden sowie – vor allem in der praktischen Arbeit – kontinuierliche Reflexion und Supervision des eigenen pädagogischen Handelns sowie die Einbindung aller Fördermaßnahmen in ein Gesamtkonzept der Schulentwicklung.

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Förderung von SchülerInnen als Handlungsfeld der Lehrerarbeit beinhaltet Beratung. Diese kann als alltäglicher Bestandteil der unterrichtlichen und erzieherischen Praxis von LehrerInnen angesehen werden (vgl. Gudjons 2005). Beratungshandeln (z.B. in den Bereichen Bildungs-, Berufs- und individualpsychologische Beratung) wird in der schulpädagogischen Diskussion in zunehmendem Maße als „Teil des schulischen Erziehungsauftrags“ (Schäfer-Koch 1992, S. 17) und als Strukturelement moderner Schule begriffen (vgl. Grewe 2005; Grewe/ Wichterich 1999) und ist seit längerem Gegenstand empirischer Forschung (vgl. z.B. Denner 2000; Zumhasch 1999). Beratung kann im Kontext individueller Förderung z.B. als Entscheidungshilfe, als Motivation oder als Erfolgskontrolle fungieren oder der Information dienen. Sie kann sich dabei auf informative, instrumentelle, emotionale und materielle Ressourcen und Unterstützung beziehen (vgl. Engel/ Sickendiek 2004). Sie sollte – wie individuelle Förderung auch – dialogisch (‚auf Augenhöhe’), dynamisch, lebenswelt- und alltagsnah, ressourcen- und lösungsorientiert erfolgen. Beratung kann folglich als kooperative Kreation von Lösungen umschrieben werden. Neben einer expliziten Struktur sind Ziel- und Lösungsorientierung sowie eine zeitliche Begrenzung charakteristisch. Ebenso muss der Gegenstand der Beratung klar definiert sein. Die Aufgabenbereiche schulischer Beratung beziehen sich meist auf die schulische Laufbahn, Studien- und Berufsorientierung, psychische Krisenbewältigung, Zeitmanagement oder Arbeits- und Lerntechniken. Dabei wird der Bereich der Einzelfallhilfe z.T. durch Aufgaben wie Prävention oder Schulberatung erweitert. Insgesamt handelt es sich nach Grewe (2005) um ein eher diffuses und wenig transparentes, jedoch schulpraktisch hoch relevantes Tätigkeitsfeld. Dass angesichts des systemischen Verständnisses individueller Förderung pädagogische Diagnostik zunehmend in den Fokus rückt, ist nur konsequent. Die Ansätze pädagogischer Diagnostik arbeiten hierzu in erster Linie mit standardisierten Verfahren (v.a. verschiedene Verfahren der Leistungsbeurteilung, aber auch Unterrichtsbeobachtungen, Experimente etc.), um individuelle Lernprozesse zu identifizieren. Pädagogische Diagnostik soll als „Diagnose im Dienste pädagogischer Entscheidungen“ (Weiss 1996) zu zweckmäßigen pädagogischen Maßnahmen führen. Hierzu werden entweder Persönlichkeitsmerkmale erfasst, um den gegenwärtigen Zustand von SchülerInnen zu beschreiben (Statusdiagnose) oder aber Veränderungen in individuellen Lernvorgängen (Prozessdiagnostik). Aber erst in Kombination mit dem Wissen um die Bedingungen des sozialen Umfelds und die besonderen persönlichen Eigenschaften der Einzelnen bzw. deren spezifische Lerngeschichte können Lernprozesse qualifiziert auf die jeweiligen Lernerbedürfnisse ausgerichtet und individuell, d.h. bezogen auf einzelne SchülerInnen, gefördert werden. Diagnose verstehen wir als dialogischen, interaktiven, dynamischen und mehrperspektivischen Prozess und Versuch, die Potenziale einzelner (kompetenzorientiert) zu erfassen und deren Entfaltungsmöglichkeiten zu unterstützen. Damit ist der Vorgang der Diagnose als Bestandsaufnahme von Fähigkeiten, Potenzialen und Ressourcen sowie von Verbesserungsmöglichkeiten und Entwicklungsperspektiven zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen (vgl. Hanses 2004). Gleichzeitig sollte Diagnose ein zielgerichteter Prozess sein, an den Förderung gekoppelt ist (vgl. Ingenkamp 2004). Diagnose sollte nicht zu Stigmatisierung und Etikettierung Einzelner oder bestimmter (‚Problem’-) Gruppen führen und nicht einseitig aus standardisierten Tests zur „Statusdiagnose“ bestehen, sondern unter Verwendung der gesamten Bandbreite möglicher (qualitativer und quantitativer) Instrumente und Verfahren mit dem Ziel der „Prozessanalyse“ erfolgen.

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Nachdem in den vorherigen Kapiteln die theoretischen und begrifflichen Grundlagen für die Analyse von Förder- und Beratungsinstrumenten in der Oberstufe gelegt wurden, soll im Folgenden der Blick stärker auf die zu fördernden Akteure selbst, d.h. die SchülerInnen und ihre Motive, Ziele und Lernerwartungen gerichtet werden. Die Analyse subjektiver Deutungs- und Orientierungsmuster der SchülerInnen ist wesentlicher Teil des Auswertungsprozesses und eröffnet die Möglichkeit, bestehende Motiv- und Zielstrukturen zu entschlüsseln und schulisches Handeln und Lernprozesse im Kontext übergeordneter normativer Orientierungen in einem umfassenderen Sinne zu rekonstruieren. 1.5 Untersuchung von Motiven, Zielen und Lernerwartungen der KollegiatInnen Wie gezeigt, können Anlässe und Möglichkeiten für Förderung und Beratung nicht isoliert voneinander betrachtet, sondern müssen – in einem systemischen Sinne – als Dependenzgefüge verstanden werden. D.h. die subjektive Attraktivität und damit auch Akzeptanz angebotener Förderung und Beratung muss in Abhängigkeit zum Beratungsanlass gesehen werden und kann bei den KollegiatInnen erheblich variieren (vgl. Zumhasch 1999). Wir gehen davon aus, dass Motive, Ziele und Lernerwartungen der KollegiatInnen ausschlaggebend sind für ihr Lernverhalten sowie für ihre Fähigkeiten und ihre Bereitschaft, Förderangebote und Beratungseinrichtungen erfolgreich zu nutzen bzw. nutzen zu wollen und zu können. Es stellt sich die Frage, ob die Beratungsbereitschaft gegenüber verschiedenen Gesprächsmöglichkeiten bei den KollegiatInnen gleich ist oder ob bestimmte Gruppen von KollegiatInnen auf Grund subjektiver Motive und Ziele, die sie mit der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg verbinden, eine Bereitschaftsstruktur für bestimmte Beratungsmöglichkeiten und spezifische Förderangebote aufweisen. Lassen sich bestimmte Handlungstypen identifizieren, so dass Rückschlüsse gezogen werden können, ob einzelne Elemente des Beratungsnetzwerkes aus Perspektive der KollegiatInnen besonders wichtig oder eher unbedeutend sind auf ihrem Weg zur Hochschulreife? 1.5.1 Die Entschlüsselung bestehender Motive, Ziele und Lernerwartungen und ihre Bedeutung für den Lernprozess Auf Grundlage der Motivanalyse werden in problemzentrierten und bildungsbiographisch ausgerichteten Interviews die Interpretationsperspektiven der KollegiatInnen hinsichtlich ihrer bisherigen Schulerfahrungen, bestehender Lernstärken und -schwächen sowie ihre Einschätzung der Notwendigkeit und Nützlichkeit von Förder- und Beratungsangeboten erhoben. Lern- und Schulvorstellungen werden in ihrer Entwicklungsdynamik auf dem Hintergrund der bestehenden umfassenderen Orientierungs- und Deutungsmuster rekonstruiert. Diese Orientierungs- und Deutungsmuster enthalten neben subjektiven Lernkonzepten auch bestehende Selbstkonzepte und damit auch die Zukunftsperspektiven und Zielvorstellungen der Jugendlichen. Die in der vorliegenden Untersuchung dargestellten lernbiographischen Selbstthematisierungen sind bereits alltagsweltlich interpretierte subjektive Realität: „biographische Selbstthematisierungen bilden Handlungen nicht ab, sondern rekonstruieren diese in einer bestimmten Logik zu einem ‚sinnvollen Leben', kreieren also aus der Ebene der Handlungsrealität eine neue Realitätsebene: die Biographie“ (Sander/ Vollbrecht 1985, S. 19f.). Nach Leontjew (1979) bilden Motive den Kern der Persönlichkeit, sind dem Subjekt jedoch in der Regel nicht bewusst. Eine Tätigkeit (hier Lerntätigkeit) kann sich als Handlung (hier Lernhandlung) nur realisieren, wenn ein Ziel gefunden worden ist, das

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dem Motiv entspricht, so dass auch Handlungen durch Motive bestimmt werden. Diese Untersuchung verwendet lediglich Teilaspekte dieser Theorie, nämlich Leontjews Annahmen über das Zusammenspiel von Motiven, Zielen und Handlungen, so dass auf eine ausführliche Darstellung der persönlichkeits- und lerntheoretischen Ableitungen an dieser Stelle verzichtet werden kann.2 Nach Leontjew können Motive nicht abgefragt werden, sondern sind an der emotionalen Färbung von Handlungen zu erkennen und aus den handlungsbegleitenden Emotionen zu erschließen. In der Sinnorientierung, d.h. im persönlich subjektiven Sinn, spiegeln sich die Motive wider. Dabei können verschiedene Motive das Subjekt zu Tätigkeiten anregen, die aber auch zu unterschiedlichen, im Widerspruch miteinander stehenden Zielen führen können. Auch Handlungen können mehreren Motiven und Zielen dienen. Über Motive werden vom Subjekt Lebensbedingungen und Tätigkeiten (wie z.B. die Aufnahme der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg) mit subjektivem Sinn versehen, der nicht mit der objektiven Bedeutung (dem Institutionsziel des Oberstufen-Kollegs: Abitur und Studierfähigkeit) übereinstimmen muss. Dieser subjektive Sinn ist gerichtet auf und korrespondiert mit Engagement und Emotionalität. So wie nach Leontjew Motive nicht abgefragt werden können, kann auch „subjektiver Sinn“ nicht abgefragt, sondern nur in der individuellen Entwicklung von Handlungsmöglichkeiten erfasst bzw. rekonstruiert werden. Er unterscheidet dabei Sinn bildende Motive als übergeordnete Motive, die mit dem Lebenssinn, also dem persönlichen Sinn, korrespondieren und stimulierende Motive, die nicht mit Sinnfragen gekoppelt sind, sondern lediglich Anregungsfunktion haben (vgl. Leontjew 1979). Bei der in diesem Forschungsprojekt durchgeführten Motivanalyse rücken Fragen nach dem Selbstverständnis der Jugendlichen in den Vordergrund. Es geht nicht darum, die Aussagen Jugendlicher zu beurteilen, sondern sie durch Rekonstruktion zu verstehen und ihre Wahrnehmung der Welt ernst zu nehmen. Über Deutungsmuster entwickelt das Individuum eine Orientierung in der sozialen Wirklichkeit und verknüpft dabei im Sinne eines Habitus Probleminterpretationen, Denk- und Argumentationsweisen und Handlungsausrichtungen. Deutungsmuster, die sich durch Erfahrungen konstituieren, können als „Wissenskonstruktionen“ bezeichnet werden, über die das Individuum seine Alltagswelt deutet und seine Wirklichkeit konstruiert. Deutungsmuster resultieren nicht direkt aus den unmittelbaren Handlungsabläufen, sondern sind Ergebnis der Interpretation des Handelns in einer sozialen Umwelt und enthalten die sozial vermittelten Bewertungen, d.h. Norm- und Normalitätsvorstellungen von Handlungszusammenhängen einer sozialen Gruppe, Schicht oder regionalen Bevölkerungsgruppe. Deutungsmuster werden durch die Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule, Jugendkultur, Peer-Group) oder durch die ‚Kulturindustrie’ erzeugt und vom Individuum angeeignet. Vor dem Hintergrund von Bildungs- und Lernprozessen müssen Deutungsmuster für das Subjekt als typisierende ‚Problemlösungen' verstanden werden. Auf Grundlage dieser theoretischen Vorannahmen ist dieser Teil der vorliegenden Untersuchung darauf ausgerichtet, die Deutungs- und Interpretationsleistungen der KollegiatInnen über ihre Ausbildung am Oberstufen-Kolleg zu Ausbildungsbeginn und ende darzustellen und der Frage nachzugehen, wie KollegiatInnen ihre Schullaufbahn und den Einfluss von Förderung und Beratung hierauf subjektiv bewältigen, verarbeiten und deuten. Hierzu werden ihre Argumentationsstrukturen hinsichtlich Ausbildungszielen, 2

Hierzu sei auf Koch-Priewe (1986) verwiesen, die Leontjews Tätigkeitstheorie auf dem Hintergrund der kognitions- und motivationstheoretischen Lerntheorien im psychologischen Diskurs ausführlich diskutiert und dabei subjektive didaktische Theorien von LehrerInnen, d.h. ihr alltägliches Handeln im Unterricht, analysiert und damit die Brauchbarkeit dieses Ansatzes für die Unterrichtsforschung aufgezeigt hat.

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Zukunftsplänen, Studienfachinteressen, Lernerwartungen und ihre Einschätzung von Lernschwierigkeiten sowie die Handlungsausrichtung im Lernprozess untersucht. Bei der Analyse und Beschreibung der bestehenden Orientierungs- und Deutungsmuster ist die Bestimmung des Verhältnisses von Subjektivität und Objektivität problematisch. Einerseits geht es um subjektive Interpretationen von Lernenden und damit um ihre mit der Ausbildung verknüpften Ziele, Motive, Lernerfolge und Lernschwierigkeiten. Andererseits soll die Analyse Bedingungen und Strukturen, die zu diesen Interpretationen und Deutungsmustern führen, sie hervorbringen und reproduzieren, herausarbeiten. Durch Herausarbeiten struktureller Gemeinsamkeiten und Unterschiede der subjektiven Interpretationen und Deutungsmuster werden grundlegende Aussagen zu Verarbeitungsund Bewältigungsmustern der schulischen Laufbahn in der gymnasialen Oberstufe möglich. Wesentlich ist, bestehende Differenzerwartungen an eine ‚andere’ Schule – z.B. im rekonstruktiven Vergleich mit vor dem Oberstufen-Kolleg besuchten Schulen – darzustellen. Die in Teil III vorzunehmende Motivanalyse soll also Aufschluss über Zuschreibungen und Phantasien geben, die Jugendliche mit einem spezifischen schulischen Reformprojekt und seinem Beratungs- und Förderangebot verbinden. 1.5.2 Handlungstypen als Ausdruck bestehender Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster Das theoretische Interpretationskonstrukt der Handlungstypen verweist auf den aktiven handlungssteuernden Aspekt des Lernhabitus (vgl. Schneider 2003, zur Habitusforschung vgl. Huber/ Portele 1983). Ziel der Analyse ist es, typische Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster (vgl. Lenz 1988) der KollegiatInnen aufzuzeigen, die als institutionalisierte Formen der tätigen Auseinandersetzung mit dem Bereich ‚Schule und Abitur’ bei Jugendlichen im kulturellen System verankert sind. Die Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster als spezifischer Ausdruck und Ergebnis im Prozess der Habitualisierung können über die Bildung von Handlungstypen in ihrer Vielfältigkeit transparent gemacht werden und ermöglichen so Schlussfolgerungen für spezifische Förderungs- und Beratungsbedarfe. Handlungstypen beschreiben dabei nicht Selbstetikettierungen der Jugendlichen oder ‚Schubladen’, in die bestimmte Jugendliche ‚einsortiert’ werden. Das Interpretationskonstrukt der Handlungstypen ist nicht nur darauf ausgerichtet, Handlungs- und Deutungsmuster der Interviewten zu beschreiben, sondern dient auch dem Zweck, auf schulische Ausbildung bezogene Handlungsentscheidungen zu erklären, Förder- und Beratungsbedarfe zu ermitteln und verweist auf die Problemstellung, zu deren Bearbeitung sie gebildet wurden. Dabei wird nicht vom Einzelfall auf die Allgemeinheit geschlossen, vielmehr stellen die Handlungstypen wiederkehrende Kombinationen eines Grundmusters dar. Handlungstypen sind „eine Abstraktion vom individuellen Einzelfall, die erst ins Blickfeld kommen kann, wenn die Orientierung am Einzelfall zugunsten einer Mehrzahl von Fällen aufgegeben wird. Im Fokus des Interesses steht das Gemeinsame in ähnlich gelagerten Fallgeschichten, alle individuellen Modifikationen werden vernachlässigt“ (Lenz 1988, S. 144). Hier wird die Nähe des Konstruktes „Handlungstypen“ zu Max Webers Konzeption des „Idealtypus“ als Grundlage der verstehenden Soziologie deutlich. So wie sich der Habitus nicht direkt beobachten lässt, sind auch seine charakteristischen Entwicklungsmerkmale, Deutungs- und Wahrnehmungsmuster und Handlungsschemata nicht beobachtbar, sondern müssen erschlossen werden: „Ziel der Analyse ist die Rekonstruktion eines objektiven Typus sozialen Handelns (Weber) in seinen konkreten fallspezifischen Ausprägungen. Dieser objektive Typus ist insofern 'Idealtypus', als er mit dem Zwecke konstruiert wird, einerseits gegenüber der Empirie insofern systematisch unrecht zu

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haben, als er das Besondere im Einzelfall nur unzulänglich wiedergibt, andererseits aber gerade dadurch dem Einzelfall zu seinem Recht zu verhelfen, dass er das historisch Besondere vor dem Hintergrund struktureller Allgemeinheit sichtbar abhebt“ (Soeffner 1985, S. 118). Für die Typenbildung als Arbeits- und Interpretationsmethode der qualitativen Sozialforschung beschreibt Gerhardt (1995) zunächst eine konzeptionelle Unschärfe dieser Auswertungsmethode. Sie kritisiert die Mehrzahl einer an Typenbildung orientierten Forschung dahingehend, dass das Material häufig zu ad hoc gebildeten Typen geordnet wird, die illustrativen Anschauungscharakter haben, wobei wissenschaftliche Erklärung als Ziel qualitativer Datenanalyse unberücksichtigt bleibt. Auf diesem Hintergrund hat sie auf der Grundlage von Webers Methode des idealtypischen Verstehens Prüfschritte formuliert, um die sinnhafte Verwendung der idealisierten Typen zu gewährleisten: Durch Kenntnis der Forschungsliteratur muss der Kreis möglicher Idealtypen begrenzt werden, jedes Element bei der Konzeption des Idealtypus muss notwendig sein, so dass sein simuliertes Fehlen zu einem anderen Ergebnis führt, und die gebildeten Typen müssen sich einer Erfahrungsprobe unterziehen, d.h. der Überprüfung des gebildeten Typus an der sozialen Realität, aus der sie entwickelt worden sind. Aus diesem Prüfverfahren resultieren Begriffe, die in ihrer Entstehungsweise für Weber (1904) genetisch und heuristisch sind, da sie einen Entwicklungsverlauf kennzeichnen und auf verstehende Erkenntnis ausgerichtet sind. Nach Weber ist der Idealtypus „nicht eine Darstellung des Wirklichen, aber will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleihen“ (Weber 1904, S. 190). Die Verwendung des Handlungstypen-Konzepts in dieser Arbeit richtet sich darauf, Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster einer experimentellen gymnasialen Oberstufe durch die SchülerInnen aufzuzeigen, ohne vorschnell zu verallgemeinern. Die dargestellten Typen bilden ein Raster von Schulinterpretationen, angestrebten Zielen und damit verbundenen Handlungsausrichtungen von jungen Erwachsenen innerhalb ihrer Bildungskarrieren. Durch Kontrastierung der Typen können wesentliche Grundzüge von Deutungsmustern und Handlungsschemata in ihrer Bandbreite dargestellt werden.

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2. Forschungsfragen und Forschungsziele Mit der Untersuchung werden Zielsetzungen auf unterschiedlichen Ebenen verfolgt. Einerseits geht es darum, an aktuelle Forschungs- und Diskussionslinien in den Themenbereichen Heterogenität, Beratung und individuelle Förderung in der gymnasialen Oberstufe anzuknüpfen. Andererseits liegt ein eher institutionsbezogenes Erkenntnisinteresse und Ziel der Untersuchung darin, die Beratungs- und Förderpraxis und ihre Instrumente am Oberstufen-Kolleg evaluativ zu dokumentieren, Schwachstellen aufzuzeigen, Hinweise zur Systemoptimierung zu geben und diese schrittweise in den Schulentwicklungsprozess einzuspeisen. Vor diesem Hintergrund richtet sich der Fokus des Projekts auf drei thematische Ebenen:  „Bildungsbiographie und schulische Sozialisation in qualitativ-längsschnittlicher Analyse“  „Förder- und Unterstützungsangebote am Oberstufen-Kolleg aus Sicht der Schüler und der Lehrkräfte als Experten“  „Empfehlungen und Optimierungsanlässe für die Förder- und Beratungsstruktur des Oberstufen-Kollegs“ Die diesen drei Teilbereichen zugeordneten Forschungsfragen und Arbeitshypothesen werden im Folgenden entfaltet und näher erläutert. „Bildungsbiographie und schulische Sozialisation in qualitativ-längsschnittlicher Analyse“ Im ersten Teil der Untersuchung sind insbesondere Themen und Fragebereiche relevant, die sich auf die bisherige Bildungsbiographie, schulische Sozialisationserfahrungen und Lernerwartungen der SchülerInnen beziehen. Die problemzentrierten Interviews erfassen bildungsgangbezogene Vorerfahrungen der SchülerInnen: Es werden Schulformwechsel, Klassenwiederholungen, Schulabbrüche und subjektive Sichtweisen hierzu erfragt. Wie schätzen SchülerInnen schulische Erfolge und Misserfolge ein und wie bewerten sie retrospektiv ihre bisherigen Schulerfahrungen? Dabei wird der soziodemographische Hintergrund berücksichtigt: Die aktuelle Lebenssituation, mögliche Berufs- und Studienperspektiven werden ebenso thematisiert wie Berufsvorstellungen und Bildungsaspirationen, die Eltern und andere Bezugspersonen auf sie richten. Die folgenden Forschungsfragen und Arbeitshypothesen beziehen sich auf die Relevanz bildungsbiographischer Erfahrungen vor der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg und deren Relevanz für einen erfolgreichen Weg zum Abitur und damit die Fortsetzung der Schullaufbahn: 

Bildungsbiographische Vorerfahrungen: In welcher Weise beeinflussen vorangegangene bildungsbiographische Erfahrungen (z.B. Kompetenzzuschreibungen, Erfahrungen mit schulischer Beratung und Förderung, Erfolge/ Misserfolge) die Art der benötigten Unterstützung und Förderung? In welcher Weise wirken sich bildungsbiographische Erfahrungen der SchülerInnen und die in der bisherigen Schullaufbahn entwickelten lern- und schulrelevanten Handlungs- und Bewältigungsmuster auf den Umgang mit Problemlagen im Ausbildungsverlauf aus?

Grundsätzlich gehen wir bei der Betrachtung der bildungsbiographischen Verläufe von der Hypothese aus, dass die vorangegangenen bildungsbiographischen Erfahrungen der SchülerInnen (z.B. Kompetenzzuschreibungen, Überzeugungen über nicht behebbare Schwächen etc.) die Art der benötigten Unterstützung und Förderung am

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Oberstufen-Kolleg und den individuellen Ausbildungsverlauf beeinflussen und zur Erklärung hier auftretender Problemlagen herangezogen werden können. 

Längsschnittliche Analyse der Zeit am Anfang und am Ende der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg: Welche Lernerwartungen und Ziele verbinden KollegiatInnen mit der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg? Wie gehen sie mit Schwierigkeiten und Problemen im Lernprozess um? Welche Erfahrungen haben sie bisher im Umgang mit Problem- und Krisensituationen am Oberstufen-Kolleg gemacht?

Wir gehen davon aus, dass die Selbsteinschätzung des eigenen Bildungsweges und das Selbstkonzept wesentliche Faktoren sind, die den Ausbildungsverlauf (mit-) bestimmen können. Sie müssen deshalb zentrale Ausgangspunkte bei der Entwicklung und Ausgestaltung der am Oberstufen-Kolleg notwendigen Förderangebote sein. Da sie zudem relevant sind für die Fähigkeit und Bereitschaft der KollegiatInnen, Förderangebote aufzugreifen, sind sie, ebenso wie die subjektiv bestehenden Motive und Ziele, die mit dem Abitur verbunden werden, bei der Konzeption bestehender Förderangebote zu berücksichtigen. Motive und Ziele der KollegiatInnen sind ausschlaggebend für ihre Fähigkeit und Bereitschaft, Förderangebote zu nutzen bzw. in Anspruch nehmen zu können. „Förder- und Unterstützungsangebote am Oberstufen-Kolleg aus Sicht der Schüler und der Lehrkräfte als Experten“ Ein zweiter Schwerpunkt der Studie bezieht sich auf Förderbedingungen und Fördermöglichkeiten am Oberstufen-Kolleg in der Wahrnehmung der KollegiatInnen und der Lehrkräfte als fördernde Experten: 



Kenntnis und Anlässe für die Inanspruchnahme schulischer Förder- und Beratungsangebote: Wie beurteilen KollegiatInnen die Qualität der Beratungs- und Förderangebote des Oberstufen-Kollegs? Welche Beratungsund Informationsangebote sind ihnen bekannt, welche nehmen sie zu Beginn der Ausbildung und im weiteren Ausbildungsverlauf aus welchen Gründen und Motiven wahr? Wer sind für sie wichtige AnsprechpartnerInnen? Wo fehlen ihnen Angebote? Die Sicht der Experten auf Förderung und Beratung: Wie gestaltet sich die Praxis schulischer Beratung und individueller Förderung aus Sicht der Lehrkräfte als fördernde Akteure? Wie ‚funktioniert’ die Kommunikation zwischen den Beteiligten? Wie gestalten sich Austausch und Kommunikation über Ziele und Aufgaben, bzw. wie gut gelingt netzwerkartiges Arbeiten?

„Empfehlungen und Optimierungsanlässe für die Förder- und Beratungsstruktur des Oberstufen-Kollegs“   

Wie ist Qualität der Förder- und Beratungsangebote des Oberstufen-Kollegs aus Sicht der Schüler und der Lehrkräfte zu beurteilen? Welche Bedeutung weisen SchülerInnen den Beratungs- und Förderangeboten für ihren Ausbildungsverlauf zu? Welche Förderinstrumente und Beratungsangebote sind für welche KollegiatInnen(-gruppen) in deren Wahrnehmung besonders hilfreich und unterstützend?

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Welche Kooperationsbeziehungen bestehen zwischen den beteiligten (Förder-) Akteuren? Welche Potentiale und Defizite lassen sich an den Förderinstrumenten des Oberstufen-Kollegs feststellen, welche Optimierungsempfehlungen können gegeben werden?

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II. Individuelle Förderung in der Oberstufe. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung an einer Versuchsschule Teil II des Berichts gibt einen Einblick in Anlage und die Ergebnisse der Untersuchung. Im Folgenden werden die methodische Herangehensweise der Studie (Kap. 3), die Elemente des Förderund Beratungssystems des Oberstufen-Kollegs als Untersuchungsgegenstand (Kap. 4) sowie die Untersuchungsstichprobe (Kap. 5) vorgestellt. Kapitel 6, 7, 8 und 9 nähern sich dem Themenkomplex schulische Förder- und Beratungsangebote auf jeweils unterschiedliche Weise: Kapitel 6 stellt zunächst vier SchülerInnen, deren bildungsbiografische Voraussetzungen und Lernerfahrungen am Oberstufen-Kolleg exemplarisch in Portraitform vor. Im Anschluss daran werden in Kapitel 7 einzelne Förder- und Beratungsangebote der Versuchsschule aus Sicht der KollegiatInnen auf der Grundlage einer querschnittlich-themenzentrierten Auswertung vorgestellt. Die Sicht der ExpertInnen, die sich als Fachleute und AnsprechpartnerInnen für Förderung und Beratung in einem komplexen institutionellen Gefüge bewegen, wird in Kapitel 8 vorgestellt. Kapitel 9 stellt schließlich eine Weiterentwicklung bzw. Verdichtung der Kapitel 6 und 7 dar: Auf der Grundlage der Motive, Ziele und Lernerwartungen der befragten SchülerInnen werden Handlungstypen als Abstraktionen bestehender Bewältigungsmuster gebildet.

3. Methodische Herangehensweise und Forschungsdesign Die Untersuchung orientiert sich an den in Teil I referierten Studien zu SchülerInnenbiographien sowie an Untersuchungen zum Umgang mit Heterogenität in der Schule. Innerhalb dieses breiten theoretischen Feldes liegt ein thematischer Schwerpunkt der Untersuchung auf Förder- und Beratungsangeboten in einer Versuchsschule der Sekundarstufe II. Die prozessorientierte und – v.a. in der ersten Erhebungsphase – explorative bildungsbiographische Ausrichtung der Untersuchung begründet den methodischen Zuschnitt über ein qualitatives Längsschnittdesign: KollegiatInnen des Oberstufen-Kollegs werden im Verlauf ihrer Ausbildung zu zwei Erhebungszeitpunkten (Ende des ersten und im fünften Semester ihrer Ausbildung) befragt, wodurch Konstanten und Veränderungen in den subjektiven Sichtweisen und Einschätzungen deutlich werden. Ausgehend von einem bildungsbiographischen Ansatz wurden bei der ersten eher breit angelegten Interviewserie im Februar/März 2005 die Schwerpunkte auf die Bereiche Bildungsbiographie (bisherige schulische Erfahrungen, Elternhaus, Lebenssituation), schulische Sozialisationsmuster (Motive, Erwartungen, Ziele usw.) und Förder- und Beratungsinstrumente (Kenntnis, Inanspruchnahme, Erfahrungen, Nutzungsanlässe) gelegt. Die zweite Erhebung im Februar 2007 fokussierte besonders auf schulbiographische Entwicklungen der SchülerInnen unter Berücksichtigung bestimmter Schlüsselsituationen (schulische Lernerfolge und Lernschwierigkeiten) im Ausbildungsverlauf. Obwohl die Untersuchung als methodischen und methodologischen Zugang eine qualitative Herangehensweise wählt, geht es doch auch darum, quantitative Daten für die Untersuchungsfragen nutzbar zu machen und diese mit den qualitativen Daten aus den Interviews zu verbinden. Das Forschungsdesign versucht, qualitative und quantitative Erhebungsverfahren und Datenformen miteinander zu kombinieren, um hierdurch die Kenntnis des Untersuchungsgegenstands zu erweitern (vgl. Bortz/ Döring 2002; Flick 2004). Während die quantitativen Daten (u.a. zum sozialen, kulturellen und schulischen

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Hintergrund), auf deren Grundlage die Stichprobe gezogen wurde, dem bereits vorhandenen Pool der Schulstatistik für den gesamten Schülerjahrgang 2004 entstammen3, wurden qualitative Daten bei der ersten und zweiten Interviewserie erhoben. Darüber hinaus wurden die subjektiven Einschätzungen und Deutungsmuster der KollegiatInnen zur Relevanz der Förder- und Beratungsangebote am OberstufenKolleg im ersten Interview zu Beginn der Ausbildung mit einem Kurzfragebogen erfasst (vgl. Boller/ Marth/ Müller/ Rosowski/ Schneider 2006). Das Forschungsdesign impliziert eine Verschränkung unterschiedlicher Perspektiven auf das Thema schulische Förderung und Beratung. Ergänzend zu den Befragungen der KollegiatInnen wurden neben der Auswertung der Interviews Personen ExpertInnen bzw. Lehrkräfte interviewt, die im Bereich der Beratung und Förderung am Oberstufen-Kolleg tätig sind. Hiermit wurde das Ziel verfolgt, Informationen institutioneller FunktionsträgerInnen zu den vorhandenen Beratungs- und Fördermöglichkeiten des Oberstufen-Kollegs in einer Synopse zusammenzustellen und die Einschätzungen der unterschiedlichen Akteursgruppen hinsichtlich relevanter Kriterien (z.B. Bekanntheitsgrad und Nutzungsformen der Angebote, Beratungsanlässe, Selbst- bzw. Fremdbeschreibung der Arbeitsbereiche der Akteure, Vernetzung) abzugleichen. Im Vorfeld der ExpertInneninterviews wurde eine Recherche zu schulinternen Dokumenten durchgeführt. Im Folgenden wird das methodische Instrumentarium der Studie näher beschrieben. 3.1 Das problemzentrierte Interview im Forschungskontext Beim problemzentrierten Interview handelt es sich um eine Sonderform des qualitativen, leitfadengestützen Interviews. Es wird in dieser Studie als Methode zur Analyse gesellschaftlicher Problemstellungen, Fragen und Alltagserfahrungen von Akteuren betrachtet. Bei dieser „gegenstands- und situationsorientierten Methode“ spielen „individuelle und kollektive Handlungsstrukturen und Verarbeitungsmuster gesellschaftlicher Realität“ (Witzel 1982, S. 67) eine besondere Rolle. Sie lässt es durch eine problem- und themenbezogene und aktive Gesprächsführung (Nachfragen, Zusammenfassen usw.) zu, die Problemwahrnehmungen der Befragten unabhängig von den Annahmen des Forscherteams zur Entfaltung kommen zu lassen. Bestimmte Gesprächs- und Fragetechniken wie allgemeine oder spezifische Sondierungen dienen der Material- und Verständnisgenerierung und helfen, „den Untersuchungsgegenstand in aktiverer Form als üblich explorieren [zu] können“ (Witzel 1982, 93).4 Da der retrospektive (bildungs-) biographische Verlauf der Ausbildung der KollegiatInnen besonders im ersten Teil der Untersuchung von Interesse war, wurde das problemzentrierte Interview mit

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Es handelt sich dabei um Daten, die bei der Eingangsbefragung der SchülerInnen des Jahrgangs 2004 (TIMSS/II Studie von Brandt/ Schwippert 2006) gewonnen wurden. 4 Zur allgemeinen Sondierung können Fragemuster bzw. Erzählaufforderungen wie z.B. „Was passierte da im Einzelnen?“, „Woran denkst Du da besonders?“ (Witzel 1982, S. 99) oder Wiederholungen gezählt werden. Sie dient besonders der Generierung sprachlichen Materials. Spezifische Sondierungen greifen auf Fragemuster wie z.B. Zurückspiegelungen, Verständnisoder Konfrontationsfragen zurück und haben in erster Linie verständnisgenerierende und thematisch vertiefende Funktion.

24

narrativen Elementen (vgl. Schütze 1977), die einen Erzählfluss stimulieren und ermöglichen sollten, angereichert.5 3.1.1 Kurzfragebogen als Ergänzung der problemzentrierten Interviews Zu Abschluss der Interviews der ersten Erhebungswelle wurde den befragten KollegiatInnen ein Kurzfragebogen vorgelegt, mit dem die Einschätzungen zur subjektiven Relevanz der Förder- und Beratungsangebote am Oberstufen-Kolleg erfasst wurden. Dieses Zusatzinstrument besitzt für die Untersuchung einen heuristischen Wert und sollte dabei helfen, die subjektiven Relevanzen der Förder- und Beratungsangebote der Versuchsschule deskriptiv zu erfassen.6 3.1.2 Telefoninterviews mit AbbrecherInnen Da die Studie einen Schwerpunkt auf den Verlauf individueller Bildungswege legt, mussten einschneidende Ereignisse in der Schullaufbahn der KollegiatInnen dokumentiert und in den Untersuchungskontext einbezogen werden. Zu den wohl markantesten Einschnitten gehören Klassenwiederholungen oder Ausbildungsabbrüche. Aus diesem Grund wurden AbbrecherInnen (n=3) zusätzlich zur ersten Befragung telefonisch zu den Gründen und Begleitumständen des Abbruchs, ihren Wahrnehmungen der Förderung und Beratung am Oberstufen-Kolleg und zu ihren schulischen bzw. beruflichen Zukunftsplänen befragt. Mit den rückgestuften SchülerInnen wurden im Januar/Februar 2008 problemzentrierte Interviews geführt, in denen die Sicht der Wiederholer auf die entstandenen Problemkonstellationen und die Förderung und Beratung am OberstufenKolleg rekonstruiert wurde. 3.2 Das ExpertInneninterview im Forschungskontext Als weiteres Forschungsinstrument ist das ExpertInneninterview zu nennen, das in der zweiten Phase der Untersuchung zum Einsatz kam. Nach Meuser und Nagel (1991) sind Zielgruppe von ExpertInneninterviews „FunktionsträgerInnen eines organisatorischen oder institutionellen Kontextes. Die damit verknüpften Zuständigkeiten, Aufgaben, Tätigkeiten und die aus diesen gewonnenen exklusiven Erfahrungen und Wissensbestände sind die Gegenstände des ExpertInneninterviews“ (ebd., S. 444). Der grundlegende Unterschied zwischen ExpertInneninterview und anderen Formen des Interviews ist, dass bei ersterem nicht die Gesamtperson mit ihren je individuellen Einstellungen, Überzeugungen und Sichtweisen im Mittelpunkt steht, sondern der Fokus auf die in einem institutionellen oder organisatorischen, durch eine spezifische Problemstellung (Förderung und Beratung) charakterisierten Kontext agierenden Personen gerichtet wird. Die Gruppe der ExpertInnen wird in diesem Zusammenhang, wie bereits erwähnt, auf TutorInnen,

Als Beispiele für narrative Elemente können Einführungsfragen (z.B. „Kannst du dich noch erinnern, mit welchen Erwartungen und Zielen du ans OS gekommen bist?“) und Bilanzierungsfragen (z.B. „Wie würdest du deine Erfahrungen, die du in diesen Schulen gemacht hast, im Nachhinein beschreiben: Vielleicht kannst du dich an für dich wichtige Schlüsselerlebnisse erinnern?“) genannt werden. Fragen dieser Art haben im Kontext des problemzentrierten Interviews in erster Linie materialgenerierende Funktion. 6 Die Ergebnisse des Kurzfragebogens finden sich im ersten Bericht der Forschungsgruppe (vgl. Boller/ Marth/ Müller/ Rosowski/ Schneider 2006). Aufgrund des insgesamt eher geringen Ertrags dieser ergänzenden Datenquelle wurde dieser Ansatz nicht weiter verfolgt. 5

25

LaufbahnberaterInnen, Pädagogische Leitung, Lehrende aus Brücken- bzw. Basiskursen, Schulsozialarbeit und psychosoziale BeraterInnen begrenzt. 3.3 Die Dokumentenanalyse im Forschungskontext Ein Dokument hat – ähnlich wie andere qualitative Daten (z.B. Interviewdaten, Beobachtungsprotokolle) auch – eine „eigenständige Datenebene [auf der] methodisch gestaltete Kommunikationszüge behandelt und analysiert werden“ (Wolf 2000, S. 511). Die Dokumentenanalyse wird im Kontext dieses Projekts als Methode definiert, „mit der man aus jeder Art von Bedeutungsträgern durch systematische und objektive Identifizierung ihrer Elemente Schlüsse ziehen kann, die über das einzelne analysierte Dokument hinaus verallgemeinerbar sein sollen“ (Kromrey 1995, S. 232). Nach diesem Verständnis kann das Verfahren in zweierlei Hinsicht als Instrument zur Informationsgewinnung dienen: Der Forscher kann zunächst über Textteile auf Tendenzen in den Texten bzw. Dokumenten selbst schließen. Darüber hinaus können „die herausgelesenen Informationen genutzt werden, um Aussagen über die soziale Realität außerhalb der Texte (Dokumente) zu gewinnen“ (ebenda, S. 232). Unsere Untersuchung bezieht neben den Interviewdaten auch hausinterne Dokumente als ergänzende und nicht-reaktive Datenquelle ein. Mit Dokumenten können Texte, Akten und Unterlagen aller Art wie z.B. Ausbildungs- und Prüfungsordnung, Grundordnung, Stellungnahmen einzelner AkteurInnen, Selbstdarstellungen der Institution, Arbeitspapiere einzelner FunktionsträgerInnen, Mitteilungen an das Kollegium, Erlasse, Arbeitsplatzbeschreibungen sowie Ergebnisse bisheriger Forschungen zum Thema Heterogenität am Oberstufen-Kolleg gemeint sein. Mit diesem Verfahren wurden die bislang vorliegenden Dokumente des Oberstufen-Kollegs zu den Themen Förderung, Beratung und Heterogenität gesichtet, was in erster Linie der Orientierung im Feld und der Vorbereitung der ExpertInneninterviews diente. Der Auswertungsprozess der Dokumente lässt sich folgendermaßen beschreiben: Die Dokumente wurden gesammelt und bestimmten Themen bzw. Bereichen (Förderung, Beratung, Heterogenität) zugeordnet. Anschließend wurden von den Texten in einem ersten Reduktionsschritt thematische Zusammenfassungen angefertigt. Diesem Schritt folgte eine weitere Komprimierung des Materials, indem – wiederum themenorientiert – einzelne Untersuchungsfragen (z.B. „Durch welche Instrumente versucht die Einrichtung gefährdete SchülerInnen individuell zu unterstützen?“) in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wurden.

26

4. Das Oberstufen-Kolleg als Forschungsfeld. Elemente schulischer Förderund Beratungsangebote im Überblick Das Oberstufen-Kolleg verfügt über verschiedene institutionalisierte Formen schulischer Förderung und Beratung. Hierzu gehören unter anderem:       

Brücken- und Basiskurse Informationsveranstaltungen Laufbahnberatung Pädagogische Leitung Psychosoziale Beratung Tutoriat Schulsozialarbeit.

Die in der vorliegenden Studie berücksichtigten Instrumente werden im Folgenden genauer dargestellt. Hierbei wird zwischen psychosozialer und sozio-emotiver Beratung einerseits und schulorganisatorischer Beratung andererseits unterschieden. Das Schulklima wird als eigenständiger und ‚weicher’ Einflussfaktor auf Schullaufbahnen betrachtet. Es soll vorausgeschickt werden, dass die folgende Darstellung keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt; vielmehr dient sie der Illustration der vielfältigen Möglichkeiten schulischen Förder- und Beratungshandelns und soll eine Grundlage für die Ergebnisdarstellung schaffen. Brücken- und Basiskurse In der Eingangsphase der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg (entspricht der 11. Klasse des Regelschulsystems) stehen die Einführung in Arbeits- und Leistungsformen der Versuchsschule, Orientierung über das Spektrum der Studienfächer, Festigung bzw. Korrektur der Studienfachwahl, Förderung basaler Kompetenzen und Ausgleich von Defiziten im Mittelpunkt. Mit dem Beginn des so genannten ‚neuen’ Oberstufen-Kollegs im Jahr 2002 wurden Basis- und Brückenkurse eingeführt. Sie sollen „die für die allgemeine Studierfähigkeit erforderlichen grundlegenden Fähigkeiten“ (Oberstufen-Kolleg des Landes Nordrhein-Westfalen 2002) in den Bereichen Deutsch, Mathematik, fortgesetzter Fremdsprache sowie Computer Literacy vermitteln. Dabei dienen die Brückenkurse in erster Linie dazu, „partielle (…) Defizite in der von der Sekundarstufe I erwarteten Ausbildung“ (Oberstufen-Kolleg des Landes Nordrhein-Westfalen 2002) auszugleichen. Belegverpflichtungen für die Brückenkurse werden in den so genannten Eingangsdiagnosen vor Ausbildungsbeginn festgelegt. Die Kombination beider Kursarten ist für das Eingangsjahr konzipiert und hat das Ziel, die KollegiatInnen eines Jahrgangs auf ein gemeinsames Leistungsniveau zu bringen bzw. systematisch auf die Anforderungen von Hauptphase und Universitätsstudium vorzubereiten. Insbesondere mit den Basiskursen konzipierte das Oberstufen-Kolleg eine Lehr- und Lernform, die auf wachsende kulturelle, soziale und leistungsbezogene Heterogenität, unterschiedliche Eingangsvoraussetzungen sowie den Trend zur Individualisierung von Bildungsgängen reagiert. Informationsveranstaltungen Sollen Beratungs- und Förderangebote von Lernenden freiwillig, selbstständig und selbst initiiert in Anspruch genommen werden, setzt dies voraus, dass ihnen diese Angebote als Teilelemente des schulischen Unterstützungsnetzwerks bekannt und sie darüber informiert sind. Der Bekanntheitsgrad ist dabei notwendige, jedoch nicht hinreichende

27

Voraussetzung für Inanspruchnahme (vgl. Zumhasch 1999). Damit sind bildungsgangrelevante Information (z.B. zu Laufbahnentscheidungen, fachlichen Leistungen, Leistungsdefiziten), der Zugang dazu sowie deren selbstverantwortliche, zweckorientierte und zielgerichtete Nutzung Bestandteil erfolgreicher Beratung und Förderung in der Oberstufe. Das Oberstufen-Kolleg bietet dem eigentlichen Ausbildungsbeginn zeitlich vorgelagerte allgemeine Informationsveranstaltungen („Tag der offenen Tür“, „Schnuppertage“), bei denen sich die Einrichtung interessierten Schülern präsentiert. Darüber hinaus werden Informationsveranstaltungen angeboten, die sich im Ausbildungsverlauf mit aktuellen Themen und Fragen der KollegiatInnen befassen: Neben einführenden Informationstagen, an denen neue Jahrgänge mit der Einrichtung und ihren Besonderheiten vertraut gemacht werden, sind dies wiederkehrende themenspezifische Beratungstermine (z.B. Wahlen der Grundkurse, Studienfächer, Berufsbzw. Studiengangentscheidung) sowie Jahrgangsversammlungen, bei denen KollegiatInnen eines Jahrgangs themenspezifisch informiert werden. Darüber hinaus finden Veranstaltungen zu ‚tagesaktuellen’ Themen und Entwicklungen statt (z.B. bei besonderen Anlässen, wie etwa formale Regelungen zur Ausbildungs- und Prüfungsordnung). Laufbahnberatung (Jahrgangskoordination, Oberstufenkoordination) Laut Verordnung über Bildungsgang und Abiturprüfung der gymnasialen Oberstufe hat die Schule die Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler sowie deren Erziehungsberechtigte über die wesentlichen Regelungen für den Bildungsgang in der gymnasialen Oberstufe [zu informieren]. Sie berät die Schülerinnen und Schüler bei der Wahl der Schullaufbahn und prüft zu Beginn eines jeden Schulhalbjahres, ob die Wahl- und Belegungsbedingungen erfüllt sind. Beratung und Prüfung sind zu dokumentieren.“ (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2006). Diese schulrechtlichen Vorgaben werden am Oberstufen-Kolleg seit 2002 durch die Laufbahnberatung umgesetzt. Ihre Aufgaben sind in der Ausbildungs- und Prüfungsordnung festgelegt. Dabei steht den KollegiatInnen eines Jahrgangs für die Dauer ihrer dreijährigen Ausbildung ein/e Lehrende/r als AnsprechpartnerIn zur Verfügung für Fragen, die juristische Aspekte von Ausbildung und weiterer Laufbahn betreffen (z.B. hinsichtlich der Prüfungsanforderungen und -richtlinien). Die Laufbahnberatung berät KollegiatInnen in regelmäßigen Sprechstunden zu bildungsgangrelevanten Fragen. Informationen der Laufbahnberatung sind rechtsverbindlich. Pädagogische Leitung Die Funktion des Pädagogischen Leiters bzw. der Pädagogischen Leiterin ist seit 1980 in der Grundordnung des Oberstufen-Kollegs institutionell verankert. Zu den Aufgaben der Pädagogischen Leitung gehören die Beratung des Kollegiums „in Fragen der organisatorischen und pädagogischen Gestaltung der Unterrichtsarbeit (…) [bzw.] in fächerübergreifenden methodischen und didaktischen Fragen, Rahmenvorgaben“ und die „Beratung in pädagogischen Fragen der Unterrichtsorganisation (Kurse, Leistungsbewertung)“ (§ 15 GOK). Sie berät ebenso die KollegiatInnen und hat hierzu Einsicht zu nehmen „in die Kursdokumentation (…) […] bzw. in die Leistungsnachweise“ (ebd.). Der Pädagogischen Leitung obliegen „Wahlfachwechsel auf Antrag, Rückstufung, Entlassung und Beurlaubung von Kollegiaten“ (ebd.). Sie ist außerdem für die „Fortbildungsangelegenheiten der Lehrenden“ zuständig (ebd.). Erscheint ratsam oder

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wird es gewünscht, kann „der Pädagogische Leiter an der Sitzung des Kollegiatenrats teilnehmen“ (§ 24 Abs. 3 APO-OS). Die Pädagogische Leitung bietet regelmäßige Sprechzeiten an, die KollegiatInnen können sich über Listen für Gesprächstermine anmelden. Außerreguläre Termine können nach Bedarf abgesprochen werden. Psycho-soziale Beratung (Schulpsychologie) Aufgabe von SchulpsychologInnen ist die Unterstützung der Schule im Bereitstellen von Lehr-, Lern- und Lebensbedingungen, die kognitives, soziales und emotionales Lernen der Lernenden bestmöglich anregen und begleiten und insbesondere die psychische Gesundheit der an Schule Beteiligten unterstützen und fördern. Das umfasst Prävention von Lern-, Lehr- und Verhaltensproblemen sowie Intervention, d.h. Mitwirkung bei der Veränderung individueller Lehr-, Lern- und Lebensbedingungen und Einflussgrößen der Institution Schule unter Einbeziehen von Eltern, LehrerInnen und anderen Akteuren. Insbesondere einzelne SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern suchen bei der Schulpsychologie Beratung und Hilfe. Mittelpunkt des Aufgabenbereichs von SchulpsychologInnen ist die schulpsychologische Einzelfallhilfe, nachdem zuvor Diagnostik als Basis für Schullaufbahnberatungen Schwerpunkt der wenigen bis dahin tätigen SchulpsychologInnen war. In den folgenden Jahren kam es zu einer Ausweitung der Tätigkeiten im Bereich Lehrerfortbildung, Mitarbeit bei Schulentwicklung und Durchführung präventiver Trainingsangebote (vgl. Häring / Kowalczyk 2001). Am Oberstufen-Kolleg erfüllt die „psycho-soziale Beratung“ (PSB) mehrere Aufgaben dieses Spektrums der Schulpsychologie. Im Mittelpunkt der Tätigkeit stehen Probleme, die nicht notwendigerweise als schulisch charakterisiert werden müssen, aber dennoch Einfluss auf schulische Leistungen haben können. Deshalb ist die psycho-soziale Beratung mit einer Psychologin und einem Psychologen besetzt, die offene Sprechstunden anbieten. Diese Beratung fungiert als Anlaufstelle bei persönlichen, familialen und schulischen Problemen und Krisen der KollegiatInnen, gibt Hilfestellung, schafft Kontaktmöglichkeiten und bietet kurzzeitige psychologische Betreuung oder Workshops an. Schulsozialarbeit In den 1970er Jahren entstand als Folge reformpädagogisch orientierter Ansätze zunächst vor allem in Gesamtschulen der Bereich Schulsozialarbeit. Hiermit wurde das Ziel verfolgt, durch Einzel- und Gruppenarbeit benachteiligten Kindern und Jugendlichen bessere Lern- und Problemlösekompetenzen zu vermitteln. Von dieser Defizitorientierung wurde in den vergangenen Jahren zunehmend Abstand genommen: Angebote von Schulsozialarbeit sind inzwischen in unterschiedlichsten Schulformen etabliert und integrativ angelegt; sie setzen auf enge netzwerkartige Kooperation mit den Lehrkräften und Vernetzung mit außerschulischen Institutionen. Neben dem Bezug auf schulische, soziale und psychische Lebenssituationen von Lernenden und der Verbesserung der Schulkultur gehört dazu auch Beratung der Eltern (vgl. Drilling 2001; Schmidtchen 2004; Streblow 2005). Am Oberstufen-Kolleg existiert die Schulsozialarbeit als fest etabliertes Angebot seit 1998. Dort arbeiten eine Diplom-Sozialpädagogin und eine Jahrespraktikantin des Fachbereichs Sozialwesen. Zu den Aufgaben der Schulsozialarbeit gehören neben sozialpädagogischer Beratung in Form von Einzelfallberatung Freizeitpädagogik (Angebote im ‚Kulturcafe’), Beratung zu Ausbildungsfinanzierung und Präventionsarbeit

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durch Informationsveranstaltungen zu Themen wie Suchtmittelkonsum, HIV und Gewalt. Weiterer fester Bestandteil der Schulsozialarbeit ist die verwaltungstechnische und pädagogische Tätigkeit im Zusammenhang mit dem KollegiatInnen-Wohnheim (vgl. Schultz 2007). Die Schulsozialarbeit am Oberstufen-Kolleg arbeitet gemäß einem lebensweltorientierten Ansatz und berücksichtigt Ressourcen und Belastungen der KollegiatInnen mit dem Ziel der Förderung von Integration und Partizipation im Lebensraum Schule. TutorInnensystem (TutorInnen, BeratungslehrerInnen) Tutorenmodelle wie das am Oberstufen-Kolleg realisierte stellen in der Beratungslandschaft der Sekundarstufe II eine Ausnahme dar. Beim TutorInnensystem des Oberstufen-Kollegs handelt es sich um einen spezifischen Unterstützungsansatz, der im Rahmen dieser Studie untersucht wurde. Im Zuge der Veränderung der Ausbildungsstruktur um das Jahr 2002 wurde die Funktion des Tutoriats neu definiert: Die ‚offiziellen’ Aufgaben der TutorInnen liegen seit der Systemumstellung in der Betreuung der KollegiatInnen sowie im „schulsozialen Bereich“, wobei die TutorInnen ausdrücklich nicht für „ Ausbildungs- und Laufbahnberatungen im juristischen Sinn“ (Oberstufen-Kolleg 2003, S. 4) verantwortlich sind. In der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren kommt ihnen eine vermittelnde und informierende Funktion zu: „Das Ergebnis der Beratungen [zwischen KollegiatInnen und der Laufbahnberatung] wird an die TutorInnen weitergegeben“ (ebd.). Das Tutoriat des ‚neuen’ Oberstufen-Kollegs gibt den KollegiatInnen die Möglichkeit, Lehrpersonen zu wählen, die bei Schullaufbahnproblemen als feste AnsprechpartnerInnen direkt ansprechbar sind. Dazu zählen etwa individuelle Beratung bei Problemen auf Leistungsebene, Fragen zum Portfolio, aber z.B. auch Vermittlung bei Differenzen mit LehrerInnen und Mediationsfunktionen. Oft sind TutorInnen zudem AnsprechpartnerInnen bei persönlichen Problemlagen. Während sich TutorInnensysteme an Regelschulen in erster Linie am Prinzip „SchülerInnen helfen SchülerInnen“ (vgl. z.B. Hrubesch 2002) orientieren und Lehrkräfte dort meist als Vertrauens- oder BeratungslehrerInnen pädagogische Beratung leisten, verfolgt das Oberstufen-Kolleg einen anderen Ansatz: KollegiatInnen wählen dort im ersten Halbjahr der 11. Jahrgangsstufe eine/n TutorIn aus dem Kreis der Lehrkräfte. Die Wahl erfolgt in der Regel während des 1. Ausbildungssemesters. Eine Lehrperson kann für bis zu 12 SchülerInnen zuständig sein und diese bis zum Abitur begleiten. TutorInnen des Oberstufen-Kollegs können somit als individuell wählbares Äquivalent zu Vertrauensbzw. BeratungslehrerInnen im Regelschulsystem gesehen werden.

30

5. Stichprobenbeschreibung Im Folgenden wird, aufbauend auf dem ersten Bericht der Projektgruppe (vgl. Boller/ Marth/ Müller/ Rosowski/ Schneider 2006), die in die Untersuchung einbezogene Stichprobe der Schüler näher beschrieben. Ausgehend von der Zusammensetzung der Stichprobe bei der ersten Befragung (Kap. 5.1) wird in Kapitel 5.2 die Veränderung der Stichprobe vom ersten bis zum fünften Semester dargestellt. Da eine nicht unerhebliche Zahl von KollegiatInnen in der Untersuchungsphase das Oberstufen-Kolleg verlassen hat, werden in Kapitel 5.3 Gründe und Begleitumstände von Ausbildungsabbrüchen und Rückstufungen analysiert. 5.1 Stichprobenbeschreibung der KollegiatInnen im 1. Ausbildungssemester In der ersten Befragung des Jahrgangs 2004 wurde eine Stichprobe von 30 nach vorab festgelegten Merkmalen (selektives Sampling, vgl. Kelle/ Kluge 1999) gebildet. Die Festlegung der für die Fallauswahl relevanten Merkmale orientierte sich an der Fragestellung und erfolgte anhand theoretischer Vorüberlegungen zum Einfluss verschiedener Variablen auf den Schulerfolg (Kap. 1) sowie auf der Basis unseres Vorwissens über das Untersuchungsfeld. Als Auswahlkriterien der Stichprobe wurden folgende Merkmale herangezogen:     

Geschlecht Migrationshintergrund Bildungshintergrund der Eltern zuletzt besuchte Schulform Qualifikationsvermerk für die gymnasiale Oberstufe.

Bei der Verteilung dieser Merkmale wurde eine Annäherung der Stichprobe an die Zusammensetzung des Gesamtjahrgangs 20047 angestrebt. Wie in Abbildung 1 deutlich wird, ist die Abbildung des Gesamtjahrgangs in Bezug auf die o.g. Merkmale mit der Stichprobe im Frühjahr 2005 weitgehend erreicht worden. Lediglich beim Auswahlkriterium „Bildungshintergrund der Eltern“ mussten wir von der Verteilung innerhalb des Gesamtjahrgangs abweichen: Das Sample besteht jeweils zur Hälfte aus KollegiatInnen mit bzw. ohne (Fach-) Hochschulreife der Eltern, während der Gesamtjahrgang einen größeren Anteil von KollegiatInnen mit höherem Bildungsabschluss der Eltern aufweist:

7

Detaillierte quantitative Daten zu zahlreichen Merkmalen des Jahrgangs 2004 lagen durch die Befragung im Rahmen des ersten Messzeitpunkts der TIMSS-Nachfolgestudie vor und bildeten die Datenbasis für die Stichprobenziehung. Die Daten zum Gesamtjahrgang 2004 sind den Auswertungen von Brandt (2005) entnommen.

31

Merkmal

Ausprägungen

Geschlecht

weiblich männlich kein Elternteil ein Elternteil beide Elternteile mit (Fach-) Hochschulreife ohne (Fach-) Hochschulreife Hauptschule Realschule Gesamtschule Gymnasium berufliche Schule sonstige: wie z.B. Laborschule Waldorfschule mit Q-Vermerk ohne Q-Vermerk

Migrationshintergrund Bildungshintergrund Eltern

Zuletzt besuchte Schulform

Q-Vermerk

Stichprobe (n=30) 16 (53,3%) 14 (46,7%) 16 (53,3%) 5 (16,7%) 9 (30,0%) 15 (50,0%)

Jahrgang 2004 (n=214) 54,0% 46,0% 58,5% 13,2% 28,3% 64,8%

15 (50,0%)

35,2%

4 (13,3%) 8 (26,7%) 6 (20,0%) 4 (13,3%) 5 (16,7%)

8,0% 31,5% 22,1% 16,4% 14,0% 8,0%

1 (3,3%) 2 (6,7%) 15 (50,0%) 15 (50,0%)

51,0% 49,0%

Abb. 1: Vergleich der Untersuchungsstichprobe der ersten Befragung am Ende des ersten Ausbildungssemester im Frühjahr 2005 mit dem Gesamtjahrgang 2004

Zum Zeitpunkt der ersten Befragung standen die befragten KollegiatInnen kurz vor dem Übergang in die Haupt- bzw. Qualifikationsphase ihrer Ausbildung (in die 12. Jahrgangstufe). Zwei KollegiatInnen der Stichprobe wiederholten zum Zeitpunkt der Befragung das Eingangsjahr des Oberstufen-Kollegs. Der Zeitpunkt der zweiten Befragung wurde durch die Nähe zum Abitur bzw. zum Abschluss des Bildungsgangs am Oberstufen-Kolleg markiert. Schullaufbahn vor dem Oberstufen-Kolleg Auf der Grundlage der Interviews und der Daten der Schulstatistik können die Schullaufbahnen vor dem Besuch des Oberstufen-Kollegs grob rekonstruiert werden. Deutlich zeigen sich dabei bildungsbiographische Verläufe, die sich in „lineare“ bzw. „nicht-lineare“ Schullaufbahnen unterteilen lassen. Als linear werden Schullaufbahnen bezeichnet, wenn diese ohne Brüche durch Klassenwiederholungen, Abstufungen auf niedrigere Schulformen oder Abbrüche von (schulischen oder beruflichen) Ausbildungen verlaufen sind. In unserer Stichprobe trifft dies auf 12 von 30 befragten KollegiatInnen zu: Von diesen 12 KollegiatInnen mit linearen Schullaufbahnen – die keine Klassen wiederholt, nicht die Schulform gewechselt oder Ausbildungen abgebrochen haben – sind nur vier Personen männlich. Der Großteil dieser linearen Schullaufbahnen knüpft mit der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg an die jeweilige Schulausbildung an Gesamtschule (7), Hauptschule (2), Realschule (1), Waldorfschule (1) bzw. Laborschule (1) an. Abbildung 2 zeigt, dass gut die Hälfte der Befragten (n=16) berichten, dass sie nicht-lineare Schullaufbahnen mit Brüchen in ihrer Schulkarriere erlebt haben, da sie Klassen wiederholen mussten und/oder Schulformwechsel (z.B. verbunden mit Abstufungen auf niedrigere Schulformen) erlebten und/oder schulische bzw. berufliche Ausbildungen abgebrochen haben: Neun KollegiatInnen haben vor dem Besuch des Oberstufen-Kollegs

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eine oder mehrere Klassen wiederholt. Abstufungen auf niedrigere Schulformen – meist Wechsel vom Gymnasium auf die Realschule bzw. auf die Hauptschule oder von der Realschule auf die Hauptschule – haben acht KollegiatInnen im Laufe ihrer Schulkarriere erlebt. Einige berichten sogar von mehrmaligen Schul(form-) Wechseln, die auf Leistungsprobleme, negativ erlebtes Schulklima oder persönliche Probleme mit LehrerInnen zurückgeführt werden. Zwölf der Befragten (also mehr als ein Drittel der Stichprobe) haben bereits schulische bzw. berufliche Ausbildungsgänge abgebrochen.

12

lineare Sc hullauf bahnen

nic ht-lineare Sc hullauf bahnen

16

12

A bbrüc he

8

A bs tuf ungen

9

Klas s enw iederholungen

2

keine A ngaben

0

5

10

Abb. 2: Schullaufbahnen vor dem Besuch des Gesamtstichprobe n=30; Mehrfachnennungen möglich)

15

20

Oberstufen-Kollegs

(absolute

Zahlen;

Nur wenige KollegiatInnen, die Erfahrungen in zuvor besuchten Schulen schildern, berichten, dass sie bei Überlegungen, ihre Ausbildung beispielsweise an einem Gymnasium abzubrechen, eine intensive Beratung durch Vertrauens- oder andere LehrerInnen in Anspruch genommen haben. Auch beim Wechsel in eine andere, meist niedrigere Schulform fehlten in mehreren Fällen Beratung und Unterstützung bei der Entscheidungsfindung. 5.2 Stichprobenbeschreibung der KollegiatInnen im 5. Ausbildungssemester Die zweite Befragung der KollegiatInnen fand gegen Ende des fünften Ausbildungssemesters, im Februar 2007 statt. Zu diesem Zeitpunkt, knapp ein halbes Jahr vor dem Schulabschluss, waren noch 15 der 30 Befragten unserer Stichprobe im regulären Ausbildungsgang vertreten. Zu diesen SchülerInnen wurde Kontakt aufgenommen, um sie im Verlauf ihres fünften Ausbildungssemesters erneut zu interviewen. Inzwischen wiederholen sechs SchülerInnen der Ausgangsstichprobe ein

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Ausbildungsjahr8, und neun haben die Ausbildung am Oberstufen-Kolleg zwischen dem ersten und fünften Semester abgebrochen. Von den 15 KollegiatInnen der ursprünglichen Stichprobe des Jahrgangs 2004, welche die Ausbildung ohne Abbruch oder Wiederholungen durchlaufen haben, wurden zwischen Februar und April 2007 zwölf zum zweiten Mal befragt. Drei waren nicht bereit, sich zum Verlauf ihrer Ausbildung am Oberstufen-Kolleg und ihren Erfahrungen mit Beratungs- und Förderangeboten interviewen zu lassen (Abb. 3). Merkmal

Ausprägungen

Geschlecht

weiblich männlich kein Elternteil ein Elternteil beide Elternteile mit (Fach)Hochschulreife ohne (Fach)Hochschulreife Hauptschule Realschule Gesamtschule Gymnasium berufliche Schule sonstige: wie z.B. Laborschule Waldorfschule mit Q-Vermerk ohne Q-Vermerk

Migrationshintergrund Bildungshintergrund Eltern Zuletzt besuchte Schulform

Q-Vermerk

Stichprobe 2005 (n=30)

Stichprobe 2007 (n=15)

Rückgestufte bis Frühjahr 2007 (n=6)

Abbrecher bis Frühjahr 2007 (n=9)

16 14 16 5 9

8 7 11 3 1

3 3 2 2 2

5 4 3 0 6

15

6

4

2

15 4 8 6 4 5

9 1 2 3 3 3

2 0 2 3 1 0

7 3 4 0 0 2

1 2 15 15

1 2 9 6

0 0 4 2

0 0 2 7

Abb. 3: Vergleich der Untersuchungsstichproben 2005 und 2007 sowie der Gruppen von Rückgestuften und AbbrecherInnen (absolute Zahlen)

In der im Jahr 2007 realisierten Stichprobe sind acht Frauen und vier Männer vertreten. Auffällig ist, dass es sich dabei überwiegend um KollegiatInnen ohne Migrationshintergrund handelt. Von den 15 Verbliebenen haben neun den Qualifikationsvermerk für die gymnasiale Oberstufe. 5.3 Vorzeitige AbbrecherInnen und Rückgestufte Dieses Kapitel wirft einen Blick auf eine besondere Schülergruppe: die Abbrecher und Wiederholer. Dabei gegen wir der Frage nach, welche Umstände dazu führen, dass eine schulische Ausbildung nicht zu Ende geführt wird bzw. dass Schüler eine Klasse wiederholen müssen und welche Funktion in solchen Fällen Förderung und Beratung zukommt. Im Frühjahr 2007, zum Ende des 5. Semesters, haben aus unserer Ursprungsstichprobe (n=30) neun Befragte, also fast ein Drittel, ihre Ausbildung vorzeitig abgebrochen (Abb. 3). 8

Die rückgestuften KollegiatInnen, die ein Ausbildungsjahr wiederholt haben, wurden im Februar 2008 zum zweiten Mal interviewt. Das Portrait des Schülers „BamBam“ (Kap. 6.1.3) stammt aus einem dieser Interviews. Die vertiefende Auswertung der anderen fünf Interviews erfolgt im Forschungs- und Entwicklungsplan 2008-2010.

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Rückstufungen erfolgten in weiteren sechs Fällen – ein Fünftel wiederholt also ein Ausbildungsjahr. Drei der AbbrecherInnen waren nach dem Eingangsjahr im OberstufenKolleg bereits einmal zurückgestuft worden; zwei davon bereits vor Beginn der Studie.9 Abgebrochen haben ihre Ausbildung aus unserer Stichprobe fünf Frauen und vier Männer. Bei sechs dieser neun Personen haben beide Elternteile einen Migrationshintergrund. In zwei Fällen verfügt mindestens ein Elternteil über die (Fach-) Hochschulreife. Vor dem Oberstufen-Kolleg hatten AbbrecherInnen in drei Fällen die Hauptschule, vier von ihnen die Realschule und zwei eine berufliche Schule besucht. Von den neun AbbrecherInnen haben vier das Oberstufen-Kolleg im Laufe des Eingangsjahres verlassen; fünf weitere KollegiatInnen brachen im 2. Ausbildungsjahr (im 3. bzw. 4. Semester) ihre Ausbildung ab. Motive und Beweggründe für den Schulabbruch wurden in Telefoninterviews erfragt. Die Ergebnisse dieser AbbrecherInnenbefragung werden im Folgenden beschrieben. Motive und Gründe des Ausbildungsabbruchs Der Abbruch einer schulischen Ausbildung stellt für SchülerInnen meist einen biografisch bedeutsamen Einschnitt dar. Zwar muss die Entscheidung, eine Ausbildung zu beenden, nicht zwangsläufig als persönliches Scheitern erlebt, sondern kann auch als Korrektur einer vorher getroffenen und nicht mehr als optimal empfundenen Entscheidung angesehen werden. Dies kann gerade bei anderen oder konkreteren (beruflichen) Optionen oder Interessenveränderungen der Fall sein. Dennoch wird der Abbruch häufig als krisenhafte Erfahrung geschildert. Als Ursachen für den Abbruch einer schulischen Ausbildung, dem am Oberstufen-Kolleg in den meisten Fällen Fehlzeiten und Leistungsdefizite vorausgehen, können vielfältige Kombinationen aus institutionellen und personellen Faktoren angesehen werden. Diese Motivbündel können folgende Faktoren umfassen:  mangelnde Transparenz und Unterschätzen der Leistungsanforderungen;  finanzielle und persönliche Gründe (z.B. familiäre Konstellation, Nebenjobs, motivationale Probleme, intellektuelle Überforderung und auch fehlende Ressourcen für Leistungsfähigkeit);  mangelnde Selbstorganisationsfähigkeit;  ungenügend ausgeprägte Lernstrategien und methodische Kompetenzen (vgl. Schröder-Gronostay/ Daniel 1999). Sieben der neun AbbrecherInnen in unserer Studie konnten im Rahmen telefonischer Interviews erreicht und entlang eines Interview-Leitfadens nach den Gründen für ihren Ausbildungsabbruch, ihrer subjektiven Bewertung des Abbruchs (unter besonderer Berücksichtigung der Bereiche Förderung und Beratung am Oberstufen-Kolleg) sowie ihren beruflichen und privaten Zukunftsperspektiven befragt werden. Die Gespräche mit den AbbrecherInnen fanden statt, nachdem mit der Laufbahnberatung des Jahrgangs 2004 der aktuelle Status der KollegiatInnen abgeglichen worden war. Die Telefoninterviews dauerten zwischen fünf und 15 Minuten. Anschließend wurden Gedächtnisprotokolle der jeweiligen Gespräche angefertigt. Eine methodische Schwierigkeit bezog sich auf die Akzeptanz der Teilnahme an den Telefoninterviews: Nicht alle ehemaligen SchülerInnen waren bereit, sich den Fragen der MitarbeiterInnen des Teams Wissenschaftliche Leitung zu stellen. Die Telefoninterviews variierten stark in Bezug auf ihre Ausführlichkeit und Tiefe. Im Folgenden sind die wichtigsten Aussagen der sieben Befragten dargestellt: 9

Diese drei Personen werden bei der folgenden Darstellung als AbbrecherInnen betrachtet.

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Die von den Befragten genannten Gründe für den vorzeitigen Abbruch der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg sind vielfältig. Die AbbrecherInnen führen eine ganze Reihe von Gründen an, die sich meist zu Motivbündeln verdichten lassen: Dazu gehören: Berufliche (Um-) Orientierung, persönliche Probleme durch Belastungen in der Familie, finanzielle und dadurch auch zeitliche Probleme, Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten mit einzelnen LehrerInnen, Orientierungs- und Disziplinprobleme sowie das Fehlen konkreter beruflicher Ziele, für die sich die Mühen der Ausbildung gelohnt hätten. Aufgrund dieser häufig miteinander verwobenen Problemkonstellationen sammelten die KollegiatInnen Fehlzeiten und Leistungsdefizite an, die sie ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr aufholen konnten oder wollten. Drei der Befragten brachen ihre Ausbildung freiwillig ab; in zwei Fällen kamen sie mit der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg nicht zurecht und sahen keine realistische Möglichkeit, sie zu durchlaufen. In einem Fall klärten sich im Verlauf des Eingangsjahres die beruflichen Wünsche der Befragten, die deshalb das OberstufenKolleg verließ. Dieser Fall zeigt, dass keineswegs immer schulische Anforderungen für Ausbildungsabbruch verantwortlich sind, sondern dass manche SchülerInnen die Ausbildungszeit als Moratorium für Wahlentscheidungen nutzen. Vier der sieben Befragten mussten ihre Ausbildung abbrechen, da sie aus unterschiedlichen Gründen die Leistungsanforderungen nicht erfüllt hatten; in drei Fällen wurden sie nach den Übergangskonferenzen entlassen. Im Folgenden sind für die sieben befragten AbbrecherInnnen die Begleitumstände des Ausbildungsabbruchs, die Zukunftsperspektiven sowie die Aussagen zu wichtigen Personen im Zusammenhang mit dieser Situation im Überblick wiedergegeben: Begleitumstände des Ausbildungsabbruchs Josefine10 hat das Oberstufen-Kolleg freiwillig verlassen: Da sie jetzt ein konkretes berufliches Ziel (Erzieherin) hat, möchte sie die Ausbildung am Oberstufen-Kolleg beenden, um bald eigenes Geld zu verdienen. Sie freut sich auf die enorme zeitliche Entlastung, die sie sich von diesem Schritt verspricht. Motivation für das OberstufenKolleg sei vor allem gewesen, sich (beruflichen) Entscheidungsspielraum zu schaffen. Josefine berichtet von Eingliederungsschwierigkeiten am Anfang der Ausbildung und der Enttäuschung, am Oberstufen-Kolleg nicht mehr zu den Leistungsstärksten gehört zu haben. Steve hat das Oberstufen-Kolleg freiwillig verlassen: Aufgrund von persönlichen Problemen (eigene Wohnung musste durch Nebenjobs finanziert werden) verschlechterten sich seine Schulleistungen. Er hätte sich gewünscht, dass seine Leistungen am Oberstufen-Kolleg konsequenter eingefordert worden wären. Hohe Fehlzeiten kamen zustande, da ihm der Unterrichtsstoff vom Gymnasium her bereits bekannt und damit uninteressant erschienen war. Der Ganztagsbetrieb am OberstufenKolleg stellte für ihn eine „emotionale Zerreißprobe“ dar. Er habe sich dort nur wenig zu Hause gefühlt und wenig mit seinen MitschülerInnen anfangen können. Michael wurde nach den Übergangskonferenzen11 entlassen: Aufgrund seines zeitintensiven Hobbys (Musizieren in einer Band) hatten sich so viele nicht bestandene 10

Bei allen Namen handelt es sich um Pseudonyme, die von den Befragten selbst gewählt wurden. Das Vorliegen der Voraussetzungen für den Übergang von der Eingangsphase (11. Jahrgangsstufe) in die Hauptphase (12. Jahrgangsstufe) wird im Rahmen so genannter Übergangskonferenzen geprüft. Die Konferenz entscheidet auf der Basis der festgestellten Voraussetzungen und Gesamtentwicklung der KollegiatInnen über den Übergang in die Hauptphase, Rückstufung oder Entlassung.

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Kurse angesammelt, dass eine Wiederholung des Eingangsjahres nicht mehr möglich war. Die ihm per Post zugestellte Information über seine Entlassung traf Michael relativ unvorbereitet, da er mit derartig starken negativen Folgen nicht gerechnet hatte. Hülya wurde nach den Übergangskonferenzen entlassen: Nach der Wiederholung des Eingangsjahres hatten persönliche Gründe (Krankheit der Mutter) und Probleme mit LehrerInnen zu geringer Motivation, hohen Fehlzeiten und Leistungsdefiziten in drei Kursen geführt. Dilara hat das Oberstufen-Kolleg freiwillig verlassen: Aufgrund familialer Probleme (Großvater verstorben und Krankheit der Mutter), die für sie „viele kleine Puzzleteile“ darstellten, konnten private und schulische Anforderungen nicht vereinbart werden. Da keine Zeit für sie persönlich, ihre Hobbys oder den Erwerb des Führerscheins blieb, war die Motivation für die Ausbildung nicht mehr vorhanden. Die entstehenden Fehlzeiten und Leistungsdefizite konnte sie nicht mehr aufholen. Sie vermutet, dass sie zu jung sei, um sich am Oberstufen-Kolleg zurechtzufinden. Außerdem fehle ihr ein konkretes berufliches Ziel. Problematisch seien für sie auch die Organisation der Ausbildung und die starke Ausrichtung auf ein anschließendes Studium gewesen. Blume verlässt das Oberstufen-Kolleg nach der 12. Jahrgangsstufe mit der Fachhochschulreife. Für seinen Berufswunsch (Grafik-Designer) reiche der FH-Abschluss aus, so seine Begründung für die Beendigung der Ausbildung. Das Eingangsjahr hatte er bereits wiederholt. Selbstdisziplin habe ihm gefehlt, deshalb hatte er hohe Fehlzeiten angehäuft. Von der Ausbildung am ‚neuen’ Oberstufen-Kolleg war er aufgrund der Vielzahl an formalen Vorgaben insgesamt etwas enttäuscht, nachdem ihm seine Eltern als ehemalige KollegiatInnen sehr positiv über ihre Ausbildung am ‚alten’ OberstufenKolleg berichtet hatten. Canan wurde nach der 12. Klasse entlassen: Fehlzeiten und Leistungsdefizite führten dazu, dass sie eine Reihe von Kursen nicht bestand. Auch in den Studienfächern hatte sie (trotz Umwahl beider Fächer im zweiten Semester) große Probleme. Den Lernstoff konnte sie nicht ausreichend nacharbeiten, da die Unterrichtszeiten zu lang waren. Über ihren Leistungsstand habe sie sich ein falsches (d.h. zu positives) Bild gemacht. Zukunftsperspektiven nach dem Ausbildungsabbruch Josefine möchte ein 4-jähriges Berufskolleg besuchen und strebt das Fachabitur und eine Ausbildung zur Erzieherin an. Steve möchte zunächst weiter jobben und später entweder die Hochschulreife an einem Weiterbildungskolleg erwerben oder aber wieder in seinem erlernten Beruf als Steinmetz arbeiten. Michael macht keine Angaben zu seinen Zukunftsperspektiven. Hülya hatte zunächst Widerspruch gegen die Entlassung aus dem Oberstufen-Kolleg eingelegt. Sie möchte ein Berufskolleg besuchen bzw. eine Ausbildung zur Hebamme absolvieren. Dilara möchte zunächst ein einjähriges Praktikum und anschließend eine schulische Ausbildung zur Medizinisch-Technischen-Angestellten absolvieren. In Frage kommt auch der Besuch eines Berufskollegs. Blume absolviert zunächst ein Praktikum bei einer Innenarchitektin. In Aussicht hat er eine Festanstellung als Werbegrafiker in Spanien.

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Canan möchte sich für die Fortsetzung ihrer schulischen Ausbildung an einer Gesamtschule anmelden. In der Mehrzahl haben die befragten AbbrecherInnen bereits konkrete Vorstellungen darüber, was sie nach dem Verlassen des Oberstufen-Kollegs anstreben werden. In vier der sechs Fälle kommt für die KollegiatInnen nach dem Abbruch des Oberstufen-Kollegs der Besuch eines Berufs- oder Weiterbildungskollegs in Frage. Wichtige Personen im Verlauf der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg bzw. im Zusammenhang mit dem Ausbildungsabbruch Josefine: Wichtig waren für sie vor allem Freunde und Eltern. Der Tutor hat sie bei der Suche nach Ausbildungsmöglichkeiten unterstützt. Der Pädagogische Leiter hat sie unterstützt, den Übergang zwischen Oberstufen-Kolleg und Berufskolleg zu gestalten. Steve: Wichtige Personen gab es in seinem Fall nicht, da er Probleme immer mit sich selbst ausgemacht hat. Gute Kontakte bestanden zum Tutor und den Mitarbeiterinnen der Schulsozialarbeit. Der Tutor hat versucht, „ihn zu halten“. Intensive Gespräche mit einzelnen LehrerInnen fanden in der Phase der Entscheidungsfindung statt. Seine Eltern hat Steve erst im Nachhinein informiert. Michael: Keine Angaben. Hülya: Unterstützung hat sie in dieser Situation kaum gesucht. Wichtige Gespräche fanden mit einer Lehrerin im neuen Studienfach nach der Umwahl statt. Mit ihrem Tutor hat sie nicht gesprochen, da es sich um sehr persönliche Probleme handelte und sie auch familiär stark belastet war. Dilara: Gespräche mit Familie und Freunden haben ihr geholfen, mit der Situation zurechtzukommen und mit neuer Motivation und Zuversicht nach Alternativen zu suchen. In den letzten Monaten haben ihr ihre Tutorin und der Pädagogische Leiter häufig Gespräche angeboten. Diese Gesprächsangebote habe sie jedoch kaum wahrgenommen, da ihre Probleme zu privat gewesen seien und sie sich damit in die Enge getrieben gefühlt habe. Blume: Er hat positive Erfahrungen mit seiner Tutorin gesammelt. Diese habe ihn stark unterstützt, als es um die Rückstufung bzw. die Entlassung ging. Seines Erachtens hätte er mehr Druck und Kontrolle gebraucht, um nicht so viele Fehlzeiten aufzubauen. Die bestehende Beratungsstruktur des Oberstufen-Kollegs bewertet er, obwohl er sie kaum in Anspruch genommen hat, als positiv, da es Anlaufstellen für alle Problembereiche gebe. Insbesondere die TutorInnen werden von den Befragten als wichtige Personen im Vorfeld des Abbruchs genannt. Zwei KollegiatInnen mit Migrationshintergrund erwähnen, dass sie in ihrer schulisch schwierigen Situation Gesprächsangebote der TutorInnen nicht angenommen hätte, da sie ihre persönlichen Probleme nicht mit schulischen Akteuren besprechen wollten. Ob TutorInnen auch bei sozialen oder persönlichen Problemlagen hinzugezogen werden, machen die KollegiatInnen häufig davon abhängig, ob sich zwischen beiden Seiten ein Vertrauensverhältnis entwickelt hat. D.h., die Beziehungsqualität ist entscheidend für den Verlauf und die Reichweite der Zusammenarbeit. Dabei erlaubt das schwach konturierte Tätigkeitsfeld der TutorInnen den KollegiatInnen, eine Vielzahl (unrealistischer) Wünsche und Hoffnungen auf ihre TutorInnen zu richten. Die TutorInnen ihrerseits drohen in Rollenkonflikte zu geraten. Der sich in den Aussagen der KollegiatInnen manifestierende Förder- und Beratungsbedarf kann durch den Verlauf der bisherigen Bildungsbiographien und die in

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diesem Zusammenhang gebildeten schulischen Erfahrungsmuster erklärt werden. Deutungsmuster und Inanspruchnahme schulischer Beratungs- und Förderangebote scheinen folglich stark in bildungsbiographischen Erfahrungen und daraus resultierenden sozio-emotionalen und fachlichen Problemen und Bedürfnissen zu wurzeln. 5.4 Perspektiven für die Auswertung der Interviews mit rückgestufen SchülerInnen Im März 2008 wurden sechs SchülerInnen aus der Ausgangsstichprobe interviewt, die im Laufe ihrer Ausbildung am Oberstufen-Kolleg rückgestuft wurden und deshalb eine Klasse wiederholen mussten. Hierbei handelte es sich um die SchülerInnen mit den Pseudonymen BamBam, Jakob, Tonia, Manoa, HMM und Spezi. Die Auswertung dieser Interviews fällt zeitlich in den Forschungs- und Entwicklungsplan 2008-2010 und wird deshalb erst in den nächsten Monaten realisiert. Methodisch wird auch hier in Anlehnung an die Dokumentarische Methode (Kap. 6) gearbeitet, indem einzelne ertragreiche und subjektiv bedeutsame Episoden aus der Schulbiografie der Befragten rekonstruiert und mit dem Einfluss schulischer Förderung und Beratung in Beziehung gesetzt werden. Von besonderem Interesse ist die Frage, welche Gründe zur Klassenwiederholung geführt haben, wie die SchülerInnen diese (vermutlich einschneidende) schulbiografische Erfahrung wahrnehmen, attribuieren und erklären und durch welche Maßnahmen von Seiten der Schule Klassenwiederholungen künftig vermieden bzw. reduziert werden können.

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6. Qualitative Analyse Teil I: Portraits der SchülerInnen Kapitel 6.1 hat die Funktion, die Stichprobenbeschreibung um die lebensweltlichen Rahmenbedingungen (z.B. soziale Netzwerke, Nebenjobs, Berufsperspektiven) der befragten SchülerInnen vorzustellen und einzelne dieser Aspekte hinsichtlich ihrer Relevanz für die Schullaufbahn zu diskutieren. Im darauf folgenden Kapitel 6.2 werden vier SchülerInnen in ausführlichen Portraits exemplarisch vorgestellt. Hierbei werden positive und problematische Lernerfahrungen der SchülerInnen und ein (möglicher) Einfluss von Förderung und Beratung anhand dieser markanten Situationen im Ausbildungsverlauf vertiefend analysiert. 6.1 Lebensweltliche Bedingungen und schulrelevante Einflussfaktoren Gegenstand der problemzentrierten Interviews waren neben den o.g. Themenbereichen auch außerschulische Lernorte und deren Einfluss auf schulische Bildungsgänge. Aspekte wie soziale Netzwerke, finanzielle Situation und Berufsperspektiven wurden berücksichtigt, um den Einzelfall umfassend betrachten und mögliche relevante Einflussfaktoren auf den Schulerfolg identifizieren zu können. Zur Vorbereitung der folgenden Ergebnisdarstellung werden deshalb einige der deskriptiven Ergebnisse zu den lebensweltlichen Bedingungen überblicksartig zusammengefasst. Freunde außerhalb des Oberstufen-Kollegs: Die KollegiatInnen und ihre sozialen Netzwerke Mit Beginn der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg relativiert sich in vielen Fällen der Status des Freundeskreises, der sich in aller Regel aus ehemaligen SchulkameradInnen zusammensetzt. Zumeist spielen hier zeitökonomische und organisatorische Aspekte eine Rolle. So haben KollegiatInnen am Oberstufen-Kolleg aufgrund des Ganztagesunterrichts und oft langer Anfahrtszeiten zumindest in der Woche wenig Zeit, sich mit FreundInnen zu treffen. Zugleich hat sich die zeitökonomische Situation auf Freundesseite verändert: Oft sind diese ebenfalls in (schulischer) Ausbildung und haben weniger Zeit oder sind in andere Orte gezogen. Werden frühere Freundschaften dennoch aufrechterhalten, geschieht das vornehmlich am Wochenende. Obwohl die befragten KollegiatInnen die Veränderungen im Kontakt zum Freundeskreis zumeist als unproblematisch beschreiben, wird in einigen Fällen deutlich, dass die neue Situation auch als Verlust empfunden werden kann: Es fehlt der Austausch mit FreundInnen außerhalb der Versuchschule, der Zerstreuung, emotionalen Rückhalt, soziale Einbindung und positives Feedback bietet. Hier wird das besondere Potenzial der Lernwelt Peers als eigenständige Unterstützungsinstanz deutlich. Finanzierung und Nebenjobs: Trends Lediglich fünf KollegiatInnen unserer Stichprobe üben neben der Schule einen Nebenjob aus. Sie tun dies meist aus finanzieller Notwendigkeit heraus. Insgesamt 19 der Befragten haben zurzeit keinen Nebenjob, hiervon berichten wiederum drei, eine vor der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg ausgeübte Tätigkeit aus zeitlichen Gründen aufgegeben zu haben. Generell spielen zeitökonomische Aspekte eine große Rolle bei der Entscheidung für oder gegen eine Nebentätigkeit, ausschlaggebend sind v.a. der Ganztagsunterricht und die z.T. langen Anfahrtswege. Es lassen sich in den Interviews keine Hinweise darauf finden, ob bzw. inwieweit die KollegiatInnen, abgesehen vom rein materiellen Verdienst, in Bezug

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auf Kompetenzerwerb und -entwicklung von der berichteten Nebentätigkeit profitieren, etwa dort erworbenes Wissen oder Fähigkeiten im Unterricht nutzen. Auch als Quelle negativ auf den Verlauf der Ausbildung wirkender Faktoren – z.B. zeitlicher Aufwand für Nebenjob führt zunächst zur Vernachlässigung schulischer Aufgaben und schließlich zu nicht bestandenen Kursen – sind die Jobs offenbar nicht relevant. Studienabsichten und Berufsperspektiven Beide Aspekte fokussieren die weitere Ausbildung nach dem Oberstufen-Kolleg und wurden von uns berücksichtigt, um einerseits daraus ableiten zu können, inwieweit sich die beruflichen Vorstellungen und Wünsche der KollegiatInnen im individuellen Bildungsgang wiederfinden lassen und andererseits, an welchen Stellen sich Diskrepanzen zwischen der inhaltlichen Ausrichtung der derzeitigen Ausbildung und den genannten beruflichen Zukunftsperspektiven manifestieren. Mit Blick auf die Statuspassage Übergang Schule-Studium bzw. Schule-Beruf finden sich in den Interviews Hinweise, welche spezifischen Beratungsangebote sich in diesem Zusammenhang als hilfreich erweisen bzw. wie die KollegiatInnen sich eine gute Studien- und Berufsberatung vorstellen. Die Studienabsichten und Berufsperspektiven sind für uns deshalb interessant, weil die Lebensentwürfe junger Erwachsener stark von Erwerbsarbeit als Instrument gesellschaftlicher Positionierung geprägt sind (Kap. 1.1). Die Relevanz von Erwerbsarbeit in der Lebensplanung geht dabei trotz anhaltender Massenarbeitslosigkeit keineswegs zurück – die Risiken am Arbeitsmarkt führen im Gegenteil eher dazu, dass sich die Erwerbsorientierung in der Gesamtbevölkerung ausweitet. Es interessiert auch hier vor allem, welche Rolle die etwaige Nutzung der Beratungsangebote am Oberstufen-Kolleg für die genannten beruflichen Vorstellungen spielt. Die Auswertung der Daten zeigt, dass die Hälfte der KollegiatInnen unserer Stichprobe eine klare Vorstellung der eigenen beruflichen Zukunft hat bzw. mögliche Wunschberufe klar benennen kann. Neun KollegiatInnen äußern in den Interviews vage Vorstellungen zu ihrer beruflichen Zukunft, in sechs Interviews wurde diesenur marginal behandelt. Sie beginnt in aller Regel mit dem Eintritt in ein Studium und macht daher das Erlangen der (für die geplante Ausbildung hinreichend guten) Hochschulreife notwendig. Zwei KollegiatInnen in dieser Gruppe haben sich bereits zum Zeitpunkt der Befragung für eine berufliche Ausbildung entschieden. Einfluss auf die Berufsvorstellungen der KollegiatInnen unserer Stichprobe haben häufig die Lebensentwürfe von Familienmitgliedern oder Freunden. Insgesamt wird deutlich, dass der Stellenwert von Erwerbsarbeit in den Lebensentwürfen nicht mit dem Geschlecht in Zusammenhang steht und für die weiblichen Befragten eine ebenso hohe Bedeutung hat wie für die männlichen. Auch hängt die Berufsorientierung in unserer Stichprobe nicht mit der Herkunft zusammen, von den 15 KollegiatInnen mit konkreter Berufsvorstellung haben sieben Personen einen Migrationshintergrund. Beratungssituationen, die in einem Zusammenhang mit der Beschreibung der Berufsperspektiven stehen, hat es im Laufe des ersten Semesters offenbar noch nicht gegeben. 6.2 Vier SchülerInnen im Portrait Die in diesem Kapitel dargestellten Fälle wurden nach dem Prinzip der maximalen Kontrastierung ausgewählt, d.h. es wurde in den vier vorgestellten Fällen versucht, die Merkmale Geschlecht, Migrationshintergrund und Qualifikationsvermerk möglichst kontrastiv gegenüberzustellen. Die Portraits basieren auf den Interviews im ersten und

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fünften Semester. In ihnen treten die Unterschiedlichkeiten der persönlichen und familialen Voraussetzungen, die Vielfalt und Verschlungenheit schulischer Bildungswege und die Einzigartigkeit der Bedürfnisse und Anforderungen an schulische Förderung und Beratung zutage. Bezugspunkt für die Darstellung sind markante Lernerfahrungen in der Oberstufenlaufbahn, die von den SchülerInnen als gelungen oder weniger gelungen beschrieben werden. Normativer Bezugspunkt ist immer die Sichtweise des einzelnen Schülers und dessen Blick auf Erfolg bzw. Misserfolg. Relevant ist also, was die einzelnen Schüler unter positiven und negativen Lernerfahrungen verstehen, wie sie Lernerfolge bzw. -misserfolge attribuieren und welche Erklärungsmuster sie hierfür ins Feld führen. In der Analyse werden besonders jene Erzählungen der SchülerInnen als relevant erachtet, in denen eine bestimmte Episode des Bildungsganges am Oberstufen-Kolleg mit hoher narrativer und metaphorischer Dichte und/oder hohem narrativem Engagement entfaltet wird (vgl. Bohnsack 2000). Die dabei leitenden Fragestellungen sind:   

Welche Lernerfahrungen beschreiben die SchülerInnen als positiv/ gelungen oder negativ/ problematisch? Von welchen Lernbedingungen haben die SchülerInnen (nicht) profitiert und wie erklären sie dies? Durch welche strukturellen und personellen Aspekte lassen sich als positiv/ gelungen oder negativ/ problematisch erlebte Lernerfahrungen beschreiben?

Ziel dieses Vorgehens ist es, exemplarische Situationen zu rekonstruieren, in denen schulische Beratung und Förderung nach Ansicht der SchülerInnen einen Einfluss auf die Schullaufbahn gehabt haben. Auswertung und Darstellung der Fälle erfolgen in Anlehnung an Bohnsacks Empfehlungen zur Anwendung der Dokumentarischen Methode (vgl. Bohnsack 2000). 6.2.1 Tom: „Also, dass das auf jeden Fall die richtige Schule für mich ist, das ist mir eigentlich immer klar gewesen“ Interviewsituation und formale Textstruktur Tom wurde im ersten und fünften Ausbildungssemester im Oberstufen-Kolleg befragt. Bei der Vereinbarung der Interviewtermine sagte er bereitwillig zu, während der Interviews selbst machte er den Eindruck, auf Fragen nur kurz eingehen und dabei nicht zu sehr ins Detail gehen zu wollen. Auf Nachfragen und Vertiefungsfragen reagierte er eher ausweichend und vermied es in seinen Schilderungen – trotz der Zusicherung von Anonymität durch die Interviewer – auf einzelne Lehrkräfte und Fächer näher einzugehen, da er negative Konsequenzen zu befürchten schien. Familiärer und sozialer Hintergrund Tom ist zum Zeitpunkt des ersten Interviews 17 Jahre alt und lebt mit seinen Eltern, seinem Bruder (19 Jahre) und seiner Schwester (23 Jahre) in einem Vorort von Bielefeld. Sein Bruder besucht eine Gesamtschule und steht ebenfalls kurz vor dem Abitur. Nach dem Abitur möchte Toms Bruder seinen Zivildienst in Brasilien absolvieren und dort Straßenkindern helfen, ihnen Lesen und Schreiben beibringen. Toms Schwester studiert Touristik-Management und reist sehr viel, berichtet Tom. Toms Vater hat einen Hochschulabschluss und praktiziert als Arzt. Seine Mutter hat die Schule mit der Mittleren Reife abgeschlossen und ist Hausfrau. Die ganze Familie reist gern, und auch Tom hat den starken Wunsch, möglichst viel von der Welt zu sehen. Er sagt von sich: Deutschland interessiert mich einfach wenig. Und weil, ich will einfach mehr sehen von der Welt. Will nicht immer hier in meinem blöden Dorf wohnen und da vor mich hin gammeln.

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(...) Ich will einfach hier weg. Ich will mehr von der Welt sehen. Und noch ein paar andere Sprachen lernen, möglichst

Besonders interessieren ihn Mittel- und Südamerika, wo er seine Ferien verbracht hat und später gern als Arzt in der Entwicklungshilfe arbeiten würde. Nach dem Abitur möchte Tom zunächst seinen Zivildienst in Argentinien absolvieren. Tom betont, dass seine Eltern ihm bei seinen beruflichen Plänen freie Hand lassen. Sie würden sich schon wünschen, dass er studiert, erwarten jedoch nicht, dass eines ihrer Kinder die Arztpraxis übernimmt. Das familiäre Klima wird von Tom als unterstützend und anregend beschrieben. Einige seiner Eigenschaften und Besonderheiten wie etwa Reiselust oder Schwierigkeiten mit Mathematik seien eine Art Familientradition, von der alle Familienmitglieder mehr oder weniger betroffen seien. Toms Berufswunsch, als Arzt in der Entwicklungshilfe zu arbeiten, zeigt eine Orientierung am Beruf des Vaters. Auffallend ist, dass Tom sein Desinteresse an Mathematik und Naturwissenschaften nicht im Zusammenhang mit dem geplanten Medizinstudium thematisiert. Bildungs- und lebensbiographische Ausgangsbedingungen Tom ist nach der Grundschule ab der fünften Klasse zur Laborschule gegangen und hat diese nach der 10. Klasse ohne Qualifikationsvermerk für die gymnasiale Oberstufe verlassen. Im Fach Mathematik hatte Tom in seiner Schullaufbahn immer wieder Probleme und bekam vor Klassenarbeiten Nachhilfeunterricht von einem Nachbarn, der Mathestudent war. Schwierigkeiten hatte Tom in der Laborschule generell im mathematischen-naturwissenschaftlichen Bereich, wobei er auch in diesem Bereich seine Leistungsfähigkeit als sehr stark von der jeweiligen Lehrperson abhängig sieht. Wenn er mit dem Unterrichtsstil eines Lehrenden nicht zurecht kam, ließ er sich den Unterrichtsstoff gerne von einem zweiten Lehrenden bzw. vom Nachhilfelehrer erklären, was ihm meistens auch weiter half. Motiv für den Besuch des Oberstufen-Kollegs war für Tom, dass er keinen Q-Vermerk hatte, aber das Abitur machen wollte, um studieren zu können („darum musste ich hier auf das OS gehen“). Besondere Erwartungen an das Oberstufen-Kolleg hatte er nicht. Im Interview beschreibt er dann allerdings einige Faktoren, die ihm ein positives Bild von der Versuchsschule vermittelt hatten: Angesprochen haben ihn das breite Spektrum an Studienfächern und die positiven Erfahrungsberichte von Freunden und Bekannten, die das Oberstufen-Kolleg besucht haben. Gut gefallen habe ihm das Duzen zwischen Lehrenden und SchülerInnen. Seine Erwartung war, dass das Oberstufen-Kolleg für ihn die Fortsetzung des Besuchs der Laborschule würde, da es z.B. ähnliche bauliche Voraussetzungen mit vielen offenen Unterrichtsflächen gibt, der Unterricht ‚locker’ ist und weniger Frontalunterricht stattfindet als an Regelschulen. Am Oberstufen-Kolleg angekommen, stellte Tom dann allerdings fest, das die Anforderungen, die an ihn gestellt wurden, höher waren als erwartet. Im Eingangsjahr besuchte Tom zwei Brückenkurse in Mathematik und einen Brückenkurs in Deutsch, um seine Defizite auszugleichen. Das Studienfach Spanisch hat Tom gewählt, weil für ihn klar ist, dass er nach dem Abitur nach Südamerika gehen will und er Spanisch als Sprache für dieses Vorhaben beherrschen muss. Sprachen liegen ihm generell eher als Mathematik und Naturwissenschaften. In seiner Freizeit hatte er bereits Sprachkurse in Spanisch und Italienisch besucht. Vor dem Oberstufen-Kolleg hatte Tom überlegt, für ein Jahr in Argentinien zur Schule zu gehen, was er aber nicht umgesetzte, um bei seiner Freundin in Bielefeld bleiben zu können. Nach dem Abitur will er aber auf jeden Fall zunächst ins Ausland, dort ein paar Jahre leben und studieren. Mit seinem zweiten Studienfach, Gesundheitswissenschaften, ist Tom nicht mehr so ganz zufrieden wie zu Ausbildungsbeginn, da er mit der Lehrenden

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nicht gut zurecht kommt. Da Gesundheitswissenschaften jedoch einen Bezug haben zu seinem Berufswunsch, Medizin zu studieren, hat er das Studienfach beibehalten. Rückblickend auf seine Schullaufbahn findet Tom, dass ihn vor allem der Besuch der Laborschule selbstständig und selbstbewusst gemacht habe. Er könne selbstständig lernen und traue sich, „etwas zu sagen“. Er habe allerdings auch das Gefühl, dass ihm das „auch manchmal zum Verhängnis werden kann“, da es am Oberstufen-Kolleg nicht alle Lehrenden schätzen „wenn man die ganze Zeit die Klappe aufmacht und sagt, was man denkt“. Relevante Situationen und Phasen auf dem Weg zum Abitur und die Bedeutung schulischer Förderung und Beratung In beiden Interviews betont Tom, dass er keine größeren schulischen Probleme gehabt habe, auf jeden Fall kein „Problemkind“ sei. Seine Schullaufbahn habe er ohne Klassenwiederholungen durchlaufen. Sein Lieblingsfach ist Sport, gerne hat er Sprachen, während ihm Mathematik und Naturwissenschaften schwer fallen. Bei schulischen Problemen würde er eher MitschülerInnen ansprechen als schulische Beratungsstellen aufsuchen, berichtet Tom im ersten Ausbildungssemester. Auch mit seinen Eltern würde er nicht über seine Probleme sprechen, da sie einer anderen Generation angehören und ihn deshalb nicht verstehen könnten. Wichtig sind ihm dafür seine Geschwister, an die er sich wenden würde. Er sagt von sich im ersten Semester: „Beratung interessiert mich im Moment noch nicht so sehr, weil ich keine Beratung brauche“. Im zweiten Interview, kurz vor dem Abitur, berichtet er von einigen wenigen Kontakten mit Beratungsangeboten am Oberstufen-Kolleg: Einmal habe er die Laufbahnberatung aufgesucht, um sich beraten zu lassen, ob er alle erforderlichen Kurse für das Abitur belegt hat; der Tutor war ihm behilflich, verzögerte Kursbescheinigungen bei Kurslehrenden einzufordern; die Schulsozialarbeit hat er als „Kulturcafé“ wahrgenommen. Im Eingangsjahr hat Tom Brückenkurse in Mathematik und Deutsch besucht. Dass er einen Brückenkurs in Deutsch zugeordnet bekam, hat ihn gewundert, da er schließlich die beste Klausur im Kurs geschrieben hat. Im folgenden Abschnitt geht es um die Schilderung positiver Lernerfahrungen, die Tom am Oberstufen-Kolleg gemacht hat. Bedeutsam war für ihn dabei, dass es um Fächer und Inhalte ging, die einen Bezug zu seinen Interessen und beruflichen Zielen haben, weshalb er bereit war, sich dafür einzusetzen. Förderliche Lernbedingungen am Oberstufen-Kolleg: „wenn ich ein Fach besonders gerne mag, dann tue ich dafür auch viel“ Wichtig ist für Tom, dass er einen Bezug zwischen dem Lernen und seinen Interessen und Zukunftsvorstellungen herstellen kann. Er findet, dass er gut lernen und sich einbringen kann, wenn er den Sinn des Lernens z.B. für seinen späteren Beruf erkennen kann. Im Vergleich zur vorherigen Laborschulzeit muss Tom jedoch nun mehr für die Schule tun: Ich muss halt um Einiges mehr pauken, habe weniger Freizeit. (…) Für Spanisch, für alle möglichen Fächer. Aber mittlerweile finde ich das nicht schlecht, nicht mehr so schlimm, weil, es macht einfach Spaß so, wenn man weiß, man lernt immer wieder neue Sachen dazu. Also ich bin eigentlich recht begeistert davon.

Schwer fällt es Tom, für ein Fach zu lernen, das ihn nicht interessiert und für das er nur lernen muss, um sein Abitur zu bekommen. Das berichtet er auch rückblickend während des zweiten Interviews kurz vor dem Abitur: 44

Ja, ich bin halt schon öfters ein bisschen unmotiviert. Na ja, was heißt unmotiviert. Es fällt mir manchmal schon ein bisschen schwer, mich da richtig einzuarbeiten, nach längerer Zeit damit zu beschäftigen. Liegt es an den Fächern, oder was ist es dann? Manchmal an den Fächern, manchmal an / Ja, es kommt halt immer darauf an, ob’s mich jetzt interessiert oder nicht. Also, wenn’s mich nicht interessiert, dann lernt man natürlich auch weniger. Also, jetzt zum Beispiel Spanisch, da sehe ich auch insgesamt einen Vorteil, wenn ich das lernen würde, für mein ganzes Leben. Wenn ich dann Mathe oder so was, das lerne, dass ich jetzt mein Abitur durchkriege, aber das… da sehe ich nicht, später, also da sehe ich nicht für mein weiteres Leben, dass ich das für irgendwas brauche, soweit ich nicht in eine mathematische Richtung gehen möchte, Studieren oder so was, das würde mir jetzt, so gesehen, deshalb wäre mir das jetzt nicht so wichtig, da ’ne Vier zu kriegen.

Tom hat am Oberstufen-Kolleg die Erfahrung gemacht, dass er seine Lernziele erreicht, wenn er sich ernsthaft darum bemüht. Dafür war es wichtig, Fächer wie Spanisch und Gesundheitswissenschaften auswählen zu können, die ihn interessieren und Lehrende zu haben, denen es gelingt, den Unterrichtsstoff gut zu vermitteln und idealerweise dabei einen Praxisbezug bzw. Bezug zu den Interessen und Vorerfahrungen der SchülerInnen herzustellen: Wie wichtig ist dir das, dass der Lehrer dir gefällt? Das ist mir schon wichtig. Was muss dir gefallen? Also, beschreibe mal, wie muss so ein LehrerEr muss witzig sein. Witzig? Ja. Ah ja. Also wenn jemand witzigNicht so trocken halt. Er muss ein bisschen Humor haben, der Lehrer. Mhm. An welchen Stellen ist das besonders wichtig? So, dass er den Unterricht halt lebhaft rüberbringt. Und nicht trocken irgendwelche Zahlen vor sich hin (?blafft?). Und der Lehrer, den ich jetzt habe, der macht das schon ziemlich gut, finde ich. Und wenn du mir das mal verraten könntest, wie man das macht, dass man da immer Witz bei hat? XY, der kann das. Der kann das? Ja. Der kann das echt. Was macht der für Witze? Erzähle mal. Der hat die besten-, wenn der halt irgendwas erzählt, dann nimmt der halt immer Beispiele mit irgendwelchen komischen Geschichten. Von…, was weiß ich, von der Autobahn und blabla-bla. ((lacht)) Irgendwelche Geschichten bringt der da halt immer ein. So dass das auf jeden Fall interessanter wird, ihm zuzuhören. Er hat so einen Bezug zum Leben, zum Alltag offensichtlich. Ja. Du hast eben gesagt, ‚ja, wenn der Lehrer mir gefällt’, und jetzt hast du ja schon gesagt, witzig sein ist sicherlich da ein Kriterium. Und dann hast du für dich es auch leichter zu lernen. Was muss ein Lehrer noch dir bieten, damit du gut lernst? Dass man halt alles verständlich rüberbringt. Und… ja, so ein bisschen verbildlichen. Dass man das halt richtig versteht.

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Der Unterricht bei seinem derzeitigen Mathematiklehrer am Oberstufen-Kolleg gefällt Tom, da der Lehrer Humor zeigt und den Unterrichtsstoff lebhaft vermittelt. Durch die Geschichten und Beispiele, die er mit dem Unterrichtsstoff verknüpft, sei der Unterricht nicht so ‚trocken’, interessanter, und Tom könne ihm viel besser zuhören. Von daher denkt er, „wenn ich mich da jetzt noch anstrenge, dann schaffe ich es auch ganz gut“. Seine beiden Studienfächer hat Tom mit Blick auf seine späteren beruflichen Interessen gewählt. Er möchte ins Ausland reisen, hat auch schon einen Spanischkursus der Volkshochschule besucht. Außerdem interessiert ihn Medizin, sein Vater ist Arzt, was seine Wahl des Studienfaches Gesundheitswissenschaften beeinflusst hat. Wichtig ist ihm am Oberstufen-Kolleg das breite Fächerspektrum, das ihm interessorientiertes, handlungsorientiertes Lernen ermöglicht. Die Interaktion mit den Lehrenden ist wichtig für ihn, und er hat für sich festgestellt, dass ihm ein Unterrichtsstil, der einen Alltagsbezug herstellt und Unterrichtsinhalte auf eine praktische Ebene bezieht, einen besseren Zugang zum Fach ermöglicht. Förderlich für sein Lernen ist es, wenn Tom sieht, wofür er lernt und was er mit seinem Wissen anfangen kann. Da er am Oberstufen-Kolleg seine Studienfächer mit Blick auf seine Berufsvorstellungen wählen konnte, findet Tom, dass das Oberstufen-Kolleg für ihn die richtige Schule ist. Umgang mit Problemen und Schwierigkeiten der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg: „Wenn ich hier mal selbständig lernen sollte oder so was, oder wenn ich jetzt einen Freiblock hatte und was tun sollte, das hat nie so gut funktioniert“ Obwohl es Tom gut gelingt, für Fächer zu arbeiten, die ihn interessieren, kann er dies häufig nicht in Freiblöcken und Selbstlernphasen im Oberstufen-Kolleg, da er sich dann sehr schnell ablenken lässt und deshalb lieber zu Hause Inhalte erarbeitet: „Wenn ich hier mal selbstständig lernen sollte oder so was, oder wenn ich jetzt einen Freiblock hatte und was tun sollte, das hat nie so gut funktioniert. Das hat nie so gut funktioniert? Nee, in der Schule ist man immer zu sehr abgelenkt gewesen, weil zu viele Bekannte da waren und hatten sich immer was vorgenommen, aber / Ja, und das Lernen in dem Block? Hat eigentlich ganz gut funktioniert. Und war es für dich eine negative Erfahrung, dass das mit dem selbstständigen Lernen im Freiblock nicht geklappt hat, oder / Na na, funktioniert einfach nicht so gut, kann man nichts machen. Wenn da einfach so viele Leute sind, die man kennt, dann wird das nichts, also kann ich besser zuhause was tun“.

Im Vergleich zu vorherigen Schulerfahrungen ist es Tom am Oberstufen-Kolleg gelungen, sich selbst Ziele und Prioritäten beim Lernen zu setzen: „Ja klar. Man muss sich halt nur umstellen, wenn man / wie gesagt, auf anderen Schulen ist es halt so, dass man da noch einen Arschtritt kriegt von den Lehrern und das ist halt hier nicht unbedingt so. Das ist hier nicht so, also wenn es nicht klappt, dann merkt man das. Man kriegt halt viele Sachen auch nicht gesagt direkt von den Lehrern. Man muss halt selber immer gucken, ob man / man muss sich selber einschätzen, ob man so weiter machen kann, wie man jetzt so von der Lernleistung etc. / ob man so wirklich das, die Schulaufgaben, bewältigen kann oder ob man da mehr oder weniger für tun muss. Weniger wohl nicht (lacht ein bisschen), aber ob man da halt mehr dafür tun muss“.

Tom scheint mit dem selbstständigen Lernen gut zurechtzukommen – er hat erkannt, dass er sich kümmern muss, und das hat er letztendlich auch getan. Schwierig war es 46

immer, wenn er kein Interesse an dem Fach hatte („Oder manchmal lässt man sich nicht so gut drauf ein“). Dann lag ihm nur noch daran, den Kurs möglichst schnell hinter sich zu bringen („Ich hatte einen kleinen Durchhänger da, aber – so weiß ich halt, wofür ich lerne“). Ohne Interesse ist er unmotiviert, hat aber alle Kurse bestanden, auch den Mathematik-Kurs „Ich habe mich da schon noch durchgekämpft irgendwie, aber (...) mein Bestes gegeben“. Im ersten Interview spricht Tom über die Brückenkurse in Mathematik, die er im Eingangsjahr besucht. Er fühlt sich im Brückenkurs gefördert, sagt er. An einer Stelle nennt er den Brückenkurs ironisch „Idiotenunterricht“ – er erklärt dies damit, dass in diesem Kurs die „Idioten“ zusammengewürfelt werden, die Nachhilfe bekommen. Trotz dieser ironischen Distanzierung scheint der Kurs für Tom hilfreich gewesen zu sein, seine Defizite in der Mathematik aufzuarbeiten. War die Atmosphäre da anders, im Unterricht? Ja, man weiß halt, dass hier immer die Idioten zusammengewürfelt sind. ((lacht)) Und denen halt noch mal so eine Art Nachhilfe gegeben wird. Ja, hat das gefruchtet? War ganz gut dort.

Im zweiten Interview gegen Ende des fünften Semesters berichtet er, dass er seine Leistungen in Mathematik hat verbessern können. Neben den Brückenkursen in Mathematik hatte er ein halbes Jahr lang zweimal in der Woche auch einen privaten Nachhilfelehrer, und er hat das Lernbüro Mathematik besucht. Insgesamt hat Tom festgestellt, dass er in der Lage ist, selbstständig zu arbeiten, was am Oberstufen-Kolleg gefördert und auch gefordert wird. Allerdings deutet er auch an, dass es Situationen gab, in denen er mit seiner kritischen Haltung bei Lehrenden angeeckt ist – was vielleicht auch seine Zurückhaltung im Interview erklärt: Sag mal Beispiele. Vielleicht erlebst du dich jetzt auch selbstständiger als deine MitKollegiaten. Ja, man… Wenn einem was gesagt wird vom Lehrer, was man machen soll, dass man das direkt dann in Angriff nimmt und auch selber weiß, was man machen soll, und nicht die ganze Zeit den Lehrer noch mal fragen soll: ‚wie geht das, was muss ich da machen’ und bla-bla-bla. Und so. Und das beobachtest du da eher bei deinen Mit-Kollegiaten jetzt am OS, dass die das eher machen? Dass die auf irgendwas warten? Ja, sind schon selb-, ich meine, insgesamt die Leute hier am OS haben viel mehr Lebenserfahrung als an vielen anderen Schulen. Weil hier ja gemischte Altersklassen sind und… Und halt auf der Laborschule. Alle Leute, wer was sagen will, der sagt es direkt so. Die trauen sich halt alle, Sachen zu sagen, so, was sich manche Schüler einfach nicht trauen, so. Die machen halt, was sie wollen. So einiges selbstständiger und selbstbewusster. Fandst du das gut? Ja, finde ich schon. Die sagen auch eher-, du auch, du sagst auch, was du willst? Ja. Kann aber auch manchmal auch zum Verhängnis werden. Hast du schon erlebt? Ja, manche Lehrer ((lacht)) reagieren da halt nicht so gut, wenn man die ganze Zeit die Klappe aufmacht und sagt, was man denkt“.

Zu Toms Umgang mit schulischen Problemen lässt sich sagen, dass er insgesamt wenig Bereitschaft zu haben scheint, sich auf Beratung einzulassen oder im Unterricht nachzufragen. Hat er die Wahrnehmung, es besteht ein Problem, so bemüht sich Tom

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eher um einen Nachhilfelehrer. Er deutet an, dass seine Offenheit und Kritik nicht immer von den Lehrenden geschätzt wurde. Offenbar hat er negative Erfahrungen mit Kritik an Lehrenden gemacht. Er stellt für sich fest, dass er weitergekommen ist, wenn er das, was zu erledigen war, auch ernst genommen hat und sich darum gekümmert hat, Defizite, die er bemerkt hatte, auszugleichten. Schwierig wurde es für Tom, wenn der Unterrichtsstoff keinen Bezug zu seiner Lebenswelt, seinen Interessen hatte und nicht übertragbar war. Zu kämpfen hatte er mit den Ablenkungsmöglichkeiten im Oberstufen-Kolleg, wenn er selbständig arbeiten sollte, es aber zu laut war, zu viele Bekannte um ihn herum waren usw. Obwohl Erwartungen an das Oberstufen-Kolleg zunächst kaum vorhanden waren bzw. hauptsächlich die Vorstellung da war, die Versuchsschule sei von den Anforderungen her sehr leicht, was sich nicht bewahrheitet hat, stellt Tom rückblickend fest, dass es für ihn genau die richtige Schule war. 6.2.2 Jennifer: „So - ohne was zu machen, oder selbstständig was zu machen - kommt man hier gar nicht weit, man muss sich halt um alles kümmern“ Interviewsituation und formale Textstruktur Jennifer wurde zum Ende des ersten und zu Beginn des sechsten Ausbildungssemesters am Oberstufen-Kolleg interviewt. Sie antwortet bereitwillig auf alle Fragen, lacht auch gelegentlich während des Interviews und erzählt flüssig von ihrem bildungsbiografischen und sozialen Hintergrund, wie auch von ihren Lernerfahrungen an der Versuchsschule. Das erste Interview dauert etwa doppelt so lange (ca. 1 Stunde) wie das zweite. Ja-NeinFragen beantwortet sie oft sehr knapp, zu ihrer Bildungsbiografie und ihrem familiären und sozialen Hintergrund gibt sie jedoch ausführlich Auskunft. Häufig verwendet sie Füllworte, wie „halt“ und „äm“ und Phrasen wie „oh, das weiß ich nicht“. Auch ihre Lernerfahrungen am Oberstufen-Kolleg werden im zweiten Interview ausführlich reflektiert. Familiärer und sozialer Hintergrund Jennifer ist zu Beginn der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg 18 Jahre. Sie stammt aus einer Kleinstadt im Harz, wo sie durch eine Klassenkameradin schon vor längerer Zeit vom Oberstufen-Kolleg erfahren hat. Ihr Vater meinte daraufhin: „Da gehst Du jetzt hin, gehe aus (…) raus, das ist ganz gut für Dich“. Da die Bewerbungsfrist bei ihrem ersten Versuch schon abgelaufen war, wiederholte sie die 10. Klasse Realschule, um einen Qualifikationsvermerk für die gymnasiale Oberstufe zu erhalten. Von den Eltern hat sie zu jeder Zeit Unterstützung für ihren eigenen Weg erfahren. Beide Eltern besitzen die Mittlere Reife. Die Mutter ist Krankenschwester und der Vater arbeitet als Erzieher bei der „Lebenshilfe“. Beide sind ehrenamtlich in der Entwicklungshilfe (bei UNICEF) engagiert. Auch Jennifer war schon einmal einen Monat in Thailand, aber da „wir noch ein paar Läden haben und auch einen UNICEF-Laden haben, ist halt gar nicht so die Zeit, um irgendwie mal groß wegzufahren, und das Geld, um groß wegzufahren“. Die beiden Brüder (ein älterer und ein jüngerer) spielten bei Jennifers Entscheidung fürs Oberstufen-Kolleg keine Rolle. Der ältere Bruder macht eine Ausbildung zum Krankenpfleger und wohnt schon seit ein paar Jahren nicht mehr zu Hause, jedoch noch in derselben Stadt wie die Eltern. Ihm ist es egal, ob seine Schwester Abitur macht oder nicht. Der jüngere Bruder blickt dagegen eher etwas auf zu seiner Schwester. Jennifer hofft, dass er durch ihre Entscheidung einen „Tritt in den Hintern“ bekommt und begreift, dass Schule auch Vorteile hat.

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Bildungs- und lebensbiographische Ausgangsbedingungen Nach der Grundschulzeit (4 Jahre) besuchte Jennifer an einer anderen Schule die Orientierungsstufe mit leistungsdifferenzierten Gruppen, was sie als „Absturz“ erlebte. Nach den zwei Jahren blieb sie trotz Realschulempfehlung auf dem Gymnasium. Da sie die 7. Klasse dort hätte wiederholen müssen, wechselte sie in die 8. Klasse der Realschule. Nach Abschluss der 10. Klasse reichte der Notendurchschnitt (3,08) nicht für eine Gymnasialempfehlung, so dass sie die 10. Klasse noch einmal wiederholte. Ihr Berufswunsch zu Beginn der Ausbildung ist ein Medizinstudium, weshalb sie als Studienfach Gesundheitswissenschaft gewählt hat. Das zweite Studienfach, Biologie, hat sie nach dem ersten Semester zu Umweltwissenschaften umgewählt. Schule war für Jennifer bislang eher ein negativ besetztes Wort: „An anderen Schulen hatte ich es immer so, dass ich (…) fast unterdrückt wurde in Bezug auf (…) alles eigentlich. Wenn ich eine Meinung geäußert habe, war es immer gleich falsch, wenn es sich so erwies, dass es so im Lehrbuch steht. Die Sache ist, dass ich glaube, dass man hier nicht so schief angeguckt wird. Auf meiner alten Schule habe ich jeden Tag drei blöde Bemerkungen bekommen, mindestens“. Jennifer ist von ihrer äußeren Erscheinung her eher ein Alternativtyp, mit Ohrringen, gefärbten Haaren und alternativer Kleidung, was in ihrer Heimatstadt zu den „blöden Bemerkungen“ geführt hat. Am Oberstufen-Kolleg wurde sie deshalb noch nie „blöd angemacht“. In ihrer bisherigen Schullaufbahn bereiteten Jennifer die Fächer Mathematik und Englisch die größten Schwierigkeiten. In ihnen erhielt sie Nachhilfe von ihrem Opa und ihrem älteren Bruder. Sie sieht sich selbst jedoch eher als Typ, der alles aus eigener Kraft schaffen möchte. Am Oberstufen-Kolleg besucht sie einen Brückenkurs in Mathematik. Mit der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg war der Umzug in eine größere Stadt verbunden. Sie wohnt jetzt in einer WG. Über mehrere Jahre ist Jennifer aktiv bei den Pfadfindern gewesen. In ihrer Heimatstadt war sie Gruppenleiterin für die Sieben- bis Neunjährigen und hat auch andere Funktionen übernommen (z. B. Materialwartin). Mit den Pfadfindern war sie häufig unterwegs, so auch mit 15 Jahren für einen Monat in Thailand. Ihre Reisen hat sie schon immer zum Teil selbst bezahlt. Im Sommer 2005 fährt sie mit einer Gruppe nach Irland. Bei den Fahrten bereitete es ihr keine Probleme, für ca. 30-40 Personen zu kochen. Mit dem Umzug nach Bielefeld hat sie ihre Leitungsrolle abgegeben und dieses Kapitel für sich abgehakt. Mit der Selbstständigkeit in der WG kommt sie gut zurecht; in der Regel kocht sie selbst, um Geld zu sparen. Relevante Situationen und Phasen auf dem Weg zum Abitur und die Bedeutung schulischer Förderung und Beratung Für Jennifer stand schon seit der ersten Klasse fest, dass sie Abitur machen möchte, weshalb sie auch die zehnte Realschulklasse freiwillig wiederholte, um die Qualifikation für die gymnasiale Oberstufe zu erhalten. Ursprünglich hatte sie vor, Medizin zu studieren, um in die Entwicklungshilfe zu gehen. Da das zu erwartende Abgangszeugnis den erforderlichen Notendurchschnitt voraussichtlich nicht erreichten wird, hat sie sich entschlossen, an der Fachhochschule Sozialpädagogik zu studieren. Zunächst jedoch möchte sie ein Jahr Pause machen und Geld verdienen. An das Oberstufen-Kolleg ist sie gekommen, weil sie zum einen in eine größere Stadt wollte, „erst mal weg von zuhause“ und weil sie an anderen Schulen der Frontalunterricht störte. Sie hatte gehört, dass es am Oberstufen-Kolleg mehr Lerngruppen und keine Klassen gibt und der Unterricht insgesamt anders verläuft. Zwar gebe es hier auch noch

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viel Frontalunterricht, aber das Lernklima insgesamt sei sehr viel angenehmer, was nach Meinung von Jennifer viel mit dem Duzen zusammen hängt. Im Rückblick auf ihre bisherige Schulzeit haben bzw. hätten ihr am meisten AGs am Nachmittag und spezieller Förderunterricht geholfen. Ihr Verhältnis zur Schule hat sich etwa seit der achten Klasse gewandelt: Was ist denn Schule für Dich, wenn Du so sagst „Schule ist halt Schule“, aber was ist Schule? Wie siehst Du Schule? Also Schule sehe ich jetzt als ziemlich Praktisches an, da bin ich jetzt endlich drauf gekommen. Ich möchte lernen, deswegen bin ich ja hier. Ich hätte halt auch schon eine Lehre machen können, ich hätte auch schon viel früher abbrechen können, aber ich möchte halt lernen und ich möchte auch relativ viel lernen, und ich habe ja auch ein Ziel. Also, das ist schon was Praktisches, auf jeden Fall. Was ist Dein Ziel? Oh, ich möchte Medizin studieren. Aber das steht ja noch in den Sternen, deshalb muss ich ja das Abitur schaffen. Und wie war das früher, wenn Du so sagst „Heute sehe ich das praktisch, heute habe ich ein Ziel“? Ja, so Orientierungsstufe bis vielleicht noch 8. Klasse war halt Schule doof. Man fand alles Scheiße, und dann funktionierte das nicht, und dann sind die Eltern stinkig, und ist noch alles blöder, und dann hat man überhaupt gar keine Lust mehr. Dann geht es halt immer so weiter, weil man immer weniger Lust hat, und dann geht es immer noch tiefer, und dann sind die Eltern noch stinkiger, und dann muss man halt einmal irgendwie diesen Sprung schaffen. Dann geht das, und seitdem sage ich auch, dass es was Praktisches ist und dass es gut für mich ist. Wie hast Du den Sprung geschafft? Oh, das weiß ich gar nicht. Es ist einfach passiert. Ich bin dann auf die Realschule gekommen und habe dann gleich bessere Noten gekriegt, und dann hatte ich natürlich auch viel mehr Motivation wieder, irgend etwas zu tun, und dann waren die Eltern auch wieder nicht mehr so böse, und dann lief das alles von allein. Und seitdem läuft es auch von allein“.

Seit Jennifer ein Ziel vor Augen hat (im ersten Interview noch das Medizinstudium), ist Schule für sie nicht mehr „doof“. Eine wichtige Bedeutung für ihre Motivation haben die Noten. Gute Noten stärken ihr Selbstwertgefühl, und es gibt dann auch weniger Ärger mit den Eltern. Im Folgenden werden die für Jennifer förderlichen Lernbedingungen und ihre selbst reflektierte Lernentwicklung, wie auch die subjektive Bedeutung des Förder- und Beratungsangebots dargestellt. Überzeugungen zum eigenen Lernen: „Also, wenn man da keinen Bock drauf hat, dann kann man es auch eigentlich gleich vergessen“ Positive Lernerfahrungen macht Jennifer überall dort, wo ihr Interesse geweckt wird. Dies ist von der Schulform jedoch relativ unabhängig. Zur Frage nach ihren speziellen Erfahrungen am Oberstufen-Kolleg sagt sie: Äm, kann man eigentlich sagen, dass sich da bei mir nicht so viel verändert hat, glaube ich, weil ich, äm, ja, die 10. Klasse wiederholt habe, freiwillig. Und da halt schon diesen Umschlag hatte, dass ich halt jetzt doch was tun will. Aber, also, ich lerne, wenn ich denke, dass es notwendig ist und, ja…. „Dass ich doch was tun will“, also, ist das so das, was es ausmacht beim Lernen? Ja, natürlich. Also, wenn man da keinen Bock drauf hat, dann kann man es auch eigentlich gleich vergessen so, weil dann sperrt sich halt alles.“ (I_20_2 S. 1f)

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Jennifer schildert nun, wie sie auch am Oberstufen-Kolleg solche Situationen erlebt hat, z.B. als ihr ein Thema für die Facharbeit in Umweltwissenschaften „aufgezwungen wurde“. Weil das nicht ihr Wunschthema war, hatte sie keine Lust dazu, und es „ist dann jetzt auch nur eine 4 geworden“. Ihrer Schilderung nach gab es ein Missverständnis darüber, dass das Thema eines Versuchs, den sie sich ausgesucht hatte auch die Grundlage der Facharbeit sein sollte. Dies sei im Vorfeld so nicht angekündigt worden. Den Grund für die schlechte Leistung sieht sie in ihrer prinzipiellen Lernhaltung: „wenn mich etwas nicht interessiert, lese ich mir das auch ungern durch oder setze mich auch dafür ein, dass ich das in den Kopf kriege oder so“. Positive Erfahrungen hat sie dagegen im Mathematikunterricht gemacht, wo sie zwar bis auf eine keine Klausur bestanden hat, aber für eine Projektdokumentation eine gute Zensur bekam. Den Grund dafür, dass es diesmal geklappt hat, sieht sie auch hier wieder im Thema, das sie interessiert hat. Auch die Lernmethode spielt für Jennifer eine wichtige Rolle. Am besten arbeitet sie in Kleingruppen und macht dort auch die meisten Lernfortschritte. Ebenso profitiert sie von Kurzreferaten, sowohl von denen, die andere halten, als auch von den selbst vorbereiteten. Ausgesprochene Motivationsprobleme hat sie jedoch bei Frontalunterricht. Ein solches Negativbeispiel ist für sie auch der Mathematikunterricht: Gibt es irgendwie andere Sachen, die Dir einfallen? Ich weiß nicht, ich will ja jetzt auch nichts vorweg nehmen, aber es gibt ja bestimmt auch noch andere Aspekte, die wichtig sind, damit man Lust zum Lernen hat und damit man auch erfolgreich lernt. Ja, also einmal auf jeden Fall, wie der Unterricht gehalten wird, also, es liegt natürlich ganz stark an dem Lehrer, was man aufnimmt. Also, es war jetzt in meinem Mathekurs zum Beispiel so, dass es halt wirklich die ganze Zeit nur Frontalunterricht war. Und dass überhaupt nicht auf uns eingegangen wurde. Und da ist klar, dass der Kurs schlecht abschneidet, bis auf ein paar Einzelfälle“.

Jennifer hat sowohl erfahren, dass sie „manche Sachen, glaube ich, auch nicht wissen will“, als auch, „wie viele Sachen man eigentlich doch lernen kann. Oder wie viel ich eigentlich gar nicht weiß. Und dann halt in bestimmte Richtungen mehr machen möchte. Und ja, also das ist…, hat halt wirklich mein Interesse teilweise geweckt“. In der Eingangsphase besuchte Jennifer einen Brückenkurs in Mathematik. Da hier die Themen an der Wurzel gepackt wurden, hat ihr der Brückenkurs etwas gebracht, so dass sie ihre Defizite abbauen konnte. Störend empfand sie jedoch die Größe des Kurses: die Geräuschkulisse war dadurch zu groß. Jennifer hätte sich gewünscht, dass die Themen des Basiskurses Mathematik auch im Brückenkurs angesprochen würden. So hat sie den Basiskurs nur mit Mühe bestanden. Im Gegensatz zu Mathematik waren die anderen Basiskurse in Deutsch und Englisch eher Wiederholung des Stoffs aus ihrer alten Schule. In allen Basiskursen fand der Unterricht in der Regel in Frontalunterricht statt. Jennifer bemängelt, dass der Deutsch-Basiskurs von einem fachfremden Lehrenden gehalten wurde, der vieles selbst nicht so genau wusste, was zu großer Unruhe geführt habe. Trotzdem war das Lernklima in diesem Kurs noch angenehmer als im Englischkurs, wo die meisten mit anderen Dingen als Englisch beschäftigt waren. Insgesamt fand sie die Kursgröße bei allen Basiskursen zu stark. Sie hatte Kurse mit deutlich unter 20 Teilnehmern erwartet. In der Hauptphase nutzt Jennifer kein institutionelles Lernangebot mehr. Geholfen hat ihr jedoch eine Lerngruppe im Studienfach Umweltwissenschaften. Jennifers Motivation, etwas zu lernen, war von Anfang an gut, da sie sich ganz bewusst das Oberstufen-Kolleg ausgesucht hatte, weil sie die Erwartung hatte, dass man dort anders lernt. Deshalb kam ihr besonders das selbstständige Lernen entgegen. Leistungsnachweise, für die sie entweder allein oder in kleinen Gruppen sich weitgehend ohne Anleitung Informationen besorgen musste, gelangen ihr in der Regel am besten und 51

machten ihr auch am meisten Spaß. Dagegen hatte sie eine große Abneigung gegen Unterrichtsformen, die sie von ihrer früheren Schule her kannte, wodurch ihr Interesse meist sofort erlahmte. Entsprechend schwer fiel es ihr, unter solchen Bedingungen gute Leistungen zu erzielen. Eklatantestes Beispiel hierfür ist die Facharbeit im Studienfach „Umweltwissenschaften“, wo ihr ihrer Meinung nach das Thema aufgezwungen wurde, obwohl sie lieber ein Thema zum Klimawandel bearbeitet hätte. In ihrem Frust darüber, dass sie ein Thema wählen musste, das mit einem Versuch zusammen hing, den sie in diesem Fach durchgeführt hatte, sah sie nicht einmal mehr, dass sie sogar auch in das fremd gestellte Thema ihr Wunschthema noch hätte hineinarbeiten können. Dieses Beispiel ist typisch auch für ihre Probleme in anderen Fächern: Wenn sie sich einmal verschlossen hat einem neuen Thema gegenüber, dann vermag fast nichts mehr die Blockade zu lösen. Doch dank der angenehmen Atmosphäre und der Tatsache, dass sie in genügend Fächern auf ihre Kosten kam, war Jennifers Abschluss nie ernsthaft gefährdet. Bedeutung von Beratungs- und Förderangeboten: „Das reicht eigentlich schon, wenn man eine Frage hat, dass man nicht einfach abgeblockt wird“ Jennifer hat hauptsächlich in der Eingangsphase Erfahrungen mit dem Beratungsangebot am Oberstufen-Kolleg gemacht, wobei sie meist direkt Personen ihres Vertrauens angesprochen hat. Um ‚Favorit’ bei ihr zu werden, muss man „so ein bisschen Ahnung haben. Das reicht eigentlich schon, wenn man eine Frage hat, dass man nicht einfach abgeblockt wird und dass alle Unklarheiten beseitigt werden und dass man auch angehört wird“. Wichtig waren für Jennifer auch immer die Informationsveranstaltungen der Kollegleitung, die sie regelmäßig besucht hat. Am häufigsten hat sie sich jedoch bei Fragen direkt an die Lehrenden gewandt. Von ihnen wurde sie auch am besten beraten. Die Lehrenden wirkten in der Regel auf ihre Fragen gut vorbereitet. Auch von MitkollegiatInnen hat sie viele hilfreiche Informationen bekommen. Die Schulsozialarbeit hat sie in der Eingangsphase nicht in Anspruch genommen, aber sie könnte sich vorstellen, sich dorthin zu wenden, wenn es Probleme mit einem Wohnheimplatz gäbe. In der Hauptphase hat sie sich bei der Sozialarbeiterin wegen eines Freiwilligen Sozialen Jahres erkundigt. Auf jeden Fall sieht sie eine Berechtigung in dieser Einrichtung, ebenso wie in der psycho-sozialen Beratung, die sie zwar auch noch nicht in Anspruch genommen hat, aber an die sie sich wenden würde, wenn es ihr „dreckig“ ginge. An die Laufbahnberatung hat sie sich auch in der Hauptphase mehrfach gewendet, wo sie stets gut beraten wurde. Am Ende des ersten Semesters wählte Jennifer zwar einen Tutor, hatte aber mit ihm während der gesamten Zeit am Oberstufen-Kolleg nur wenig zu tun. Ihrer Meinung nach ist ein Tutor auch nicht besonders wichtig für eine erfolgreiche Ausbildung. Von Tutandentreffen hält sie gar nichts. Dagegen räumt sie dem Schulklima die oberste Priorität ein: „das ist schon wichtig und gut. Klar, wenn ich mich hier nicht wohl fühle, möchte ich auch nicht in die Schule kommen und dann unterstützt es die ganze Sache ja auch nicht“. Die Basiskurse sind für Jennifer nicht viel anders als andere Grundkurse; ihrer Meinung nach fördern sie nicht besonders gut. Dagegen hält sie die Brückenkurse für sehr viel hilfreicher, was das Aufholen von Defiziten angeht. Allerdings war ihr MathematikBrückenkurs nicht so förderlich, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Wenn sie

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jedoch den ersten Basiskurs nicht bestanden hätte, hätte sie freiwillig noch einen weiteren Brückenkurs belegt. Als besonders ungünstig empfindet sie es, wenn der Basiskurs und der Brückenkurs vom selben Lehrenden unterrichtet wird. Außerhalb des Oberstufen-Kollegs waren ihre Eltern und Freunde wichtigste Berater bei der Planung der Schullaufbahn. Unzufriedenheit mit den schulorganisatorischen Rahmenbedingungen: „Da muss man halt auch nochmal hinterher rennen“ Auf die Frage nach ihren Erfahrungen mit dem Lernen am Oberstufen-Kolleg kommen Jennifer vor allem organisatorische Angelegenheiten in den Sinn: Äm, also ich habe auf jeden Fall gemerkt, dass ich selbstständiger geworden bin. Weil man hier einfach selbstständig sein muss. So ohne was zu machen oder selbstständig was zu machen, kommt man hier gar nicht weit, weil man muss sich halt um alles kümmern. Und das war halt auf meiner Schule vorher überhaupt nicht der Fall. Und „um alles kümmern“, das bedeutet was genau? Äm, man muss sich drum kümmern, dass, äm, der Stundenplan einigermaßen hinhaut. Dass, äm, man Leistungsnachweise gut macht und dann auch irgendwie wieder zurückbekommt, was ja auch nicht immer der Fall ist. Da muss man halt auch nochmal hinterher rennen. Also, eigentlich, ja, das ist es grob eigentlich, aber das ist halt doch schon eine ganze Menge mit den Leistungsnachweisen.

Jennifer hat im Laufe ihrer Ausbildung am Oberstufen-Kolleg häufiger erlebt, dass ihre Erwartungen enttäuscht wurden, z.B. dass ein Fach, das sie gerne belegt hätte, entweder nicht eröffnet wurde oder sie dafür nicht für geeignet gehalten wurde: Ursprünglich hatte sie sich für Kunst beworben, aber von diesem Fach wurde ihr schon bei der Bewerbung abgeraten. Später wollte sie statt Umweltwissenschaften lieber Philosophie als Studienfach, doch dieses Fach wurde aufgrund eines Gremienbeschlusses für ihren Jahrgang nicht eröffnet. Da sie sich sehr stark für die Eröffnung des Wunschfaches eingesetzt hatte, hatte der Beschluss bei Jennifer zur Folge, dass die Motivation für Umweltwissenschaften „im Keller“ war. Hinzu kam, dass eine geplante Fahrt nach Kenia mit dem Studienfach Umweltwissenschaften abgesagt wurde. In diesem Zusammenhang stellte sich bei ihr wieder das aus der früheren Schule bekannte „Lehrer-Schüler-Gefühl“ ein, bei dem Lehrende und Lernende nur dem Anschein nach gleichberechtigt sind. Besonders ärgerlich war für Jennifer, dass sie nicht einmal Grundkurse in ihren Lieblingsfächern Kunst und Philosophie belegen konnte, da die wenigen angebotenen Kurse nicht in ihren Stundenplan passten. Bei jedem neuen Stundeplan beschwerte sie sich, weil etwas nicht so war, wie sie es gewünscht hatte, und interessanterweise konnte es dann meist im Nachhinein doch noch geändert werden. Es ist typisch für Jennifer, dass sie sich bei auftauchenden Problemen selbst kümmert und beschwert und sich nicht Hilfe bei einem „Experten“ sucht. Auf diese Weise hat sie die drei Jahre bis zum Abitur ohne größere Schwierigkeiten absolviert. Obgleich Jennifer die Qualifikation für die gymnasiale Oberstufe hatte und in ihrer Heimatstadt das Gymnasium hätte besuchen können, entschied sie sich ganz bewusst für das Oberstufen-Kolleg. Trotz einiger Enttäuschungen hat sie insgesamt überwiegend positive Erfahrungen an dieser Einrichtung gemacht. Sehr gut kam sie mit der größeren Offenheit und der von Lehrendenseite stärker vorausgesetzten Selbstständigkeit zurecht. War sie mit einer Situation unzufrieden, kümmerte sie sich in der Regel sofort selbst darum und konnte dadurch oftmals erreichen, dass sie sich besserte. Wenn sie auch nicht den erhofften guten Abitursschnitt erreichte, kann Jennifer nun auf jeden Fall ein Studium beginnen. Ihr ist aber auch klar geworden, dass sie das nicht sofort möchte. In jedem Fall 53

hat die Zeit am Oberstufen-Kolleg ihr geholfen, sich über ihre Wünsche und Eignungen klarer zu werden.

6.2.3 Ludwig: „Man muss schon ein paar Ansätze bieten und ein paar Möglichkeiten bieten und – ja, einfach dem Schüler geben, was er braucht in dem Moment“ Interviewsituation und formale Textstruktur Ludwig hat das Oberstufen-Kolleg ohne Rückstufungen durchlaufen und wurde für das zweite Interview telefonisch angesprochen und als Gesprächspartner gewonnen. Er willigte sofort in das Interview ein und gab bereitwillig Auskunft über die an der Versuchsschule gesammelten Erfahrungen. Er wirkte in der Interviewsituation selbstsicher und bemühte sich um eine angemessene Beschreibung und Reflexion seiner Lernerfahrungen. Ludwig antwortet auf die Interviewfragen mit eher kurzen Erläuterungen, generiert jedoch mehrfach auch Passagen mit narrativem Charakter. Familiärer und sozialer Hintergrund Ludwig ist zu den beiden Befragungszeitpunkten 17 bzw. 19 Jahre alt und wohnt bei seinen Eltern. Seine Eltern sind in Deutschland geboren, der Vater hat Abitur, die Mutter Mittlere Reife. Seine Affinität zu den Naturwissenschaften ist mehrfach Gegenstand des Interviews. Diese führt Ludwig auf den ebenfalls naturwissenschaftlich interessierten Vater zurück. In beiden Interviews fällt seine geradlinige Lebenshaltung auf: Schule und das Vertrauen auf die eigenen Kompetenzen haben oberste Priorität für ihn. Dementsprechend sieht Ludwig sein Leben „nicht so, wie das typische Leben von 17Jährigen“. Er tut nicht das, was viele Jungs in seinem Alter tun (z.B. „Birne wegsaufen“). Vielmehr ist es ihm wichtig, darauf zu achten, dass er in der Schule mitkommt und Gelegenheit hat, seine Interessen auszubilden. Mit Beginn seiner Ausbildung am Oberstufen-Kolleg hat er – im Gegensatz zu seiner Lernkultur an der Realschule, wo er kaum Zeit für das Lernen neben der Schule verwendet habe – damit begonnen, sich kontinuierlich mit interessanten Inhalten zu befassen (Hausaufgaben machen, mitarbeiten, interessante Bücher lesen), weshalb ihm die Arbeit leicht von der Hand geht. Seine Eltern lassen ihm bei seiner Ausbildungs- und Berufswahl nach seiner Aussage „viel Freiraum“. Die Art der Eltern, ihn gewähren zu lassen („das liegt alles in meiner Hand“, mein eigenes Ding machen lassen“) und ihm „keine Steine in den Weg [zu] legen“, bezeichnet er als „passive Unterstützung“. Sein Interesse am Oberstufen-Kolleg wurde seiner Einschätzung nach v.a. durch die positiven Erzählungen seiner Eltern (der Besuch des Oberstufen-Kollegs ist in seiner Familie „irgendwie schon fast Tradition“) geweckt. Ihn hätten die Möglichkeiten am Oberstufen-Kolleg (z.B. „Fotolabor nutzen“, „selbständiges Lernen“, „gute Vorbereitung auf das Studium“) und „ein besserer persönlicher Umgang“ mit den Lehrenden, den er auf die versuchsschulspezifische Organisationsform zurück führt, neugierig gemacht und überzeugt. Bildungs- und lebensbiographische Ausgangsbedingungen „Ludwig“ kam von der Gesamtschule ans Oberstufen-Kolleg. Das Oberstufen-Kolleg hat er anfangs „etwas desorganisiert (...) aber eigentlich positiv“ erlebt. An die Gesamtschule (Realschulzweig) hat er – außer, dass „die Leute (...) vielleicht ein bisschen doof“ waren (wegen „Rumschreien“ im Kurs) – keine besonderen oder prägnanten Erinnerungen. 54

Ludwig sieht seine Interessen, Stärken und Berufsperspektiven eindeutig im Bereich der Naturwissenschaften (Mathe und Chemie hätten ihn „schon immer interessiert“) und möchte deshalb auch Chemie studieren. Ihm sei „eigentlich schon immer klar“ gewesen (seit er in der 7. Klasse ein Buch über Quantenphysik gelesen hat), dass er „was in der Richtung machen wollte“ und kann sich „auf jeden Fall“ vorstellen „in die Forschung“ zu gehen, weshalb er sich auch fachlich auf dem Laufenden hält und über das Programm „Studieren ab 16“ informiert hat. Man könnte Ludwig als idealistisch, motiviert, engagiert („man [ist] halt einfach älter geworden und es ist klar, dass man jetzt nicht auf der faulen Haut liegen kann“) und z.T. ‚jugendlich-naiv’ in seiner Weltsicht („Außerdem reizt natürlich das Geld“; studieren gehen, „bevor die großen Entdeckungen alle weggeschnappt sind“) bezeichnen. Ausdruck dieses zuversichtlichen und selbstbewussten Welt- und Selbstbildes ist nicht zuletzt die Tatsache, dass er in beiden Interviews von sich behauptet „eigentlich ein Multitalent“ mit rascher Auffassungsgabe zu sein, da er in vielen Bereichen – nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch im musischen Feld (er schreibt Kurzgeschichten und hat Theater gespielt) – Kompetenzen habe. Ludwig steht seiner Ausbildung am Oberstufen-Kolleg insgesamt und dem Abitur als ‚Preis’ für seine Bemühungen und als Schlüssel zur Berufswelt ausgesprochen positiv und zuversichtlich gegenüber. Relevante Situationen und Phasen auf dem Weg zum Abitur und die Bedeutung schulischer Förderung und Beratung Für Ludwig stehen (schulische) Leistung, Studium und Beruf im Mittelpunkt des Interesses. Seine hohe Bildungsaspiration zeigt sich darin, dass er schulische Aufgaben mit großem Selbstbewusstsein, viel Engagement und einer ‚klaren Linie’ angeht. Entsprechend seinem schulischen Vorwissen und seiner kontinuierlichen Mitarbeit empfindet er die Leistungsanforderungen am Oberstufen-Kolleg zum ersten Befragungszeitpunkt als „sehr leicht“. Auch die Einarbeitung in Inhalte, die ihm unbekannt sind, falle ihm als „Multitalent“ leicht, so dass es ihm manchmal „halt mal ein bisschen langweilig“ werde und er sich auf größere Herausforderungen in den Studienfächern freue. Auch im zweiten Interview setzt sich die positive Einschätzung fort und der auch im ersten Interview verwendete Begriff „Multitalent“ wird eingebracht: „Ich habe eigentlich bei den meisten Sachen einfach kein Problem und schaffe es locker auf eine Zwei, wenn ich möchte (...) und freu mich auch immer, wenn ich was Neues lernen kann. (...). Ich würde mich schon als Multitalent bezeichnen, ja“. Da Selbstorganisation und Eigenverantwortlichkeit zentrale Orientierungsmuster von Ludwigs Schullaufbahn sind und er der Entstehung von Defiziten durch kontinuierliche Mitarbeit und fachliches Interesse entgegenwirkt, besitzen Förderung und Beratung für ihn einen eher untergeordneten Stellenwert. Anstatt fachliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, habe er in der Vergangenheit selbst Nachhilfe in Mathematik, Chemie und Physik gegeben. Wichtiger als intensive Förderung oder fachlicher Austausch mit anderen Kollegiaten sind für ihn punktuelle Beratung und individuelle Lernanreize durch Lehrkräfte und „ein gutes Klima in den Kursen (...) gutes Lernklima, kompetente Lehrende.“ Dementsprechend ist ein anregendes Schul- bzw. Unterrichtsklima für seine persönliche und fachliche Entwicklung von zentraler Bedeutung. Schule hat für Ludwig in erster Linie adäquate Rahmenbedingungen für den Lernerfolg der SchülerInnen zu schaffen, indem sie z.B. fachliche Inhalte in didaktisch anregenden Lernumgebungen arrangiert und hierfür angemessene Arbeits- und Sozialformen zwischen Lehrenden und Lernenden anbietet.

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Im Folgenden werden zwei Situationen beschrieben, die für Ludwigs Bildungsgang am Oberstufen-Kolleg bedeutsam und charakteristisch sind. Diese beziehen sich auf ein Erfolgserlebnis im Kontext des forschenden Lernens und auf eine den eigenen Lernerfolg gefährdende problematische Erfahrung mit einer Gruppenarbeit. Der Lehrer als Lernberater: „Man muss schon ein paar Ansätze bieten und ein paar Möglichkeiten bieten und - ja einfach dem Schüler geben, was er braucht in dem Moment“ Die fachlichen, organisationalen und motivationalen Rahmenbedingungen der Lernsituation sind für Ludwigs Lernprozess besonders wichtig. Lernen gelingt, wenn er vor Herausforderungen bzw. Probleme gestellt wird, die für ihn persönlich bedeutsam und fachlich herausfordernd sind. Die Lehrperson muss in der konkreten Lernsituation vom Lernenden ausgehen und ihm „geben, was er braucht“. Wie das folgende Zitat zeigt, sind für ihn Voraussetzungen für gutes Lernen projektartiges bzw. forschendes Arbeiten, eine gute strukturelle Ausstattung des Arbeitsplatzes, Interesse am Thema, Selbstständigkeit, kleinschrittig gesetzte herausfordernde Ziele und v.a. fachkompetente Lehrer, die mit ihrem Interesse am Thema die Schüler motivieren: Hast du / kannst du von wichtigen Lernerfolgen berichten, also gab’s Erfolgserlebnisse, die für dich besonders wichtig waren in der Zeit? Es gab schon ziemlich viele Erfolgserlebnisse. Vielleicht mal so ein prägnantes - hervorheben, ein bisschen beschreiben? Also ich weiß auf jeden Fall, wenn ich jetzt betrachte, was ich auf der Realschule gemacht habe, was ich hier gemacht habe, dass mir das jetzt schon wesentlich mehr gebracht hat. - Jetzt ein Erfolgserlebnis genau zu beschreiben fällt mir schwer, weil das ist eher so eine Einstellungssache, die sich da geändert hat, einfach was wissenschaftliches Arbeiten angeht, wie man so mit den Quellen umgehen muss und alles, etc. Ich finde das ist mehr so eine Herangehensweise, so eine Einstellung, und es ist halt sehr schwer, jetzt da ein Erfolgserlebnis herauszufinden. (...). Dass zum Beispiel / also was man vielleicht so sagen könnte wäre / ich war jetzt - letzten Freitag waren wir auf so einem Schülerwettbewerb zum Beispiel, da haben wir halt dieses Projekt [Bioreaktor für Grünalgen] mit diesem einen [Lehrer], wo wir die ganze Zeit entwickelt haben. Deswegen stehe ich leider in der Zeitung und jeder spricht mich darauf an, aber das war schon ein Erfolgserlebnis, auch wenn wir leider nur den zweiten Platz gekriegt haben, aber man hat halt lange / wir hatten noch einen Nervenkrieg (?) gehabt. Wir haben halt lange dafür / also eigentlich ich und noch so ein anderer, wir haben da lange dran gearbeitet und das ist auch schon gut dann, wenn man / Das ist ja ein voller Erfolg, oder? Ja, eigentlich schon, ja doch, besonders weil ich / das war halt nicht vom Studienfach her wirklich, mein Lehrer hat halt immer wieder gesagt, hat halt im Studienfach immer wieder darauf hingewiesen, wir haben das Projekt am Laufen und so, aber eigentlich war das halt eine freiwillige Leistung von zwei, drei Leuten, die waren – und das ist halt schon cool, wenn man dann auch was dafür kriegt. Ja das ist doch toll. Und wie ist es dazu gekommen, dass du dich so intensiv mit diesem Projekt beschäftigt hast? ((Ludwig lacht ein bisschen)) Das hat der Lehrer ganz raffiniert gemacht. Er hat mich einfach immer so um Kleinigkeiten gebeten irgendwie am Rande, wir haben da so ne Software am Laufen, die heißt Labview (?) und das war halt ein großer Bestandteil von dieser / von diesem Bio, den wir da / und da fing das halt langsam an und er meinte: „Ja, hier, du kennst dich doch mit Computern aus. Guck doch mal, ob du es installieren könntest.“ Dann habe ich’s installiert und dann „Hey, guck doch mal, ob das hier nicht funktioniert.“ Und dann habe ich da immer so dran rumgebastelt und dann hatte ich auch irgendwie für mich den Reiz das mal zu verstehen, weil das ist ziemlich nervig dieses Programm, aber irgendwo habe ich das halt verstanden und dann habe ich einen Versuch gemacht, irgendwie einfach den ph-Wert aufzeichnet über die Zeit, und das hat sich dann halt entwickelt und später habe ich dann halt diese aufwendigere Steuerung dafür gemacht. Ja, das war für mich auch ganz schön, weil - ich sehe das so, das hilft mir alles später auf jeden Fall auf der Uni weiter, wenn ich

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studieren will, weil: Verfahrenssteuerung braucht man immer mal und man muss auch mehr Sachen können als nur stumpf Chemie und man muss auch mal ne Platine sich ätzen können, was ich auch gelernt habe. (...) OK. Wenn du jetzt von / du hast ja erzählt, es gab so mehrere Lernerfolge oder Erfolgserlebnisse für dich in den drei Jahren, kannst du benennen, welche Situationen oder welche Bedingungen dafür gegeben waren, dass es zu dem Erfolg gekommen ist? Ja, also wenn ich jetzt anknüpfe eben an diese, was ich durchgesetzt (?) habe, dieser Schulwettbewerb, dann muss halt da überhaupt ein Lehrer da sein, der sich dafür stark macht und selber auch Geld für ausgeben möchte und auch Geld besorgen kann von verschiedenen Seiten, von Unternehmen, und es muss halt jemand da sein, der das ein bisschen unterstützt: weil man kann da nicht hier einfach einen Schüler hinsetzen und sagen: „Motivier dich jetzt für irgendwas.“ Man muss schon ein paar Ansätze bieten und ein paar Möglichkeiten bieten und – ja, einfach dem Schüler geben, was er braucht in dem Moment und das kann sowohl sein, dass er irgendwie vom irgend jemand, der sich damit auskennt, der vielleicht drüben aus der Uni - na Titels (?) sich was über Verfahrenssteuerung erzählen lässt oder zum Beispiel diese Algen haben wir auch von der Uni gekriegt und so was. Dass einfach der den Leuten ein paar Nummern in die Hand drückt: „Ruf den mal an. Der hat da eine Doktorarbeit drüber geschrieben über das und das und das.“ Und dann gibt’s halt überhaupt die erste Möglichkeit, dass man sich selbst für irgendwas motivieren kann und dass man auch einen Erfolg da hat. (...) Was ist denn für dich, also was hast du in dem Moment gebraucht? Ich habe erstmal eine Problemstellung gebraucht, weil ich kann halt nicht einfach irgendwas entwickeln, so von mir aus, das geht dann nicht. Also, ich / man braucht schon eine Aufgabe, die man irgendwie erledigen kann und daraus ergeben sich weitere Aufgaben dann von alleine, die man erledigen kann - - man braucht natürlich die technischen Möglichkeiten, also wieder das Geld ((lacht ein bisschen)) – ja, und man braucht auch in Wirklichkeit einfach ein Ansprech- / Der Lehrer muss einfach auch ein Ansprechpartner sein und nicht sich einfach zack ins Lehrerzimmer verkrümeln, wie das vielleicht auf anderen Schulen ist, sondern man muss halt schon intensiver mit ihm arbeiten, wenn man so was Größeres macht, weil: es gibt immer wieder so Kleinigkeiten, Fragen, mit denen man sich an ihn wenden kann.

In der Sequenz berichtet Ludwig von einer für ihn bedeutsamen Lernerfahrung im Rahmen einer Projektarbeit: Gemeinsam mit einer Arbeitsgruppe hat er für die Entwicklung eines Bioreaktors den zweiten Platz bei einem Schulwettbewerb im Bereich Chemie erreicht. Im Laufe des Projekts wurde ihm deutlich, dass sich sein freiwilliger Einsatz und die investierte Zeit gelohnt haben. Wesentlich zu diesem Erfolg beigetragen haben die Begleitung und Unterstützung durch die Lehrperson. Die sich in der Sequenz manifestierende Lernhaltung lässt sich durch folgende Aspekte charakterisieren: 

Die Rolle der Lehrperson: Sie muss Lernanreize und Lerngelegenheiten schaffen und als Lernberater fungieren, der Lernprozesse begleitet und moderiert und sich auf die Bedürfnisse der Schüler einstellt. Engagement und Ansprechbarkeit der Lehrperson sind demnach weitere wichtige Kriterien, die Ludwigs Lernerfolg erklären können.



Die Relevanz interessengeleiteten Lernens: Das Anknüpfen an Interessen, Vorkenntnisse und Bedürfnisse erzeugt auf SchülerInnenseite intrinsische Motivation und sorgt bei diesen für einen ‚langen Atem’, der dazu führt, dass auch über das übliche Maß hinaus an einem Projekt gearbeitet wird.



Die motivierende Funktion kleinschrittiger Herausforderungen: Ludwig profitiert dann vom Unterricht, wenn dieser an seinen Interessen und Vorkenntnissen ansetzt und ihm kleinschrittige Anforderungen stellt, die ihn fordern. Dabei kommt

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es darauf an, dass die Lehrperson selbst Interesse am Thema hat und dies auf authentische Weise den Schülern entgegen bringen kann. Das Oberstufen-Kolleg bietet nach Ludwigs Verständnis viel Freiraum für SchülerInnen, die sich für bestimmte Themen interessieren, sich engagieren und eigenständig arbeiten möchten. Ludwig ist es offenbar gelungen, diese Freiräume für sich zu nutzen: Deutlich wird sein Verständnis von Schule als Ort forschenden Lernens: Er begreift Lehrer als Forschungsmanager und gleichwertige Partner im Forschungsprozess, beurteilt die Qualität der Lernsituation nach den strukturellen Rahmenbedingungen („Geld“) und setzt das erworbene Wissen mit seiner Verwertbarkeit im Studium in Beziehung. Bemerkenswert ist jedoch sein ambivalenter Umgang mit dem geschilderten Erfolgserlebnis: Er ist einerseits stolz darauf, hat viel gelernt und über lange Zeit gearbeitet. Andererseits „nervt“ ihn die im Zuge des Zeitungsberichts entstandene Popularität in der Schulöffentlichkeit. Diese Ambivalenz in der Darstellung kann als Ausdruck einer selbstkritischen Haltung gedeutet werden: Er hält Selbstkritik für einen angemessenen Umgang mit seinen selbst diagnostizierten Schwächen. Erfolg ist ihm demnach eher unangenehm. Gleichzeitig stellt er seine Leistungen mehrfach und nicht ohne Stolz im Interview dar. Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit MitschülerInnen: „Augen zu und durch“ In der folgenden Sequenz berichtet Ludwig von einer problematischen Lernerfahrung, einer schleppend verlaufenden Gruppenarbeit, die viel Zeit kostete und ihn demotivierte. Auf seine eigenen und auf die Disziplin- und Interessensprobleme seiner MitschülerInnen reagierte er in der für ihn charakteristischen Weise, durch die offensive Bearbeitung der an ihn gestellten Anforderung: Gab es denn während deiner Zeit im OS Situationen, die für dich problematisch oder schwierig waren? Du hast ja bislang jetzt so erzählt, ist ja alles ganz gut gelaufen und alles / hast viel gelernt. Gab’s denn auch so problematische Aspekte, dass / Ja, es gibt bestimmt viele problematische Aspekte, aus denen man aber auch wieder was mitnehmen kann, wenn man die Augen quasi offen hält. Das ist einfach das Typische, was so passiert, denke ich, man ist so, wie in einer Gruppenarbeit in einer Gruppe, die nicht so motiviert ist zum Beispiel, aber es ist wichtig jetzt für einen selbst, weil: zum Beispiel braucht man’s als BLNW und man arbeitet irgendwie drei Wochen länger daran, als man daran arbeiten müsste, weil die Leute irgendwie keine Lust haben, nicht kommen, ihre Sachen nicht abschicken oder sonst was, das zum Beispiel. Wie bist du mit solchen Situationen umgegangen? Ja, ich / in dem Moment konnte ich dann nicht mehr viel daran ändern, also Augen zu und durch einfach in dem Moment. Und ich habe einfach, ich hab’s ja öfter / habe ich natürlich öfter erlebt, später habe ich dann immer versucht, das von vornherein zu verhindern, aber das klappt halt nicht immer. Das klappt schon manchmal, aber eben nicht immer. Und was heißt „Augen zu und durch“? In dem Moment, wenn man da so drin sitzt und man muss halt einfach fertig machen, dann muss man halt auch in der / Hast du (…?) Ja, natürlich. Zum Beispiel die Projektphase hätte ich eigentlich frei gehabt, aber ich war dann trotzdem jeden Tag hergekommen und hab halt stumpf, also nicht ich, sondern die haben halt stumpf an diesen - teilweise gearbeitet, bis es einfach irgendwann fertig war, nicht perfekt, aber es wurde irgendwie nicht fertig. Und dass das so schwierig war, das führst du eben auch darauf zurück, dass die anderen Leute nicht so motiviert waren. Nein, nein. Ich möchte jetzt nicht / ich möchte natürlich jetzt nicht nur sagen, dass die anderen da alle gepfuscht (?) haben, ich glaube es gibt genauso viele Leute, genauso viele

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Sachen, wo andere Leute über mich so gelacht haben, aber das ist halt einfach ganz normal so, dass dann / hin und wieder interessiert einen ein Thema nicht so wirklich, oder es ist für einen persönlich nicht wichtig, um halt viele andere Sachen aufzutun, die wichtiger sind, dass man dann eher was für die anderen Sachen tut, wo man natürlich schon versucht, da auch für das gemeinsame Ziel was zu machen.

Ludwig beschreibt die ins Stocken geratene Gruppenarbeitsphase als demotivierende und lähmende Lernerfahrung. Seiner Meinung nach gehört es zur „typischen“ Situation bei Gruppenarbeiten, dass die Beteiligten unterschiedlich viel Zeit, Interesse und Engagement einbringen. Das unterschiedliche Engagement könne für jene SchülerInnen, die auf eine gute Benotung der Gemeinschaftsleitung angewiesen seien, jedoch zum Problem werden: Sie seien es, die unter den Schwächen der Gruppe zu leiden und sie durch Mehrarbeit auszugleichen hätten. Ludwig umschreibt seine Bewältigungsstrategie mit der Redewendung „Augen zu und durch“: Dies bedeutete für ihn (und seine Mitschüler) „stumpfes“ Arbeiten in der Schule – auch in der Freizeit. Das angestrebte Produkt konnte trotz des gemeinsamen Arbeitseinsatzes nicht vollständig fertig gestellt werden und entsprach darüber hinaus nicht seinen (hohen) Erwartungen. In dem Wissen, dass Gruppenprozesse nicht immer vorhersehbar sind, versuchte er daraufhin in ähnlichen Situationen, von vornherein der Entstehung von Problemen entgegenzuwirken. Vermutlich achtete er fortan in erster Linie auf die Zusammensetzung der Gruppe, der er sich zuordnete. Im letzten Absatz der Passage lehnt er es jedoch ab, seinen MitschülerInnen allein die ‚Schuld’ für den Misserfolg zu geben: Er selbst könne für sich nicht in Anspruch nehmen, an einem für ihn persönlich wenig interessanten und bedeutsamen Themen motiviert zu arbeiten. Dementsprechend akzeptiere er es bei seinen MitschülerInnen, wenn sich diese in Gruppenarbeitsphasen anderen, dringlicheren Aufgaben zuwenden würden. Wichtig sei es trotzdem, sich für ein gemeinsames Ziel einzusetzen. In Ludwigs Beschreibung tritt ein Sachverhalt zutage, der auch in anderen SchülerInneninterviews häufig genannt wird: das Problem wenig erfolgreicher Gruppenarbeitsprozesse, das sich aus SchülerInnensicht meist darin äußert, dass die Methode von den Lehrkräften zu häufig eingesetzt wird, sich einzelne SchülerInnen „auf den Leistungen der Gruppe ausruhen“, oder dass das angestrebte Gemeinschaftsprodukt nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Auch Ludwig berichtet von Schwierigkeiten bei der Absprache der Gruppenmitglieder untereinander, von mangelnder Verbindlichkeit und von massiver Mehrarbeit Einzelner. Lernerfahrungen wie diese sind für ihn und seine Schullaufbahn am Oberstufen-Kolleg, die er als „kontinuierliche Entwicklung“ beschreibt, kleine Stolpersteine, die seinen Schulerfolg zwar nicht gefährden, ihn bei seinen ambitionierten beruflichen Planungen jedoch behindern, und die es deshalb zu vermeiden gilt. Entsprechend seinen Berufsplänen („in die Forschung“), seiner schulischen Arbeitsweise und seinem Auftreten ist er auf reibungslose Zusammenarbeit und verbindliche Absprachen mit seinen Mitschülern und Lehrkräften angewiesen. Es entspricht seinem Selbstkonzept, dass er versucht, derartige Erlebnisse für sich umzudeuten, indem sie als Erfolge verbucht werden, aus denen „was mit[zu]nehmen“ ist. Ähnlich wie Asrin (Kap. 6.2.4), die versucht, von der Erfahrung eines kontinuierlichen Scheiterns im Fach Mathematik zu profitieren und sie für ihre Persönlichkeitsentwicklung zu nutzen, ist auch Ludwig bestrebt, schulische Schwierigkeiten zu bagatellisieren bzw. sie zu produktiven Erlebnissen umzudeuten.

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6.2.4 Asrin: „Wenn ich halt wirklich Probleme hatte, dann wurde da auch drauf eingegangen. Ich wurde behandelt wie ein erwachsener Mensch.“ Interviewsituation und formale Textstruktur Da Asrin den Ausbildungsgang am Oberstufen-Kolleg ohne Rückstufung linear durchlaufen hat, wurde auch sie für die zweite Interviewwelle telefonisch angesprochen und als Interviewpartnerin gewonnen. Sie willigte sofort in das Interview ein und gab dann ausführlich und bereitwillig Auskunft über ihre Lernerfahrungen am Oberstufen-Kolleg. Insgesamt fielen in beiden Interviews ihre Offenheit, Gesprächsbereitschaft und Kontaktfreudigkeit auf. Sie wirkte äußerst selbstbewusst und bemühte sich in der Interviewsituation sichtlich um eine angemessene Beschreibung und Reflexion ihrer Erfahrungen. Sie präsentierte einen konsistenten Bildungsgang ohne größere argumentative Widersprüche. Aufgrund des vergleichsweise zusammenhängenden Erzählflusses besteht der Interviewtext vorwiegend aus narrativen Passagen, die von allgemeinen und spezifischen Sondierungen und Nachfragen des Interviewers unterbrochen werden. Familiärer und sozialer Hintergrund Asrin ist zu den beiden Befragungszeitpunkten 18 bzw. 20 Jahre alt. Ihre Mutter stammt aus Deutschland, ihr Vater wurde in der Dominikanischen Republik geboren. Ihre Mutter hat einen Hauptschulabschluss, ihr Vater keinen Schulabschluss. Das Erleben von Interkulturalität kann bei Asrin als biografische Besonderheit angesehen werden. Im ersten Interview im Jahr 2005 schildert Asrin ihre Lebenssituation und bisherigen (bildungs-)biografischen Erfahrungen eher zurückhaltend: Bis vor kurzem wohnte sie bei ihrem Vater – ihre Eltern leben getrennt –, jetzt aber mit ihrem Freund zusammen. Auf die Frage nach der Unterstützungsleistung ihrer Eltern sagt sie, sie hätten ihre eigenen Probleme, wären aber jederzeit bereit zu helfen. Zudem werde sie von ihnen finanziell unterstützt. Sie hat jüngere Schwestern, die als AnsprechpartnerInnen bei schulischen Problemen jedoch nicht in Frage kommen. Einen Job neben dem Oberstufen-Kolleg kann sie aufgrund des hohen Zeitaufwandes nicht wahrnehmen. Insgesamt ist es ihr wichtig, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich den gegebenen Herausforderungen zu stellen. Das Streben nach Autonomie und Eigenständigkeit kann als wichtige Charakteristika Asrins betrachtet werden. Bildungs- und lebensbiographische Ausgangsbedingungen Asrin hat mehrere Schulen in verschiedenen Städten besucht und lebte ein Jahr auf Jamaica, wo ihr der Französischunterricht als besonders straff und rigide in Erinnerung geblieben ist. Sie besuchte zwei Jahre eine Realschule in Berlin sowie ein Berufskolleg in Bielefeld. Asrin hat vor dem Oberstufen-Kolleg eine Hauptschule besucht, dort jedoch keinen Q-Vermerk erworben. Diese schulformspezifischen Unterschiede, vor allem in Umgangsformen und Schulstrukturen, bezeichnet sie als Schlüsselerlebnisse, ebenso wie die unterschiedlichen Leistungsanforderungen und -niveaus. Interkulturalität sowie Ortsund Schulwechsel sind sicherlich mit lebensbiografischen Besonderheiten verbunden. Asrin nimmt jedoch – abgesehen von den Französisch-Lehrmethoden auf Jamaica – darauf keinen Bezug. Die Formulierung, ihre Zeit am Berufskolleg als „vertane Zeit“ zu bezeichnen, lehnt sie ab mit der Begründung, sie habe dort an Lebenserfahrung

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gewonnen. Positive und negative (bildungs)biografische Erfahrungen sieht sie als bedeutsame Faktoren der Persönlichkeitsentwicklung. Auch am Oberstufen-Kolleg hat die Frage der Lebensbewältigung für sie hohe Relevanz: Die direkte und mitunter konfrontative Auseinandersetzung mit anderen Menschen, deren Lebenssituationen und Ansichten sind für sie auch in der Schule wichtig (s.u.). Am Oberstufen-Kolleg hat sie als Studienfächer Psychologie und – nachdem sie Spanisch abgewählt hat – Musik gewählt. Mit Psychologie ist sie äußerst zufrieden, wohingegen sie mit den strukturellen und unterrichtlichen Rahmenbedingungen in Musik negative Erfahrungen gemacht hat. Während ihrer Zeit am Oberstufen-Kolleg reifte bei ihr der Wunsch, nach dem Abitur Psychologie zu studieren. In Mathematik, einem für sie problematischen Fach, wurden ihr zwei Brückenkurse zugewiesen. Den Einfluss dieser Kurse auf ihre Leistungen in dem Fach schätzt sie unterschiedlich ein: Während sie im ersten Semester angibt, aufgrund grundsätzlicher Verständnisprobleme wenig von den Brückenkursen profitiert zu haben, berichtet sie im sechsten Semester von positiven Lernerfahrungen, die für ihre persönliche Entwicklung wichtig gewesen seien. Grundsätzlich waren ihr strukturelle Kontinuität und die Gewissheit, sich „auf Dinge verlassen zu können“ als Anker und Fixpunkte im Schulalltag sehr wichtig: „Das war/, also es hat sich in meinem Leben jetzt in den letzten zweieinhalb Jahren viel verändert, aber die Schule ist gleich geblieben. So. Und das hat mich, glaube ich, ganz doll geprägt in dem Sinne, als dass ich gelernt habe, mich auf Dinge verlassen zu können. Dass sie einfach-, ich weiß einfach, dass das OS morgen auch noch da ist. Das finde ich ganz wichtig. Also, dass ich/ dass nicht auf einmal alle weg sind, dass ich morgen noch genauso behandelt werde, wie ich vorgestern behandelt wurde. Und wie ich heute behandelt wurde.“

Demgemäß bezeichnet sie das Oberstufen-Kolleg als ihr „zweites Zuhause“, d.h. die Schule und ihr Freundeskreis schafften in ihrem sich veränderndem Leben Kontinuität, Verlässlichkeit und Struktur. Wesentlich zu diesem Sachverhalt beigetragen hat das Schulklima am Oberstufen-Kolleg, dem sie eine hohe Bedeutung zuschreibt (s.u.). Relevante Situationen und Phasen auf dem Weg zum Abitur und die Bedeutung schulischer Förderung und Beratung Im Folgenden werden exemplarische Situationen beschrieben, die für Asrins Bildungsgang im Oberstufen-Kolleg von Bedeutung sind. Diese beziehen sich zum einen auf das soziale Lernen, d.h. den Umgang mit anderen Menschen in Lernprozessen und ihrem Verhältnis zu sich selbst; zum anderen wird eine Episode geschildert, in der Asrin im Bereich des mathematischen Lernens zwar an ihre Grenzen stößt, dies jedoch als persönlichkeitsbildende Erfahrung charakterisiert. Strukturell eingebettet sind beide Episoden in das für sie essentielle Thema Schulklima, das Asrin in erster Linie am LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis und am SchülerInnen-Verhältnis festmacht. Das Schulklima als lernförderlicher Faktor: „man lernt gegenseitig voneinander“ Das Schulklima am Oberstufen-Kolleg spielt in Asrins Ausführungen eine bedeutende Rolle. Als übergreifendes Thema verweist sie mehrfach direkt oder indirekt auf die Lernatmosphäre der Versuchsschule, die sie als äußerst förderlich wahrnimmt: Genannt werden das LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis (u.a. Duzen), das Verhältnis der SchülerInnen untereinander, die Ansprechbarkeit der Lehrpersonen, die Bedeutung von Freiwilligkeit, Interessenorientierung und Partizipation im Lernprozess sowie der gegenseitige Respekt aller am Schulleben Beteiligten. Asrin zieht ferner Verbindlungslinien zwischen Schulklima und sozialem Lernen und weist auf die für sie positive Erfahrung hin, dass sie in schwierigen Lernsituationen unterstützt wurde. In der

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folgenden Sequenz werden ihre Sicht auf das Schulklima am Oberstufen-Kolleg und die für sie relevanten Beurteilungskriterien deutlich: Hm ((überlegt)), also ich finde zum Beispiel, dass so Sachen wie das Duzen, finde ich, bringen einen das schon näher. Also ich habe schon gehört, 'ja, das ist dann aber zu nah und zu persönlich'. Das finde ich gar nicht so unbedingt, weil ich einfach-, weil wir sind Oberstufen, und die sind eigentlich, die Leute, die hier sind, sind eigentlich ausschließlich freiwillig da. Ob sie nun von ihren Eltern gezwungen sind, ist eine andere Sache, aber hier ist-, hat garantiert niemand irgendjemand die Pistole an den Kopf gehalten und hat gesagt, 'du musst jetzt hier an diese Schule gehen, weil du eben noch schulpflichtig bist', das sind wir ja alle nicht mehr. Wir sind überwiegend ((lacht kurz auf)) erwachsene Menschen. Und so werden wir auch behandelt. So von den Lehrern auch. Und dieses 'Du', finde ich, trägt dazu bei, einen gegenseitigen Respekt aufzubauen. Also nicht nur einfach Lehrer-SchülerVerhältnis, so, 'ich weiß jetzt alles, und du bist jetzt-, du bist jetzt da ganz unten und bist ganz dumm, und ich bin aber ganz toll und erzähle dir das jetzt alles'. Sondern man lernt gegenseitig voneinander. Was bedeutet das? Also du lernst von deinen Lehrenden und die lernen auch von dir? Ja! Einfach weil/ ja, man-, ich weiß nicht, hier lernt irgendwie alles voneinander, so. Wenn ich bedenke, so, die Leute, die sind hier nicht nur-, die sind nicht..., ja, die sind teilweise nicht direkt von der Schule gekommen, sondern die haben viel auch Ausbildung gemacht, haben Kinder oder sonst was. Und die wissen, und grade wenn man eine Ausbildung in einem (anderen) Bereich macht, dann weiß man natürlich, hat man natürlich ((lacht kurz auf)) detaill-, meistens ein sehr großes Wissen darüber, und das ist-. Und wenn man dann das so in Themen anschneidet, wie zum Beispiel politische Bildung, politische Bildung gehört mit zur Wirtschaft. Also gehört da einfach mit rein. So. Dann (nimmt man die Wirtschaft) zum Beispiel, ähm, was weiß ich, Menschen, Soziales ist zum Beispiel Hotelfach. Würde ich jetzt-, ich habe jetzt angefangen Hotelfachfrau zu lernen und habe natürlich das Wissen davon, würde ich jetzt erstmal so behaupten. Und das hat mein Lehrer, der vielleicht irgendwie Politik studiert hat oder auch Psychologie, hat das natürlich nicht, weil das einfach ein ganz anderes Thema ist. Es gehört-, es fließt alles ineinander über, es ist-, also es sind keine gezogenen Grenzen, sondern man kann alles irgendwie mit reinbringen, weil irgendwie meiner Meinung nach alles irgendwie zusammengehört. Aber es weiß nicht jemand alles über alles. Wir sind ja nicht alle Gott. So. Und das ist, ähm, und deswegen..., ne Quatsch, nicht deswegen, sondern die Lehrer sind auch bereit, ihre eigenen Fehler einzugestehen oder Lücken einzugestehen, zu sagen, 'da muss ich mich jetzt aber noch bilden oder da muss ich jetzt noch mal nachlesen, das weiß ich jetzt nicht so genau; frag' doch mal den und den'. Oder er sagt irgendwas und irgendjemand korrigiert ihn, und er sagt dann nicht irgendwie von-, das wird nicht irgendwie ignoriert oder so was, sondern 'hey, stimmt, erzähl' uns doch mal was darüber'. So. Das finde ich einfach toll, so was.

Asrin erlebt das Schulklima als positiv und macht dies in erster Linie an dem offenen und wenig hierarchischen Lehrenden-Lernenden-Verhältnis fest. An anderer Stelle wählt sie die Bezeichnungen „entspannt“, „freundlich“ und locker“. Bei einem guten Schulklima spielen für sie folgende Aspekte eine Rolle: 

SchülerInnen werden im und außerhalb des Unterrichts ernst genommen und beteiligt;



Zwischen LehrerInnen und SchülerInnen bestehen gegenseitiger Respekt und Toleranz;



Freiwilligkeit und Selbstbestimmung sind übergeordnete pädagogische Prinzipien;



Zwischen LehreInnen und SchülerInnen ist wechselseitiges Lernen möglich;



Im Unterricht wird ein anregendes und lernförderliches Klima geschaffen;



LehrerInnen sind fachlich kompetent, authentisch, gehen auf die Interessen und Bedürfnisse der SchülerInnen ein und treten ihnen als Menschen mit eigener Geschichte gegenüber;



Es herrschen Offenheit, Vertrauen und Akzeptanz.

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In Asrins Aussagen kommt zum Ausdruck, dass sie im Schulklima des Oberstufen-Kollegs eine höhere Akzeptanz von Andersartigkeit zu erkennen glaubt. D.h. auch die sozioemotionalen und u.U. problemhaften Aspekte des (Schul-)Lebens können Beachtung finden und zum Gegenstand subjektiv bedeutsamer Lern- bzw. Erfahrungsprozesse (gemacht) werden. Für sie drückt sich das Schulklima als Erfahrungsraum aus, in dem (fast) alle Lebens- und Ausdrucksformen akzeptiert werden. Für sie ist das Schulklima jedoch nicht Mittel zum Zweck. Vielmehr betrachtet sie ein unterstützendes und akzeptierendes Umfeld als Voraussetzung für Lernen. Im Umfeld der Versuchsschule braucht sie bestimmte Anlaufstellen. So bezeichnet sie die Schulsozialarbeiterin z.B. als fachkompetente „Freundin (...), die Ahnung hat“ und bei schulischen Problemlagen, sozialen Krisen, alltagspraktischen Fragen kontaktiert wird. Wichtig sind ihr Zugänglichkeit, „Kontinuität“, Vertrauen, ein dichter sozialer Kontakt im Schulalltag und Spontaneität im Zugang („dass ich weiß, dass sie immer da ist“). Ihre Tutorin war ihr v.a. zu Beginn der Ausbildung als Orientierungs- und Unterstützungsperson sehr wichtig („hat mir am Anfang unglaublich geholfen“). Das Schulklima erlaubt Asrin eine pragmatische und funktionelle Inanspruchnahme von Beratung und Förderung („habe mich immer so durchgewurschtelt“). Dass solche Kontakte möglich sind, wird als essentieller Bestandteil der Schulkultur des OberstufenKollegs und als Voraussetzung für eine positive Schuleinstellung gesehen, was für sie wiederum eine Voraussetzung für schulisches Lernen ist: „Weil ich einfach-, ich brauche eine vernünftige Basis, um hier auch noch zu lernen und um mich weiterzuentwickeln. Wenn ich diese Basis nicht habe, dann fällt alles andere-, ich weiß nicht, für die Katz', finde ich.“ Somit sind Lernprozesse für sie an die strukturellen und v.a. sozialen Rahmenbedingungen der Schule geknüpft. Soziales Lernen und Selbstwirksamkeitserfahrungen: „dass ich halt auch Dinge beeinflussen kann“ Bei der Auswertung der Interviews mit Asrin wird deutlich, dass für sie das soziale Lernen, d.h. die Kommunikation über gesellschaftliche Probleme mit MitschülerInnen, im Alltag des Oberstufen-Kollegs einen hohen Stellenwert besitzt. In der Auseinandersetzung mit anderen Menschen und anderen (konträren) Sichtweisen erfährt sie das eigene Handeln als unmittelbar folgenreich, sinnhaft und deshalb subjektiv bedeutsam. In der folgenden Episode, in der sie auf einen Grundkurs zum Thema „Leitbilder für männliche Identität“ Bezug nimmt, manifestiert sich eine Selbstwirksamkeitserfahrung, die sie als das für sie „Einprägsamste“ in ihrer Laufbahn am Oberstufen-Kolleg bezeichnet. Auf dieses Erlebnis nimmt sie in der folgenden Passage Bezug: Vielleicht kannst du ja mal beginnen und so eine ganz allgemeine Bilanz ziehen. Welche Erfahrungen hast du denn mit dem Lernen am OS gemacht? (...) Also ich würde/ klar, erstmal generell sagen, dass ich schon relativ viel gelernt habe, einfach auch also ganz viel/ ja, auch über andere Menschen, mit dem Umgang von anderen Menschen, von Gruppen, mit denen man normalerweise wahrscheinlich nichts wirklich zu tun gehabt hätte. Also zum Beispiel Literatur. Also ich hatte so ein Litera/, ich weiß nicht, soll ich das/? Ja, erzähl' doch mal. Ich hatte einen Literaturkurs 'Leitbilder für männliche Identität' bei Achim Müller und (Astrid Michel). Und der zum Beispiel war (-) unglaublich gut. Das ist das, was mir, glaube ich, was ich nie vergessen werde. Das war für mich das Einprägsamste, was ich so. Dass, weil der einfach/, erstmal sich mit (-) überhaupt Männern und deren-, grade, wir haben uns gar nicht so mit dem Ehrgefühl beschäftigt und solchen Sachen, zu/ ja, zu erfahren und dann auch,

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also, dann auch noch grade, wir haben uns-, wir hatten also relativ viele Türken, also Muslime da. Und da habe ich halt einen, der-, mit dem habe ich mich halt auch unglaublich viel, ja, wir haben wirklich stundenlang diskutiert. Und das nicht nur im Unterricht, sondern auch außerhalb. Also das ist ganz viel hier so, generell eigentlich, wenn ich irgendwas lerne hier, dann nehme ich das nicht nur, dass ich das jetzt im Unterricht mache oder hier in der Schule und dann ist das vorbei, sondern ich nehme das wirklich mit nach draußen. Und das ist halt klar, logisch, dass man mit anderen Kollis sich oft noch außerhalb unterhält, aber dass man auch anfängt, anderen Leuten irgendwas zu erzählen, 'und das habe ich heute gelernt und/ ((lacht auf)) und das haben wir durchgemacht'(...) Noch mal zur Literatur: Da habe ich... es geschafft, das ist jetzt allerdings nicht direkt fachlich, es ist also/. Ich habe es mit geschafft, dass sage ich jetzt nicht so, das wurde mir gesagt, dass ich/ ähm, dem, mit dem ich da diskutiert habe, dass ich, äh, der hat mir am Ende des Kurses gesagt, von wegen weil er meinte, dass er zum Bei-, seine Schwester hat einen Freund, und den mag er nicht. Und deswegen redet er schon mit seiner Schwester nicht, schon seit Jahren. Und wir hatten immer, weil er, was weiß ich, Ehrgefühl, er ist auch irgendwie, er ist auch Türke. Und wir haben uns am Anfang gehasst. Wirklich. Wir haben uns-, da sind die Fetzen geflogen. Im Kurs und außerhalb des Kurses. Wirklich. Das ist-, wirklich wir haben/ uns dumm und dämlich diskutiert so. Warum-, was weiß ich, so, über Emanzipation der Frau oder Ehrgefühl von Männern und sonst was. Warum Frauen an allem schuld sind und so. Und auf jeden Fall meinte er am Ende des Kurses von wegen/ nee Quatsch, dann kam er auf einmal zu mir an und meinte, 'Asrin, weißt du was, ich mich wieder mit deiner-, ich hab' mich wieder mit meiner Schwester vertragen'. Und das fand ich ganz toll. Aha. Das fand ich ganz, ganz toll, als er das erzählt hat! Das war/ (best), das hat das (best)-, das habe ich so als persönlichen Erfolg gewertet ((lacht)), mit eingebucht, weil wir einfach so viel diskutiert haben darüber. Und dass er einfach erkannt hat, dass seine Schwester auch eigene Rechte hat und ein eigenständiger Mensch ist. So. Und das, weiß ich nicht, das war, glaube ich, so mit das Schönste eigentlich. (...) Also du hast diese Diskussion und dass er dann auf seine Schwester wieder zugegangen ist, schon als Erfolg für dich verbucht und das als Konsequenz aus den langen Diskussionen, die ihr geführt habt? Ja, genau, weil das war jetzt nicht irgendwie normal von wegen, dass er jetzt gesagt hat, 'ich hab' jetzt nichts mit meiner Schwester zu tun, weil die 'nen Freund hat, der mir nicht passt'. Und ich habe gesagt, 'finde ich aber scheiße, da und darum', sondern das war wirklich schon auch/, ja, das war wirklich ein langer Prozess. Weil: das waren zwei Semester, die wir, also ein Jahr, dass das gedauert hat, eben immer wieder und immer wieder über dieses Thema zu reden! Und sich damit wirklich intensivst auseinanderzusetzen, in allen möglichen Facetten. Also ich mich nicht-, also nicht nur, dass er sich in mich als Frau reinversetzen musste, sondern ich mich auch in ihn reinversetzen musste. So dass man das einfach gelernt hat, dieses gegenseitige Verständnis. (...) Was hast du denn in dieser Situation, die du jetzt geschildert hast, über dich selbst gelernt? Was hast du aus dieser Situation mitgenommen? Hm, dass meine Meinung durchaus wichtig sein kann. Dass ich aber auch lernen-, dass ich das aber auch lernen musste, ich glaube, das wusste ich vorher eigentlich schon, aber ich habe es noch mal mehr verinnerlicht, dass man, dass auch andere Meinungen auch wichtig sind und dass man sie nicht einfach abtun darf, weil sie einfach auch, wenn man sie ignoriert, dass sie dann nicht-, dass sie dann trotzdem Schaden anrichten können. Also, was heißt Schaden, aber/ ne, dass sie trotzdem Auswirkungen haben. So dass jede Meinung und jede Handlung, die ich mache, dass die Auswirkungen hat einfach, auf mich, auf andere. Und dass ich halt auch Dinge beeinflussen kann. Dass ich jetzt nicht so/ ja, dass ich auch wichtig bin ((lacht)).

Der genannte Grundkurs hat für Asrin eine ausgesprochen hohe subjektive Bedeutsamkeit und wirkte sehr prägend auf sie. Der Kurs sei „unglaublich gut“ und „das Einprägsamste“ in ihrer Zeit am Oberstufen-Kolleg gewesen. Für die hohe subjektive 64

Bedeutsamkeit spricht sowohl die Ausführlichkeit, in der das Thema im Interview entfaltet wird, als auch das hohe Maß an Engagement und persönlicher Betroffenheit, das in ihren Aussagen zum Ausdruck kommt. Gegenstand und Ausgangspunkt der Sequenz ist ein ethisch-kultureller Konflikt – das Problem der Rolle der Frau im Islam –, den sie mit einem türkischen Mitschüler über den Zeitraum von einem Jahr ausgetragen hat. Während er einen eher konservativen Standpunkt eingenommen hat, habe sie eine liberale Sichtweise vertreten. Ihrer Ansicht nach führten die von ihr angeregten kontinuierlichen Diskussionen und kontroversen Debatten um das Problem im und außerhalb des Unterrichts zu einem „persönlichen Erfolg“ auf zwischenmenschlicher Ebene: Dieser Erfolg besteht darin, dass ihr Kontrahent sich auf ihre Perspektive eingelassen, diese akzeptiert und seine ursprüngliche Sichtweise revidiert habe. Dass diese Situation eingetreten ist, führt sie direkt auf ihre Intervention und ihr beharrliches Drängen auf eine Lösung des Problems zurück. Hierin zeigt sich eine subjektiv als bedeutsam erlebte Selbstwirksamkeitserfahrung, d.h. dieses Erlebnis zeigte ihr, dass sie etwas bewirken und „Dinge beeinflussen“ kann und dass sie „wichtig“ ist. Erklären lässt sich die hohe Relevanz des Kurses nicht nur vor dem Hintergrund des Kursthemas, sondern auch durch das mit dem Thema verbundene didaktische Arrangement: Der Kurs bietet für sie die Gelegenheit, schulisch-unterrichtliches Lernen mit außerunterrichtlichem Handeln zu verknüpfen. D.h. bestimmte Lernthemen und Lernarrangements – im Fall von Asrin v.a. soziales Lernen, Lernen über persönliche Betroffenheit und Lebensweltnähe – haben einen hohen Stellenwert und werden in das außerschulische Leben integriert. Nicht umsonst hebt sie im Interview hervor, dass sie bestimmte persönlich bedeutsame Themen, Probleme und Fragen „wirklich mit nach außen“ nehme und dort bearbeite: „das betrifft mich ja auch!“. Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, weshalb die Methode Gruppenarbeit für Asrin eine so wichtige Rolle spielt: Sie verbindet damit ein hohes Maß an Praxis- bzw. Problemorientierung und Gestaltungsfreiheit, die für ihr soziales und fachliches Lernen essentiell sind. Für sie gilt das Prinzip Lernen durch Erfahrung, wobei sie subjektiv relevante Erfahrungen „am eigenen Leib“ machen bzw. erfahren muss. Beim Lernen verfolgt sie in erster Linie die Strategie der Netzwerkbildung: „immer, wenn ich irgendwo nicht weiter kam, habe ich mir Leute gesucht (...) da habe ich viel mehr von“. Sie profitiert bei Lernen mehr von der Zusammenarbeit mit anderen SchülerInnen als von häufigem Nachfragen bei den LehrerInnen. Hierbei handelt es sich offenbar um ein im zeitlichen Verlauf stabiles Muster: Bereits im ersten Interview äußerte sie die Ansicht, dass sie sich gut vorstellen könne, z.B. für Prüfungsvorbereitungen in Kleingruppen mit anderen zusammen zu arbeiten und feste Bündnisse zur Vorbereitung des Abiturs zu nutzen. Gemäß dieser Grundhaltung werden soziales Lernen und zwischenmenschliche Erfahrungen über Noten und das Abtesten von (fachlicher) Leistung gestellt. Vor diesem Hintergrund lässt sich vermuten, dass der schulische Sozialisationsprozess bei ihr über Erfahrung, Einsicht, Versuch und Irrtum erfolgt. Sie selbst trägt die Verantwortung für sich und ihren Lernprozess und möchte dies als „erwachsener Mensch“ auch gerne tun. Lernen gelingt in ihrem Fall, wenn Selbstverantwortung für den Prozess, Interesse am Thema, Wahlfreiheit bzw. Interessenorientierung und Lebens- und Alltagsrelevanz vorhanden sind und eine motivierte, interessierte und authentische Lehrperson den Lernprozess mithilfe partizipativer didaktischer Settings strukturiert.

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Die eigenen Kompetenzen erkennen und einschätzen können: „Ich bin einfach an meine Grenzen gestoßen“ Im ersten Interview erklärte Asrin, dass ihr die Mathematik-Kurse am Oberstufen-Kolleg bei der Bearbeitung ihrer Mathematik-Probleme nicht helfen, weil sie aufgrund großer Defizite oft nicht folgen kann und dann nicht genug verstanden hat, um ihre Verständnisprobleme überhaupt in sachangemessene Fragen zu überführen. Sich damit an andere KursteilnehmerInnen zu wenden, schien ihr nicht aussichtsreich, weil sie sich dort abgelehnt fühlte. Asrin betonte ausdrücklich, ihre Probleme im Mathematikunterricht seien durch veränderte Verhaltens- oder Vorgehensweise der Lehrperson nicht zu lösen; diese hätten deutlich die Bereitschaft und den Wunsch signalisiert, zu erklären und herauszufinden, an welchen Stellen ihr der Nachvollzug nicht gelinge. Sie erlebt, dass sie selbst an einem bestimmten Punkt im Lernprozess den Anschluss an Erklärungen verliert und dann nicht mehr imstande ist, die für Erläuterungen notwendige Frage zu formulieren. In Bezug auf das Fach Mathematik hatte sie im ersten Semester bereits resigniert und machte keine Anstrengungen mehr, gegen ihre Verständnisprobleme etwas zu unternehmen. Wie das folgende Zitat zeigt, scheint sich ihr schwieriges, d.h. resignatives Verhältnis zum Fach Mathematik im Laufe der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg jedoch partiell relativiert zu haben: Wie hast du denn die Anforderungen und Erwartungen, die hier an dich gestellt wurden, erlebt? ((überlegt)) Die Anforderungen und Erwartungen? ((überlegt)) Fair. Auf jeden Fall fair. Also ich würde mal behaupten, dass ich natürlich wahrscheinlich noch wesentlich mehr hätte erreichen können, aber ich glaube, das kann also ich persönlich ((lacht)) immer. Das kann man auch. Aber ich finde, es ist jetzt nichts, was jetzt/ aber meist ist nichts gewesen, was jetzt irgendwie utopisch war. Also was jetzt (noch gar) nicht zu erreichen ist, sondern das ist/. Es wurden Anforderungen an mich gestellt, ja. Es wurde gesagt, 'du musst es, also du musst es irgendwie können', aber es wurde auch gesagt, ich wurde damit aber nicht alleine gelassen. Sondern ich konnte zu sämtlichen, zu jedem Lehrenden, ( ) irgendwas gefragt, konnte ich hingehen und noch mal nachfragen. Sei es per Telefon, wir haben unseren Mathelehrer, ich weiß nicht wie oft, angerufen. So, wenn wir irgendwelche Fragen hatten bei Hausaufgaben oder sonst so was. Also ich habe mich nicht alleine gelassen gefühlt. Sondern ich habe-, ich konnte mich mit anderen Kollegiaten auseinandersetzen erstmal und dann halt auch mit den Lehrenden. Um einfach auch noch mal nachzufragen, wenn irgendwas nicht klar ist, weil, das ist für mich/ also finde ich nicht so normal, dass man von den meisten seiner Lehrer irgendwelche Telefonnummern oder Email-Adressen oder so etwas besitzt. Sondern die sagen dann, 'mach' das jetzt' und dann gehen sie, und dann sitze ich da und kann selber zusehen, wie ich es kann. Und das machen die zwar auch, also mir wird nichts hinterher getragen, aber ich werde auch nicht (abgelegt). Kannst du dieses Gefühl, sich nicht alleine gelassen Fühlen, kannst du das näher beschreiben? Hm, ((überlegt)) nicht alleine gelassen fühlen? Ja. ((überlegt länger)) Schwierig. Oder wie hast du das erlebt? Sich nicht alleine gelassen zu fühlen. Na ja, wenn ich halt wirklich Probleme hatte, dann wurde da auch drauf eingegangen. Ich wurde behandelt wie ein erwachsener ((lacht)) Mensch. So, für den ich mich ja eigentlich auch halte, so. Aber/ es ist halt, ja, es ist einfach-, wenn ich Hilfe brauchte, war halt Hilfe-, konnte ich mir auch Hilfe holen. Kannst du so einen Fall mal schildern, bei dem du Hilfe gebraucht hast? Und bekommen hast? Ja, zum Beispiel bei... jetzt schulisch gesehen, oder? Ja. Zum Beispiel bei Mathe. Da sollten wir eine Hausarbeit schreiben. Und die haben wir auch geschrieben. Also die habe ich noch mit zwei, drei anderen geschrieben, aber wir kamen

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halt irgendwann nicht weiter. Weil wir irgendwas nicht verstanden haben. Und dann haben wir sonntags abends um neun Uhr unseren Mathelehrer angerufen. Und haben den gefragt, ( ), 'wir verstehen das jetzt nicht, kannst du uns da irgendwie/ wir haben jetzt das und das raus, müssen wir das jetzt so und machen, aber das ist doch total viel Arbeit'. Und da meinte er, da hat er uns natürlich nicht das Ergebnis gesagt, aber er hat schon gesagt, er hat uns halt gesagt, 'ja achtet vielleicht eher mal darauf; und weißt du, wenn ihr das so macht, dann habt ihr unglaublich viel Arbeit'. So und-, also er gibt uns Tipp-, er hat uns Tipps gegeben. Er hat uns das nicht vorgesagt, aber er hat uns/ ja, er hat uns trotzdem geholfen, indem er uns einfach gesagt hat, was wir ( ) nicht unbedingt machen sollen oder worauf wir vielleicht achten könnten. So. Und das/ weiß nicht, ist das so was? Und diese Tipps waren für dich dann hilfreich, um die Aufgabe zu lösen? Ja, also wir haben die damit gelöst. So. Sonst hätten wir uns da dumm und dämlich gerechnet. (...) Hm, hm. Gab es denn während deiner Zeit im OS auch Situationen, die für dich eher schwierig waren? Oder Situationen, die du eher als Misserfolge beschreiben würdest? ((überlegt)) Misserfolge? Oder Enttäuschungen? (Mathe). ((lacht leicht)) Aber da hast du ja auch was drüber gelernt, mehr als du dachtest, hast du grad gesagt. Ja, aber..., ähm, in..., also Mathe ist-, also ich habe..., Mathe ist einfach schon immer mein Fach gewesen, was ich einfach nicht kann. Und ich habe einfach gelernt, dass ich best-, ich habe einfach in Mathe meine Grenzen erfahren! Ich habe einfach erfahren, dass ich-, dass bestimmte Sachen einfach auch Grenzen haben. Dass ich bestimmte Sachen einfach..., ja, mal nicht kann. Und dass ich die/, und ich habe für mich auch gelernt, das bei anderen zu akzeptieren, weil: sonst sagt man ja immer und habe ich auch immer gesagt von wegen, 'ach komm, wenn du das 'n bisschen lernst, dann kriegst du das bestimmt noch rein und so'. Aber... ich weiß, dass ich mich nicht weiter entwickeln kann und mehr dazu lernen kann, aber im-, dass man einfach nicht in allem gleich gut ist. So. Dass ich einfach/ ja, dass ich meine Grenzen habe. Dass ich irgendwann meine Grenzen erreicht habe und die auch akzeptieren muss. So. Und mein Problem ist dabei jetzt noch, dass andere die auch akzeptieren, aber das/ ist eine andere Sparte. Und ist das dann denn/ ist das dann ein Erfolg oder ein Misserfolg, diese Einsicht? Dass dein eigenes Wissen oder deine eigene Kompetenz begrenzt ist? Ich würde das gar nicht unter Erfolg oder Misserfolg buchen, sondern eher/. Es war, also das wirklich rauszukriegen, da noch mal so ein ( ) zu kriegen, war/ hat wehgetan, das war eine richtige Enttäuschung. Aber/ ich weiß nicht, wenn man es unbedingt, wenn man da unbedingt Erfolg und Misserfolg reinbringen würde, würde ich sagen, könnte man sagen, es ist ein Erfolg, wenn man damit lernt zu leben. Allerdings finde ich das Wort da auch nicht-, also ich finde es schwierig, da über Erfolg und Misserfolg zu reden so, sondern von/ ich würde da eher schon von, weiß nicht, persönlicher Entwicklung wirklich reden, so für mich. Dass ich einfach Dinge akzeptiere, die ich nicht ändern kann. Weil ich kann auch bei mir, das hat nichts mit Resignation zu tun oder so oder/. Das ist-, es gibt Dinge an mir und an anderen, die ich einfach nicht ändern kann! Ich kann, natürlich kann ich es versuchen, es ist wichtig, das zu versuchen, weil sonst wäre ich jetzt nicht so weit gekommen, wie ich jetzt gekommen bin. Aber man muss einfach auch lernen, dass nicht alles so (geht), wie man will. (...) Ja, das war halt Mathe. Und (an) Mathe habe ich meine meisten/. Erfolge gemessen so. Also war ich immer ganz stolz, wenn ich mal irgendwas verstanden habe, wenn ich es selber-, wenn ich es andern vielleicht sogar noch erklären konnte! Da war sowieso/ da war der ganze Tag wunderbar ((lacht))! So. Und wenn man dann noch mal so wirklich in der letzten Klausur noch mal merkt, von wegen, 'nee, ich bin einfach an meine Grenzen gestoßen'. Und das nicht, weil ich nicht (mich völlig) reingelegt habe, sondern ich habe mich da wirklich reingesteigert. Ich habe (-) gelernt wie so eine Besessene. Oft vorher schon. Mit

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anderen, alleine. Und was weiß ich. Und wenn man dann einfach noch mal merkt, 'so, Asrin, du kannst es aber einfach nicht!', dann ist das schon sehr deprimierend. Das tut richtig weh. (...) Gab es irgendwas, was dir dann in dieser Situation, die du beschrieben hast, geholfen hat? Irgendwas, was dich doch trotzdem noch weiter gebracht hat? Ja. Also wir haben-, die Klausur, hatten wir noch mal eine Chance, die nachzuschreiben. Noch mal zu schreiben. Allerdings war das noch mal ein Dämpfer, da lief es zwar besser als vorher, aber nicht so gut, wie ich eigentlich dachte ((lacht kurz)). Aber einfach, dass man von anderen aufgefangen wird. Dass man, wenn man wirklich ganz unten ist, dass die anderen sagen, 'hey, aber jetzt', dass die anderen einen drauf stoßen, was man denn doch vorher schon erreicht hat. Einmal dass sie sagen, von wegen, 'gut, die Klausur ist jetzt halt nicht so toll gelaufen, aber guck' doch mal, was du vorher alles hattest; und ich hätte das ohne dich gar nicht verstanden; weil du mir das erklärt hast zum Beispiel'. Man neigt ja immer dazu, wenn man so..., wenn man traurig ist, dann wirklich ganz in den Pessimismus und in die Depression abzurutschen und alles nur noch negativ zu sehen. Und dass... Und dann nicht einfach meine Sachen, ja, und dann die anderen Kollis und so haben mich da einfach auch mit rausgeholt!

Wie das Zitat zeigt, blieben Asrins Schwierigkeiten im Fach Mathematik zwar bis zum Ende ihrer Ausbildung am Oberstufen-Kolleg bestehen; gleichwohl änderte sich jedoch ihr Umgang mit diesem für sie schwerwiegenden Problem: Im Gegensatz zu dem eher resignativen Verhältnis zu Beginn ihrer Laufbahn scheint sie nun eine für sie adäquate, positivere Umgangsstrategie entwickelt zu haben. Trotz ihres Verhältnisses zum Fach hat sie Anstrengungen unternommen und viel Zeit und Kraft investiert. Mathematik wird nun als schulische Herausforderung betrachtet und als persönliche Entwicklungsaufgabe gedeutet. Dabei misst sie der Beratung und Ermutigung durch ihren Mathematiklehrer und ihre MitschülerInnen eine wichtige Bedeutung bei. Entgegen der Aussagen im ersten Interview wirken ihre Narrationen zum Mathematiklernen bei der zweiten Befragung vordergründig weniger von Resignation als vielmehr von Ehrgeiz und Motivation geprägt. So betont sie, dass sie ein hohes Maß an Zeit und Energie in das Lernen investiert habe („gelernt wie eine Besessene“). Gleichzeitig spornte sie die Problemhaftigkeit des Faches immer wieder zum Lernen an, so dass Mathematik für sie ein Fach wurde, an dem sie ihre „Erfolge gemessen“ hat. Da sie jedoch trotz des hohen Lernaufwandes bei sich weiterhin grundlegende Defizite feststellte – auch der in ihren Augen wenig erfolgreiche Nachschreibetermin brachte nicht das erhoffte Ergebnis – musste sie frustriert einsehen, dass Mathematik ein Fach ist, das sie „einfach nicht kann“, ein Fach, an dem sie ihre „Grenzen erfahren“ musste. Die Erfahrung des Scheiterns in diesem Fach war für sie umso schmerzlicher, als ihre Ausbildung in allen anderen Bereichen weitgehend positiv verlaufen war. Der individuelle Umgang mit dem Nicht-Können („hat wehgetan“, „richtige Enttäuschung“, „traurig“, „wütend“, „deprimierend“) ermöglichte ihr letztendlich jedoch eine produktive Wendung: Sie musste ihre Grenzen erfahren, „akzeptieren“ und weiß nun, was sie kann und was nicht. Dies führte zu der Einsicht, dass die Akzeptanz der eigenen Grenzen einen Teil ihrer Persönlichkeitsentwicklung darstellen kann. D.h. das Fach Mathematik und die damit verbundenen Probleme zeigten ihr die eigenen Grenzen und ermöglichten ihre so eine realistische Selbsteinschätzung, die darin besteht, dass sie vieles kann, aber nicht alles können muss. Diese Erfahrung wird positiv gewendet („man muss einfach auch lernen, dass nicht alles so geht, wie man will“) und durch MitschülerInnen emotional unterstützt.

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6.3 Lernerfahrungen weiterer SchülerInnen im tabellarischen Überblick Da eine längsschnittliche Detailanalyse aller befragten SchülerInnen nach dem in Kapitel 6.2 gezeigten Muster den Umfang des Berichts sprengen wurde, sind in der folgenden Tabelle exemplarisch weitere Lernerfahrungen anderer SchülerInnen genannt. Sie sollen einen Einblick in die Vielfalt subjektiv relevanter Aspekte geben, die mit dem Lernen an der Versuchsschule verbunden werden und die für schulische Förderung und Beratung potenziell oder faktisch relevant sind. Positive Lernerfahrungen Solo

Interessenorientiert, mit individuellen Handlungsspielräumen und der Anleitung motivierter Lehrer lernen Viele Wahlmöglichkeiten (Kurswahl, Themen) und fächerübergreifender Unterricht Wissenschaftspropädeutischer Ansatz, d.h. weniger verschult, weniger strikte Anwesenheitskontrolle und statt dessen eigenständiges Lernen

Negative Lernerfahrungen Kurse mit SchülerInnen, die wenig Interesse und Motivation gezeigt haben Erschwerte Arbeitsbedingungen durch akustische Störungen auf offenen Unterrichtsflächen, daher war konzentriertes Lernen nur allein und in Ruhe möglich

Selbstständiges Erarbeiten von Themen, dabei hohe Eigenmotivation und Eigeninitiative (z.B. im außerschulischen Bereich)

Anja

Offenes und vertrauensvolles Verhältnis zwischen SchülerInnen und LehrerInnen Sensibler Umgang mit Defiziten und Schwächen der Schüler und deren Förderung Konkrete Lernhilfen durch Lehrende, die dabei halfen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und sich nicht zu überfordern Das Problemfach Mathematik entwickelte sich zu einem „ganz normalen Unterrichtsfach“

Unübersichtlichkeit der Schulorganisation störte, führte andererseits dazu, dass sie gelernt hat, sich zurecht zu finden und sich selbst um die notwendigen Informationen und Hilfestellungen zu kümmern Hohe Arbeitsanforderungen zum Ende des Semesters machen eine hohe Planungskompetenz der SchülerInnen erforderlich, um beim Lernen die richtigen Prioritäten zu setzen

Prioritätensetzung, Entwicklung von Strategien des Zeitmanagements und der Selbstorganisation sind wichtig, um im Oberstufen-Kolleg erfolgreich zu sein

Doro

Sicherheit und Routine beim Vorbereiten und Halten von Referaten. Besonders gute Erfahrungen hat sie mit mehrperspektivischem und stärkenorientiertem LehrerInnenSchülerInnen-Feedback gemacht Gute Erfahrungen mit Gruppenarbeit mit SchülerInnen, die die gleichen Interessen, Arbeitsweisen und Motivationen haben Ansprechbarkeit und Motivation der

Geballte Arbeit am Ende des Schuljahres Formale schulorganisatorische Vorgaben (Fristen, Termine) gängeln SchülerInnen und schränken Wahlfreiheit ein Aufschieben von Arbeit als effektive, aber ungeliebte Strategie Konnte auch am Oberstufen-Kolleg keine effektiven Lernstrategien für Mathematik anwenden und schaltete im

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Anna

LehrerInnen

Mathematikunterricht oft ab

Gute Erfahrungen mit der Schulsozialarbeit, da angenehme und persönliche Ebene und kompetente AnsprechpartnerInnen bei Fragen des Wohnens

Sinnvolles Lernen in den Freiblöcken fiel aufgrund Ablenkung schwer. Da sie wenig Selbstdisziplin aufbaute, lernte sie häufig zu Hause

Gutes LehrerInnen-SchülerInnenVerhältnis (Duzen, wenig hierarchisches und persönliches Verhältnis) und integratives Schulklima

Formale Vorgaben zum Bestehen von Kursen erzeugten Druck

Basiskurs Deutsch fungierte als Klassenverband, in dem sie rasch Freunde gefunden hat Sie entwickelte mehr Selbstvertrauen (u.a. durch das Halten von Referaten) und ihre Persönlichkeit wurde gestärkt

Wahlfreiheit bei Kurswahlen war häufig nicht gegeben, da es viele Vorgaben und Belegpflichten gab Wünschte sich aufgrund der Vielfalt an formalen Vorgaben einen festen AnsprechpartnerInnen. Die zuständigen Personen waren z.T. nicht ansprechbar bzw. konnten keine Auskunft geben

Gute Abstimmung der Basis- und Brückenkurse verhalf zu Lernfortschritt

Elfe

Veränderung negativer Selbstüberzeugungen in Bezug auf das (Fremdsprachen)Lernen

Verletzung des subjektiven Gerechtigkeitsempfindens durch unterschiedliche Leistungsanforderungen

Thematische Schwerpunksetzungen waren möglich

Individualität, Freiraum und formale Regelungen beim Lernen werden von LehrerInnen sehr unterschiedlich ausgelegt, was dazu führt, dass sie sich durch die Vorgaben unmündig gemacht und gegängelt fühlt

Gutes Lernen am Oberstufen-Kolleg durch strukturelle Rahmenbedingungen, selbstständiges Lernen, Diskussionen, Eigenverantwortlichkeit, alternative Lernmethoden, fachlichen Austausch Positives LehrerInnen-SchülerInnenVerhältnis: keine Hierarchien und Machtverhältnisse, weniger Leistungsdruck, zugewandte Grundhaltung der Lehrkräfte, keine Diskriminierung oder Beschämung, Akzeptanz von Andersartigkeit

Wenig produktive Gruppenarbeit aufgrund unzuverlässiger Mitschüler. Inflationärer Einsatz der Methode Gruppenarbeit

Gute Leistung in (Problem-)Fach Mathematik und Lernbüro Mathematik weckten Interesse an vertiefender Auseinandersetzung und stärkte Selbstvertrauen

Julia

Vermittlung von Lern- und Arbeitstechniken Positives LehrerInnen-SchülerInnenVerhältnis und fachliche Erfolgserlebnisse als positive Faktoren im Umgang mit Prüfungsangst Beruflichen Plänen und Zukunftsorientierung wurde Aufmerksamkeit geschenkt

Nutzte die Beratungs- und Förderinstrumente des OberstufenKollegs nicht, da sie die Angebote nicht kannte bzw. vergessen hatte Motivationsprobleme als persönliche Einflussfaktoren auf das Lernen blieben bestehen

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Kasimir

Individuelle Förderung und frühe Intervention der LehrerInnen im Zusammenspiel mit einem integrativen Schulklima Funktionierende Gruppenarbeit, guter und interessanter Unterricht

Leistungsabfall im Fach Mathematik trotz großer Anstrengung führte zu Frustration Unterschiedliche Anforderungen und Vorgaben auf LehrerInnenseite: Lockerheit des Oberstufen-Kollegs ist zwar positiv, hat aber auch negative Folgen (z.B. wenig strukturierte Kurse) Freiraum ermöglicht zwar selbstverantwortliches Lernen, unterstützt aber auch die Tendenz, Aufgaben aufzuschieben. Die Freiheit muss strukturiert werden Eigene psychische Situation (z.B. Ärger mit Freundin) beeinflusste die schulischen Leistungen. Hilfreich waren Gespräche mit MitschülerInnen, die Schule selbst konnte wenig tun

Jenny

Echtes selbstständiges Arbeiten und ernsthafte, hilfreiche Kritik an und durch MitschülerInnen Möglichkeit zu Eigenaktivität und Verantwortungsübernahme Kennen Lernen neuer Lernmethoden (Lernen „wie man richtig lernt“)

Enttäuschung über unmotivierte und wenig engagierte MitschülerInnen Wissenslücken im Studienfach Biologie erzeugen Angst vor der Abiturprüfung Unklare und wenig transparente Leistungsbewertung

Gute Leistungen und Freude am Lernen in Fächern, die eigentlich nicht zu ihren Stärken gehörten (Englisch und Latein)

Abb. 5: Überblicksdarstellung positiver und negativer Lernerfahrungen am Oberstufen-Kolleg in der Wahrnehmung der SchülerInnen

Bei der Durchsicht der Paraphrasen fällt erneut auf, dass schulklimatischen Aspekten wie z.B. einem offenen, wenig hierarchischen und vertrauensvollen Lehrer-Schüler-Verhältnis oder der guten Ansprechbarkeit der LehrerInnen ein hohes Gewicht beigemessen wird. Als problematisch erleben die befragten SchülerInnen mitunter die Unübersichtlichkeit der formalen Regelungen der Versuchsschule und den durch das Beleg- und Benotungssystem entstehenden Druck. Die querschnittlich-themenzentrierte Auswertung zeigt darüber hinaus folgende wiederkehrende Muster in den SchülerInnenaussagen: 



Die SchülerInnen (z.B. Asrin, Ludwig, Solo, Jenny) greifen vielfach ein Argumentationsmuster auf, dem eine Kausalitätsannahme Interesse, Motivation, gutes Lernen zugrunde liegt. Neben dem eigenen Interesse werden die Zusammensetzung der Lerngruppe und der Unterrichtsstil der Lehrperson als subjektive Erklärungsansätze für Erfolge bzw. Misserfolge herangezogen. Dies verweist auf subjektive Theorien zum eigenen Lernverhalten auf Seiten der SchülerInnen, so dass sich auch unterschiedliche Lernertypen (z.B. Individualisten; Solo oder Netzwerker; Asrin) identifizieren lassen. Auffällig ist, dass das Schulklima am Oberstufen-Kolleg einerseits als „lockerer“, offener, zugewandter und hierarchiefreier beschrieben wird. Es wird kaum von 71









Ausgrenzungs- oder Diskriminierungserfahrungen berichtet („ich durfte so sein, wie ich bin“ Asrin). Andererseits jedoch wird ein verhältnismäßig hohes Risiko des Scheiterns gesehen. Begründet wird dies meist mit den im Vergleich zu Regelschulen verschärften Bestehensbedingungen (maximal zwei nicht bestandene Kurse). Dieser strukturelle Widerspruch muss von den SchülerInnen individuell austariert werden, was – v.a. im Zusammenspiel mit Kurs- und Studienfachwahlen oder sanktionierendem LehrerInnenverhalten – mitunter zu Enttäuschung, Frustration oder Rebellion führt. Die Ausbildung am OberstufenKolleg erfordert ein hohes Maß an Selbstdisziplin, da es viele Ablenkungsmöglichkeiten gibt, d.h. für die SchülerInnen besteht die Lernaufgabe darin, mit den größeren Freiheitsgraden kompetent und selbstverantwortlich umzugehen (Tom). Viele SchülerInnen glauben, einen Unterschied zwischen der Lern- und Förderkultur ihrer zuvor besuchten Schulen und dem Oberstufen-Kolleg zu erkennen. Das Lernklima der Versuchsschule wird insgesamt als unterstützender, individueller und integrativer beschrieben. Die befragten SchülerInnen fühlen sich wohl und von den Lehrkräften ernst genommen. Viele SchülerInnen geben an, von den am Oberstufen-Kolleg vermittelten Lernund Arbeitstechniken (v.a. Referate halten, Textarbeit) nachhaltig zu profitieren. Methoden der inneren Differenzierung (v.a. Gruppenarbeit) werden nach ihrer Wahrnehmung häufig angewendet, jedoch mit unterschiedlichem Erfolg: Je nach Voraussetzung können Gruppenarbeiten negativ verlaufen, der Erfolg ist abhängig von der Zusammensetzung der Lerngruppe, der Anleitung und Betreuung durch Lehrkräfte und dem Kursklima (Solo, Kasimir, Elfe). Eine mitunter geringe Motivation auf Seiten der MitschülerInnen erzeugt bei manchen (v.a. engagierten) Befragten Demotivation, Unbehagen und Frustration (Jenny, Elfe). Insgesamt wird das Lernen am Oberstufen-Kolleg als stark lehrendenabhängig wahrgenommen: Den SchülerInnen sind Authentizität, Interesse an und Vertrauen zu den SchülerInnen wichtig. Als Problem wird gesehen, wenn die Lehrkräfte unklare Vorgaben machen und SchülerInnen bevorzugen. Die ständige Ansprechbarkeit der Lehrkräfte wird als äußerst positiv empfunden. Häufig dominiert die informelle Beratung vor und nach dem Unterricht, so dass der Weg zu ‚formellen’ Beratungs- und Förderangeboten häufig erst an zweiter Stelle steht. Die Organisationsstruktur der Förderung und Beratung ist für Viele – auch nach drei Jahren an der Versuchsschule – nur schwer durchschaubar bzw. wird als wenig relevant erachtet. Aufgrund der dichten Kommunikationskultur dominieren informelle Nutzungsformen über formelle. Die Mehrheit der Befragten berichtet im zweiten Interview von persönlichen und positiv wahrgenommenen Veränderungen, z.B. in Richtung einer gelasseneren und souveräneren Haltung gegenüber Alltagsproblemen.

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7. Qualitative Analyse Teil II: Bedingungen schulischer Beratung und individueller Förderung aus Sicht der SchülerInnen Nachdem im vorherigen Kapitel anhand vertiefender schulbiografischer Einzelfallanalysen einzelne Lernerfahrungen und ihr Zusammenspiel mit schulischer Förderung und Beratung vorgestellt wurden, folgen nun Auswertungsergebnisse aus querschnittlichthemenzentrierter Perspektive. Ausgehend von den Wahrnehmungen, Einschätzungen und Erwartungen der befragten SchülerInnen werden exemplarische Handlungsfelder schulischer Förderung und Beratung am Oberstufen-Kolleg vorgestellt und in Bezug auf Möglichkeiten und Grenzen der praktischen Umsetzung und der Inanspruchnahme durch SchülerInnen diskutiert. Wie in Kapitel 4. erläutert, wurde in dieser Studie zwischen Instrumente psycho-sozialer und sozio-emotiver Förderung und Beratung einerseits und Instrumenten schulorganisatorischer Förderung und Beratung andererseits unterschieden. Für beide Bereiche werden im Folgenden jeweils exemplarische Handlungsfelder vorgestellt: im einen Fall das Tutoriat, die psycho-soziale Beratung und die Schulsozialarbeit, im anderen Fall die Laufbahnberatung und schulische Informationsveranstaltungen. 7.1 Wahrnehmung, Attribuierung und Inanspruchnahme von Instrumenten psychosozialer und sozio-emotiver Beratung Zu den Angeboten der psychosozialen und sozio-emotiven Beratung am OberstufenKolleg werden neben dem Tutoriat die Schulsozialarbeit sowie die psycho-soziale Beratung gerechnet (Kap. 4). Im Folgenden werden zunächst einige typische Perspektiven der gegen Ende des ersten Ausbildungssemesters befragten KollegiatInnen auf die Schulsozialarbeit, die psycho-soziale Beratung und das Tutoriat skizziert. 7.1.1 Schulsozialarbeit Die Mehrzahl der befragten KollegiatInnen hat das Angebot der Schulsozialarbeit gegen Ende des ersten Semesters lediglich im Rahmen einer großen Informationsveranstaltung, in der sich verschiedene Einrichtungen und Akteure des Oberstufen-Kollegs mit ihren Aufgabenbereichen persönlich vorgestellt haben, kennen gelernt: „Ich weiß jetzt den Namen nicht mehr, aber ich habe die auch schon mal gesehen. Die haben sich auch vorgestellt. (…). Man kann, glaube ich, immer zu denen gehen. Wenn man Fragen hat“ (Tonia). Zur Erreichbarkeit und den konkreten Aktivitäten wurde eine Informationsbroschüre verteilt, auf die einige KollegiatInnen im Interview verweisen. Insbesondere KollegiatInnen mit Migrationshintergrund berichten, dass sie die Schulsozialarbeit im Rahmen der Freizeitangebote des Kulturcafés kennen gelernt haben. Erst einige Wenige haben bereits in der offenen Sprechstunde Kontakt zur Schulsozialarbeit aufgenommen. In diesen Fällen wurden Beratung und praktische Hilfestellungen bei Problemen und Fragen in Wohnangelegenheiten oder Finanzierung der Ausbildung in Anspruch genommen, wie z.B. durch Anja: „Also so Sachen wie Bafög oder Wohnungssuche, sind supernett, helfen einem sofort weiter. Für andere Sachen würde ich sie jetzt nicht ansprechen, aber dafür. Nehmen sich Zeit, setzen sich mit dir dahin und find ich ganz gut“ (Anja). Als besonders positiv wird das hohe Maß an Engagement der Mitarbeiterinnen der Schulsozialarbeit und der gute Kenntnisstand, was juristische Regelungen betrifft, hervorgehoben, „weil die einem halt immer sagen können, wo man hin muss und die eigentlich auch immer auf dem aktuellen Stand sind bei den jeweiligen Gesetzen und so“ 73

(Steve). Neben juristischen Kenntnissen und Beratung ist aber auch der sozialpädagogische Umgang mit Problemen des Wohnens für die KollegiatInnen wichtig: Hülya berichtet beispielsweise von einer Mitkollegiatin, die wegen der Lärmbelästigung durch ihren Nachbarn große Probleme in ihrer Wohnung hatte und deshalb mit ihr zusammen die Schulsozialarbeit aufgesucht hat: „dann ist die dahin gegangen und sie hat ihr sehr geholfen dabei. Und jetzt hat sie eine neue Wohnung gekriegt“ (Hülya). Gefragt nach den möglichen Angebotsbereichen der Schulsozialarbeit, benennen die KollegiatInnen neben dem Beratungs- und Unterstützungsangebot bei Wohn- und Finanzierungsfragen die Unterstützung bei privaten Problemen, insbesondere, wenn sich diese auf den schulischen Bereich auswirken und beispielsweise Lern- und Arbeitsstörungen bewirken. Als möglicherweise hilfreich in solchen Situationen beschreibt Josefine die Schulsozialarbeit: „Ja also ich schätze, zu denen würde man auch gehen, wenn man Probleme hat jetzt am OS. Halt eben jetzt private Sachen, halt eben wenn irgendwie was, (…) wenn irgendetwas einen belastet jetzt. Und das halt eben am Lernen stört oder so“ (Josefine). Eher negative Erfahrungen mit der Schulsozialarbeit werden von Einzelnen geschildert, wenn sie über die vor dem Oberstufen-Kolleg besuchten Schulen berichten. Schulsozialarbeit wurde z.B. von Blume an einer Gesamtschule eher als sanktionierend wahrgenommen: „Und da wurde man halt hin geschickt, wenn man irgendwas Böses gemacht hat oder so“ (Blume). Der Kontakt zur Schulsozialarbeit wurde an anderen Schulen (auch unter den MitschülerInnen) stigmatisiert, während für das OberstufenKolleg ein toleranter und positiver Umgang beschrieben wird: „Aber hier ist es halt schon, also hier ist die Hemmschwelle, da hin zu gehen niedriger und dann hinterher nicht anhören zu müssen, öh, du warst da und da. Also das ist irgendwie also wesentlich toleranter hier. Also es wird auch damit toleranter umgegangen“ (Blume). Zu Beginn des ersten Semesters ist das Angebot der Schulsozialarbeit zwar vorgestellt worden, der direkte Kontakt wurde bis zum ersten Befragungszeitpunkt jedoch in nur Einzelfällen von den Befragten gesucht. Insgesamt zeigt die Auswertung der Interviews zu Wahrnehmung und Erfahrung mit der Schulsozialarbeit, dass der Kontakt in unserer Stichprobe im Verlauf des ersten Semesters eher punktuell gestaltet wurde. Das von der Schulsozialarbeit initiierte ‚Kulturcafé’ mit seinen Freizeitangeboten (Ausstellungen, Lesungen, Filme und Kreativangebote) bietet jedoch einen niedrigschwelligen Zugang als Alternative zur Kontaktaufnahme im Büro der Schulsozialarbeit. Die Inanspruchnahme der offenen Sprechstunde, über die von unseren Befragten berichtet wird, bezieht sich schwerpunktmäßig auf Wohn- und Finanzierungsfragen. Andere Problembereiche, die z.B. mit Überschuldung, Suchtmittelkonsum, Beziehungsproblemen mit Eltern und in der Partnerschaft zusammenhängen, wurden von den Befragten im Zusammenhang mit der Schulsozialarbeit zu diesem Zeitpunkt nicht thematisiert. Mehrere KollgiatInnen berichten in der zweiten Befragung von vielfältigen Kontakten zur Schulsozialarbeit: „Und ich war einmal wegen Freiwilligem Sozialen Jahr bei der Sozialarbeiterin“ (Jenniffer). „Ich war einmal bei der Schulsozialarbeit wegen meines Bafögs“ (Solo). Doro ist ein weiteres Angebot in Erinnerung geblieben: „Die machen ja immer so ein Waffelessenangebot. Das finde ich echt gut, weil man dann eine gute Ebene hat auch, um dann irgendwie so miteinander zu reden“ (Doro). Asrin berichtet von einem sehr intensiven, längerfristigen und für sie emotional wichtigen Kontakt zur Schulsozialarbeit: „Also, ich würde mal sagen, die Schulsozialarbeiterinnen waren die, die ich am meisten ( ), ((lacht kurz)), mit denen ich am intensivsten Kontakt hatte. (...). Also die war mir total wichtig! (...). „Ich hatte schon, ich hatte ein bisschen-, man-, ich finde, man hat so ein bisschen das Gefühl, dass man mit einer Freundin redet, die 74

Ahnung hat ((lacht)). So. Und das, finde ich, war ganz toll, weil man dann einfach sich, ja, ich finde, das ist immer ein-, es ist ja einfach, es ist einfach einfacher, mit Freunden zu reden als mit irgendwelchen wildfremden Personen. (...). Und ich bin zu ihr hingegangen wegen/ ach Gottchen, weswegen bin ich zu ihr hingegangen? Wegen/ ja wegen eben Musik, wegen, was weiß ich, weil ich Stress mit meinem Freund hatte, wegen Umziehen, wegen all solchen-, wegen allem eigentlich. Wegen allem, was mich-, alles was mich bedrückt hat, da wusste ich, ich konnte zu ihr gehen. Und sie hat sich dafür wirklich interessiert“. Im Falle von Asrin zeigt sich erneut das Muster einer individualisierten Inanspruchnahme: I: Du kannst, wenn du möchtest, eine Situation oder Beispiele nennen, so ein typischer Anlass, in denen du mit ihr Kontakt aufgenommen hast. Wenn ich immer weiß, oh, ich schaue mal grad rein irgendwie, schaue, ob sie da ist, und wenn ja, dann ist es schön, dann setze ich mich und dann rede ich mal fünf Minuten mit ihr und sonst kann ich weitergehen. Und wenn es halt größere Probleme sind, dann, klar, dann wird es auch mal länger und so. Aber das ist einfach dieses, dass einfach die Kontinuität da ist, dass ich weiß, dass sie immer da ist. Und nicht nur, was weiß ich, mittwochs von 12 bis 14 Uhr oder so. I: Und hat dieser Kontakt deine schulischen Leistungen auch irgendwie beeinflusst? Oh, das weiß ich doch... Bestimmt irgendwie. Aber so direkt könnte ich das jetzt gar nicht (-) sagen. Also sie hat mir vieles abgenommen. Was heißt abgenommen. Also sie hat mir geholfen. Ich habe jetzt weniger mit ihr darüber-, über irgendwelche Fachdinge geredet, sondern eher dieses Zwischenmenschliche, was einen eben auch belastet. Wenn man mit irgendeinem Lehrer oder/ auch, was ich finde, was hier schön berücksichtigt wird, aber in anderen Schulen wieder vergessen wird, ist dieses, einfach wenn man private Probleme hat, also wenn ich ein privates Problem habe, kann ich mich einfach schlechter auf die Schule konzentrieren. Das ist einfach so! Und da hat sie mir einfach geholfen, da irgendwie das zu handeln! (Asrin).

Kontinuität, Verlässlichkeit, flexible Ansprechbarkeit, ein stets offenes Ohr für die kleinen und großen Probleme des Alltags sowie hilfreichen Tipps in allen Lebenslagen waren für die Kollegiatin eine wichtige Konstante im Schulalltag. Indem sich Asrin den ‚Frust von der Seele geredet’ und mit einer guten Zuhörerin (auch) über Privates sprechen konnte, gelang es ihr, sich von Belastendem abzulenken und sich besser auf schulische Aufgaben zu konzentrieren. Die Schulsozialarbeit als Teil der Förder- und Beratungsstruktur der Versuchsschule war somit für Asrin ein wesentlicher Beitrag zu einem „entspannten (...), freundlichen (...) [und] familiären“ Schulklima. 7.1.2 Psycho-soziale Beratung Als Anlaufstelle bei persönlichen und schulischen Krisen bietet die psycho-soziale Beratung in erster Linie individuelle Hilfestellungen sowie Weitervermittlung außerschulischer Kontaktadressen bzw. Therapieplätze. Diese Angebote hat nach dem ersten Ausbildungssemester am Oberstufen-Kolleg aus der Gruppe der 30 Befragten niemand in Anspruch genommen. Für die meisten SchülerInnen ist die psycho-soziale Beratung in ihrer Bedeutung und Zielsetzung (noch) nicht einschätzbar und wird zum Befragungszeitpunkt subjektiv als wenig relevant eingestuft. Auf die Frage, aus welchen Gründen KollegiatInnen die offene Sprechstunde der psychosozialen Beratung aufsuchen könnten, werden „große persönliche Probleme“ genannt. Dazu gehören für die Befragten neben Krankheiten und Todesfällen in der Familie und sich daran anschließende Lernprobleme auch Konflikte mit Lehrpersonen, wie z.B. Jennifer schildert:

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„Wenn es mir jetzt irgendwie dreckig geht und wenn jetzt irgend etwas passiert, keine Ahnung, warum ich jetzt z.B. nicht in die Schule kommen kann, vielleicht durch Krankheit, Todesfall in der Familie, dann muckt der Lehrer oder so. Dann würde ich da hin gehen. Es ist halt noch nicht vorgekommen, ich weiß auch gar nicht, wie fähig die Menschen da sind“ (Jennifer).

Personal und Kompetenz der psycho-sozialen Beratung sind den Befragten größtenteils nicht bekannt. Als positiv wird die Schweigepflicht der BeraterInnen hervorgehoben. In einem Fall wurde von der Tutorin die Inanspruchnahme der Beratung empfohlen, aber von dem Kollegiaten, der ein Ausbildungsjahr zurückgestuft wurde, nicht in Anspruch genommen: „Ich sollte hin gehen, ich bin nie hin gegangen. Aber ich denke, also ich sollte hin gehen, weil ich das Jahr wiederholen sollte und mir das so aufs Gemüt geschlagen ist und so (…). Ich denke, dass man sich ziemlich gut mit denen austauschen kann, wenn man dann halt irgendwie wirklich bereit ist, da hin zu gehen und mit denen zu sprechen“ (Blume). Insbesondere Vorbehalte im Hinblick auf mangelndes bzw. kein „Vertrauen zu fremden Leuten“ werden als Grund für die Nicht-Inanspruchnahme der psycho-sozialen Beratung genannt. Dementsprechend wird sie als Beratungs- und Unterstützungsangebot gesehen, das eher für „andere, die so nicht wissen, wo man sonst hingehen kann“ wichtig ist. Über ihre Probleme wollen sich die KollegiatInnen lieber mit guten Freunden austauschen: „Aber ich sage immer, ich kann zu fremden Leuten kein Vertrauen haben, ich habe dann eher zu guten Freunden von mir Vertrauen, aber es gibt natürlich auch Leute, die da hingehen, weil sie denken, die Leute können ihnen besser helfen, was ich natürlich auch richtig finde“ (Anja). Andere behaupten von sich, gelernt zu haben, Probleme selbst zu lösen oder beschreiben ihre grundlegende Einstellung, dass Probleme nicht mit „Fremden“ besprochen werden sollen. Die Kontaktaufnahme mit den ExpertInnen bedeutet zunächst einmal Überwindung, wie Paul erzählt: „Wenn man halt tatsächlich so derartige Probleme hat, dann hat man eigentlich keine Lust, sich an irgendwelche Menschen zu wenden, die man überhaupt gar nicht kennt. Aber wenn man diesen Schritt erst mal überwunden hat, dann sind die Menschen drauf spezialisiert, einem so zu helfen“ (Paul). Insgesamt wurde in den Interviews deutlich, dass das Angebot der psycho-sozialen Beratung für die Befragten z.T. nicht niedrigschwellig genug, nicht ausreichend bekannt und z.T. tabuisiert zu sein scheint. Als Vorschlag nennt Tonia: „also, wenn die Leute ein bisschen mehr darauf [auf die KollegiatInnen] zugehen würden und die Psychologen. (…). Vielleicht müssten die ein bisschen mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Und dann würden die Leute vielleicht auch mal hingucken“ (Tonia). Berücksichtigt werden muss bei der Auswertung allerdings, dass die Befragung im ersten Semester stattfand und nur ein Bruchteil der KollegiatInnen des Jahrgangs 2004 befragt wurde, für den in der eigenen Wahrnehmung keine gravierenden Probleme aufgetreten sind. 7.1.3 Tutoriat In der Untersuchung wurden die KollegiatInnen nach ihren Vorstellungen, Erwartungen und Erfahrungen mit ihren TutorInnen gefragt. Wie die Auswertung des ergänzenden Einschätzungsfragebogens zeigt, messen die Befragten innerhalb des weiten Spektrums schulspezifischer Förder- und Beratungsangebote den TutorInnen besondere Relevanz bei (vgl. Boller/ Rosowski 2007). Im Gegensatz zu eher ‚formalen’ und offen gehaltenen Selbstbeschreibungen der Institution und den zu Ausbildungsbeginn eher vagen Vorstellungen bei der Schulsozialarbeit und der psychosozialen Beratung zeigen die

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Ergebnisse der Interviews, dass die Befragten an ihre TutorInnen äußerst vielfältige, konkrete und weit reichende Ansprüche stellen. Diese den Tutoren zugewiesenen Aufgabenbereiche werden im Folgenden skizziert. TutorInnen als Lotsen: Übernahme schulorganisatorischer und administrativer Aufgaben sowie Beratung und Information bei Laufbahnentscheidungen Ein Aufgabengebiet der TutorInnen wird in Verwaltung der Scheine und in Information über organisatorische Fragen gesehen. Gleichzeitig besteht offenbar die Erwartung, dass sich TutorInnen bei schulischen Problemlagen auch an die zu betreuenden KollegiatInnen wenden und Hilfe anbieten: „Also, zum Tutor vielleicht, also-, ja, vielleicht so, wenn kleine Probleme sind in seinem-, also, ich habe zum Beispiel meine Scheine nicht, wenn ich da ein Problem hätte, dann wende ich mich an ihn. Oder er kommt selber zu mir“ (Egal). Das folgende Zitat verweist auf die Funktion der TutorInnnen als BeraterInnen bei der Herbeiführung schullaufbahnrelevanter Entscheidungen (hier: Wahl von Studienfächern): „Mir zu helfen ((lacht)) bei Entscheidungen irgendwie, die ich treffen muss hier. Sei es, irgendwelche Studienfachwahlen oder Kurswahlen generell oder so. Und, mh, egal, was ich für Probleme habe, dass ich da hingehen kann. Nicht nur bezogen auf die schulischen Sachen“ (Doro). Ein weiteres von den befragten KollegiatInnen als wichtig erachtetes Handlungsfeld bezieht sich eher auf die Mediationsfunktion von TutorInnen. TutorInnen als Fürsprecher, Problemlöser und Verbündete: Allgemeine Parteinahme und Unterstützung bei Konflikten mit Lehrenden Bei der Durchsicht der Interviews zeigt sich, dass an TutorInnen auch Ansprüche gerichtet werden, die über Betreuungsaufgaben im schulsozialen Bereich hinausgehen. Sie sollen nicht nur als passive ‚Scheine-Sammler’ fungieren, sondern im Bedarfsfall auch Initiative ergreifen, aktiv auf die KollegiatInnen zugehen und deren Interessen (z.B. bei Konflikten mit anderen Lehrenden) vertreten: „Also, wenn ich Probleme oder so habe, also wenn ich schulische Probleme habe oder mit dem Lehrer nicht zurecht komme, gehe ich erst einmal zu meinem Tutor und wenn ich merke, er setzt sich immer dafür ein, also er versucht das Problem zu lösen, bis jetzt war das so“ (Hülya). Hier wird ein weiteres Handlungsfeld, das KollegiatInnen ihren TutorInnen zuweisen, deutlich: TutorInnen fungieren als Problemlösende und intervenieren bei Konflikten mit anderen Lehrenden. Hintergrund dieser Vorstellung können z.B. Ungerechtigkeitserfahrungen sein. Der Beratungsbedarf kann neben schulischen Aspekten auch außerschulische Belange betreffen. Eine Reihe von KollegiatInnen macht die Einbeziehung der TutorInnen in nicht primär schulische Angelegenheiten jedoch vom persönlichen Verhältnis abhängig. Die Ansprechbarkeit von TutorInnen bei sozialen oder persönlichen Problemen stellt für viele SchülerInnen die zentrale Aufgabe der TutorInnen dar. TutorInnen als „Schulmutter“ und „Schulvater“: Beratung und Unterstützung bei sozialen oder persönlichen Problemlagen Manche KollegiatInnen richten an ihre TutorInnen Wünsche, die dem sozio-emotionalen Bereich zugerechnet werden können: „Und dass ich dann einfach mit meiner Tutorin – und dass meine Tutorin mich dabei unterstützt. Ich meine, ich finde das auch für mich wichtig, dass die Person einen auch mal seelisch unterstützt. (...). Zum Beispiel meine Tutorin, die hat mir vom ersten Tag Mut

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gemacht. Die meinte, ‚Du schaffst das, du kriegst das hin, ich vertraue dir!’ So eine Person eben, die einem dann, egal was die macht, so wie meine Eltern, die sind auch so. Die dann einfach hinter einem stehen. ‚Egal, was sie macht, das ist meine Tochter!’. Das ist also meine ‚Tutandin’. Heißt das so? Weiß ich nicht. (...). Ich meine, Eltern haben immer eine ganz andere Rolle, finde ich. Aber in der Schule, eine Schul-Mutter oder ein Schul-Vater oder so“ (Dilara).

Für ihren Schulerfolg bedeutsam ist aus Dilaras Perspektive ein unterstützendes Umfeld, in dem sie sich entfalten und vor allem Selbstbewusstsein entwickeln kann. Eine wichtige Rolle schreibt sie dabei ihrer Tutorin zu, von der sie auch in mehreren Kursen unterrichtet wird. Für sie ist eine Tutorin so etwas wie eine „Schulmutter“, die sich dadurch auszeichnet, dass sie von ihr emotionale Unterstützung und Rückhalt erhält. Bei schulischen Problemen sind für Dilara zwar ihre Eltern die wichtigsten Ansprechpersonen, die sie auch bei einer nicht bestandenen Klausur ermutigen und ihr bereitwillig Nachhilfeunterricht anbieten. Aber Begleitung und Beistand sowie die Gewissheit, dass die Tutorin „einfach da [ist], vor allem in Situationen, in denen wir alleine nicht klar kommen“, sind für Dilara ebenso wichtig. Generell bedeutsam scheint für sie ein unterstützendes und ermutigendes Umfeld, eine Lernprozessbegleitung, zu sein. Die von KollegiatInnenseite häufig implizit zugewiesene Aufgabe einer gezielten Persönlichkeitsstärkung, der Unterstützung bei Findung und Formulierung von Interessen und Zielen sowie Entwicklung spezifischer sozialer Kompetenzen scheint in besonderem Maße emotional aufgeladen zu sein. Verschiedene KollegiatInnen wählen für ihre TutorInnen vergleichende Bezeichnungen wie „Schutzengel“, „Bezugsperson“, „Anwalt“, „Verbündete“, „Stütze“, „Begleitperson“ oder „Vertrauenslehrer“. In all diesen Bildern kommt eine große Nachfrage nach sozio-emotiver Unterstützung zum Ausdruck. Die Bedeutung von Beratung und Förderung durch persönlichen Kontakt mit TutorInnen ist besonders groß, wenn die KollegiatInnen aus einem bildungsfernen Elternhaus kommen, Eltern eher wenig als AnsprechpartnerInnen nutzen können und wenig Erfahrung mit schulischer Förderung haben. Ob TutorInnen auch bei sozialen oder persönlichen Problemlagen hinzugezogen werden, machen die KollegiatInnen meist davon abhängig, ob sich ein Vertrauensverhältnis einstellt: „Kommt aber auch immer auf den Tutor drauf an“. D.h., die Beziehungsqualität ist entscheidend für Verlauf und Reichweite der Zusammenarbeit. Entsprechend schwierig kann es sein, den „richtigen Tutor“ zu finden, d.h. die Tutorenwahl ist angesichts der Vielfalt potenzieller Unterstützungsbereiche und Projektionsmöglichkeiten mit Chancen und Risiken verbunden, was dazu führt, dass die KollegiatInnen einen mitunter schwierigen Prozess des Auslotens vollziehen. TutorInnen als fachspezifische Beratungshilfen Dass eine Reihe von KollegiatInnen die Wahl der TutorInnen von deren Fachrichtung abhängig zu machen scheint, deutet darauf hin, dass sie sich neben schulsozialer Betreuung auch fachliche Beratung und Förderung erhoffen. Der Wunsch nach fachlichen Unterstützungsangeboten wird den Aussagen zufolge von manchen TutorInnen auch erfüllt: „Ich weiß nicht, ich hoffe, dass mein Tutor mich ein bisschen lenken wird oder auch mal in die richtige Richtung schubsen wird und, also, auch wenn ich dann Fragen habe oder nicht weiß, was ich machen soll, ja, ich weiß nicht. (...). Sonst vielleicht auch Lehrer von meinen Studienfächern, vielleicht [Britta] oder – Biolehrer kenne ich bis jetzt nur einen. – Ich weiß nicht, ich würde schon sagen, dass die Studienfachlehrer, weil, die hat man dann auch ziemlich oft die Woche und ich würde schon sagen, dass man die dann auch kennt ziemlich

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gut. Und wenn dann da auch irgendwas Fachliches dann auch ist, dass die einem da doch auch helfen“ (Jenny).

Neben einer Steuerung des Ausbildungsganges werden die TutorInnen z.B. als ExpertInnen für das gewählte Studienfach oder ein ‚Problemfach’ als Ansprech- und Vertrauenspersonen in Betracht gezogen und bei offenen Fragen angesprochen. Das Zitat zeigt, dass damit auf die TutorInnen Aufgaben zukommen, die weit über die institutionell vorgesehenen hinausreichen: Sie sollen fachliche Kompetenzen und Leistungsentwicklung sowie sich eventuell abzeichnende Leistungsdefizite im Blick behalten. Drohen Schwierigkeiten, wünschen sich die KollegiatInnen persönliche Ansprache zwecks gemeinsamer Entwicklung von Lösungsmöglichkeiten. Gezielte Intervention und Rückmeldung sollen also steuernd in den Ausbildungsverlauf eingreifen. Zusammenfassende Betrachtung des Tutoriats Es lässt sich aus den Aussagen auf eine stark individualisierte Ausgestaltung des Tutoriats sowie ein partiell ungeklärtes Verhältnis zwischen TutorInnen und anderen beratenden Akteuren (v.a. Laufbahnberatung, Pädagogische Leitung) schließen. Die schwache Konturierung des Tätigkeitsfelds erlaubt den KollegiatInnen, eine Vielzahl oft unrealistischer Wünsche und Hoffnungen auf ihre TutorInnen zu richten. Mit der Verschärfung des Spannungsfeldes zwischen Nähe und Distanz steigt jedoch das Risiko für TutorInnen, in Rollenkonflikte zu geraten (z.B. unauflösbare Widersprüche zwischen Lehrenden als neutralen Beratenden und als Leistungsbewertenden oder zwischen Fördern vs. Auslesen). Angesichts des breiten Spektrums an Erwartungen kann es kaum verwundern, dass vielen KollegiatInnen die TutorInnen-Wahl schwer fällt und sie zeitlich hinausgezögert wird. Ein gewisses Maß an Sicherheit bietet die von einer Reihe von KollegiatInnen praktizierte Wahl aus dem Kreis der Basis- und Brückenkurs-Lehrenden. Für die KollegiatInnen ist die soziale Beziehung zu den TutorInnen von entscheidender Bedeutung für Qualität, Verlauf und Reichweite der Zusammenarbeit (vgl. z.B. Hardy, Dilara). Mit Blick auf die strukturellen Veränderungen der Versuchsschule seit 2002 kann vermutet werden, dass im Zuge des Wandels vom ‚alten’ zum ‚neuen’ Oberstufen-Kolleg und der zu beobachtenden Verjüngung der KollegiatInnenschaft sich auch ein Wandel im pädagogischen Selbstverständnis vieler Lehrender vollzog und die TutorInnen-Rolle neu ausformuliert werden muss. Im Laufe der Ausbildung relativiert sich bei vielen KollegiatInnen die Bedeutung der TutorInnen. Gleichwohl würdigen die KollegiatInnen im Rückblick die Beratungsleistungen ihrer TutorInnen: „Mit der habe ich mich auch ganz-, gerade am Anfang, die hat mir am Anfang unglaublich geholfen! Also, zu der gehe ich auch jetzt immer noch mal. Die hat mir auch geholfen. Also die auf jeden Fall“ (Asrin). Erklären lässt sich die Bedeutungsabnahme u.a. durch die auf Schülerseite wahrgenommenen Informationsdefizite der TutorInnen in Bezug auf formale schulorganisatorische Vorgaben: „Oh ja, meinem Tutor habe ich immer erklärt, wie das hier funktioniert ((lacht))“ (Elfe). Auch Ludwig erklärt: „Also der Tutor ist eher unwichtiger geworden, eben aufgrund der Sache, dass - er sich nicht so auskennt und ich dazu übergegangen bin, die Sachen einfach gleich aus der Apo* zu ziehen“. (*Ausbildungs- und Prüfungsordnung) Trotz der Relativierung des Unterstützungsbedarfs sind die SchülerInnen sicher, dass sie sich bei Problemen immer an ihre TutorInnen wenden können: „Es war auch so/ ja, wie gesagt, die Fragen, die ich hatte, die habe ich dann irgendwie geklärt. Und ich weiß, wenn ich jetzt wirklich was nicht hätte klären können, dann hätte er [der Tutor] sich da auch hinter geklemmt und das für mich herausgefunden. Aber (-) war halt nicht nötig“ (Julia). Doro berichtet, dass sie sich im Laufe ihrer Ausbildung zunehmend an anderen 79

Lehrenden orientiert habe: „Also, ich hatte halt, äm, nach der Eingangsphase nichts mehr mit ihr zu tun, so schulisch. Und die anderen Lehrenden waren mehr so drinnen im Geschehen und dann/ deswegen. Also, wenn es jetzt wirklich was Schlimmes gewesen wäre, wäre ich bestimmt auch zu der hingegangen. Also, da habe ich eigentlich nicht so ein Problem mit“ (Doro). 7.2 Wahrnehmung, Attribuierung und Inanspruchnahme schulorganisatorischer Beratung Zu den Angeboten schulorganisatorischer Beratung am Oberstufen-Kolleg werden hier Informationsveranstaltungen und die Laufbahnberatung gerechnet (Kap. 4). Im Folgenden werden einige Aussagen der gegen Ende des ersten Ausbildungssemesters befragten Schüler zu diesen beiden Handlungsfeldern präsentiert. 7.2.1 Schulorganisatorische Informationsangebote In Kapitel 4 wurde auf die Bedeutung von Informationen für schullaufbahnbezogene Entscheidungen hingewiesen. Dieser Teilbereich der Studie verfolgt die Frage, welchen Stellenwert KollegiatInnen den schulischen Informationsangeboten und dort vermittelten Informationen beimessen. Wie oben erwähnt, kann neben einer grundsätzlichen Bereitschaft zur Inanspruchnahme von Beratungs- und Förderangeboten auch das Wissen über deren Vorhandensein als notwendige Bedingung für eine freiwillige und selbstverantwortliche Nutzung betrachtet werden (vgl. Zumhasch 1999). In den Aussagen zu Informationsveranstaltungen drückt sich insgesamt ein hoher Bedarf an Informationen zu schulorganisatorischen Fragen aus. KollegiatInnen, die sich als „selbstständig“ bezeichnen, schreiben den Veranstaltungen dabei tendenziell einen geringeren Stellenwert zu als solche, die negative Erfahrungen in der Schule gemacht haben bzw. sich als weniger selbstständig darstellen. Bei der Auswertung der Interviews kristallisierten sich zwei Leitperspektiven heraus, die für den hier gegebenen Kontext von besonderer Bedeutung sind: Die Frage nach den die subjektiven Nutzungsformen und Relevanzsetzungen bedingenden Faktoren sowie der Aspekt der evaluativen Beurteilung der Informationsveranstaltungen durch die KollegiatInnen und ihre Perspektive auf Optimierungsmöglichkeiten. Vermittlung verlässlicher Information KollegiatInnen schreiben Informationen bei der Bewältigung des Schulalltags eine wichtige Hilfs- und Unterstützungsfunktion zu.12 Angesichts der verhältnismäßig komplexen Organisationsstruktur des Oberstufen-Kollegs und vor dem Hintergrund des im Vergleich zu Regelschulen höheren Maßes an Organisationsaufwand kommt es den Befragten offenbar sehr auf aktuelle und vor allem verlässliche Informationen zu Planung und Verlauf ihrer Ausbildung an: „Weil, das ist ja doch schon alles relativ komplex hier, mit den Fächern und den Regelungen und so. Was man darf und was man nicht darf. Und da braucht man auf jeden Fall solche Veranstaltungen, um das dann halt auch zu wissen“ (Tanja). 12

Dieser Befund deckt sich mit anderen Untersuchungen des Oberstufen-Kollegs, in denen Zusammenhänge zwischen Inanspruchnahme von Informationsveranstaltungen und dem studienfachbezogenen Wahl- bzw. Umwahlverhalten nachgewiesen wurden (vgl. Hahn/ van de Wetering 2007).

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Die umfassende Information bei den Informationsveranstaltungen zu Beginn der Ausbildung ist nach anderen Aussagen „schon ganz nützlich“ bzw. „hat geholfen“, da vieles „anders ist als bei normalen Schulen“. Da im Schulalltag nicht alles, was wichtig ist, sofort aufgenommen werden könne, sei eine „Information nebenbei“ im Rahmen der Informationsveranstaltungen sinnvoll und hilfreich. Durch die Vermittlung allgemeiner und verlässlicher Informationen können die Informationsveranstaltungen zudem in gewissem Sinne der Entstehung einer schulischen ‚Gerüchteküche’ entgegenwirken: „Nee, weil das ist einfach die Begründung einfach, wenn man da jetzt nicht hingeht und sagt, man holt sich das von anderen, dann wird es wieder falsch erzählt, das habe ich auch schon voll oft erlebt, dass irgend etwas erzählt wurde, was gar nicht stimmte und dann finde ich das schon gut und dass man da dann selber hingeht, deswegen finde ich das sehr wichtig“ (Anja). „Ja, damit alle schnell Bescheid wissen, worum es geht und nicht nachher der ganze Tratsch kommt: ‚Der hat das aber so gesagt, und der so’ und von jedem kommt ganz Anderes raus“ (Marcus).

Auch wenn sich KollegiatInnen über formale Regelungen des Ausbildungsverlaufs – vor allem in Bezug auf die (Um-) Wahl von Studienfächern und Leistungsanforderungen – untereinander austauschen, wird bei wichtigen Entscheidungen ein objektiver Referenzrahmen aus erster Hand unklaren oder falschen Sachinformationen aus zweiter Hand vorgezogen. Da der Alltag am Oberstufen-Kolleg aus Sicht der Befragten ohnehin mit verhältnismäßig hohem Organisations- und Planungsaufwand verbunden ist, stellen Falsch- bzw. Fehlinformationen Störquellen dar und können zu Überforderung und Fehlplanungen führen und den Ausbildungserfolg gefährden. Organisation und Präsentation der Informationsveranstaltungen Die befragten SchülerInnen sind der Meinung, dass die unterschiedlichen Förder- und Beratungsangebote von ihren RepräsentantInnen, d.h. den befragten Experten „richtig gut“ vorgestellt worden seien. Die Stärke der Informationsveranstaltungen kann darin gesehen werden, dass sich die Beratenden persönlich vorstellen und hierdurch u.U. auf SchülerInnenseite vorhandene Zugangsängste verringert werden können. Ergänzend zu diesem positiven Aspekt ergeben sich jedoch weiterführende Fragen zur Ausgestaltung solcher Veranstaltungen: „Also, wenn wir dort sitzen, okay, die erklären uns zwar was, aber es ist meistens immer so laut, keiner hört zu, die sitzen zwar da, aber warum auch immer, keiner hat Bock zuzuhören, aber es ist Pflicht daran teilzunehmen und man versteht es auch nicht so mit vielen Leuten, was die sagen“ (Hülya). Kritisiert wird einerseits ein hoher Lautstärkepegel, der verhindere, dass man sich auf die Ausführungen konzentrieren könne. Neben akustischen Störungen bestehe andererseits wenig Interesse und Motivation zur Teilnahme, da es sich um Pflichtveranstaltungen handle. Gefragt nach der subjektiven Relevanzsetzung antwortet eine weitere Befragte: „Das ist ja auch nicht so individuell. Dann ist es ja eher allgemeiner. Wenn man Fragen hat, kann man die ja irgendwie schlecht stellen, ((lacht)) wenn da jetzt irgendwie 100 Leute oder so sitzen“ (Anna). Nach ihrer Ansicht sei eine Beantwortung individueller Fragen im Rahmen der gängigen Informationsveranstaltung kaum möglich, weshalb die Veranstaltungen notwendigerweise weniger „individuell“ als vielmehr „allgemeiner“ gestaltet seien. Es werden auch Hemmungen beschrieben, vor einer großen Zahl von MitkollegiatInnen zu sprechen und Fragen zu stellen. Wie das folgende Zitat zeigt, kann neben die Forderung einer zeitlichen Straffung auch eine inhaltliche Überforderung treten: „Aber das Problem ist, dass es so viel auf einmal ist irgendwie, dass man sehr schnell den Überblick verliert und dann nicht mehr durchblickt. Das ist zu viel, fast. (...). Es ist zuviel auf einmal irgendwie. Man weiß immer nicht genau, an wen muss ich mich jetzt noch mal damit

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wenden und so. Also es ist gut, dass es diese Veranstaltungen gibt, sonst würde ich ja noch viel weniger durchblicken. Aber auch die klären einen noch nicht so richtig auf“ (Julia).

Ein Problem besteht nach Ansicht dieser Befragten offenbar darin, dass (zu) viele Informationen in (zu) kurzer Zeit gegeben werden, die in ihrer (möglichen) Relevanz erkannt und verarbeitet werden müssen. Eine weitere Kollegiatin nimmt ebenfalls auf diesen Aspekt Bezug: „Es ging zwar ziemlich schnell. Also, ich weiß davon auch nichts mehr, wie die heißen, wo das ist, welche Sprechzeiten“. Da eine Erinnerung an Details trotz des im Anschluss an die Veranstaltung ausgehändigten Merkblatts schwer fällt, fungieren die TutorInnen, andere Lehrende oder MitkollegiatInnen als Ansprech- und Vermittlungspersonen, die im Zweifelsfall weiterhelfen bzw. intervenieren. Mit diesen Unsicherheitsmomenten kann jedoch auch ein Delegieren von Verantwortung an TutorInnen verbunden sein. Verbesserungsvorschläge zur Sicherung der Nachhaltigkeit und Anwendbarkeit der gelieferten Informationen Aus den Aussagen der Befragten lässt sich schließen, dass Maßnahmen, die den schulinternen Informationsfluss unterstützen können, intensiviert werden sollten. Beispielsweise könnte der bereits vorhandene Handzettel, auf dem die Förder- und Beratungsangeboten mitsamt AnsprechpartnerInnen genannt sind, überarbeitet und systematischer gestreut werden. Informationen könnten z.B. aktuell, leicht zugänglich, verständlich und eindeutig aufbereitet an der Schulstraßenwand oder im Internet präsentiert werden. Zusammenfassend sind aus den Interviewaussagen folgende Verbesserungsvorschläge zur Organisation der Informationsveranstaltungen herauszustellen:      

Den Lautstärkepegel reduzieren; deutlich machen, wofür diese Informationen wichtig sind, wie sie abgespeichert und abgerufen werden können; den Rahmen so verändern, dass eine Bezugnahme auf individuelle Fragen möglich ist; nicht zu viele Informationen in zu kurzer Zeit geben; Zugangsmöglichkeiten zu den Informationen verdeutlichen; übersichtliche Handzettel mit den wichtigsten Informationen vorbereiten und den Schülern zu Beginn der Ausbildung verbindlich aushändigen.

7.2.2 Laufbahnberatung Die Laufbahnberatung ist ein Teilelement der schulorganisatorischen Beratung, in dem das Handeln schulischer ExpertInnen für den Bildungsgang der SchülerInnen relevant wird. Im Folgenden sollen Wahrnehmungs- und Deutungsweisen der Befragten in Bezug auf dieses Handlungsfeld exemplarisch illustriert werden. Informationsvermittlung und Beratung bei Wahlentscheidungen KollegiatInnen erwarten von der Laufbahnberatung eine detaillierte Kenntnis schul- und prüfungsrechtlicher Vorgaben und schulorganisatorischer Abläufe sowie fachbezogene Informationsvermittlung: „Und, äm – wenn ich Informationen brauche, wie ich einen Studienfachkurs legen kann oder welche ich noch muss, damit ich das halt alles richtig habe, dann würde ich zur Laufbahnberatung gehen“ (Tanja). 82

Individuelle Beratung bei vielfältigen Wahlentscheidungen und damit u.U. verbundene Probleme (z.B. Kombinierbarkeit von Studienfächern, Belegungsverfahren, 2. Fremdsprache) sowie Beratung zu beruflichen Interessen und Entwicklungsmöglichkeiten werden in den Interviews zu Beginn der Ausbildung thematisiert: „Also, ich meine, dass es zum Beispiel dieses Beispiel gibt, dass, wenn man nur sein Fachabitur machen möchte nach der 12, dass man sich dann auch an den Laufbahnberater wenden sollte, damit man halt schon zusehen kann, dass man die passenden Kurse wählt, um halt dann am Ende der 12 sein Fachabitur zu haben und die einem dann halt auch sagen, dass man dann keine 2. Fremdsprache zu machen braucht oder halt allgemein, die das schon ganz gut im Auge haben, wie viele LNWs und in welchem Fach man bis zum Abitur halt erbringen muss“ (Hülya).

Ähnlich wie beim Tutoriat weisen die KollegiatInnen der Laufbahnberatung Aufgaben zu, die sich eher auf den sozio-emotiven Bereich richten. Sozio-emotive Problemintervention, schulleistungsbezogene prognostisches Monitoring, Interessenvertretung

Problemintervention,

KollegiatInnen sehen die Aufgaben der Laufbahnberatung auch darin, Hilfestellung bei der „Suche nach einem Ausweg“ oder „wenn man in der Schule Sorgen hat“ zu geben: „Im letzten Jahr hatte meine Freundin z.B. private Probleme und sie konnte nicht in die Schule deswegen, und dann ist sie zu ihr gegangen und hat gefragt, was sie machen kann, ‚Ich werd jetzt eine Weile nicht in die Schule kommen, wie ist das, muss ich an den Kursen teilnehmen oder kann ich die in der Hauptphase, die die Kurse abdecken?’, also das haben sie besprochen“ (Hülya).

Begleitung der Schullaufbahn und lösungsorientierte Intervention bei sich abzeichnenden Problemen wie z.B. drohendem Ausbildungsabbruch werden als weitere Aufgabenbereiche beschrieben. In der Wahrnehmung der SchülerInnen fungiert die Laufbahnberatung als „oberste Instanz (...) wenn man irgendwie - - sie kriegt ja, glaube ich, auch gesagt, wie die Schüler halbwegs stehen, so bestandene Kurse und nicht bestandene, dass die einem sagt, ‚Hier, wir müssen uns mal unterhalten, Du bestehst da irgendwelche Kurse nicht, die eigentlich wichtig sind für Dich.’ Dass sie vielleicht schon so ein bisschen einen Schritt weiter schaut, wie das so ist“ (Kasimir).

Unterstützung bei Konflikten mit anderen Lehrenden, bei denen die TutorInnen nicht vermitteln können (z.B. Benotungsfragen): „Ja, wenn ich zum Beispiel denke, dass ich irgendwie einen Leistungsnachweis bestanden hätte, aber der Lehrer das halt nicht meint. Oder dass er mir zu wenige Punkte in einer Klausur gibt. Oder dass ich irgendwie ein grundlegendes Problem mit einem Lehrer hätte. Dann würde ich da vielleicht hingehen. Also, wenn irgendwie was Gravierendes wäre“ (Anna).

Als besonders positiv werden von einigen Befragten das Engagement und hohe Maß an Expertenwissen und Verlässlichkeit im Bereich schulorganisatorischer und verwaltungsbezogener Fragen hervorgehoben: „Laufbahnberatung ist ein bisschen allgemeiner. Und ich glaube auch, die Laufbahnberatung versteht ein bisschen mehr vom Fach. Versteht mehr davon, wo man jetzt Probleme hat. Ich glaube, der Laufbahnberater kann mehr konkreter sagen, glaube ich, als ein Tutor“ (Tom). Nichtinanspruchnahme der Laufbahnberatung wird meist damit begründet, dass im bisherigen Ausbildungsverlauf keine nennenswerten Probleme entstanden seien, die Kontaktaufnahme erfordert hätten: „Ich hatte auch noch nichts, worüber ich mich irgendwie beschweren wollte oder so. Das war wirklich nie so nötig“. Diese KollegiatInnen geben meist an, dass die Laufbahnberatung erst zu einem späteren Zeitpunkt der 83

Schullaufbahn, vor allem bei Abitur und Prüfungen, wirklich relevant werden wird. Andere wiederum begründen Nicht-Inanspruchnahme mit dem wenig hierarchischen Verhältnis zu Lehrenden und der insgesamt offenen und ungezwungenen Kommunikationskultur an der Versuchsschule: Die Befragten haben – vermutlich aufgrund schulklimatischer Aspekte – den Eindruck, jede Person im Oberstufen-Kolleg, KollegiatInnen, Lehrende oder ExpertInnen, jederzeit ansprechen zu können. Das Schulklima scheint kaum eine Hemmschwelle zu setzen. Dabei weisen jene, die angeben, die Laufbahnberatung nicht zu kennen, dem Angebot tendenziell eine geringere Bedeutung zu bzw. geben an, sich bei Problemen an TutorInnen oder andere Personen zu wenden. Diese Art der suchendexplorativen Informationsbeschaffung führt dann über Umwege zur passenden Ansprechperson. Zusammenfassende Betrachtung der Laufbahnberatung Grundsätzlich wird deutlich: Den meisten Befragten fällt es schwer, zwischen den Aufgaben von TutorInnen und Laufbahnberatung klar zu differenzieren So vertritt z.B. Steve folgende Meinung: „Also, die Laufbahnberaterin ist eher so zukunftsweisend, während der Tutor mehr so in der Gegenwart praktiziert. (...). Die Laufbahnberaterin zeigt einem quasi den Weg und der Tutor hilft einem auf dem Weg“. Der Grund für die häufig diffusen Vorstellungen könnte im frühen Befragungszeitpunkt und der damit verbundenen Tatsache liegen, dass die Befragten das System Oberstufen-Kolleg noch nicht ausreichend kennen gelernt haben. Die Daten zeigen jedoch andererseits auch: Das Aufgabenprofil der Laubahnberatung wird ähnlich breit und vielfältig wahrgenommen wie das des Tutoriats. Einzelne Aussagen zeigen, dass die Laufbahnberatung eine wegweisende und ausbildungssteuernde Funktion hat, wohingegen TutorInnen auf diesem Wege begleiten sollen. Die wahrgenommenen bzw. antizipierten Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Einschätzung und Relevanzsetzung zwischen Tutoriat und Laufbahnberatung manifestieren sich im Interviewmaterial folgendermaßen: Während TutorInnen Ansprechpersonen darstellen, die selbstständig und eigenverantwortlich gewählt wurden und mit denen häufig auch informelle Gespräche im Schulalltag stattfinden, wird der Kontakt zur Laufbahnberatung offenbar seltener und bei klar einzugrenzenden Fragestellungen und Problemen gesucht. Dementsprechend unterscheiden sich auch die für das jeweilige Beratungsangebot als wichtig erachteten Kompetenzen: Während bei TutorInnen in erster Linie Einfühlungsvermögen, Durchsetzungsstärke, Offenheit und soziale Unterstützung zählen, kommt es KollegiatInnen bei der Laufbahnberatung tendenziell eher auf verlässliches Expertenwissen (Verwaltungsund Organisationsfragen), Engagement und Problemlösefähigkeit an. Im Gegensatz zu den TutorInnen gewinnt die Laufbahnberatung im zeitlichen Vergleich an Bedeutung. „Also ((lacht leicht)), weil das auch meine Lateinlehrende ist, und ich also wirklich ganz genau wissen wollte, ist dieser Plan, den ich jetzt erstellt habe, kann ich damit zugelassen werden. Und deswegen war ich also öfter mal da. (...). Also, das fand ((lacht leicht)) ich auch nicht störend, aber ich fand, für mich war es gut, dass ich das so oft nutzen konnte, da ich dann auch mal bei ihr Latein hatte und wir uns auch kannten, war das auch kein Problem. Und sie dann gesagt hat, 'dann kommst du einfach und wir gucken dann noch mal drüber'. Und hat nicht gesagt, 'boah, schon wieder!'“ (Jenny). Auch Solo hat mit der Laufbahnberatung sehr gute Erfahrungen gemacht: „Also, das finde ich schon eine gute Einrichtung, auf jeden Fall. (...). Weil man da verbindliche Informationen kriegt ((lacht)). Und sonst kannst du halt deinen Tutor fragen, und der kann dir auch nicht weiterhelfen, weil der es auch nicht genau weiß. Und/ also die Erfahrung könnte ich auf 84

jeden Fall weitergeben, dass das da/ bei wirklich ernsthaften Fragen am besten sofort dahin“ (Solo). Vermutlich wird die Laufbahnberatung für die SchülerInnen nach den ersten beiden Semestern aufgrund des nahenden Abiturs und der damit verbundenen formalen Vorgaben (Übergangskonferenzen, Studienfachwahlen, Leistungsbewertung, Abiturprüfungen etc.) bedeutsamer. Eine Reihe von Befragten sucht dieses Angebot auf, um sich mit verbindlichen Informationen versorgen und ihre Belegverpflichtungen überprüfen zu lassen. Andere SchülerInnen hingegen setzten auf Informationen aus zweiter Hand: „Ja, da bin ich dann aber nicht hingegangen, weil dann Schulkameraden das schon geklärt hatten. Ich habe dann die gefragt“ (Julia). Anna berichtet von eigenen Fehleinschätzungen, aber auch von zeitlichen Engpässen auf Seiten der Beratenden: „Da wäre ich gerne mal hingegangen, als ich jetzt auch vor dem Kolloquium noch so Scheine brauchte und so, aber da ist ja immer alles voll. Also, ich meine, da hängt da ein Zettel und die hat irgendwie einmal in der Woche ein paar Stunden, also zwei Stunden oder eine Mittagspause, und dann ist das immer schon alles eingetragen. Also ich hätte das gerne mal gemacht, aber... eigentlich da keine Chance, reinzukommen. (...).Vielleicht hätte-, ich habe mich da vielleicht auch zu spät drum gekümmert, dass ich da mal ein Termin bekomme, aber vorher hatte ich halt, ähm, noch nicht so das Einsehen, dass das wirklich wichtig ist, dass ich da jetzt zur Laufbahnberatung muss. Und dann war es vielleicht auch noch ein bisschen früh wegen den ganzen Scheinen, die kommen ja alle erst später“. Im Nachhinein scheint ihr die Organisation der schulischen Beratung zu unverbindlich zu sein: „Also so einen festen Ansprechpartner hätte ich mir manchmal schon gewünscht für mich. Also, dass es da vielleicht eine Person gibt, die auch da ist, wo man dann auch wirklich mal unterkommt. So ist das halt ein bisschen mehr, man kann zur Laufbahnberatung gehen oder zum Tutor, aber der weiß dann auch oft nicht weiter. Und da sagt einem jeder was anderes. Und dann hat man halt Angst, dass man irgendwas falsch macht und dann schließlich die Zulassung nicht kriegt oder so“. Der folgende Bereich fokussiert auf das Schulklima als schulspezifischem Einflussfaktor auf Lernprozesse und zielt damit weniger auf institutionalisierte Förder- und Beratungsangebote als vielmehr auf ‚weiche’ Faktoren, wie z.B. das SchülerInnenSchülerInnen-Verhältnis, das LehrerInnen-SchülerInnen-Verhältnis oder den Grad der sozialen Einbindung der SchülerInnen. 7.3 Das Schul- und Unterrichtsklima im Oberstufen-Kolleg als Einflussfaktor für individuelles Lernen In der längsschnittlichen Betrachtung erwies sich aus den Antworten der Befragten, ob implizit oder explizit, das Schulklima als wesentlicher Bedingungsfaktor für Schulerfolg. Unter der Förder-Perspektive betrachtet wird deutlich, dass Förderangebote nur in einem von Vertrauen geprägten Klima angenommen und genutzt werden. Zugleich wirkt sich, gewissermaßen quer zu spezifischen Förder- und Beratungsangeboten liegend, das Schulklima als für die Persönlichkeitsentwicklung entscheidender Faktor aus (vgl. Boller/ Kobusch/ Marth/ Müller/ Roether/ Rosowski/ Schneider 2008). Auf diesen Zusammenhang verweisen auch Ergebnisse anderer Forschungsgruppen aus dem Oberstufen-Kolleg: Unter den Aspekten, die den Übergang von Schule zu Hochschule beeinflussen, spielen Persönlichkeitsbildung, Selbstwirksamkeit, Selbstwertgefühl sowie Konflikt- und Kooperationskompetenz eine einflussreiche Rolle (vgl. Forschungsgruppe Übergänge 2008). Auch diese Ergebnisse bestätigen den Zusammenhang zwischen Akzeptanz von Beratung und Förderung und Schulklima (vgl. hierzu auch Zumhasch 1999, sowie Kap.

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1.3). Zugrunde gelegt wurde Fends Definition von Schulklima als von Lernenden und Lehrenden geschaffener lebendiger Interaktionsformen (vgl. Fend 1977), und Lernklima wird verstanden als Kontinuum zwischen den Polen Repressivität und Anpassungsdruck auf der einen Seite sowie Gemeinschaftsorientierung auf der anderen (Kap. 1.3). Partizipationsverhalten und offene Konfliktklärung, Reversibilität von Sozialbedingungen und Argumentativität erscheinen auch in den Antworten der in unserer Studie befragten SchülerInnen als wesentliche Aspekte des Schulklimas. Vor dem Hintergrund unserer Definition von Förderung als Ermutigung und Selbstbefähigung auf Augenhöhe, im Unterricht und darüber hinaus, behielt die Auswertung der vorliegenden Interviews durchgängig die Ausgangshypothese im Blick, dass Selbsteinschätzung und Selbstkonzept für den Ausbildungsverlauf bestimmende Wirkung haben. Die Antworten der Befragten bezeugen, dass dafür ein Schulklima gegenseitiger Anerkennung, getragen von angstfreiem Dialog, wesentlich ist (vgl. Boller/ Kobusch/ Marth/ Müller/ Roether/ Rosowski/ Schneider 2008). Die im Folgenden dargelegte querschnittlich-themenzentrierte Auswertung (vgl. Mayring 2003) zum Bereich Schulklima konzentriert sich auf die Antworten der zweiten InterviewSerie vom Februar 2007 und greift an geeigneten Stellen vergleichend die individuelle Ausgangslage der Befragten auf, wie sie sich im ersten Interview-Durchgang vom Februar/März 2005 darstellte. Dabei lassen sich explizit geäußerte und implizit vermittelte Zusammenhänge mit dem Bereich Schulklima vor allem aus der zweiten Interviewserie um Themencluster anordnen, die sich zentrieren um die Bereiche 

Selbstwahrnehmung (Einschätzung bezüglich Leistung, Selbstbewusstsein) und



Außenwahrnehmung (Erfahrungen am Oberstufen-Kolleg, vorwiegend gemessen an Erwartungen, ersten Eindrücken und Vergleichen mit zuvor besuchten Schulen).

Erfahrungen und Erwartungen betreffen dabei vor allem Motivationslage und Lernerfolg sowie die subjektive Einschätzung von deren Interdependenz. Nicht überall ist der Bereich Selbstwahrnehmung klar von dem der Außenwahrnehmung zu trennen. Das gilt besonders für die zwei ersten der aus den Aussagen gebildeten acht Themengruppen: 1. Hierarchie 2. Akzeptanz von Heterogenität 3. Individuelle Lernförderung 4. Ausbleiben von Beschämung 5. Lehrenden-Zuwendung unabhängig von Lernerfolg 6. Veränderung der eigenen Leistungserwartung 7. Erfahrung von Selbstwirksamkeit 8. Persönlichkeitsentwicklung In der erlebten sozialen Hierarchie (1.) ist die Wahrnehmung des eigenen Status als Teilmenge enthalten, zudem beeinflussen sich hier Selbst- und Außenwahrnehmung gegenseitig. Vergleichbares gilt für die im Oberstufen-Kolleg offenbar erlebte Akzeptanz von Heterogenität (2.) besonders stark. Die Kategorien 3. bis 5. (Individuelle Lernförderung, Ausbleiben von Beschämung, Lehrenden-Zuwendung unabhängig von Lernerfolg) sind eindeutiger dem Bereich Außenwahrnehmung zuzuordnen, während die Kategorien 6. bis 8. (Veränderung der eigenen Leistungserwartung, Erfahrung von Selbstwirksamkeit, Persönlichkeitsentwicklung) eher der Selbstwahrnehmung

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zugerechnet werden können. Im Folgenden werden diese aus dem Material heraus gebildeten Kategorien näher erläutert und anschaulich gemacht, indem auf Interviewzitate zurückgegriffen wird. 1. Hierarchie Die Aussagen zum Erleben sozialer Hierarchie stimmen zum großen Teil darin überein, dass eine vorausgesetzte, weil zuvor erlebte und/oder als selbstverständlich verstandene, erwartete Hierarchie zwischen Lehrenden und Lernenden im täglichen Umgang am Oberstufen-Kolleg nicht spürbar wird. So empfindet Jenny die Atmosphäre am Oberstufen-Kolleg als „nicht so verkrampft wie an anderen Schulen – hier kann man mit den Lehrern ganz normal reden“. Anja und andere erleben die Lehrenden als jederzeit ansprechbar, der Kontakt zu ihnen hat „eine ganz andere Basis“ (Elfe). Jennifer „reicht es eigentlich schon, dass man nicht einfach abgeblockt wird“, wenn man eine Frage hat, und „dass man angehört wird“. (…) „Hier merkt man ein bisschen mehr, dass man eher an einem Strang zieht, als dass der Lehrer gegen einen ist“. Von einigen SchülerInnen waren vergleichbare Einschätzungen schon in der ersten Interviewserie getroffen worden. So erhoffte sich Jenny zu Beginn ihrer Ausbildung ein anderes Verhältnis zu den Lehrenden dergestalt, „dass man auch so ein bisschen gemeinschaftsmäßig zusammen arbeitet“. Dahinter stehen oft konträre Erfahrungen aus vorigen Schulen, wie bei Anja, die von dort „gegenüberstehenden Lehrer- und Schülerbündnissen“ spricht. Julia stellt ihre früheren Schulerfahrungen so dar: „Wir (…) Erwachsenen wollen euch durchgeknallten Jugendlichen jetzt mal sagen, was richtig ist“. Ihr Fazit daraus: „man fühlte sich nicht gut aufgehoben“. Anja stuft rückblickend den einzigen von ihr positiv wahrgenommenen Lehrer ihrer vorigen Schule als „eher so als Lehrer am OS“ ein, weil er, wie sie erläutert, „auf einer Ebene“ mit den Schülern kommuniziert und sich „mit menschlichen Schwächen“ gezeigt habe. Auch im Zusammenhang mit der großen Unterschiedlichkeit der SchülerInnen wird ein anderer, weniger hierarchischer Umgang erlebt, wenn auch seltener explizit gemacht als das Verhältnis zu den Lehrenden. So verweist Jennifer darauf, es sei nicht nur das Verhältnis zu den Lehrenden „entspannter“, sondern auch zwischen den KollegiatInnen, und Kasimir beschreibt als „lockere Atmosphäre“ der Versuchsschule, dass keine Ausgrenzung zu beobachten sei: „ganz verschiedene Leute hängen miteinander rum“. Über solche Beobachtungen hinaus sehen Einige auch Zusammenhänge zwischen Sozialklima und Lernbedingungen. So ist es Elfes Erfahrung, dass ihr das Lernen jetzt wieder Freude macht, weil sie das Verhältnis zu den Lehrenden als wenig hierarchisch erlebt, und Ludwig betont, dass die Praxis gegenseitigen Duzens „schon ein ganz anderes Verhältnis“ mit sich bringe; denn „es ist halt ein besserer persönlicher Umgang (...), „deswegen gibt es da wesentlich mehr Austausch“. Die Ansprechbarkeit der Lehrenden sieht Ludwig als notwendige Voraussetzung an einer Schule, an der die Lernenden „alles selbst organisieren“ und „nicht alles zugesteckt bekommen“. Damit drückt er zugleich seine Wahrnehmung und Wertschätzung selbstständigen Lernens aus. Asrin fasst ihre diesbezüglichen Erfahrungen in dem Satz „Ich wurde behandelt wie ein erwachsener Mensch“ zusammen.

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2. Akzeptanz von Heterogenität In Kasimirs Bemerkung „ganz verschiedene Leute hängen miteinander rum“ drückt sich seine Erfahrung aus, dass Zugehörigkeit zu Gruppen zugleich Ausschluss von und Nichtzugehörigkeit zu anderen Gruppen mit sich brachte. Anja beschreibt Bereiche, in denen sie anderswo Konkurrenzverhalten beobachtete: „Oh, die hat was Neues, das muss ich jetzt auch haben“, und kontrastiert als Erfahrung am Oberstufen-Kolleg: „hier kann man mit einer kaputten Hose hinkommen, es ist egal“. Elfe bekam am zuvor besuchten Gymnasium wegen grün gefärbter Haare große Schwierigkeiten, was für sie unter Unterdrückung von Individualisten fällt. Sie ist sicher, so etwas würde am Oberstufen-Kolleg nicht passieren. Jennifer geht über den Bereich äußerer Unterschiede hinaus, wenn sie die Möglichkeit am Oberstufen-Kolleg betont, abweichende Ansichten zu äußern: „Man wird halt nicht blöd angemacht, wenn man eine andere Meinung hat“. Und Tom findet als Erklärung für ähnliche eigene Erlebnisse beim Umgang mit Heterogenität: „die Leute hier am OS haben viel mehr Lebenserfahrung als an vielen anderen Schulen. Weil hier ja gemischte Altersklassen sind (…). Wer was sagen will, der sagt es direkt so. Die trauen sich halt alle, [sind] selbstständiger und selbstbewusster“. Elfe, die sich am vorigen Gymnasium als „kleiner Rebell“ mit grün gefärbten Haaren empfand, ist überzeugt, am Oberstufen-Kolleg würden Individualisten nicht unterdrückt, sondern toleriert. In der vorigen Schule, „das war die absolute Hölle, also, was jetzt an Kommentaren von den Lehrenden kam, und (…) wenn man den einen oder anderen hier in der Cafeteria sieht, dass der hier bestimmt nicht so die Probleme damit hat, deswegen schräg angeguckt zu werden“. Elfes grün gefärbte Haare mögen ein Toleranz-Test für ihr Gymnasium gewesen sein, dessen Ausgang ihre Befürchtungen bestätigte: Sie berichtet weiter, dass sie von den Lehrenden, nachdem sie auch noch beim Rauchen erwischt worden war, sofort auch des Drogenkonsums verdächtigt wurde und man sich daraufhin veranlasst sah, ihren Eltern eine Therapie für sie zu empfehlen. Die Äußerung Kasimirs, es gebe keine Ausgrenzung, weil ganz verschiedene Leute miteinander den schulischen Ganztag verbringen, lässt sich auch so verstehen, dass seiner Erfahrung nach hier nicht gleich vom Äußeren auf das Innere projiziert wird, das sich stattdessen durch Kommunikation erkunden lässt, wenn man auch in Pausen Zeit miteinander verbringt, statt sich nur zufällig in Kursgruppen zu begegnen und dort irgendwie miteinander zu arrangieren. 3. Individuelle Lernförderung Selbstständigkeit im Lernen erlebt auch Anja als positiv: Man kann „zu den Lehrern da hingehen und sagen ‚Hast du nicht irgendwie ein paar Übungen, die ich mal zu Hause machen kann am Wochenende, oder wenn ich mal hier einen Freiblock habe?’“. Für Jenny sind Rückmeldungen nicht so sehr abschließende Einstufungen, sondern eher Hinweise auf Verbesserungs-, und damit Entwicklungsmöglichkeiten: „Es bringt mir nicht viel, wenn mir niemand sagt, wo ich noch was besser machen könnte oder wo auch meine Fehler sind“. Entsprechend nutzte sie die Möglichkeit, Aufgaben für ihr eigenes Lernniveau einzufordern, sie zu Hause zu bearbeiten und korrigiert zurück zu bekommen. Andere sehen individuelle Hinweise und Rückmeldungen eher vor dem Hintergrund spezifischer Wissenslücken. So hoffte Anna zu Beginn der Ausbildung am OberstufenKolleg, „dass man halt auf seine Schwächen oder irgendwie, wenn man Fragen hat, eingehen kann“, und Asrin stellt fest, „es wird auf Probleme eingegangen“. Das erwartet

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auch Doro zu Beginn ihrer Ausbildung: „ich glaube, wenn man wirklich Unterstützung sucht, dann ist die auf jeden Fall da“. Gezielte Unterstützung beschreibt Julia am Beispiel der Mathematik-Kurse, wo für sie wichtig ist, „dass die Lehrerin (…) mir auch einfach sagt ‚Da hast Du Probleme und das geht schon ganz gut, und achte mal darauf, dass du das mehr lernst, oder so’“. Im Brückenkurs Mathematik erlebte sie, dass eine kleine Gruppe gut zusammen arbeitete, weil man ohne Angst oder Scheu Fragen stellen konnte: „Wir können alle gar nichts, und wenn einer etwas fragt, dann sagen alle ‚Ach ja, das wollte ich auch noch wissen.’ Das ist dann richtig schön. Das macht Spaß“. Hier wird deutlich, dass Freude am Lernen sich auch unabhängig von positiver Rückmeldung und Lernerfolg einstellen kann, wenn Nachfragen nicht negativ sanktioniert wird. Zudem erfahren die SchülerInnen, dass sich eine kleine Gruppe motivational unterstützen kann. Ludwigs Beobachtung beschreibt demgegenüber eine Strategie der Lehrperson, die vorhandene Motivation bewusst nutzt und zugleich Selbstständigkeit fördert: Im Zusammenhang mit einem Schülerwettbewerb knüpfte ein Lehrender an Ludwigs Interessen an, stellte ihm wachsende Herausforderungen, die Ludwigs Interesse und Einsatz verstärkten, und vermittelte schließlich weiter führende Kontakte zu Fachkollegen an der Universität. Gegen Ende dieser Schilderung betont Ludwig, dass für ihn gute Lehrende nicht „Wissen herunter rasseln“, sondern „ein gutes Lernklima schaffen“. 4. Ausbleiben von Beschämung Julias Beispiel aus dem Brückenkurs Mathematik, in dem eine kleine Gruppe durch Nachfragen die eigene Motivation weckt und aufrecht erhält impliziert, dass Vertuschen eigener Defizite obsolet wird, wenn sich eine Gruppe auf ihre Lücken konzentriert und auf der Basis offener, von Vertrauen getragener Kommunikation gemeinsam weiter lernt. Ähnlich beschreibt Jenny die gute Atmosphäre ihres Mathematik-Kurses und betont, „dass sich niemand dafür geschämt hat, dass er jetzt irgendwas nicht mehr kann in Mathe“. Hier hält man sich offenbar nicht damit auf, zu betonen, dass, ob oder wie Lücken vermeidbar gewesen wären und als wie gravierend das auf dem jeweiligen Stand erscheint, sondern nutzt Zeit und Energie dafür, sie zu füllen. Elfe bestätigt vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen an einem ihrer Einschätzung nach konservativen Kleinstadt-Gymnasium, es gebe am Oberstufen-Kolleg weder Beschämung, noch Diskriminierung oder Leistungsdruck, dafür aber mehr Leistung. Im Gegensatz dazu werden immer wieder frühere Schulerfahrungen geschildert. Jennifer berichtet, „Auf meiner alten Schule habe ich jeden Tag drei blöde Bemerkungen bekommen, mindestens (…), hier noch nicht eine, bis jetzt“. Damit meint sie Bemerkungen sowohl von Lehrenden als auch Lernenden. Anjas Darstellung fokussiert eher den Unterrichts- bzw. Lehrstil an ihrer vorherigen Schule im Fach Mathematik. Sie empfand ihn nicht nur als beschämend, sondern auch als ineffektiv: „dann musste der eine an die Tafel, obwohl er es überhaupt nicht konnte (…) noch eine andere, und somit war die Stunde schon wieder vorbei“. Sie betont, dass es sich bei solchem Vorgehen nicht um eine Lerngelegenheit handele; ihrer Einschätzung nach „lernen [die SchülerInnen] so überhaupt nichts und jeder hat Angst, an die Tafel zu gehen“. Auch ihre Erfahrung am Oberstufen-Kolleg stellt sie sehr lebendig dar: „dass die Leute sich auch einmal trauen zu fragen, und dass nicht so geguckt wird ‚Oh, was fragst Du das noch einmal nach- das hatten wir doch schon fünf Mal!’“. Sensibel registriert sie auch an der Versuchsschule einzelne Negativbeispiele, so enttäuschte sie folgender Lehrenden-Kommentar bei der Klausuren-Rückgabe: „bist ja sogar schlechter als Mario, jetzt würde ich mir aber mal Gedanken machen“. Anjas Bewusstsein für Beschämung 89

spürt die darin verpackte Diskriminierung des Anderen auf: „das wurde dann schon ein bisschen beleidigend“. Sie fährt fort: „Aber im Mathe-Kurs haben sich alle Leute getraut, an die Tafel zu gehen und auch mal was total Falsches anzuschreiben, es war gar nicht schlimm. Dann wurde einem halt erklärt: ‚Da hast du den Fehler’“. 5. Lehrenden-Zuwendung unabhängig von Lernerfolg Das Thema ist in Kategorie 4. bereits enthalten: Beschämung impliziert, dass nur diejenigen SchülerInnen von Seiten des Lehrers geachtet und ernst genommen werden, die die erwartete Leistung erbringen. Anja schildert das Verhalten von LehrerInnen an ihrer früheren Schule, die sich vorwiegend mit den „Guten“ beschäftigten und die „Schlechten“ nicht förderten und damit ausgrenzten. Weil am Oberstufen-Kolleg Klausurergebnisse auch anonym bleiben können und Lernhinweise individuell gegeben werden, muss sich kein Leistungsvergleich ergeben. Zudem äußert Anja den Eindruck, im Unterricht werde „mehr darauf eingegangen, ob auch alle Schüler wirklich mitkommen“. Von Lernsituationen unabhängige Zuwendung Lehrender zeigt sich auch im oben schon behandelten Kriterium, dass das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden als hierarchiefrei und persönlich erlebt wird (s. Anna, Asrin). Tom dreht den Spieß um und betont, wenn ihm der Lehrende gefalle, müsse er selbst sich nur noch anstrengen und sei dann sicher, es zu schaffen. Diese Sichtweise enthält die Umkehrbarkeit, weil notwendige Gegenseitigkeit der Achtung. Ludwig beobachtet am Oberstufen-Kolleg die Freude der Lehrenden daran, dass Lernen gelingt: In seiner Sicht machen sie nicht nur „ihren Job“, und ihre Kompetenz äußert sich in ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, alles so zu vermitteln, dass jeder es versteht. Auch Kasiminr stellt fest, dass selbst wiederholtes Nachfragen nicht abgewiesen, sondern daraufhin nach anderen Beispielen und neuen Erklärungswegen gesucht wird. Die Zuständigkeit für Nichtverstehen wird damit nicht den Lernenden, sondern den Lehrenden zugeschrieben. 6. Veränderung der eigenen Leistungserwartung Den eigenen Umgang mit Lernen zeigt Anja in folgender Perspektive: „früher war es [das Lernen] mir nicht wichtig, aber jetzt ist es mir einfach wichtiger“. Hintergrund dieser Äußerung ist die Feststellung, dass Anjas Freizeit jetzt knapper und ihr deshalb bewusst geworden ist, sich an Wochenenden zwischen Treffen mit Freunden und Lernen entscheiden zu müssen. Auch Elfe lernt am Wochenende, „weil ich das halt schon ziemlich ernst nehme und auch einen gewissen Ehrgeiz immer mehr entwickle (…) es macht halt auch Spaß“. Hier überschneiden sich Lernhaltung und Leistungserwartung, wobei deutlich wird, dass das Lernen zielgerichtet ist und an Bedeutung gewonnen, sogar – wegen negativer Konsequenzen - zum Aufgeben alter Gewohnheiten geführt hat. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang bei Julia, die nach verschiedenen abgebrochenen Schul- und Berufsausbildungen und einer Phase des Herumreisens „in der Weltgeschichte“ erklärt: „und dann habe ich ernsthaft beschlossen, ‚jetzt oder nie’ (…), am OS, da klemmst du dich dahinter und suchst dir jetzt wirklich aus, was willst du machen“. Sie wählt auch neue Freunde danach aus, ob sie zum Schwänzen verleiten („kommst du nicht mit in den Park?“) und achtet darauf, ob „die auch sehr straight sind und hier ihr Ding durchziehen“. Sie resümiert: „Vor allem habe ich jetzt ein Ziel. Das ist (…) die einschneidende Veränderung bei mir“.

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Mit einem klaren Ziel verbunden ist auch Doros veränderte Haltung. Sie setzt sich selbst unter „Druck, dass ich dann, wenn ich hier schon drei Jahre lang lerne, dass ich dann auch studiere“. Mit diesen Entscheidungen sind veränderte Lernhaltungen verknüpft, die kaum von der damit verbundenen Leistungserwartung abzugrenzen sind. Auffällig ist an diesen Aussagen, dass den Befragten sehr bewusst ist, welch bedeutenden Unterschied zu früheren Einstellungen sie damit darstellen, dass sie aber meist nicht sagen können, was diesen Umschwung bewirkt hat. 7. Erfahrung von Selbstwirksamkeit Es kann davon ausgegangen werden, dass dieser Umschwung mit der Erfahrung zusammen hängt, durch veränderte Verhaltensweisen andere und bessere Ergebnisse zu erzielen, so dass Passivität gegenüber oktroyierten Lerninhalten nicht mehr als attraktive Option erscheint. Oft ist diese Einsicht verbunden mit einer Beobachtung wie bei Tom: „wenn ich ein Fach besonders gerne mag, dann tue ich dafür auch viel und lerne viel (…), so ein Fach wie Mathe, dann tue ich dafür kaum was, weil es mich einfach überhaupt nicht interessiert. Aber das ist ja auch gerade falsch. Dafür sollte ich gerade mehr lernen“. Darauf folgt die Einschätzung seines derzeitigen Schul- bzw. Lernerlebens, aus dem er dieser Einsicht als weitere hinzufügt: „Es fällt mir schwer, für was zu lernen (…) wo ich nicht verstehe, wozu ich das brauche“. Für Tom ist es folglich sehr wichtig, in dem, was er lernt, Sinn und Bedeutung zu erkennen und Lerninhalte in einer späteren Situation nutzen zu können. Nachdem das Ziel, den Abschluss zu bekommen, gesteckt ist, stellt sich als nächste Frage, wie es zu erreichen ist. Dabei erscheint eine aus früheren Zusammenhängen bekannte Lernunlust als Hindernis. Anja stellt diesen Zusammenhang folgendermaßen dar: Sie hatte früher „keinen Bock mehr auf die Schule“, denn „die Schlechten wurden überhaupt nicht gefördert“. Nach dieser Erfahrung fand sie Zugang zu neuer Freude am Lernen durch überraschend gute Zensuren: „als ich dann hier meine Spanischklausur geschrieben hatte (…), habe ich (…) gedacht ‚ha, das kannst du doch noch schaffen’“. Daraus folgte eine Veränderung ihrer Lernhaltung. Im Gegensatz zu Anja, die mangelnde Förderung als Grund für ausbleibenden Lernerfolg sieht, ist Asrin überzeugt, ihre Voraussetzung, am Oberstufen-Kolleg gut zurecht zu kommen sei, sich durch eigenen Einsatz gut vorbereitet zu fühlen, dass sie „genug getan hat“. Asrin erklärt, sie sei aus der hilflosen Position des auswendig lernen Müssens herausgekommen, indem sie mathematische Zusammenhänge durch gute Erklärungen endlich verstand und so zur Selbstwirksamkeit gelangte. Kasimir hatte vom Oberstufen-Kolleg schon gehört, es gebe dort „dieses freie Lernen, das man sich selbst einteilen kann“, und diese Erwartung bestätigte sich für ihn. Rückblickend schätzt er ein, früher „einfach zu faul“ gewesen zu sein. Diese Einsichten illustrieren das sich im Laufe der Ausbildung am Oberstufen-Kolleg bei einer ganzen Reihe von SchülerInnen verändernde Bewusstsein von einer neuen Einstellung zum Lernen. Das Spektrum reicht von rückblickender Selbsteinschätzung, „einfach faul“ gewesen zu sein bis zu Erwägungen über den Zusammenhang von Interesse und Einsatz. Meist beginnt der Bewusstseinwandel mit der Einsicht, der Wille zum Lernen sei Voraussetzung. Bei Doro, die selbstkritisch ihren mangelnden Einsatz an der Waldorfschule erwähnt, war diese Einsicht gefolgt vom Versuch, sich selbst unter Druck zu setzen. Anna arbeitet noch immer unter Stress und sieht als zusätzliche Möglichkeit des Ansporns den Vergleich mit anderen. Elfe ist einen Schritt weiter: Sie fühlte sich von dem in der Versuchsschule geforderten selbstständigen Arbeiten schon

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herausgefordert, bevor sie es sich zutraute. Deshalb war es für sie wichtig, zunächst Erfahrungen mit einem Fernstudium in Journalistik zu machen, was ihr zeigte, dass sie zu selbstständigem Arbeiten in der Lage war und, „wie wissensdurstig man nach so einer langen Pause wieder ist“. Jetzt erfüllt sich ihre Hoffnung, dass ihr das Lernen am Oberstufen-Kolleg wieder Spaß machen könnte. Derart sicher ist Jennifer sich noch nicht. Sie befürchtet, das geweckte Interesse eines Tages wieder zu verlieren: „Aber eigentlich möchte ich lernen, und deswegen denke ich, dass es auch (…) funktioniert“. Sie weiß aus Erfahrung, dass sie sich in neuen Lern-Umgebungen zunächst von den Lerninhalten ablenken lässt, weil ihr die Begegnung mit Menschen dann wichtiger ist. „Das erste halbe Jahr geht’s halt runter, und dann fange ich mich auch immer wieder“. Detailliert beschreibt sie die Spirale von Lernlust und -unlust: „Orientierungsstufe bis vielleicht noch 8.Klasse war halt Schule doof (…) und dann funktioniert das nicht, und dann sind die Eltern stinkig, und ist noch alles blöder, und dann hat man überhaupt gar keine Lust mehr. Dann geht es halt immer so weiter, weil man immer weniger Lust hat (…) und dann muss man halt einmal irgendwie diesen Sprung schaffen. Dann geht das, und seitdem sage ich auch (…), dass es gut für mich ist“ (Jennifer).

Ein wenig Ratlosigkeit steckt in dieser Darstellung sich wechselseitig verstärkender Faktoren der Schulunlust. Das mag erklären, warum Jennifer sich der Nachhaltigkeit ihres erwachten Interesses nicht sicher ist. In der 8. Klasse ist „Schule doof“, weil man in dieser Phase in Opposition zu den Eltern steht. Das lässt, zusammen mit deren „stinkiger“ Stimmung, die Leistungen weiter absinken, wodurch sich die Oppositionshaltung verfestigt, die zuvor spielerisch gewesen sein mag, weil inzwischen die Lust am Lernen verflogen ist. Das „Irgendwie“ dieses „Sprungs“, den man dann schaffen muss, bezeichnet das Verschwommene der Vorstellung davon, unter welchen Bedingungen ein Zustand von Wissensdurst, wie ihn sich Elfe wieder erobert hat, zurück zu gewinnen sein könnte. Solche Sorgen hat Jenny nicht: Sie erlebt, dass die Arbeit für ihr Studienfach Biologie ihr trotz hohen Aufwands nicht als Last erscheint, und sie weiß auch, warum: „Weil mich das doch so interessiert, dass ich gerne darüber nachdenke“. Auch Kasimir ist sich klar über den Ausweg aus dem Lust-Unlust-Dilemma: „danach ein bisschen gelernt, mal geguckt, wie das so funktioniert hat. Und dann war das überhaupt kein Problem mehr“. Er hat sich auf die Inhalte konzentriert und im Problemlösen die Selbstständigkeit entdeckt, jetzt gefällt ihm „dieses freie Lernen, das man sich selbst einteilen kann“. Er hatte schon davon gehört, und nun hat es sich bestätigt. Auch Julia, die nach „Herumreisen in der Weltgeschichte“ alte Freunde meidet, die sie von ihrem Ziel (Abitur) abhalten, sieht zusätzlich zum eigenen Einsatz Motivation und Spaß als wichtigste Voraussetzungen und Verstärker: „natürlich habe ich Motivation, wenn ich eine Aufgabe rechne, und die ist richtig, das macht Spaß“. Dabei kommt es ihr darauf an, auf welche Weise sie sich diese Motivation erhalten kann: „dann denke ich [im Alltag] über ein Wort nach (…), wenn man etwas lernt und das nie anwendet, dann vergisst man es auch wieder“. Das eigenständige Lernen am Oberstufen-Kolleg ist ihr wichtig: „Das ist eine Stärke“. 8. Persönlichkeitsentwicklung Julia erkennt vor dem Hintergrund, alte Gewohnheiten ändern zu wollen und sich andere Freunde als früher zu suchen, um „es hier zu schaffen“ im selbstkritischen Rückblick, dass sie nur für solche Dinge gelernt hat, die sie interessierten, „aber der Rest, der ist halt untergegangen“. Einen veränderten Blick hat sie jetzt auf das Jonglieren, das ihr früher bloßer Zeitvertreib war, „um überhaupt etwas zu machen“. Heute jongliert sie weiter, aber „um mich zu entspannen“.

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Auch Doro, die selbstkritisch angemerkt hatte, sich früher immer erst an den Menschen und dann an den Lerninhalten orientiert zu haben, findet den Weg aus dieser Verhaltensstruktur heraus, indem sie neue, andere Freunde am Oberstufen-Kolleg als wichtigste Lernbedingung sieht. Sie nutzt Kontakte für das Gelingen von Gruppenarbeiten, wobei sie bewusst auswählt, mit wem sie gut arbeiten kann. Die Zeit vor dem Oberstufen-Kolleg wertet sie nicht ab, sondern ist sich bewusst, dass sie zwar vieles begonnen und wieder abgebrochen, dabei aber einiges über sich selbst gelernt hat. Elfe, die sich erst nach dem eingeschobenen Fernstudium selbstständiges Lernen am Oberstufen-Kolleg zutraute, ist inzwischen gelassener geworden und – wie sie sagt – trotzdem, oder deswegen, auch disziplinierter und systematischer beim Lernen. Sie habe zunächst wissen müssen, was sie sich zutrauen könne, bevor sie sich dem selbstständigen Lernen habe stellen wollen. Toms Erfahrung, spontan lieber für Fächer zu lernen, die ihn interessieren und sich schwächer einzusetzen für das, was ihm weniger liegt, enthält durchaus auch die Einsicht, dass aber gerade für Letzteres Einsatz nötig wäre. Das bestärkt ihn in der Überzeugung, der Zusammenhang zwischen Interesse und Erfolg in einem Fach verlaufe immer in dieser Richtung: Nicht Lernerfolg verstärkt inhaltliches Interesse, sondern man ist deshalb gut in einem Fach, weil es mit dem eigenen Interesse korrespondiert. Asrin stuft besonders die interkulturellen Anteile des Schulklimas am Oberstufen-Kolleg als förderlich ein. In einem Kurs über die kulturellen Wurzeln und Differenzen von Männlichkeitskonstruktionen hatte sie heftig, mit Unverständnis und Ablehnung auf die rigide Haltung eines Mitschülers reagiert, der den Kontakt zu seiner Schwester abbrach, weil er deren Freund nicht akzeptierte. Wiederholte fruchtlose Überzeugungsversuche brachten sie schließlich zu der Einsicht, diese Kommunikation könne nur dann gelingen, wenn sie sich wenigstens versuchsweise auf seinen Standpunkt stellen könnte. Dieser Perspektivwechsel kostete sie einige Überwindung, und schon das sieht sie rückblickend als Gewinn, weil es ihren Horizont erweiterte. Danach war ihre Reaktion auf seine Argumentation weniger emotional gefärbt. . Womit sie nicht mehr gerechnet hatte, trat ein, als sie aufgegeben hatte, überzeugen zu wollen: Einige Zeit nach Kursende sprach er sie an und sagte, er habe wieder Kontakt zu seiner Schwester aufgenommen. Dieses Erlebnis war für Asrin eine wichtige interkulturelle Lernerfahrung. Das von Einigen als „chaotisch“ erlebte Eingebundensein in den offenen Umgang mit Unklarheiten während der strukturellen Umgestaltung des Oberstufen-Kollegs, deren Entwicklungsprozess immer wieder zu Regelungs-Unsicherheiten führte, wird individuell stark unterschiedlich verarbeitet. Die sporadisch auszuhaltende Ungewissheit führt auf der einen Seite zu negativer Bewertung der Informationsvermittlung an KollegiatInnen, auf der anderen Seite wird rückblickend positiv eingeschätzt, dass diese in den Prozess einbezogen und dadurch oft gezwungen waren, sich selbst kundig zu machen. So stellt Tom fest, am OberstufenKolleg müsse man sich selbst um alles kümmern, „kriegt keinen Arschtritt von den Lehrenden“, müsse sich auch selbst einschätzen, „um zu wissen, wie viel man tun muss“. Ähnlich äußert sich Anna: „Ja, man kriegt halt keine präzisen Aufgaben mehr. Und manchmal muss man sich halt ziemlich selbst kümmern (…) das wird einem halt alles nicht mehr so hingetragen“. Julia hat aus der Konfrontation mit der Vielfalt unterschiedlicher, auch widersprüchlicher Informationen verschiedener AnsprechpartnerInnen die Strategie entwickelt, „Lass es einfach auf dich zukommen (…) dann kann man sich das noch so ein bisschen zusammenfummeln.“ Rückblickend schätzt sie ein, „viel selber tun“ sei eine Stärke, die „auf eigenständiges Lernen sehr stark 93

vorbereitet (…) das bereitet einen sehr auf die Uni vor“. Anja zeigt darüber hinaus Verständnis für Lehrende, die in diesem Prozess „nicht immer alle organisatorische Fragen beantworten können“: „die Lehrer laufen hier herum und sagen, ja, weiß ich auch nicht, frag mal wen anders. Das finde ich eigentlich ganz cool an der Sache (…) ich hätte als Lehrer nicht Lust, mir alle Informationen zu holen, nur damit, wenn mich Schüler darauf ansprechen (…) ich sie beantworten kann. Ich denke mal, dass man sich hier auch schon selber darum kümmern muss, wo man die Informationen her kriegt.“ Als Konsequenz daraus sieht sie, die eigenen Kräfte jetzt gut einteilen, Schwerpunkte und Prioritäten setzen zu können; sie habe frei sprechen gelernt und sei gelassener geworden. Die nämliche Selbsteinschätzung, gelassener geworden zu sein, findet sich auch bei Asrin, Elfe und Ludwig; sie spricht auch für neu gewonnene Ambiguitätstoleranz, nachdem sich alle drei zuvor von Chaos und unklaren Informationen irritiert gezeigt und dann bewusst gelernt haben, sich damit auseinanderzusetzen. Entsprechend berichtet Ludwig, er habe sich die Ausbildungs- und Prüfungsordnung herunter geladen und durchgearbeitet, weil es ihm als schließlich „weniger stressig und zeitaufwendig“ erschien als die organisierte Beratung mit Terminvergabe. Dass daraus nicht reduzierte Kommunikation folgte, zeigt seine Bemerkung „man muss hier auch eigentlich wesentlich öfter mit ihnen (Lehrenden) reden, als das an anderen Schulen der Fall ist, wo man einfach alles zugesteckt bekommt (…) hier muss man alles selbst organisieren (…) und deswegen gibt es da wesentlich mehr Austausch.“ Auch Solo stellt heraus, dass er am Oberstufen-Kolleg erlebt hat, durch eigene Anstrengung seinen Weg zu finden, auch in der Organisation, und befindet, es sei „wie an der Uni“. Er schätzt, insgesamt mehr Sicherheit entwickelt und wissenschaftliches Arbeiten gelernt zu haben. Interessant ist, dass in diesem Zusammenhang mehrfach ein Kontrast zu Anderen hergestellt wird, der auch als Vergleich mit der eigenen Ausgangsbefindlichkeit zu Beginn der Ausbildung gelesen werden könnte: Zum einen wird konstatiert, dass Verzicht auf Kontrolle und Druck von Lehrendenseite bei den Lernenden die Eigenverantwortung befördert (Asrin), zum anderen einschränkend darauf verwiesen, dass viele mit dieser Freiheit schlecht zurecht kämen, deren Mentalität „noch schülerhaft“ sei, weil sie nur für die Prüfung lernten (Solo). Auch Kasimir kontrastiert: „Wenn man hier was lernen will, dann kann man das sehr gut“, mit „Für manche ist die Freiheit gefährlich – sie rutschen ab.“. Exkurs: Bezüge zu anderen Forschungen des Oberstufen-Kollegs im Themenfeld „Schulklima“ Wie schon erwähnt, hat eine andere Forschungsgruppe des Oberstufen-Kollegs sich mit dem Übergang von der Sekundarstufe II zur Hochschule auseinander gesetzt und dabei mit quantitativen Methoden Ergebnisse generiert, die unseren mit qualitativen Methoden erzielten in weiten Teilen entsprechen. Das ist auch insofern interessant, als diese Gruppe bereits schulübergreifende Vergleiche mit anderen Schulformen einbezogen hat, die für unser Projekt erst in der Anschluss-Studie geplant sind. Im Themenfeld Schulklima liefert der Bericht der Forschungsgruppe Übergänge (2008) recht deutliche Daten, von denen einige im Folgenden mit Blick auf sich mit unserer Studie deckende Erkenntnisse referiert werden sollen: SchülerInnen des Oberstufen-Kollegs und anderer Schulen im ostwestfälischen Raum (Gymnasien, Gesamtschulen) wurden im Bereich unterstützender Lernbedingungen zu Aspekten wie Persönlichkeitsbildung, Selbstwirksamkeit; Selbstwertgefühl, Konflikt- und Kooperationskompetenz befragt.

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Die Einschätzung der Unterrichtsqualität, in unserer Befragung implizit enthalten z.B. im wiederholt genannten Gegensatzpaar „locker, aber anspruchsvoll“ ergab für das Oberstufen-Kolleg den höchsten prozentualen Wert positiver Einschätzung: 61%, verglichen mit einem Bielefelder Gymnasium (57,7%)und anderen Gymnasien (23,5%) und Gesamtschulen der Region (36,4%). Als „schulisches Sozialkapital“ wurden die Merkmale Partizipation, soziale Einbindung, Unterstützung beim Lernen und Vertrauensgrundlage in der Lehrer-Schüler-Beziehung ausgewählt, wobei wechselseitige Anerkennung das Lernen unterstützt. Auf die Persönlichkeitsentwicklung wirken diese Merkmale sich förderlich aus, weil sie die Entwicklung von Selbstachtung und Selbstwertgefühl unterstützen. Auch die SchülerSchüler-Beziehung fördert die Freude am Lernen.  Die Unterstützung beim Lernen wurde am Oberstufen-Kolleg am häufigsten als gut eingestuft (65,7% gegenüber 55,1% für das Bielefelder Gymnasium, 46,6% für die Gesamtschulen und 27,1% für andere Gymnasien der Region).  Die Lehrer-Schüler-Beziehung stuften an der Versuchsschule 78,3% als positiv ein, für das örtliche Gymnasium taten dies 62,8%, 41,5% für Gesamtschulen und 37,8% für andere Gymnasien. Hier fällt die Parallele zu den oben dargestellten Aussagen unserer Befragten ins Auge, die sich vorwiegend ernst genommen, nicht ausgegrenzt und gut unterstützt fühlten und die Beziehung zu Lehrenden als gut einschätzten. Zum Thema Schullust weist die Gruppe „Übergänge“ darauf hin, dass deren Nachlassen in der Oberstufe international empirisch nachgewiesen ist. Zur Begründung des Phänomens wird z.B. die spezifische Entwicklungsphase junger Menschen dieser Altersstufe herangezogen, die einher geht mit wachsender Kritikfähigkeit, Ablehnung von Fremdbestimmung, Beschränkung des eigenen Engagements auf subjektiv interessant Erscheinendes sowie die Priorität von Peer-Kontakten.  Auch hierzu lagen die Werte positiver Einschätzung für die Versuchsschule über den Vergleichswerten: 72% gehen gern zum Oberstufen-Kolleg gegenüber 57,5% zum Bielefelder Gymnasium, 56,0% zu ihrer jeweiligen Gesamtschule und 45,6% in die anderen Gymnasien. Diese Zahlen stützen die Aussagen unserer Befragten in den genannten Bereichen.. Nachdem der Blick der SchülerInnen auf schulische Förderung und Beratung ausführlich referiert wurde, liegt es nahe, die Perspektive der Lehrenden in den Blick zu nehmen und die Frage zu stellen, wie sie als fördernde Akteure in der sozialen Organisation Schule agieren. 

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8. Qualitative Analyse Teil III: Bedingungen schulischer Beratung und individueller Förderung aus Sicht der Lehrkräfte und der Versuchschule als Organisation Im Folgenden wird eine neue Perspektive auf das Thema schulische Beratung und Förderung am Oberstufen-Kolleg gerichtet: die der im Rahmen der Studie befragten Lehrkräfte als ExpertInnen oder FunktionsträgerInnen in den Bereichen schulische Beratung und Förderung. Dabei handelt es sich um Lehrkräfte, die aufgrund ihrer Funktionsämter im institutionellen Gefüge eine Sonderstellung einnehmen. So übernehmen beispielsweise TutorInnen oder LaufbahnberaterInnen für die KollegiatInnen eine wichtige Orientierungs- bzw. Lotsenfunktion (Kap. 7.1.3; 7.2.2). In den Interviews wurde nach Selbstverständnis, Aufgaben- und Tätigkeitsbereichen, Grad der institutionellen Vernetzung sowie den im Rahmen der Tätigkeit auftretenden Problembereichen gefragt. Vorbereitet wurden die ExpertInneninterviews durch eine Sammlung und Analyse schulinterner Dokumente zur Förderung und Beratung am Oberstufen-Kolleg. Im Folgenden werden zunächst das methodische Vorgehen und das in die Analyse einbezogene Material beschrieben. Hierauf aufbauend werden überblicksartig einige zentrale Ergebnisse der querschnittlich-themenzentrierten Auswertung der einzelnen Handlungsfelder referiert. 8.1 Dokumentenanalyse und ExpertInneninterview. Methodische Vorbemerkungen In die Dokumentenanalyse wurden insgesamt 51 schulinterne Dokumente einbezogen. Die in ihnen enthaltenen Informationen fungieren „als institutionalisierte Spuren, das heißt, dass aus ihnen legitimerweise Schlussfolgerungen über Aktivitäten, Absichten und Erwägungen ihrer Verfasser bzw. der von ihnen repräsentierten Organisationen gezogen werden können“ (Wolff 2000, S. 503). Die den ExpertInneninterviews zeitlich vorgelagerte und den weiteren Projektverlauf begleitende Phase der Sammlung und Auswertung der Dokumente13 diente einerseits dem Ziel, einen ersten Überblick über die Strukturen und Elemente der Förderung und Beratung an der Versuchsschule zu erhalten. Andererseits konnte hierdurch forschungsrelevantes Vorwissen generiert werden, das bei der Erhebung und Auswertung der Interviewdaten genutzt wurde. Berücksichtigt wurde neben gesetzlichen Regelungen (z.B. Ausbildungs- und Prüfungsordnung, Erlasse) v.a. der interne Schriftverkehr des Oberstufen-Kollegs. Hierzu zählen v.a. die Sitzungsprotokolle der verschiedenen Selbstverwaltungsgremien, das schulinterne Mitteilungsblatt und die Nachrichten an das Kollegium, die über die Hauspost oder das Intranet des Oberstufen-Kollegs verteilt werden. Außerdem berücksichtigt wurde der Abschlussbericht des 2004 am Oberstufen-Kolleg durchgeführten Peer-Reviews. Gesichtet wurden zudem Texte, die sich explizit mit den Förder- und Beratungsangeboten am Oberstufen-Kolleg beschäftigen, und es wurde eine Internetrecherche zur Thematik durchgeführt. Außerdem wurden die AnsprechpartnerInnen für die relevanten Beratungsund Förderbereiche kontaktiert, um so u. U. auch an solches Material zu gelangen, das ganz speziell aus dem jeweiligen Beratungsbereich stammt. Bei der Auswahl der InterviewpartnerInnen für die sich hieran anschließenden Experteninterviews orientierte sich die Forschungsgruppe an folgenden Fragen: „Wer verfügt über relevante Informationen? Wer ist am ehesten in der Lage, präzise Informationen zu geben? Wer ist am ehesten bereit, Informationen zu geben? Wer von den Informanten ist verfügbar?“ (Gorden 1975 zit. nach Gläser/ Laudel 2004, S. 113). Der 13

Der Leitfaden für die ExpertInneninterviews befindet sich im Anhang.

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grundlegende Unterschied zwischen dem ExpertInnen-Interview und anderen Formen des Interviews ist, dass bei ersterem nicht die Gesamtperson mit ihren je individuellen Einstellungen, Überzeugungen und Sichtweisen im Mittelpunkt steht, sondern der Fokus auf die in einem spezifischen institutionellen oder organisationalen, durch eine besondere Problemstellung (hier: schulische Förderung und Beratung) charakterisierten Kontext agierenden Personen gerichtet wird (vgl. Meuser/ Nagel 1991). Die aus Forschungsperspektive relevanten Akteure, denen in diesem Projekt ein ExpertInnenstatus verliehen wurde, konnten zu einer neun Personen umfassenden Stichprobe zusammengefasst werden:      

Laufbahnberatung psycho-soziale Beratung Schulsozialarbeit Pädagogische Leitung LehrerInnen der Basiskurse Deutsch, Mathematik und Englisch zwei TutorInnen.

Zwischen Februar und Mai 2007 wurden neun leitfadengestützte Interviews mit ExpertInnen aus verschiedenen Beratungs- und Förderungsbereichen des OberstufenKollegs geführt, nämlich mit Laufbahnberatung, Pädagogischer Leitung, Schulsozialarbeit, psycho-sozialer Beratung, zwei TutorInnen und drei KoordinatorInnen der Basiskurse Deutsch, Mathematik und Englisch.14 Im Folgenden werden aus den fünf erstgenannten Bereichen Ergebnisse der querschnittlich-themenzentrierten Auswertung der Interviews zusammenfassend präsentiert. Als Perspektivenverschränkung werden der Sichtweise der ExpertInnen als institutionelle FunktionsträgerInnen themenspezifische Informationen aus der Dokumentenanalyse und den SchülerInneninterviews gegenübergestellt. Die kontrastierende Darstellung dient dazu, exemplarisch Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den institutionellen Erwartungen der Organisation Oberstufen-Kolleg an die schulischen Akteure (Perspektive: Dokumentenanalyse), den Erwartungen der SchülerInnen (Perspektive: Schülerinterviews) und den Selbstverständnissen der ExpertInnen (Perspektive: ExpertInneninterviews) herauszuarbeiten. Gegenstand der leitfadengestützten Interviews waren u.a. die Zuständigkeiten, Aufgabenbereiche und Tätigkeiten der Befragten sowie die Erfahrungen in dem jeweiligen Arbeitsbereich. Die Interviews dauerten zwischen 30 und 75 Minuten, fanden im Mai 2007 statt und wurden von den MitarbeiterInnen der Wissenschaftlichen Einrichtung im Oberstufen-Kolleg geführt. 8.2 Zusammenfassung Handlungsfeldern

wesentlicher

Ergebnisse

in

exemplarischen

Im Folgenden werden die Ergebnisse der drei Datenquellen SchülerInneninterview, ExpertInneneninterview und Dokumentenanalyse verdichtet präsentiert. Die Darstellung orientiert sich an den untersuchten und o.g. Förder- und Beratungsangeboten und schließt mit einer Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse. 8.2.1 Tutoriat Bereits Anfang der 1970er Jahre wurde ein TutorInnensystem im Oberstufen-Kolleg etabliert. Seitdem wird den KollegiatInnen empfohlen, sich jeweils eine/n Tutor/in aus dem 14

Zu den Details der Stichprobenbeschreibung und Methodik vgl. Boller et al. (2008).

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Kreis der Lehrenden zu wählen. Diese Person soll sie während der Schullaufbahn beratend begleiten. Im Zuge der Einführung des Neuen Oberstufen-Kollegs im Jahre 2002/03 wurden zahlreiche strukturelle und zeitliche Bedingungen verändert. Das TutorInnensystem wurde grundsätzlich beibehalten, seine Funktion wurde jedoch neu definiert (Boller et al, 2006). Aufgaben Aufgaben von TutorInnen liegen im schulsozialen Bereich, wobei sie ausdrücklich nicht für Ausbildungs- und Laufbahnberatung im juristischen Sinne zuständig sind. Im Gegensatz zu früher ist heute jede/r SchülerIn verpflichtet, eine/n Tutor/in zu wählen. Eine standardisierte Beschreibung des Unterstützungsangebots scheint bei den vielfältigen Beratungsanlässen und der heterogenen SchülerInnenschaft mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen nahezu unmöglich. Inhaltlich konturiert sich das TutorInnensystem vor allem durch Beschreibungen, was es nicht sein soll, nämlich „Ausbildungs- und Laufbahnberatung im juristischen Sinne“. Dem entsprechend äußert sich auch eine Tutorin: „Ja, also die-, eine Einführung darin, was ein Tutor ist, habe ich hier übrigens nie erhalten. Also das habe ich mir selber überlegt. Also ich habe natürlich auch welche gefragt, aber ich glaube, dass es hier am OS sehr unterschiedlich gehandhabt wird“. Selbstdarstellung im Überblick Eigene Aufgabenbeschreibung: Begleiten des Ausbildungsgangs, Nachhaken bei schulischen Problemen, Beratung bei Laufbahnorganisation (z.B. Wahlfachwechseln, nicht bestandenen Kursen, Rückstufungen, Fragen der Leistungsnachweise), individualpsychologische Unterstützung. Offenheit für Gespräche über persönliche Probleme, Vermittlung zu anderen Beratungsinstanztanzen des Oberstufen-Kollegs. TutorInnen bewegen sich folglich zwischen „Allmachtsmensch“, der unterrichtet, betreut, anleitet, forscht und einem „Scheinverwalter“. Zusammenarbeit mit: KollegInnen, die Tutanden unterrichten, Schulsozialarbeit, psychosozialer Beratung, Laufbahnberatung, Pädagogischer Leitung. Meist Bearbeitung von Einzelfällen „im losen Zusammenhang“. Erwartungen der Institution: Bis auf Verwaltung der Scheine weitgehend unklar: „Die [TutorInnen] sollen dazu da sein, dass der Kollegiat das OS schafft“, „Institution hat immer nur das Interesse, dass alles funktioniert“. Erwartungen der KollegiatInnen: Beratung und Beruhigung bei allen schulischen Problemen, Unterstützung bei persönlichen Problemen, soziale Unterstützung, Ansprechbarkeit. Erwartungen der KollegInnen: Ansprechpartner für Belange ihrer TutandInnen bezüglich Leistungen und Verhalten im Kurs. Erfolge: Wenn die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses zwischen TutorIn und TutandIn gelingt. Helfen und unterstützen können: „wenn KollegiatIn etwas fürs Leben gelernt hat“. Einschätzung des Schulklimas: In jüngerer Zeit wird dieses als zunehmend verdichtet erlebt, für die Schüler gebe es weniger Raum für Kreativität und freie Entfaltung, Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden seien zwar immer noch „im Plus“; aber

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es gäbe „mehr individuelles Aushandeln als gemeinsames Managen“: „Es wurschteln die einen da, die anderen dort“. Typische Beratungsanlässe Typische Beratungsanlässe gibt es hier nicht, da die TutorInnen im Schulalltag ein breites Spektrum an Aufgaben wahrnehmen. Auch weisen die befragten KollegiatInnen ihren TutorInnen äußerst vielfältige und weit reichende Aufgaben zu. Auf die Frage nach ihren Aufgaben antwortet eine Tutorin: „Das finde ich eine gute Frage, weil ich das, ehrlich gesagt, im neuen OS nicht so klar habe“. Einige Handlungsfelder sollen dennoch skizziert werden: Kontakt herstellen in einem Informationsgespräch: „Also ich habe das am Anfang, äh, ja, im Prinzip so ein Erstgespräch gemacht. Also wenn die mich gewählt haben, dann habe ich mich mit denen getroffen“. Individuelle Beratung bei Problemen auf der Leistungsebene (Laufbahnberatung): „Also meine Tätigkeit ist auf der einen Seite natürlich immer eine Schullaufbahnberatungstätigkeit. Obwohl es mittlerweile auch offiziell Schullaufbahnberater gibt, berate ich meine Tutanden immer noch hinsichtlich Wahlfachwechsel, hinsichtlich nicht bestandener Kurse, was man dann machen kann, hinsichtlich Rückstufungen“. Trotz Unsicherheiten in der Auslegung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung scheint die Trennungslinie zwischen Laufbahnberatung und TutorInnenschaft zum Teil unklar, denn die befragten TutorInnen beraten ihre TutandInnen weiterhin in Laufbahnfragen. Die KollegiatInnen kommen aber mit sehr unterschiedlichen Problemlagen, auf die sich ein/e Tutor/in jeweils einstellen sollte: „Also so sehe ich meine Arbeit da. Also dass das offen ist, ein offener Bereich ist“. Es erfordert sehr viel individuelles Verständnis und Fingerspritzengefühl, um sich in die jeweilige Lage der KollegiatInnen einzudenken: „Also Anwesenheit ist ein klassisches Schwierigkeitsproblem, was Tutanden [hier] haben. Und dann überlege ich mit denen, ‚Wie kann man das organisieren, dass du anwesend bist, was kannst du da als Hilfsmittel nutzen; kann eine Freundin dich morgens anrufen" und natürlich auch ein bisschen hier zu gucken, was ist der Hintergrund“. „Ich finde auch Studienabbruch, also auch zu motivieren, da zu bleiben, also sehe ich auch die Aufgabe von Tutoren. Also sozusagen zu gucken, was brauchen die, um da zu bleiben. Und gibt es manche, die brauchen dann nur psychische Unterstützung, manche brauchen aber auch einfach [mehr].-, bei denen ist es ein Problem, dass die zu viel nebenher machen müssen (...). Irgendwann haben die dann zuviel gefehlt in den Kursen, dann heißt es ‚Es geht nicht mehr, du kriegst den Schein nicht mehr’. Und mit der habe ich mich dann hingesetzt und habe gesagt, ‚Komm, wir setzen uns jetzt hin und machen einen Zeitplan’". Eine grundlegende Offenheit für die Probleme von KollegiatInnen auf unterschiedlichsten Ebenen scheint beiden befragten TutorInnen wichtig zu sein. Allerdings haben beide Befragte psychologische Ausbildungen und damit Beratungsfähigkeiten, die nicht allgemein vorausgesetzt werden können. KollegiatInnenperspektive auf das Tutoriat Ein wichtiges Aufgabengebiet aus Sicht der befragten Kollegiatinnen ist die Verwaltung der Kursscheine und, neben der Möglichkeit, sich an TutorInnen zu wenden, wird durchaus auch erwartet, dass diese sich bei Problemlagen an den Tutanden wenden. Sie

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sollen aktiv die Interessen ihrer TutandInnen vertreten (siehe Boller et al, 2008, S. 106110). Generell sollen TutorInnen aus KollegiatInnensicht beraten, bei schullaufbahnrelevanten Entscheidungen (z.B. Wahl des Studienfachs). Wichtig ist für viele auch die MediatorInnenfunktion bei Konflikten mit anderen Lehrenden. Bei einigen Befragten besteht ein hoher Bedarf an Beratung in sozio-emotionalen Angelegenheiten: emotionaler Rückhalt und Unterstützung; Schaffung eines guten unterstützenden und ermutigenden Umfeldes. Hier fallen Begriffe wie „Schutzengel“, „Anwalt“, „Stütze“ etc. In einigen Fällen wird auch fachliche Unterstützung eingefordert. Stärken, Probleme, offene Fragen Das TutorInnensystem des Oberstufen-Kollegs ist lange erprobt und bewährt. Viele Probleme von KollegiatInnen können innerhalb dieses Systems geregelt werden, bevor sie die ‚offiziellen’ Ebenen tangierten. Das TutorInnensystem bildet damit ein Kernstück des Beratungssystems der Versuchsschule, schon allein weil jede/r Kollegat/in mit ihm in Berührung kommt. Besonders das persönliche Vertrauen zwischen TutorIn und KollegiatIn scheint wichtig. Allerdings wurden Ziele und Aufgaben des Tutoriats kaum an die Bedingungen des Neuen Oberstufen-Kollegs angepasst. So finden sich nur drei inoffizielle Memos an die Lehrenden von jeweils einer Seite, die sich aber eher mit der korrekten formalen Abwicklung von Teilaufgaben der TutorInnen beschäftigen als mit grundsätzlichen Überlegungen zu Funktion und Aufgaben von TutorInnen. Auch die Befragten sind sich hinsichtlich der von ihnen erwarteten Aufgaben unsicher: „Die Konzeption des Tutors [ist] voll-, also in meiner Sicht, vollkommen ungeklärt im Hause“. Das von Lehrenden immer wieder formulierte Zeitproblem, ihren Tutoriatsaufgaben angemessen gerecht zu werden, wurde bisher nicht angegangen, obwohl sich dieses Problem aufgrund höherer Deputate tendenziell eher verstärkt haben dürfte. Die von KollegiatInnenseite als wichtig erachtete individualpsychologische Rückhaltfunktion ist durch die wenigen hierzu vorliegenden Dokumente nicht abgedeckt. Weiterbildung und Supervision: Dies ist aus Sicht der Befragten dringend erforderlich. In den vergangenen 30 Jahren habe es keine gezielte Fortbildung für TutorInnen gegeben. Eine Fortbildung wäre ebenso auf der Ebene der Klärung der Bedeutung des Regelwerks der Ausbildungs- und Prüfungsordnung nötig (Problem: „Jeder sagt was anderes“). Ferner sei es nötig, Fachlehrende für Beratung fit zu machen. 8.2.2 Laufbahnberatung Seit 2002 werden am Oberstufen-Kolleg laufbahnbezogene Beratungen der KollegiatInnen durch spezielle Beratungslehrende durchgeführt. Vor diesem Zeitpunkt war allein die Person des Pädagogischen Leiters zuständig für Beratung. Da jedoch Regelungen und Rechtsverbindlichkeiten in den vergangenen Jahren intensiver geworden sind, wurden der Pädagogischen Leitung die LaufbahnberaterInnen zur Seite gestellt. Im Gegensatz zur Beratung durch Tutoren ist die Informationen der Laufbahnberatung rechtsverbindlich (vgl. Boller/ Marth/ Müller/ Rosowski/ Schneider 2006). Aufgaben Für diesen Beratungsbereich des Oberstufen-Kollegs liegen relativ detaillierte Aufgabenbeschreibungen vor (vgl. Boller et al. 2006). LaufbahnberaterInnen unterstehen

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der Verantwortung des Pädagogischen Leiters, mit dem regelmäßig Dienstgespräche geführt werden sollen. Es gibt drei Funktionsstellen, eine pro KollegiatInnenjahrgang. Diese Stellen werden auf Zeit für jeweils drei Jahre besetzt und mit 3h/Woche entlastet. In der Grundordnung des Oberstufen-Kollegs ist die Funktion jedoch nicht verankert. Die Aufgaben liegen insbesondere in der Beratung von KollegiatInnen zur Sicherstellung ihrer Beleg- und sonstigen -pflichten und Rechte im Laufe in ihrer Ausbildung. Durch die Rechtsverbindlichkeit der Auskünfte trägt die Laufbahnberatung eine besondere Verantwortung. Selbstdarstellung im Überblick Eigenes Aufgabenverständnis: Beratung der KollegiatInnen in allen Fragen der Ausbildung, der Prüfung und der Abschlüsse; gemeinsame Planung der Hauptphase; Erteilung rechtsverbindlicher Auskünfte; Anwesenheitsabfrage; Anschreiben bei Bestehensgefährdung; Briefe an Eltern; Gespräche mit Eltern; Einladung zu pädagogischen Konferenzen; Vermittlung an andere zuständige Personen. Zusammenarbeit mit: Pädagogischer Leitung und Organisationsleitung, anderen LaufbahnberaterInnen, Schulsozialarbeit, Kollegsekretariat, psychosozialer Beratung. Erwartungen der Institution: Entlastung des Pädagogischen Leiters in der „Alltagsberatung“; Organisation von pädagogischen Konferenzen; Umsetzung von Entscheidungen der Lehrendenkonferenz (früher Hauptkonferenz). Erwartungen der KollegiatInnen: Vermittlung zu Lehrenden bei Konflikten im Kurs; solide Auskünfte zu „Ausbildungsgeschehen“. Erwartungen des Kollegiums: Beratung, wo „Tutor in dem Bereich nicht mehr weiter weiß“; Hilfe zum Verstehen der Ausbildungs- und Prüfungsordnung des OberstufenKollegs; sich Kümmern, wenn bei bestimmten KollegiatInnen Probleme gesehen werden; Überwachung der Fehlzeiten. Eigene Erfolge: Beitrag zur Lösung Wahrnehmung von Beratungsangeboten.

problematischer

Ausbildungssituationen;

Weiterbildung/Supervision: Fortbildung zur Berufs- und Studienberatung und allgemeinem Schulrecht erwünscht; falls überhaupt Supervision, nur informell. Einschätzung des Schulklimas: Durch Verkürzung auf drei Jahre weniger Möglichkeit, Kurse zu wiederholen; alles ist „enger gestrickt“; offenes Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden wird positiv gesehen; es gibt „Stresskurse“. Typische Beratungsanlässe aus ExpertInnensicht Entlastung der Pädagogischen Leitung: LaufbahnberaterInnen sollen die Pädagogische Leitung vom Alltagsgeschäft der Beratung entlasten, „um die schwierigen Fälle kümmert sich der Pädagogische Leiter“. Überprüfung formaler Kursbelegpflichten und Hilfestellung bei Interessenwahrung: Nach ihrem eigenen Rollenverständnis sind LaufbahnberaterInnen im Allgemeinen zuständig für die „Alltagsberatung“ der KollegiatInnen. Da die Ausbildungs- und Prüfungsordnung des Oberstufen-Kollegs komplexe Kursbelegungs- und Leistungsnachweisforderungen stellt, sei die „Lotsenfunktion“ der Laufbahnberatung in vielen Fällen unerlässlich, um am Ende der drei Ausbildungsjahre alle formalen Anforderungen sicherzustellen. In erster Linie sollen Pflichtbelegungen von Kursen veranlasst werden, die sich aus der Ausbildungs-

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und Prüfungsordnung des Oberstufen-Kollegs ergeben. Das erfolgt in der Regel im Einzelgespräch: „Das heißt, da geht es darum (…), habe ich jetzt alle Pflichtbelegungen absolviert, wie verteile ich benotete Leistungsnachweise, wie plane ich die Kurse für die Prüfungen, also das ist im Wesentlichen so Kursplanung“. Pädagogische und sozio-emotive Beratung: Es zeigt sich, dass Laufbahnberatung auch heißt, auf die Bedürfnisse, Neigungen und Potentiale der KollegiatInnen einzugehen, soweit das die formalen Anforderungen erlauben. Das bedeutet, die Herstellung eines persönlichen Kontakts zwischen KollegiatIn und LaufbahnberaterIn ist hilfreich zur Klärung der Interessenlagen. Die Funktion geht also über eine rein formale hinaus in eine pädagogische, in der der persönliche Kontakt eine Rolle spielen. Hier kommt es auf Vertraulichkeit an: „Also, wenn es so um persönliche Dinge geht, die die Kollegiatinnen und Kollegiaten uns anvertrauen, also, das besprechen wir selbst unter uns beiden (LaufbahnberaterInnen) nicht. Also, das gehört sich auch einfach nicht“. Es wenden sich KollegiatInnen auch mit Beschwerden über Lehrende und deren Kurse an die Laufbahnberatung. „Gut, hier in der Laufbahnberatung kommen natürlich auch viel die Schattenseiten an. Also, wenn es irgendwie Stresskurse gibt“. Ein vertraulicher Umgang mit den Informationen, die man von den KollegiatInnen erhält, ist gewährleistet: „Also, es kommt eine ganze Menge hier in diesem Raum dann auch aus Kursen an, aber dann eher so mit dem Gefühl, ‚Nee, sag' mal lieber nichts (zu den Lehrenden), vielleicht habe ich da Nachteile". Und da versuche ich immer, den Kollegiatinnen und Kollegiaten Mut zu machen, sich zusammen zu tun“. Es kommt allerdings durchaus manchmal zu Rollenkonflikten zwischen Lehrendenrolle und der Rolle der Laufbahnberatung, an die sich KollegiatInnen vertrauensvoll wenden: „Also, ich meine, ich möchte auch nicht das Gefühl haben, ich denunziere jetzt Kollegen“. Rollenkonflikte entstehen, wenn LaufbahnberaterInnen vor den KollegiatInnen Partei gegen andere KollegInnen ergreifen. Weiterempfehlung an andere Beratungsbereiche: Diese ist eine wichtige Funktion der Laufbahnberatung, die in einer Art Weichenstellungsfunktion für weitere Beratung besteht: „Ich höre mir natürlich die Geschichten an, das ist völlig klar. Oder wenn jemand zu Hause Probleme hat oder sonst was. Aber dann sage ich, ‚Du, wir haben die und die Beratungsangebote’. Hier scheint insbesondere die Schulsozialarbeit erste Anlaufstelle der Wahl, schon allein durch die hohe zeitliche Präsenz ihrer Mitarbeiterinnen in der Schule: „Also, wenn ich das Gefühl habe, da müsste schnell mal was geregelt werden (...), dann ist es gut zu wissen, dass x zur Stelle ist“. Diese zeitliche Verfügbarkeit spielt eine wichtige Rolle bei der Wahl der Anlaufstelle: „sie ist einfach immer da! Das ist die Sache (...). Da ist einfach eine --, ja, wie soll man sagen, ja, wie so eine Rückversicherung, ich weiß, da ist jemand da, dem kann ich jetzt so Problemfälle anvertrauen, die ich jetzt auch nicht professionell bewältigen kann“. Die Sicht der SchülerInnen In der Wahrnehmung der Aufgaben der Laufbahnberatung deckt sich die Einschätzung der ExpertInnen weitgehend mit der Sicht der SchülerInnen. KollegiatInnen erwarten von LaufbahnberaterInnen sowohl detaillierte Kenntnis schul- und prüfungsrechtlicher Fragen, fachbezogene Informationsvermittlung und sozio-emotive Kompetenzen (Boller, Marth, Müller, Rosowski, Schneider 2008). Begleitung der Schullaufbahn und lösungsorientierte Interventionen bei sich abzeichnenden Problemen, auch mit Lehrenden, werden von KollegiatInnen als wichtige Aufgabenbereiche der Laufbahnberatung beschrieben. Das hohe Engagement und die erfahrene Verlässlichkeit der Laufbahnberatung werden im Vergleich zu den TutorInnen hervorgehoben: „Ich glaube, der Laufbahnberater kann mehr

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konkreter sagen, glaube ich, als ein Tutor“. Es fällt allerdings vielen befragten KollegiatInnen schwer, die Aufgaben von Laufbahnberatung und Tutoriat auseinander zu halten. Die Laufbahnberatung ist den meisten KollegiatInnen bekannt. Sie wird im Allgemeinen sehr gut angenommen und von den SchülerInnen als verlässliche Informationsquelle angesehen. Hohe zeitliche Flexibilität, auch außerhalb der offiziellen Beratungsstunden, macht das Beratungsangebot niederschwellig: „Es sind ja wirklich ungezählte „hast Du mal fünf Minuten Zeit“, sagen die LaufbahnberaterInnen. Durch das Beratungsdreieck aus Pädagogischer Leitung, Tutor und Laufbahnberatung gibt es auf SchülerInnenseite jedoch Unsicherheiten in der Selbstverortung der Tätigkeit: „Irgendwo so ein Zwischending zwischen Tutorentätigkeit und eben Tätigkeiten des Pädagogischen Leiters“, behaupten die ExpertInnen und sind sich selbst unsicher. Nach Ansicht der Laufbahnberatung könne die Zusammenarbeit zwischen Laufbahnberatung und (Pädagogischer) Leitung verbessert werden: „Das könnte man noch optimieren. Also, diesen Informationsfluss“. Da rechtlich verbindliche Auskünfte gegeben werden müssen, erscheint dieser Hinweis relevant. Mitunter bestehen Unklarheiten bei der Auslegung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung. Ein anderes Problem ist die schwierige Verlaufskontrolle der Beratung. Nehmen KollegiatInnen die Warnhinweise ernst? „Das zeigt sich im weiteren Verlauf. So direkt, ja, gut, wie gesagt, da diese Beteuerung, ‚Okay, ich tue jetzt mehr in Spanisch’, aber das kann ich natürlich nicht direkt verfolgen“. Ganz allgemein beanstanden LaufbahnberaterInnen einen Mangel an Anerkennung ihrer Tätigkeit und geringe „Entlohnung“, d.h. es gäbe zu wenig Entlastung für das viele „Zwischendurch“. 8.2.3 Pädagogische Leitung Die Funktion des Pädagogischen Leiters bzw. der Pädagogischen Leitung ist seit dem 1. August 1980 in der Grundordnung des Oberstufen-Kollegs institutionell verankert. Aufgaben Zum Aufgabenbereich der Pädagogischen Leitung konnte nur ein Dokument gefunden werden. Die Arbeitsschwerpunkte sind kurz umrissen, die Formulierungen bleiben jedoch eher vage und gehen über die Aufzählung der Tätigkeiten kaum hinaus (ebd.). Zu den Aufgaben der Pädagogischen Leitung gehören die Beratung des Kollegiums in Fragen der organisatorischen und pädagogischen Gestaltung der Unterrichtsarbeit bzw. in fächerübergreifenden methodischen und didaktischen Fragen, Rahmenvorgaben und die Beratung in pädagogischen Fragen der Unterrichtsorganisation (Kurse, Leistungsbewertung). Sie berät ebenso die KollegiatInnen und hat hierzu Einsicht zu nehmen in die Kursdokumentation bzw. in die Leistungsnachweise. Ihr obliegen Wahlfachwechsel auf Antrag, Rückstufung, Entlassung und Beurlaubung von KollegiatInnen. Sie ist außerdem für die Fortbildungsangelegenheiten der Lehrenden zuständig. Selbstdarstellung im Überblick Eigene Aufgabenbeschreibung: normale Leitungsarbeit, „frisst aber ganz viel Zeit“; zweimal die Woche drei Stunden Sprechzeit; einmal in der Woche Leitungssitzung („die ist immer rappelvoll“), pädagogische Gesamtkonzeption entwickeln („Reformpädagogik in der Wissensgesellschaft“), Betreuung von SchülerInnen mit Problemen („mit den

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schwierigen 5 – 10 % der KollegiatInnen umgehen“), Befassung mit Widersprüchen/juristischen Auseinandersetzungen, Arbeit mit ReferendarInnen; Bearbeitung von Beschwerden von SchülerInnen, Personalführung und -pflege. Rollenvielfalt: „immer in so einer Vaterrolle“, „klare Ansagen machen“. Zusammenarbeit mit: Kollegleiter („weil ich auch Stellvertreter bin“), Bezirksregierung Detmold, Juristin der Universität Bielefeld, Schulsozialarbeit, („relativ viel in schwierigen Fällen“, „die wissen oft viel mehr über die Leute als ich“), LaufbahnberaterInnen („Da muss ich aber gar nicht so viel besprechen, sondern da gibt man sich was ab“), psychosoziale Beratung, Zentrale Studienberatung, KollegiatInnenrat („ich mache mit dem KRAT ziemlich viel“). Erwartungen von KollegInnen: ‚Schutz’ vor KollegiatInnen („Appell der Lehrenden war, „schütze mich vor dem, wir wollen in Ruhe arbeiten können, wir wollen in Ruhe bewerten können und wir wollen dafür nicht bedroht werden“), mitunter „Machogebahren“ männlicher Schüler gegen weibliche Lehrkräfte. Erwartungen der KollegiatInnen: ‚Schutz’ vor Lehrenden, Herstellen von Gerechtigkeit, Beseitigen von Willkür bei Lehrenden. Optimierung von Förderung und Beratung im Oberstufen-Kolleg: „Wo das, finde ich, nicht gut läuft, ist die Hauptphase“; „müsste so etwas wie Förderdiagnostik für Mathe; Deutsch…. was ich als Hintergrund sehe für Mathe ist abstraktes Denken… Da gibt es riesige Lücken und Schwächen bei den Kollis“. Einsatz im Lernbüro Mathematik („Selbsthilfekonzept mit Supervision durch Lehrende“), TutorInnensystem („was im Grunde ungepflegt ist“, „keine klaren Fallunterscheidungen, wo die TutorInnen besonders aktiv werden sollten und wo sie lieber nicht aktiv werden sollten“). Zusammenarbeit mit KollegiatInnen: Drei+Drei-Gruppe „so eine Art Schnell-Feuerwehr (...) was mir wirklich eine Hilfe wäre“). SchülerInnen-Netzwerke: „was mir da eine große Hilfe wäre in der Arbeit, das wäre, wenn es Netzwerke gäbe unter denen selbst“ Supervision und Fortbildungsbedarf: Supervision der Leitung: „[Ich habe] dafür gesorgt, dass wir als Leitung in die Supervision gehen“. Eigener Fortbildungsbedarf: „musste ich juristische Fortbildungen machen“; Bedarf an kollegialer Supervision war geplant: „was ich eigentlich vorhatte, mit den neuen Lehrenden so eine Art kollegiale Supervisionsgruppe zu gründen (...) eben, dass ich denen auch was beibringe (...) deren Netzwerk in Gang bringen und stärken“. Einschätzung des Schulklimas: „also erst mal von der Grundbasis her positiv, wahrnehmend und anerkennend (...) es gibt auch eine Wahrnehmung der Gesamtperson (...) gutes Gesprächsklima [und] auch diesen anerkennenden und positiven Blick von KollegiatInnen auf Lehrende (...). Das ist nicht der Feind“. Typische Beratungssituationen aus Expertensicht Pädagogische Gesamtlinie des Oberstufen-Kollegs (weiter)entwickeln: „Die Arbeit als Pädagogischer Leiter ist, von den Prinzipien her soll man die pädagogische Gesamtlinie entwickeln. Das-, da hatte ich mir mehr vorgenommen, als ich schaffe (...). Die Pädagogische Gesamtlinie auch wirklich auf Basis von Hentigscher Pädagogik! (...). Da habe ich aber auch gemerkt, wie schwierig das ist, das wirklich auf den Boden zu kriegen“. Beratung der Problemfälle unter den KollegiatInnen: „Und der Alltag besteht sehr viel darin, erstmal mit den schwierigsten fünf bis zehn Prozent der Kollegiaten umzugehen.

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Und für mich, mir ist das von ganz hoher Bedeutung, weil ich finde, ob die Pädagogik funktioniert oder nicht, merkt man da, wo es hart ist, also wo es schwierige Persönlichkeiten sind. Also bei denen merkt man, ob die Pädagogik funktioniert. Das soll ja keine Schön-Wetter-Pädagogik sein. Deshalb nehme ich diesen Arbeitsbereich total ernst: Drohendes Scheitern, (Vermittlungs-)biographien, hoher Widerstand, harte Auseinandersetzungen“. Regelmäßige Sprechstunden anbieten: „Ich mache ja zweimal in der Woche drei Stunden Sprechstunde. Da komme ich, da könnte ich eine Vorabendserie drüber drehen. Das ist-, was ich da an --, sowohl an Schicksalen erzählt kriege, als auch an Auseinandersetzungen habe, das ist fast immer, also an jedem dieser Tage gibt es -hohe Gefühlswellen, weißt du? Sowohl auf der Wutebene als auch auf Trauer und Traurigkeit, Weinen, Entsetzen. Ruinierte Biographien“. Erfüllen einer „Vaterrolle“ im persönlichen Kontakt mit den SchülerInnen: „Jetzt in diesen persönlichen Gesprächen bin ich im Grunde immer in so einer Vaterrolle. Viele Auseinandersetzungen, die ich habe, die haben jetzt in den-, von den Hintergründen her eher das-, die Ursache, dass die Leute überhaupt noch nie ((lacht)) eine richtige Vaterfigur hatten als Gegenüber“. Die Pädagogische Leitung berät auch Lehrende und bemüht sich, die Unterrichtsqualität zu verbessern: „die Institution, so wie sie ist, stellt an mich auch die Aufgabe, die Leistungen der Lehrer auch im Unterrichtsalltag zu verbessern. Das ist --, das mache ich in der Form, dass ich, also ich finde, das mache ich zu wenig, aber ich mache es ((lacht)), in der Form, dass ich mit jedem neuen Lehrer mal in den Unterricht gehe, den beobachte im Unterricht, einen Block lang und das kommentiere. Also das ist ja jenseits von Festanstellungsunterrichtsbesuchen, sondern ich mache es ja informell. Und auch da Rückmeldungen gebe, die auch in Textform sind, die sind nicht mitschreibbare Texte, aber die Leute wissen genau, was ich dann meine.“ KollegiatInnenperspektive auf die Pädagogische Leitung Diese Perspektive war im Leitfaden nicht explizit enthalten. Zudem gehen wir davon aus, dass die KollegiatInnen im Laufe des 1. Semesters noch wenig Kontakt zur Pädagogischen Leitung gehabt haben. Schwierigkeiten treten i.d.R. erst später im Ausbildungsverlauf auf, so dass der Bereich der Pädagogischen Leitung in den Interviews kaum angesprochen wurde. Stärken, Probleme und offene Fragen Es scheint in diesem Bereich zu gelingen, viele Einzelprobleme von KollegiatInnen auf produktive und faire Weise zu lösen und jeweils eine persönliche Ebene des Kontakts herzustellen. Dies erfordert viel Einsatz und Fingerspitzengefühl. Die Pädagogische Leitung erfüllt im Allgemeinen die an sie gestellten Ansprüche in der KollegiatInnenberatung. So schätzt sie das auch selbst ein: „Nein, zwischen den allgemeinen Vorgaben und meinen eigenen Ansprüchen gibt es keine Widersprüche“. Dennoch räumt sie ein, für einige wichtige Aufgabe außerhalb der KollegiatInnenberatung, wie Entwicklung eines pädagogischen Gesamtkonzepts, Beratung von KollegInnen auf der Ebene von Unterricht und die Organisation von (pädagogischen) Fortbildungen für das Kollegium zu wenig Zeit zu haben. Beispiel Fortbildungen: „Also was ich auch machen müsste, was ich aber nicht mache, ist Fortbildungen. Das kriege ich einfach kräftemäßig nicht hin. Das hoffe ich aber, dass ich mit-, dass jetzt mit dem

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Schulentwicklungsplan, dass sich das entfaltet. Da hatte ich eine Menge Ideen. Und da ist aber ganz wenig draus geworden“. 8.2.4 Schulsozialarbeit Die Schulsozialarbeit ist am Oberstufen-Kolleg seit 1998 durch eine feste Stelle einer Sozialpädagogin verankert. Diese wird durch jährlich wechselnde BerufspraktikantInnen unterstützt. Aufgaben Als fester Bestandteil des Schullebens positioniert sich die Schulsozialarbeit im Spannungsfeld Freizeitpädagogik, Jugendhilfe und Sozialberatung. Für die Dokumentenanalyse konnte keine institutionelle Leistungsbeschreibung für Schulsozialarbeit gefunden werden. Es existiert vornehmlich Material, das der eigenen Dokumentation der Schulsozialarbeit entstammt. Die dabei aus den Papieren ableitbare Selbstbeschreibung ist ausgesprochen detailliert und zeigt die große Bandbreite möglicher Beratungs-, aber auch Fördersituationen und -angebote auf. Selbstdarstellung im Überblickt Eigene Aufgabenbeschreibung: Beratungsarbeit, Einzelfallberatung bei persönlichen und schulischen Problemen („Einzelfallhilfe, die mich förmlich überrollt hat“), tägliche offene Sprechstunde, Kennenlernangebote bzw. niedrigschwellige Kontaktangebote für NeuKollegiatInnen. Darüber hinaus eigene Projekte in den Projektphasen (z.B. Berufsvorbereitung, AIDS), Organisation eines Kulturcafés, Ausbildung der Jahrespraktikantin, Aidsprävention, Suchtprävention, Thema Schulden. Zusammenarbeit mit: Erlebt sich zwar oft als Einzelkämpferin, kooperiert aber auch mit Pädagogischer Leitung, Laufbahnberatung, Hausmeister, Studentenwerk. Es existiert „ein so genanntes Beratungsteam“ bestehend aus Pädagogischer Leitung, Laufbahnberatung, psycho-sozialen Beraterinnen und Schulsozialarbeit: „Leider ist es so, dass das recht unregelmäßig stattfindet“. Erwartungen der KollegiatInnen: Anlaufstelle sein für alle schulischen und persönlichen Fragen. Erwartungen der Lehrenden: Offensichtlich unklar: „das würde mich auch interessieren“. Optimierung von Förderung und Beratung: Bedarf an regelmäßigem Austausch („würde schon eher enger zusammenarbeiten wollen“), Wunsch nach klareren Absprachen und Regeln, stärkerer Strukturierung, engerer Kooperation mit den Lehrenden und Entwicklung einer gemeinsamen pädagogischen Haltung im Hause zu zentralen Themen des Schulalltags. Auch Wunsch nach stärkerer Beteiligung an den Bewerbungsgesprächen. Supervision und Fortbildung: viel Eigeninitiative; Arbeitskreis in Bielefeld zum Thema Situation von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund, Arbeitskreis in der Universität Bielefeld zum Thema Suchtprävention, Gesundheitsförderung. Mitglied einer kollegialen Supervisionsgruppe.

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Typische Beratungsanlässe Niedrigschwellige Freizeitangebote: Die Arbeit im Kulturcafe ermöglicht für viele KollegiatInnen einen (zunächst) unverbindlichen Kontakt mit der Schulsozialarbeit, der bei späterer Einzelfallberatung nützlich sein kann „Das ist ein Treffpunkt hier in der Schule, der von uns ein bisschen koordiniert und betreut wird. Also einmal organisatorisch, wenn Gruppen den Raum haben wollen, aber auch inhaltlich. Also, wir machen da Veranstaltungen (...) Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, kleine Kreativaktionen, über das Jahr verteilt. Also so ein bisschen Stichwort Freizeitpädagogik“. Einzelfallberatung: „Also, normalerweise kommen die Leute ja freiwillig. Vielleicht kriegen sie auch einen Tipp. Oder es sagt mal der Pädagogische Leiter oder auch die Tutorin, ‚Geh' mal zur Schulsozialarbeit, da haben sie irgendwie für dich vielleicht Tipps oder können dich unterstützen’ (...). Also, [die Freiwilligkeit], das ist schon mal eine wichtige Voraussetzung für unsere Arbeit“. Manche KollegiatInnen werden auch direkt angesprochen: „Also, ich mache es dann schon offen und sage, ‚Ich habe das und das gehört’ oder ‚Mich hat jemand angesprochen, die machen sich Sorgen um dich’ oder ‚Da gibt es irgendwie ein Problem’ und biete ihnen an, halt, ob ich sie unterstützen kann dabei. Und ich muss sagen, ich würde mal so schätzen, dass es vielleicht in der Hälfte der Fälle funktioniert, dass die Leute dann auch kommen“. Die Anlässe für Kontakt sind vielfältig: „Ich habe immer den Eindruck, dass wir eigentlich eine Anlaufstelle sind für alle Fragen. Also, dass man hier hinkommen kann, egal mit was! Also so-, und die kommen auch, egal mit was! Also, viele haben einfach die Eltern hier nicht mehr vor Ort und dann, klar, gibt es viele Fragen. Oder die haben Probleme mit ihrem Vermieter. Oder sie brauchen einen Zahnarzt (...). Also, hier gibt es irgendwie ganz viele Sachen. Und das wissen die auch, das spricht sich auch herum, habe ich immer so den Eindruck, dass man hier eigentlich mit allen Sachen hinkommen kann“. Beratung und Unterstützung von Lehrenden: „Einerseits sind sie [die Lehrenden] froh, dass sie überhaupt jemanden haben, den sie ansprechen können in Einzelfällen, wo sie überfordert sind oder einfach sagen, ‚Ich merke, dass da was nicht in Ordnung ist, mit der Kollegiatin, dem Kollegiaten; ich bin-, ich weiß aber nicht genau, was; kann ich den zu dir schicken; kannst du vielleicht einfach mal oder kennst du den, kannst du Kontakt mit dem aufnehmen’ (...). Ja, dann gibt es auch einzelne Kolleginnen und Kollegen, die kommen, um sich selber Rat zu holen im Umgang mit Kollegiatinnen und Kollegiaten. Konfliktsituationen, ja, überhaupt schwierige Situationen, eben vielleicht in der Kursgruppe, also das gibt es auch, es ist aber eher vereinzelt. Also in den meisten Fällen ist es schon eher so, dass Lehrende mich ansprechen, weil sie denken, ein Tutand von ihnen oder eine Schülerin irgendwie braucht Hilfe“. Themenbezogene Arbeit: Durchführung von Veranstaltungen und Projekten z.B. zu Aidsprävention, Suchtprävention, Schulden etc. Wohn(heim)beratung: „Wir versuchen da halt bei Problemen und Konflikten, ja, vermittelnd und ausgleichend da uns einzuschalten. Und wir machen aber auch diese Warteliste und Prioritätenliste für die Vergabe der Wohnheimplätze für die NeuKollegiaten, die kommen jedes Jahr“. Über diese Tätigkeit entstehen viele Erstkontakte zu KollegiatInnen. KollegiatInnenperspektive auf die Schulsozialarbeit Zum Zeitpunkt der ersten Schülerbefragung Ende des ersten Semesters haben die meisten SchülerInnen die Mitarbeiterinnen der Schulsozialarbeit lediglich bei einer 107

Informationsveranstaltung kennen gelernt („ich hab die schon mal gesehen“). Da diverse Veranstaltungen im Kulturcafe den SchülerInnen eine leicht zugängliche Kontaktmöglichkeit außerhalb des Büros boten, wurden diese von den KollegiatInnen rege in Anspruch genommen. Die SchülerInnen heben positive Erfahrungen mit persönlicher Beratung, das hohe Maß an Engagement und den guten Kenntnisstand der Fachleute hervor: „Weil die einem halt immer sagen können, wo man hin muss und die eigentlich auch immer über den aktuellen Stand informiert sind bei den jeweiligen Gesetzen [BaföG –Angelegenheiten]“. Weitere potenzielle Beratungsanlässe sind eher allgemein und grenzen sich wenig ab von den Anlässen, in denen auch TutorInnen oder auch Schullaufbahnberatung in Anspruch genommen werden: „Ja, also ich schätze, zu denen würde man auch gehen, wenn man Probleme hat jetzt am OS. Halt eben jetzt private Sachen, halt eben, wenn irgendwie was (...), wenn irgendwas einen belastet jetzt. Und das halt eben beim Lernen stört oder so“. Stärken, Probleme, offene Fragen Es ist sehr hervorzuheben, dass eine derartige Stelle am Oberstufen-Kolleg existiert. Dadurch gibt es ein niedrigschwelliges Kontakt- und Beratungsangebot von hoher zeitlicher Präsenz und Stabilität. Es ist die einzige Beratungsstelle, in der sich Mitarbeiterinnen hauptamtlich mit Beratung beschäftigen. Nicht zuletzt durch hohes Engagement der Mitarbeiterinnen wird hier viel notwendige Basisarbeit geleistet. Die SchülerInnen schätzen und nutzen dieses Angebot. Zu bemängeln ist jedoch die fehlende Trennschärfe zu anderen Beratungsangeboten wie dem Tutoriat oder der Laufbahnberatung. Dabei gab schon zu Beginn der Tätigkeit der Schulsozialarbeit kein Gesamtkonzept von Beratung am Oberstufen-Kolleg, und deshalb auch keinerlei Einarbeitung für die neue Stelleninhaberin: „Also, das lag alles an mir“. Demzufolge waren die Tätigkeiten auch wenig vernetzt mit anderen Aktivitäten des Hauses: „Am Anfang habe ich gedacht, als ich hier angefangen habe, dass es viele Leute geben wird, die mich irgendwie willkommen heißen, die froh sind, dass ich da bin, und das war überhaupt nicht so“. Auch heute funktionieren der Austausch und die Vernetzung mit den anderen BeraterInnen aus Sicht der Schulsozialarbeit noch nicht optimal: „Wir haben ein so genanntes Beratungsteam. Da nehmen dran teil einmal der Pädagogische Leiter, die LaufbahnberaterInnen, die psychosozialen Berater und wir von der Schulsozialarbeit. Leider ist es so, dass das recht unregelmäßig stattfindet. Also da ist auf jeden Fall ein Bedarf, dass es da ein regelmäßiges Treffen gibt, einen regelmäßigen Austausch. Das kriegen wir im Moment nicht richtig hin“. Ins Blickfeld der Institution rückt die Schulsozialarbeit nur durch Eigeninitiative. Der wahrgenommene Mangel an Aufmerksamkeit der Institution wir als bedauerlich angesehen, da im Rahmen von individueller Förderung gerade sie als wesentlicher Akteur für das Erkennen und Bearbeiten solcher Probleme und Defizite gelten kann, die vornehmlich lebensweltlich begründet sind, aber dennoch einen starken Einfluss auf die Leistung(-sentwicklung) einer/eines Schülerin/Schülers haben können (z.B. Wohnungsfinanzierung, private Probleme mit dem/der PartnerIn, etc.). 8.2.5 Psycho-soziale Beratung Die psycho-soziale Beratung bietet individuelle Hilfestellung bei persönlichen und schulischen Krisen. Es handelt sich um ein offenes Angebot, das von zwei externen BeraterInnen, die jeweils zweimal die Woche für wenige Stunden in das Oberstufen-

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Kolleg kommen, geleistet wird. Kontakt kann hergestellt werden in der offenen Sprechstunde oder aber nach Vereinbarung. Die BeraterInnen unterliegen der Schweigepflicht. Die psycho-soziale Beratung richtet sich mit ihren Angeboten in erster Linie an KollegiatInnen. Beratungsgründe können die „Schulsituation sein, die euch zu schaffen macht, oder das komplizierte und unglückliche Verhältnis eurer Eltern, Liebeskummer, Stress, Krankheit, erlebte oder befürchtete Gewalt, Suchtprobleme, die Angst, gar nicht mehr zurecht zu kommen (…) also so ziemlich alles, wo es helfen kann zu reden und mit dem Problem nicht mehr alleine zu sein“ (ebd.). Selbstdarstellung im Überblick Eigene Aufgabenbeschreibung: allgemeine Anlaufstelle für außerschulische Kontaktadressen bzw. Therapieangebote, beratend-therapeutische Einzelgespräche bis zu einem halbem Jahr, dann – bei Bedarf – Vermittlung nach außen. Vermittlung von Lernstrategien sowie Hilfe bei Leistungsstörungen. Zusammenarbeit mit: Schulsozialarbeit, Pädagogischer Leitung, Laufbahnberatung. Erwartungen der Institution: Unterstützung von KollegiatInnen, die „mehr Ecken und Kanten zeigen“ als an anderen Schulen. Verfassen von Gutachten, punktuelle Zusammenarbeit mit Kollegleitung, Sozialarbeit („Psycho-Soz-AG“), Laufbahn- und Drogenberatung. Die institutionelle Funktion der psycho-sozialen Beratung scheint in der Wahrnehmung der Akteure eher diffus zu sein: „Also, das ist ziemlich offen gehalten. Also das ist gar nicht so konkret. Da gibt es wahrscheinlich irgendwas schriftlich festgehalten, wo das mal drum ging, als die Stelle hier eingerichtet wurde, ‚Für was soll das eigentlich sein'. Aber das verändert sich auch stark, oft (...). Aber, also, so eine klar definierte Aufgabe gibt es eigentlich nicht“. Erwartungen der KollegiatInnen: Hilfe bei Klärung der eigenen Situation, Vermittlung zwischen KollegiatInnen und Lehrenden bei Konflikten. Erwartungen der Lehrenden: Behebung von Leistungsdefiziten auf SchülerInnenseite, Beratung hinsichtlich der Eignung für das Oberstufen-Kolleg, Rat bei Problemen mit einzelnen KollegiatInnen. Erfolge: Kontaktaufbau; Schaffen einer Vertrauensbasis (Kriterium: KollegiatInnen kommen wieder). Weiterbildung/Supervision: psychischen Gesundheit.

Drogenberatung,

kollegiale

Supervision

zur

eigenen

Einschätzung des Schulklimas: Versuchsschule zeichnet sich durch wohlwollende Stimmung den KollegiatInnen gegenüber aus. Zensuren- und Leistungsdruck nehmen jedoch im neuen System mehr Raum ein als früher. Viele Lehrende haben „ihre Ideale verloren“. KollegiatInnen werden als leistungsbereiter wahrgenommen. Typische Beratungsanlässe Bei der psycho-sozialen Beratung handelt es sich um einen besonders sensiblen Bereich von Beratung und Förderung. Zum einen gilt, ähnlich wie für das Tutoriat, dass hier kaum Standard- bzw. Beispielsituationen formuliert werden können: Jedes Problem gestaltet sich anders und hat seine individuellen Ursachen und Hintergründe. Dennoch können wiederkehrende Aufgaben identifiziert werden. Die psycho-soziale Beratung fungiert zum einen als generelle Anlaufstelle „wo Schüler dann zu mir kommen und erstmal nicht

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wissen, wo sie hinkönnen oder weiterkönnen. Dass ich Informationen weitergebe, ‚Ja, es gibt die Möglichkeit, dahin zu gehen, zu Schulsozialarbeit oder zur Rechtsberatung’“. Es gibt aber zum anderen auch bestimmte Gruppen mit spezifischen Problemen, wie KollegiatInnen mit Drogensucht „wo die Frage besteht, gehen die in eine Klinik oder suchen die eine ambulante Psychotherapie“. Auch finden sich türkische KollegiatLnnen mit enormem Druck aus dem Elternhaus: „dass sich herausstellt, dass viele Probleme zu Hause [sind], das ist relativ häufig. Ich habe auch relativ häufig in letzter Zeit oder in den letzten anderthalb, zwei Jahren viele türkische, weibliche meist, so KollegiatInnen, die kommen, die Stress haben mit Zuhause, wo die Eltern versuchen, Druck zu machen, und die sich aber ablösen oder sich befreien, im Prinzip. Das Thema kommt sehr häufig vor“. Häufiger stellt sich das Problem einer Überbrückungsmaßnahme vor Beginn einer externen Psychotherapie: „zum Beispiel bei den ambulanten Psychotherapien besteht eine Warteliste, meistens von einem halben Jahr. Dass ich dann einfach da bin, um zu überbrücken“. Bei einigen Fällen sind die schulischen Probleme derart auffällig, dass sie zur psycho-sozialen Beratung geschickt werden: „wo dann die Schulleitung sagt, oder die Pädagogische Leitung, ‚Also so irgendwie geht das nicht weiter, sonst geh mal zur psycho-sozialen Beratung, sonst irgendwie gibt es eine Abmahnung oder so was’. Also, die dann kommen mit so ein bisschen Druck dahinter“. KollegiatInnenperspektive auf die psycho-soziale Beratung Das Angebot der psycho-sozialen Beratung hat nach dem ersten Ausbildungssemester noch keiner der 30 Befragten in Anspruch genommen. Für die meisten ist die psychosoziale Beratung zu diesem Zeitpunkt in ihrer Bedeutung und Zielsetzung nur schwer einschätzbar und wurde zum Befragungszeitpunkt als wenig relevant eingeschätzt. Konsens besteht unter den Befragten, dass lediglich KollegiatInnen mit „großen persönlichen Problemen“ dieses Angebot annehmen. Das deckt sich durchaus mit den Schilderungen der ExpertInnen. Kritischer ist wohl, dass den SchülerInnen (und z.T. den Lehrenden) Personal, Kompetenz und Möglichkeiten der psycho-sozialen Beratung größtenteils nicht bekannt sind. Die MitarbeiterInnen werden dann von den SchülerInnen als „fremde Leute“ bezeichnet, zu denen man kein Vertrauen habe. Stärken, Probleme, offene Fragen Obwohl es sehr erfreulich ist, dass es überhaupt das Angebot einer psycho-sozialen Beratung im Oberstufen-Kolleg gibt, die sicher notwendige und gute Arbeit mit Problemfällen leistet, fallen hier einige strukturelle Schwächen ins Auge. So fällt auf, dass die psycho-sozialen Beratung offenbar wenig Berücksichtigung durch die andere Beratungs-/Unterstützungsbereiche des Oberstufen-Kollegs erfährt bzw. kaum in die schulische Förder- und Beratungsstruktur integriert ist. Die MitarbeiterInnen versuchen sich dies zu erklären: „Wir haben sehr wenig Kompetenzen eigentlich oder kriegen sehr wenig Raum hier. Also, das macht sich natürlich fest an den Stunden oder an der Bezahlung, oder dass es keine Stelle ist, oder so was, aber so ist es dann auch hier innerhalb der Schule (...). Also, eigentlich hat es einen geringen Stellenwert“. Es scheint, als fühlten sie sich wenig eingebunden ins System Oberstufen-Kolleg. Möglicherweise ist das ‚Satellitendasein’ auch Grund dafür, dass KollegiatInnen die Beratungstermine als eher unverbindlich wahrnehmen: „Dass man so sagt, ‚Naja, das ist ja so ein Angebot, und dann geh' ich mal hin; und wenn ich nicht hingehe, dann muss ich mich nicht unbedingt abmelden, oder so was’".

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Die psycho-soziale Beratung ist wohl diejenige unter den fünf untersuchten Förder- und Beratungseinrichtungen, deren Beratung am breitesten angelegt ist und am wenigsten ausschließlich auf die Ermöglichung eines reibungslosen Ausbildungsablaufs im Oberstufen-Kolleg abzielt. So ist die psycho-soziale Beratung vielleicht der am konsequentesten individuum-zentrierte der Beratungsbereiche, der sich vermutlich teilweise bewusst außerhalb des Schullebens angesiedelt hat. Deshalb wird hier ausdrücklich auch das Verlassen des Oberstufen-Kollegs als mögliche Problemlösung gesehen, während dieser Schritt für die anderen Instanzen eher der letztmögliche ist: „Manchmal kann es auch darum gehen, dass die einfach herausfinden hier, dass sie hier am falschen Platz sind, (...) und dann gehen. Aber, obwohl, ich kann mir vorstellen, dass das für die Lehrer dann auch gut ist, weil das dann klarer ist einfach, wenn die die Entscheidung treffen, ‚Das ist nicht die Schule, wo ich sein will oder ich will gar kein Abitur machen, sondern ich will eigentlich was anderes machen', dann ist das schon für beide gut“. Die BeraterInnen nehmen Rollenkonflikte wahr wie die „unsaubere Trennung zwischen Schule und unvoreingenommener Beratung oder Schweigepflicht (...). Das ist immer so ein Balanceakt“. Aber auch die Trennung zwischen Beratung und Therapie ist ein Problem: „Und hier, das ist wieder das Schwierige, hier bin ich Berater. Und da weiß ich einfach gar nicht, normalerweise mache ich ja hier keine Psychotherapie und dann gehe ich ja über Grenzen, auch. Sondern ich mache nur Beratung. Und dann, trotzdem gibt es aber so was wie einen Auftrag, vielleicht unklar ausgesprochener Auftrag der Schulleitung, ‚Guck' mal, wo du den abholen kannst oder wie du den motivieren kannst oder wie du den leistungsfähiger machen kannst’ oder so was“. Auch werden die Ressourcen (vier Stunden/Woche) als zu gering erachtet: „Also das müsste einfach einen höheren Stellenwert kriegen auch. Das ist eben keine Schulpsychologenstelle in dem Sinn-, das ist ja gar keine Stelle, das ist eine Honorartätigkeit“. 8.3 Fazit Dokumentenanalyse und ExpertInneninterviews Die Dokumentenanalyse kann insofern als erkenntnisreich bezeichnet werden, als insgesamt nur wenige verbindliche institutionelle Vorgaben für die einzelnen Förder- und Beratungsfelder existieren. Quantität und Qualität der vorliegenden Dokumente variieren teilweise erheblich. Dabei kann grundsätzlich gesagt werden, dass vor allem jene Förderund Beratungskonzepte, die im ‚neuen’ Oberstufen-Kolleg entstanden sind, sehr viel ausführlicher dokumentiert wurden und hier wesentlich detailliertere Informationen zugänglich sind, als dies etwa für das Tutoriat zutrifft, das schon lange im OberstufenKolleg etabliert ist. Da bei den neueren Förderansätzen aber vielfach rechtliche und organisatorische Bedingungen im Vordergrund stehen und gleichzeitig die inhaltliche Aussagekraft bezüglich der konkreten Beratungs-, Förder- oder Unterrichtssituation gering ist, bleibt festzuhalten, dass die praktische Ausgestaltung für fast alle betrachteten Bereiche frei interpretierbar und durch die Akteure individuell gestaltbar ist. Nicht ersichtlich wird aus den vorliegenden Dokumenten, ob überhaupt ein Konsens hinsichtlich eines umfassenden Beratungs- und Förderkonzepts am Oberstufen-Kolleg existiert, d.h. ob bzw. wie die verschiedenen Bausteine der Beratung und Förderung vernetzt sind und ob ein inhaltlicher Austausch zwischen den Ansprechpersonen besteht, für den ein eigener institutionalisierter Rahmen vorhanden ist. Diese relative Unverbindlichkeit drückt sich auch in dem Umstand aus, dass der Großteil der Beratungsund Förderangebote nicht in der Grund- und Prüfungsordnung des Oberstufen-Kollegs berücksichtigt wird.

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Insgesamt gesehen scheint im Oberstufen-Kolleg bislang kein allgemein geteiltes Verständnis von Beratung und (individueller) Förderung zu bestehen. Der Eindruck, den die Analyse der erfassten, schriftlich fixierten Dokumente hinterlässt, muss jedoch nicht in Einklang stehen mit der tatsächlichen Beratungspraxis, da vor allem die Spezifika jedes einzelnen Falls nicht im Voraus definiert werden können. In allen Experteninterviews wird ein großes Engagement für Aufgabe und Institution zum Ausdruck gebracht. Beklagt wurden mehrfach strukturelle Schwächen der Versuchsschule, die zu Unklarheiten und Unverbindlichkeiten führen. Die Herausforderung besteht darin, strukturelle Elemente von Beratung und Förderung derart in der Institution zu verankern, dass sie unabhängig von der jeweiligen Einzelperson funktionsfähig sind. Für die Ausübung bestimmter Ämter (z.B. Tutoriat) gibt es keine von Institutionsseite festgelegte Aufgabenbeschreibung bzw. Handreichung für die Beratungspraxis. Dementsprechend wird die Funktion der jeweiligen Stelle von den KollegiatInnen oft nicht klar erkannt bzw. diffus gedeutet. Ein Schwerpunkt der Arbeit aller ExpertInnen liegt in der Einzelfallberatung. Die einzelnen Förder- und Beratungselemente sind in der Vergangenheit weniger systematisch entwickelt und aufeinander bezogen worden, sondern historisch eher ‚wild’ gewachsen, meist unzureichend schriftlich verankert und von sich teilweise überschneidenden Tätigkeiten geprägt. Alle interviewten ExpertInnen erfüllen ihre Aufgaben mit Freude. Erfolge ihrer Arbeit sehen sie immer dort, wo sie einen Kontakt zu den KollegiatInnen herstellen, bzw. wo sie eine Vertrauensbasis schaffen können. Transparenz der Vorgehensweise ist allen sehr wichtig. Probleme sind oft organisatorischer Art, bzw. werden dort gesehen, wo Zeitdruck und Arbeitsbelastung zu hoch werden und intensive Förderung und Beratung behindern. Auch Unklarheiten von Bestimmungen und Regelungen führen zu Unmut (z.B. Auslegung der Ausbildungs- und Prüfungsordnung, etc.). Das von allen ExpertInnen als überwiegend positiv und angenehm empfundene Schulklima beruht ihrer Ansicht nach auf einer generellen Kultur der Anerkennung und des Dialogs. Es herrsche ein hohes Maß an Kommunikation zwischen Lehrenden und Lernenden, aber auch unter den Lehrenden. Das Bemühen um ein angstfreies Schulklima wird als zentrale Voraussetzung für gelingende Beratung und Förderung angesehen. Zunehmend treten aber auch Spannungen auf durch die verstärkten Leistungsanforderungen und das hohe Zeitpensum der KollegiatInnen. Die Kooperation im Kollegium wird als gut bezeichnet, wobei jedoch im Bereich der Vernetzung und Abstimmung der Lehrenden noch Verbesserungsbedarf gesehen wird. Weiterbildungsmöglichkeiten werden zwar von allen ExpertInnen gesucht, aber ihrer Ansicht nach bislang noch zu wenig angeboten oder in Anspruch genommen. Gründe dafür sind ebenfalls subjektiv erlebter Zeitmangel und Arbeitsüberlastung. Auch kollegiale Supervision wird von mehreren gefordert, bzw. dort, wo sie bereits existiert, als sehr hilfreich angesehen. Allen Befragten ist die Zusammenarbeit mit anderen ExpertInnen oder auch KollegInnen wichtig. Die Vernetzung der Akteure untereinander gelingt ihrer Ansicht nach mehr oder weniger gut. Zusammenarbeit und Abstimmung mit den Leitungen werden von den meisten ExpertInnen als optimierungsfähig angesehen. Insgesamt besteht aus Sicht mancher ExpertInnen die Gefahr, dass das Engagement sich in Einzelkämpfertum erschöpft. So scheinen z.B. Schulsozialarbeit und psycho-soziale Beratung bislang wenig in die innerschulischen Strukturen und Abläufe integriert zu sein. Einerseits werden klarere Strukturen, eindeutigere Regelungen, transparentere Vorgaben und mehr 112

Verbindlichkeiten gewünscht – andererseits bringt die Vagheit der Aufgabenbereiche den Vorteil einer weitgehenden Selbstbestimmtheit in Arbeitsabläufen und Arbeitsschwerpunkten mit sich. Ein systemischer Blick auf die verschiedenen Bereiche, auf ihr Ineinandergreifen und die Möglichkeiten gegenseitiger Befruchtung und Unterstützung scheint im regen Alltagsgeschäft der Versuchsschule bislang zu kurz gekommen zu sein. Regelmäßiger, institutionalisierter und strukturierter Austausch zwischen den Beratungsbereichen scheint dringend notwendig, wenn es künftig nicht zum Kräfteverschleiß und zur Frustration der ExpertInnen kommen soll. Umgekehrt bedeutet dies: Das Oberstufen-Kolleg verfügt mit den hier genannten Förder- und Beratungsangeboten über ein großes Potenzial für die Gestaltung heterogener Bildungsgänge in der gymnasialen Oberstufe. In Zukunft sollte dieses Potenzial noch besser genutzt werden, indem Vernetzungs- und Kommunikationsprozesse systematisch veranlasst, gefördert und institutionalisiert und Zuständigkeiten klarer festgelegt werden. Hier wäre beispielsweise die Pädagogische Leitung als initiierende und moderierende Instanz gefragt. Sie müsste dann aber von Einzelfallberatungen entlastet werden. Auch aus Sicht der befragten SchülerInnen scheinen sich manche Bereiche kaum voneinander abzugrenzen, so dass es eher beliebig erscheint, von wem man sich beraten lässt. Vor diesem Hintergrund bedarf insbesondere das Tutoriat einer wesentlich klareren Konturierung. Von einer stärkeren Einbeziehung der Schulsozialarbeit und der Nutzung der kreativen und beraterischen Potenziale könnten sowohl die Lehrenden als auch die Leitungen profitieren. Eine weitere wichtige Aufgabe ist es, Status, Funktion und Verortung der psycho-sozialen Beratung innerhalb des Ensembles der Beratungs- und Förderangebote zu klären. Die folgende Abbildung versucht zusammenfassend eine grafische Darstellung exemplarischer Förder- und Beratungsangebote auf zwei Ebenen: dem Grad der Inanspruchnahme durch die SchülerInnen (hoch-niedrig) und der Positionierung der Angebote im Spannungsfeld Institution vs. Individuum.

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Starke Inanspruchnahme

Tutoriat

Laufbahnberatung

Schulsozialarbeit

Pädagogische Leitung Psycho-soziale Beratung

Geringe Inanspruchnahme

Institutionszentrierung

Individuumszentrierung

Abb. 6: Inanspruchnahme und Institutions- bzw. Individuumszentrierung für fünf Beratungs- und Förderungselemente im Oberstufen-Kolleg

Die Abbildung verdeutlicht zwei Merkmale von Beratungs- und Förderungsangeboten auf zwei Achsen. Die x-Achse bildet ein Kontinuum mit den Polen Institutionszentrierung auf der einen und Individuumszentrierung auf der anderen Seite. Institutionszentrierung meint hier Beratung und Förderung mit dem Ziel eines erfolgreichen Abschlusses. Individuumszentrierung hingegen schließt Bewältigungshilfen für persönliche, auch außerhalb des schulischen Bereichs existente Probleme ein. Beide Bereiche gehen in der Praxis fließend ineinander über und erscheinen hier als analytisch getrennt. Es gibt jedoch durchaus unterschiedliche Akzentuierungen in den verschiedenen Beratungsbereichen. Bezogen auf die gesamte SchülerInnenschaft der Versuchsschule (nicht auf ein Individuum) verdeutlicht die y-Achse verschiedene Stärken der Inanspruchnahme des Angebots von Beratung und Förderung. Die Einordnung der Bereiche in der Abbildung beruht nicht auf quantitativen Daten, sondern aus dem Gesamteindruck der analysierten Materialien. Zu den einzelnen Elementen lässt sich Folgendes festhalten: 



Da KollegiatInnen verpflichtet sind, eine/n TutorIn zu wählen, kann man davon ausgehen, dass alle einen zumindest initialen Kontakt zu Ihre/m/r TutorIn (gehabt) haben. Intensität und Anzahl der Kontakte bleiben in der Grafik unberücksichtigt. Im Laufe ihrer Ausbildung haben ebenfalls viele KollegiatInnen Kontakt zu den LaufbahnberaterInnen, um verbindliche Auskünfte über ihre Belegpflichten zu erhalten. Für diese Fragen wird die Laufbahnberatung gegenüber den TutorInnen als kundiger eingeschätzt.

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Die Pädagogische Leitung ist nach eigener Aussage im Allgemeinen zuständig für die schwierigen Fälle. Dies dürften etwa fünf bis zehn Prozent der KollegiatInnenschaft sein. Die Schulsozialarbeit hat mit vielen KollegiatInnen Kontakt, insbesondere über Aktivitäten im Kulturcafe und über bürokratische Angelegenheiten wie BAföGAnträge oder Wohnheimvermittlung. An Einzelfallberatung auf psycho-sozialer Ebene ist sicher nur ein gewisser Prozentsatz beteiligt; die Tatsache, dass sie vielen KollegiatInnen bekannt ist, ist jedoch wichtig. Der Zugang zur psycho-sozialen Beratung ist am stärksten individuumsbezogen und wird bei schwerwiegenderen persönlichen Probleme frequentiert. Hier scheint die Hemmschwelle der Inanspruchnahme am höchsten.

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9. Qualitative Analyse Teil IV: Handlungstypen als Ausdruck bestehender Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster 9.1 Handlungstypen: Motive, Ziele und Lernerwartungen der KollegiatInnen Über die Konstruktion von Handlungstypen werden in den schulbiographischen Passagen der Interviews die Interpretationsmuster der Befragten hinsichtlich ihrer Erfahrungen mit Förderung und Beratung in vor dem Oberstufen-Kolleg besuchten Schulen und im derzeitigen Schulalltag analysiert. Sowohl ihre Wahrnehmung von Förderung und Beratung als auch ihre Lern- und Schulvorstellungen werden als Teil umfassenderer Orientierungs- und Deutungsmuster über Handlungstypen beschrieben. Über diese Handlungstypen kann der Förder- und Beratungsbedarf einer heterogenen KollegiatInnenschaft beschrieben werden. Folgende Forschungsfragen stehen bei der Bildung der Handlungstypen im Vordergrund: 1. Welche Motive, Ziele und Lernerwartungen von KollegiatInnen richten sich auf die Ausbildung am Oberstufen-Kolleg? Die Annahme ist, dass die Beratungs- und Förderungsbereitschaft der KollegiatInnen und ihre Fähigkeit, Angebote erfolgreich zu nutzen, von individuellen Motiven, Zielen und Lernerwartungen abhängig sind. 2. Welche schulrelevanten Handlungs- und Bewältigungsstrategien bei schulischen Problemlagen haben die Befragten vor dem Oberstufen-Kolleg und aktuell, d.h. wie lösen sie schulische Schwierigkeiten? Für die Bildung der Handlungstypen sind folgende theoretische und konzeptionelle Annahmen grundlegend: Handlungstypen 

sind wiederkehrende Kombinationen von Grundmustern in der Handlungsausrichtung von KollegiatInnen und Abstraktionen vom Einzelfall, weshalb eine personspezifische Zuordnung von Handlungstypen nur als Momentaufnahme möglich ist;



werden auf Grundlage der Beschreibung bestehender Verarbeitungs- und Bewältigungsmuster schulischer Lernerfahrungen gebildet;



repräsentieren Deutungs- und Interpretationsleistungen der KollegiatInnen zu vorangegangenen Schulerfahrungen und ihre aktuelle Schulkarriere und das Oberstufen-Kolleg;



ermöglichen Schlussfolgerungen: heterogene Motive, Ziele und daraus resultierende Lernerwartungen erfordern unterschiedliche Förder- und Beratungsangebote auf den unterschiedlichen Ebenen von Unterrichtsdidaktik, Formen von Leistungsangeboten, der kommunikativen Beziehungsebene zu den Lehrenden und MitkollegiatInnen und unterschiedliche institutionalisierte Formen der Beratung;



werden auf der Grundlage bestehender Motive (Motivhierarchien), Erwartungen, Ziele und Handlungen der KollegiatInnen konstruiert.

Die Kategorien, nach denen die Handlungstypen in der vorliegenden Studie konstruiert werden, geben Auskunft über die von Fend (1977) und Zumhasch (1998; Kap. 1.3; 3.3). in der Schulklimaforschung genannten Dimensionen des Sozial- bzw. Schulklimas Im Unterschied zu den dort genannten Dimensionen werden hier jedoch im Sinne eines Lernhabitus Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsausrichtung der KollegiatInnen stärker berücksichtigt. Hierzu gehören: 

Ausbildungsziele

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Zukunftspläne



Studienfachinteressen, Gründe für die Studienfachwahl



Lernerwartungen und Einschätzung der Lernschwierigkeiten



Handlungsausrichtung im Lernprozess und benötigte Förderung und Beratung.

Als vorläufiges Ergebnis lassen sich die folgenden Handlungstypen unterscheiden: 

der alternative Typus



der entwicklungsorientierte Typus



der erfolgsorientierte Leistungstypus



der schulorientierte pragmatische Anforderungstypus.

Die Handlungstypen werden in einer Zusammenfassung dargestellt. Ziel ist, Unterschiede hinsichtlich der Motive, ans Oberstufen-Kolleg zu kommen, der Ziele, die sie mit ihrer Ausbildung verbinden, bestehender Zukunftspläne, alltäglicher Handlungsausrichtung im Lernen und geäußerter Lernerwartungen und Lernschwierigkeiten und daraus resultierender Fördererwartungen sowie des Umgangs mit den bestehenden Förderangeboten deutlich zu machen. 9.1.1 Der alternative Typus: „Lernen, weil’s mir Spaß macht“, „weil das Klima am OS anders ist“ Ausbildungsziele Diese KollegiatInnen haben sich sehr bewusst für das Oberstufen-Kolleg als alternative Schulform entschieden. Bei einigen ist es schon eine Familientradition, in zweiter Generation das Oberstufen-Kolleg zu besuchen und diese Schule als alternative Bildungseinrichtung wie einige andere Familienangehörige zuvor nutzen zu wollen (Ludwig, Blume). Für andere dieses Typus (Julia, Steve) ist das Oberstufen-Kolleg die letzte Chance, das Abitur zu erwerben. Sie haben schon viele Schulen besucht oder Ausbildungen abgebrochen und sehen im Oberstufen-Kolleg eine Perspektive, „für die es sich lohnt, sich anzustrengen... also es war einfach für mich jetzt in meinem Alter an der Zeit, wirklich ernsthaft was durchzuziehen“ (Julia), denn „irgendwie ja, ich will das nicht, gar nichts machen ist auch nicht mein Fall“ (Blume). Sie kommen ans Oberstufen-Kolleg, „weil das Klima anders ist“ (Julia, Steve, Blume). Für sie ist zu Ausbildungsbeginn „Spaß am Lernen haben“ zentral, sie erwarten eine andere, stärker selbstbestimmte Form des Lernens, was für sie gerade zu Ausbildungsbeginn wichtiger ist als der formale Bildungsabschluss. Wichtig ist für sie, „ihr eigenes Ding zu machen“ (Blume). Dies bedeutet auch häufig eine gewisse Abgrenzung von der Familie und von Berufsvorstellungen oder Lebensentwürfen der Eltern. Diese KollegiatInnen wohnen in der Regel nicht mehr mit Ihren Eltern zusammen (Steve, Julia, Blume). Manche müssen ihre Ausbildung selbst finanzieren, was nicht selten zum Ausbildungsabbruch führt. Zukunftspläne Sie beschreiben ihr bisheriges Leben und ihre Schulerfahrungen häufig als „Ausbruch“ aus Regeln und Festlegungen. Sie haben Erfahrungen mit eigenständiger Lebensführung, wozu meistens auch Schul-, Wohnungs-, und Ortswechsel gehören. Selbstbestimmte Formen des Lernens sind für diese KollegiatInnen wichtiger als formale Bildungsabschlüsse. „Aber ich habe irgendwie also nicht diesen Stress im Nacken, ja du

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musst jetzt irgendwie nach dem Abi unbedingt studieren und dann unbedingt arbeiten“ (Blume). Ein Studium, ein Beruf an sich als Qualifikationsprofil ist für sie nicht wichtig, sondern eher dominiert das Motiv, etwas für sie selbst „Sinnvolles“ zu tun. Statusinteressen oder Ziele wie z.B. Geld verdienen sind sekundär und untergeordnet. Etwas „Sinnvolles“ zu lernen und als Beruf auszuüben ist an gesellschaftlichen Notwendigkeiten und Missständen orientiert (z.B. Entwicklungshilfe, eine menschengerechte Architektur oder Möbeldesign). Ziel ist für sie die Suche nach Berufsperspektiven und Arbeitsmöglichkeiten, bei denen sie ihre persönlichen Interessen und (gesellschaftliches) Engagement umsetzen können: „so von Dorf zu Dorf zu fahren und den Leuten sagen: ‚So und so könnt ihr euren Landbau betreiben!’ oder vielleicht versuchen, transfaire Handelsdinger aufzubauen oder irgendwie so ein bisschen Entwicklungshilfe, aber auf einem menschengerechteren Niveau“ (Julia). „Also mich interessieren irgendwie öffentliche Möbel im Prinzip und ich denke, wenn man diese soziologischen Grundfragen verstanden hat, wie was entsteht und warum, dass man das schon übertragen kann auf irgendwelche Massendesigns“ (Blume). Sie erleben sich selbst in ihren Ausbildungs- und Zukunftsplänen als eigenständig und wenig abhängig und beeinflusst durch ihre Eltern. Studienfachinteressen und Gründe für die Studienfachwahl KollegiatInnen dieses Typus suchen in ihren Studienfächern eine direkte Anknüpfung an ihre persönlichen Interessen (Kunst, Design, Naturerleben, andere Menschen besser verstehen, Sprachen etc). Hierbei kann es sich um Bereiche handeln, in denen sie schon diverse alltagsbezogene Erfahrungen haben oder womit sie sich schon immer gerne beschäftigen wollten, bzw. was sie lernen wollten. Die persönlichen Lerninteressen bilden die Grundlage ihrer Schul- und Studienfachwahl und darauf aufbauend entwickeln sie Vorstellungen einer möglichen Berufswahl Die Frage nach Leistungsstärken oder Leistungsdefiziten ist sekundär, d.h. Lernschwierigkeiten werden von ihnen zu Ausbildungsbeginn nicht explizit reflektiert. „Ich bin jetzt in dem letzten Jahr relativ oft umgezogen, weil mir viele Wohnungen nicht gefallen haben. Zur Zeit wohne ich halt mit drei anderen in einem Haus in der Innenstadt und es sind da ganz viele unterschiedliche Charaktere. Also, ich mag hal,t wie gesagt, Möbel, und lebe das auch ziemlich stark aus mit meinen Räumen so, und meinen Mitbewohnern, denen ist das relativ egal und es ist halt irgendwie so alles voll mit bunt und Tüchern und so. Das geht mir relativ auf die Nerven, ... ich leg relativ viel Wert darauf, wie es bei mir zu Hause aussieht. Weil – so das brauche ich für mein Wohlbefinden, auch mit dem Licht, um da irgendwie entspannt zu sitzen und zu arbeiten und das ist so mehr oder weniger mein Hobby, weil - dann zieht man um und dann macht man seinen Raum neu“ (Blume). „Ich habe Gärtner gelernt und bin halt sehr naturbegeistert und gucke auch mit Heilpflanzen und so, und deshalb fand ich Umweltwissenschaften auch recht interessant.... und dann kann man gut reisen, wenn ich hier Spanisch als Hauptfach mache, dann kann mir das auch einen großen Schritt weiterhelfen... und Sprachen, so viele, wie ich kriegen kann,n und wenn ich Spanisch jetzt irgendwie richtig intensiv und richtig gut lerne in kurzer Zeit und umsonst , dann nutze ich natürlich die Möglichkeit“ (Julia). Hier wird deutlich, dass der direkte Anwendungs- und Verwertungsbezug des Gelernten für diesen KollegiatInnentypus zentral ist und ihre Lernmotivation bestimmt.

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Lernerwartungen und Einschätzung der Lernschwierigkeiten Sie wollen auch im Rahmen der schulischen Ausbildung im Oberstufen-Kolleg ihren eigenen Fähigkeiten und Interessen folgen. Leistungsdefizite werden mitunter nicht gesehen bzw. dahingehend bewertet, dass sie durch persönliches Engagement aufgearbeitet werden können. Disziplinprobleme werden beschrieben. „Da fing das dann so an mit dieser Unlust, die dann aufkam, irgendwie einfach nur faul ... und bin einfach nicht mehr hingegangen“ (Steve). Die Schulkarriere ist oftmals durch Abbrüche bestimmt worden, die auch bei Einzelnen so zustande kamen, dass sie zwar Ausbildungen absolviert haben, dann aber nicht mehr zu den Prüfungen erschienen sind (Julia). Diese Befragten suchen im Oberstufen-Kolleg eine andersartige Schule, und von daher ist für sie das Schul- und Lernklima besonders wichtig. Für sie ist ein persönlicherer Umgang im Schulalltag wichtig. Sie suchen ein anderes „menschlicheres Schulsystem“ und erwarten eine weniger an Vorgaben orientierte Schulorganisation. Sie haben die Erwartung, „ hier ist es ja so, dass wirklich auf jeden einzelnen Schüler eingegangen wird“ (Steve). Häufig verbinden sie - ebenso wie der schulorientierte pragmatische Anforderungstyp - mit einem „freieren Lernen“, und das heißt bei diesem Typus insbesondere selbstverantwortlichem Lernen, ohne zuviel Druck, die Vorstellung, dass das Oberstufen-Kolleg leichter sei als andere Schulen. Die Erfahrung von eigenen Leistungsdefiziten, schulorganisationsbezogenen Reglementierungen und engen Leistungs- und Lernvorgaben führt nicht selten zu Enttäuschungen, so dass es zu Schlussfolgerungen kommt wie “im Nachhinein muss ich sagen dass es auf einer Regelschule leichter wäre für mich ... und ich glaube, es wäre mir leichter gefallen, wenn ich irgendwie auf einer anderen Schule gewesen wäre, weil halt dieser Druck irgendwie immer da ist und dann, ich meine, man wird ja in den Regelschulen so durchgescheucht durch dieses Abitur und dann ist da Sitzenbleiben echt schon schwer“ (Blume). Finanzierungsschwierigkeiten, d.h. in einem Ganztagsschulbetrieb noch Nebenjobs auszuführen, können zum Ausbildungsabbruch führen (Steve). Manche sind enttäuscht, dass die Schulstruktur des Oberstufen-Kollegs sich doch erheblich verändert hat und dass das schulische Alltagserleben zu viele formale Vorgaben enthält und nicht den Erzählungen und Geschichten ihrer Verwandten und Bekannten entspricht (Blume). Dabei hat Blume sein zu Beginn der Ausbildung formuliertes Ziel, die Fachhochschulreife zu erlangen, strategisch verfolgt und auch erreicht, da für seine Berufspläne nur Fachhochschulen in Frage kommen. Darüber hinaus kann die Schule als Lebensraum und auch als Kontaktbörse für manche KollegiatInnen dieses Typus problematisch werden. Wenn sie dort keine soziale Unterstützung finden „sich nicht zu Hause fühlen“ oder sich von Freunden und Bekannten zu sehr ablenken lassen von den formalen Lernaufgaben des Schullebens, kann dies zusammen mit weiteren Problemfaktoren zu einem Abbruch führen. Disziplinprobleme im Umgang mit der eigenen Lust-Unlustbalance werden von allen KollegiatInnen genannt, die die Schullaufbahn abgebrochen oder vorzeitig abgeschlossen haben. Auffallend ist die von ihnen formulierte Schlussfolgerung „ich hätte mehr Druck und Kontrolle gebraucht“ (Steve, Blume), obwohl diese KollegiatInnen gerade zu Beginn der Ausbildung mehr Freiräume erwartet haben, was jedoch zu Defiziten in der Erfüllung der bestehenden Leistungsanforderungen geführt hat. Handlungsausrichtung im Lernprozess und benötigte Förderung und Beratung Die Befragten formulieren zu Ausbildungsbeginn explizite Interessen an Diskussion und Auseinandersetzung mit der Kursgruppe und den Lehrenden. Der persönliche Kontakt zu MitkollegiatInnen und Lehrenden ist für sie wichtig. Sie suchen einen partnerschaftlichen sozialintegrativen Lehr- und Lernstil, der von Fairness, Akzeptanz und Toleranz geprägt 119

ist und nicht durch klar festgelegte Hierarchien. Für sie ist die Beziehungsebene, die Art des Umgangs miteinander, ein wesentlicher Förderungsfaktor im Lernprozess. Dieser persönliche Kontakt, insbesondere wenn er gestört ist, kann bei auftretenden Problemen auf der Beziehungsebene (z.B. zwischen Lehrenden und KollegiatInnen) auch dafür verantwortlich sein, dass Leistungseinbrüche erfolgen oder Leistungsanforderungen negiert werden. Im Idealfall kann dieser beziehungsorientierte Kontakt (zu einzelnen Lehrenden, TutorInnen) auch leistungsfördernd und leistungsunterstützend wirken, so dass Überforderungssituationen oder erlebte Lerndefizite nicht zum Schulabbruch führen. Dieser KollegiatInnentypus nimmt in der Regel keine der formell angebotenen Beratungsinstitutionen in Anspruch, mit Ausnahme der Sozialarbeiterin und - abhängig von der persönlichen Beziehungsebene - den/die TutorIn. Die Existenz der Beratungsinstitutionen wird zwar durchweg als positiv bewertet, aber sie selbst versuchen eher mit ihren Problemen „alleine klar zu kommen“ oder suchen Unterstützung bei anderen KollegiatInnen und Freunden. Auch ausbildungsrelevante Informationen werden nicht bei den Beratungsinstitutionen der Schule erfragt, sondern bei MitkollegiatInnen, die auch Informationsbörse sind. 9.1.2 Der entwicklungsorientierte Typus: „das Richtige für mich selbst zu finden, auch wenn der Weg über Umwege führt“ Ausbildungsziele KollegiatInnen dieses Typus sind auf das Abitur als Ausbildungsziel ausgerichtet, jedoch geht es ihnen nicht darum, auf dem schnellsten Weg ans Ziel zu kommen. Sie haben sich bewusst für das Oberstufen-Kolleg entschieden, obwohl die meisten dieses Typus die bisherige Schule hätten fortsetzen und dort ihr Abitur machen können. Die meisten verfügen über einen Q-Vermerk. Sie sind ans Oberstufen-Kolleg gekommen aufgrund des größeren Fächerspektrums und insgesamt größerer Wahlmöglichkeiten. Sie haben hohe Erwartungen an ein anderes Schul- und Unterrichtsklima, dass nicht „immer alles straight vorgegeben“ ist (Solo). Für sie ist die eigene Persönlichkeitsentwicklung wichtig und das zu machen, was sie für ihre eigene Entwicklung als sinnvoll erachten, was „mir Spaß macht, d.h. das, was ich meine, was das Richtige für mich ist“ (Jenny, Jennifer, Doro, Tonia, Marcus). „Ich hätte auf meiner alten Schule nur noch ein Jahr bis zum Abi machen müssen, das wäre gezwungen gewesen, meine Lernbereitschaft, die war nicht da; irgendwie wollte ich einfach weg“ (Doro). So werden Auslandsaufenthalte oder Ausbildungen als Moratorien zwischengeschaltet, so dass Möglichkeiten entstehen, mehr über sich selbst zu erfahren. Sie suchen nach mehr als nur dem typisch begrenzten schulischen Rahmen (Leistungsfächer), wo sie gezwungenermaßen etwas tun müssen, „wollte nicht die gleichen Lehrer haben, wollte etwas Neues“. Wichtig ist, „was Neues anzufangen, auch mit ganz anderen Leuten“ (Jenny, Doro, Jennifer, Tonia). In dieser selbstreflexiven Suche fühlen sie sich von ihren Eltern unterstützt. Sie stehen häufig in einer engen, wertegeleiteten Verbindung zu ihren Eltern, mit denen sie grundlegende Interessensbereiche teilen. Selbstständig werden ist für sie sehr wichtig, so dass viele von ihnen zumindest zeitweise nicht mehr im Haushalt ihrer Eltern leben. Im Unterschied zum alternativen Handlungstypus haben diese KollegiatInnen Schulstufen und Ausbildungen abgeschlossen und sind stärker auf formale Bildungsabschlüsse ausgerichtet (Schulabschluss, Berufs- und Studienwahl). Meistens bestehen keine Disziplin- und Leistungsprobleme.

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Zukunftspläne KollegiatInnen dieses Typus sind auf die Aufnahme eines berufsqualifizierenden Studiums orientiert, was als explizites Ziel von allen genannt wird. Wichtig sind zu Ausbildungsbeginn für sie nicht langweilige Berufstätigkeiten, sondern Berufsbereiche, in denen sie Einfluss nehmen können. „Ich möchte ein bisschen was Neues entdecken, was dann auch wirklich der Menschheit oder so weiterhilft“ (Jenny). „Hauptsache, ich mache irgend etwas Nützliches, aber auch etwas Sicheres zu haben, irgend etwas, womit ich was anfangen kann“ (Jennifer). „Leuten zu helfen“ (Tonia, Marcus). „Wenn ich schon drei Jahre lerne, dann will ich auch studieren, möchte was studieren, was ich interessant finde, wie Medienpsychologie, das ist ein weiterführender Bereich, wo es immer irgendetwas zu tun gibt“ (Doro). In den zu Ausbildungsbeginn geäußerten Berufsvorstellungen werden Prägungen durch das Elternhaus, die Vorbildfunktion der Berufstätigkeiten und das Engagement der Eltern deutlich. Studienfachinteressen Sie sind offen für neue Studiengänge und bereit zu experimentieren. Studienfächer werden nach persönlichen Interessen gewählt. Dabei wird auch schon zu Ausbildungsbeginn der Bezug zwischen den Studienfächern für eine mögliche Studienund Berufswahl thematisiert. Fachwechsel finden insbesondere dann statt, wenn sie mit Lehrenden auf der persönlichen Ebene nicht zurechtkommen oder den Eindruck haben, die an sie gestellten Leistungsanforderungen nicht erfüllen zu können. Lernerwartungen und Einschätzung der Lernschwierigkeiten Sie beschreiben zu Ausbildungsbeginn ihre Lernerwartungen dahingehend, „ich wollte dann mal was anderes als dieses Einfache haben“ (Jennifer), dass man mehr „gemeinschaftsmäßig irgendwie zusammenarbeitet, nicht jeder so vor sich rumwurschtelt und guckt, dass er jetzt nur seine Noten hinkriegt“ (Jenny), „dass man hier an einem Strang zieht“ (Jennifer). „Ich hab auf jeden Fall erwartet, dass es hier nicht so stur – oder so klar geregelt ist, wie an einer normalen Schule“ (Doro). Diese Erwartungen haben sich im Fall von Doro zu Ausbildungsbeginn zum Teil bestätigt. Ihr war wichtig, mit älteren SchülerInnen zusammen zu sein. Diese KollegiatInnen erwarten keinen Frontalunterricht, sondern andere, gemeinschaftsorientierte Lernformen, insgesamt einen entspannteren, offeneren, angenehmeren Unterricht. Selbstständigkeit „den eigenen Weg zu gehen... und es aus eigener Kraft zu schaffen“ ist für sie in jeder Hinsicht, auch im Lernen, wichtig (Marcus). „Halt nicht so enge Grenzen zu haben, und das waren dann auch die Kurse, wo ich dann eigene Interessenschwerpunkte setzen konnte, wo ich dann am meisten gelernt habe... und wenn ich dann die Freiheit habe, mir Inhalte zu suchen, ja, mit denen ich mich gerne beschäftigen will und die mich interessieren, dann habe ich halt eine größere Motivation mich auch damit auseinanderzusetzen“ (Solo). Zum Teil sind sie zu Ausbildungsbeginn schon enttäuscht über den ihrer Meinung nach doch häufig anzutreffenden Frontalunterricht und die geringen Freiheitsgrade bei der Wahl weiterer Kurse. Demgegenüber haben sich die Erwartungen an „offenere Menschen, an die Offenheit der Lehrer für neue und andere Meinungen erfüllt“ (Jennifer, Jenny). Die eigene Lernbereitschaft, die von Engagement und Motivation geprägt ist, zu erhalten und zu fördern ist ihnen wichtig. Wenn sie mit persönlichem Interesse lernen, investieren sie viel Zeit und haben eine hohe Leistungsmotivation, was dann auch andere bemerken. Die Schule steht im Mittelpunkt des Interesses. Schwierigkeiten bestehen insbesondere dann,

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wenn sie nicht aus eigener „Kraft die Leistung bringen“, die sie von sich selbst erwarten, und es dann zu wenig Ansprechpersonen für Reflexion und Austausch gibt. Faktoren, die zu Ausbildungsabbrüchen führen können, sind zu wenig Freiräume für interessengeleitetes Lernen, zu wenig Gruppen- und kommunikationsbezogene Lernformen und wenn sie sich von Lehrenden „abgeblockt“ fühlen. Problematisch wird es dann, wenn der Anspruch des Oberstufen-Kollegs als reformpädagogische Einrichtung sich nicht im alltäglichen Lern- und Unterrichtshandeln, d.h. im Lern- und Schulklima wieder finden lässt. Handlungsausrichtung im Lernprozess und benötigte Förderung und Beratung KollegiatInnen dieses Typus erwarten klare Ansprechpersonen. Die persönliche Kontaktund Beziehungsebene, ob zu Lehrenden, Tutoren oder anderen KollegiatInnen, scheint für ihren Lernprozess und ihr Lerninteresse wichtig zu sein. So wird zu Beginn der Ausbildung auch beklagt, dass „viele die Kurse wechseln, dass man viele gar nicht richtig kennen lernt“ (Doro). Insgesamt sind auch andere private Bezugspersonen wie Mutter, Geschwister oder Freunde wichtig für den Austausch über Schulerfahrungen und insbesondere für die persönliche Entscheidungsfindung. Ein persönlicher, wertschätzender Bezug zur Lehrperson wurde entweder auf der vorhergehenden Schule stark vermisst und es gab zum Teil länger anhaltende Diskriminierungserfahrungen, etwa aufgrund der äußeren Erscheinung – z.B. wegen grüner Haare (Elfe) – „auf meiner alten Schule habe ich jeden Tag drei blöde Bemerkungen bekommen, mindestens, hier noch nicht eine bis jetzt“ (Jennifer); oder die persönliche Beziehungsebene war auf der früheren Schule zur Lehrperson sehr gut, „da hatte man das Gefühl, dass man da mit allem hingehen könnte“ (Doro), dass LehrerInnen „wussten, was zu Hause abgeht“ (Tonia). Sie beschreiben ihre vorangegangenen Schulerfahrungen hinsichtlich der Möglichkeiten, persönliche Meinungen und Standpunkte im Lernprozess zu äußern, zum Teil als „fast unterdrückt werden. Wenn ich eine Meinung geäußert habe, war es immer gleich falsch, wenn es sich so erwies, dass es so im Lehrbuch steht“ (Jennifer). „Lehrende hatten ihre Lieblingsschüler, was sie sagten, war richtig“ (Tonia). Insgesamt ist die Lerngruppe wichtig für Lernprozesse, die persönliche Entwicklung (Asrin,) aber auch für den Umgang mit Leistungsanforderungen und der eigenen Leistungsbereitschaft „weil, das brauche ich irgendwie ganz oft, auch so vor Klausuren und so, dass ich gucke, wie stehen die dazu oder wie weit sind die beim Lernen“ (Doro, Marcus). Sie sind auf gemeinschaftsorientiertes, die Selbstständigkeit förderndes Lernen ausgerichtet, und hierbei ist sozialer Austausch ganz wesentlich. Dies ist für sie ein wesentliches Kennzeichen des Schul- und Lernklimas im Oberstufen-Kolleg. Wichtig ist für sie eine Unterrichtsstruktur, die eine Auseinandersetzung über den Lernstoff und die Kommunikation individueller Sichtweisen in Bezug auf Themen und Probleme in der Unterrichtsgruppe ermöglicht (Asrin). Sie erwarten alle keinen Frontalunterricht, sondern stattdessen eine reformpädagogische Didaktik, die interessensorientierten Unterricht in den Mittelpunkt stellt. Bezugspunkt ist für sie die Lerngruppe und nicht die Lehrperson. Lehrerzentrierter Unterricht wird von ihnen negativ bewertet, und positive Lernerfahrungen beinhalten häufig Schilderungen von Gruppenarbeiten, eigenständiger Themenbearbeitung und einen Unterricht, der Selbstständigkeit und interessensorientierte Leistungsbereitschaft fördert (Solo, Jennifer, Doro, Asrin).

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9.1.3 Der erfolgsorientierte Leistungstypus: „Besser und schneller (...) werden und bloß nicht faulenzen“ Ausbildungsziele Dieser KollegiatInnentypus kommt ans Oberstufen-Kolleg, weil die Versuchsschule anspruchsvoller, aber auch „lockerer“, d.h. „nicht so verkrampft ist“. Für sie ist selbstständiges Lernen ein anspruchsvoller Wert, der auf SchülerInnenseite Einiges, wie z.B. Mut, Eigenverantwortlichkeit und Selbstorganisation voraussetzt, was auf jeden Fall bedeutet, dass man jetzt nicht auf der faulen Haut liegen kann“ (Ludwig). Ludwig beschreibt sich als „Multitalent mit rascher Auffassungsgabe“ Ziel ist für ihn, so schnell und früh wie möglich zu studieren, „bevor die großen Entdeckungen alle weggeschnappt sind, und außerdem reizt natürlich das Geld“ (Ludwig). Bei Einzelnen ist der Besuch des Oberstufen-Kollegs schon Familientradition (Eltern, Tante waren auch schon dort). Sie verbinden mit dieser Schulwahl optimale Bildungsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur Selbstentfaltung. Sie erhoffen sich aufgrund der Nähe zur Universität eine gute Studienvorbereitung, „vielleicht werden einzelne Scheine im Studium schon anerkannt und das Studium geht zügiger“ (Ludwig). „Sich an den Besten so zu messen und dann sich selber so ein bisschen pushen und nicht sagen, ja, die anderen, die sind ja schlau und da komm ich eh nie dran“ (Anja). Es bestehen Ehrgeiz und eine ausgeprägte Leistungsorientierung sowie der Anspruch, Spaß an der Schule zu haben. Das Abitur ist ein klares Etappenziel auf ihrem Weg, einen für sie attraktiven und insbesondere einen auf Erfolg ausgerichteten Beruf zu erlangen. In den Interviews thematisierte Lernerfolge in ihrer schulischen Ausbildung sind bei allen immer auf das Erreichen von guten Leistungen und guten Noten bezogen. Zukunftspläne Die Studienfächer entsprechen den eigenen Interessen und sie sind auf ein Hochschulstudium ausgerichtet. Sie wollen auf jeden Fall studieren, „möchten Forscher werden, die Welt als genialer Forscher und Multitalent ... erforschen“ (Ludwig). Der Wunsch „das Studium möglichst zügig durchziehen“ korrespondiert mit klar benennbaren Karriereplänen, z.B. „irgendwie in einer großen Firma arbeiten, Auslandsaufträge oder so und viel Geld verdienen“ aber auch anderen, an persönlichen Interessen orientierten Berufszielen, wie „Meeresbiologin“ (Elfe). Auch für ihre Eltern ist es wichtig, dass sie ihre Ausbildungen „durchziehen, es zügig durchziehen und nicht irgendwie da so faulenzen“ (Anja). Die eigene Ausbildungs- und Berufslaufbahn wird in hohem Maße als persönlich gestaltbar und vom eigenen Engagement abhängig angesehen. Studienfachinteressen, Gründe für die Studienfachwahl Diese KollegiatInnen wählen ihre Studienfächer zunächst nach persönlichen Interessen oder vorhandenen Fähigkeiten und zielgerichtet auf Studien- und Berufsperspektiven hin. Umwahlen werden dadurch begründet, dass die neuen Kurse sie effektiver auf ihren Studien- und Berufswunsch vorbereiten. Überlegungen, ob sie mit den Leistungsanforderungen in dem neuen Fach zurecht kommen, sind eher sekundär.

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Lernerwartungen und Einschätzung der Lernschwierigkeiten „Das Wichtigste ist, sich selber etwas zuzutrauen, wichtige Voraussetzungen sind, denke ich mal, in erster Linie, bin ich selbst, dass ich selbst weiterhin am Ball bleibe und halt nicht den Faden verliere, dann sehe ich eigentlich kaum ein Problem damit, das Abitur zu bestehen“ (Elfe). Sie sagen von sich selbst, dass sie „einen gewissen Ehrgeiz immer mehr entwickeln“. „Ich bin ein Multitalent und kann alles ganz gut, es liegt in meiner Hand, und ich bin anders als die anderen 17-Jährigen“ (Ludwig). Manche wollen auf dem „Karriereweg“ keine Zeit verlieren, „deshalb ist Studieren mit 16 interessant“ (Ludwig). Sie sind bereit, für die Schule viel zu tun und persönliche Interessen der Schule unterzuordnen (Anja, Elfe). „So sind meine Wochenenden mittlerweile nur mit Lernen ausgefüllt, weil ich das halt ziemlich ernst nehme und auch einen gewissen Ehrgeiz immer mehr entwickle“ (Elfe). Sie berichten von eigenen Diskriminierungserfahrungen an zuvor besuchten Schulen, ob auf Grund der äußeren Erscheinung, des privaten Lebensstils oder nicht angepassten Verhaltens. In ihrer Erfahrung hatten frühere LehrerInnen feste Zuschreibungen für bestimmte SchülerInnen und deren Leistungsvermögen. Sie haben sich an vorangegangenen Schulen häufiger vorgeführt oder abgewertet gefühlt (Anja, Elfe). Dementsprechend ist für sie das Schulklima am Oberstufen-Kolleg wichtig, da sie LehrerInnen dort nicht als distanziert, sondern als offene und authentische Menschen erleben, „die sich auch für die Schüler einsetzen“. Wichtig für sie ist, von Lehrenden konkrete Hinweise zu bekommen, wie sie ihren Leistungsstand verbessern können. Ein persönlicherer Umgang mit Lehrenden fördert ihrer Meinung nach selbstständiges Lernen und ist die beste Vorbereitung aufs Studium. Sie formulieren insbesondere Lernerwartungen, die auf die Person der Lehrenden ausgerichtet sind, wie z.B. einen besseren persönlichen Umgang mit ihnen als an anderen Schulen, Duzen, Austausch mit Lehrenden, die froh sind, dass sie ihnen etwas beibringen können und keine „Egal“Haltung zeigen (Anja, Ludwig, Elfe). „Man hat hier schon seine Ruhe, das finde ich sehr schön, man kann was lernen“ (Ludwig). Es werden keine Monologe der Lehrpersonen erwartet und weniger Hierarchie zwischen Lehrenden und Lernenden. Sie hoffen auf kompetente und interessierte Lehrende, die sie fordern und fördern und die sie darauf ansprechen, „so, das könntest du noch besser machen“ (Anja). Einzelne wünschen sich, dass das Oberstufen-Kolleg fordernder sei, da Lehrende darauf ausgerichtet sind, „dass jeder es versteht“, was dazu führe, „dass es teilweise langsamer voran geht“ (Ludwig). Die organisationalen Abläufe der Versuchsschule werden mitunter als „desorganisiert, ein bisschen Chaos überall“ erlebt (Ludwig, Anja, Elfe, Solo). Dies führt auch zu einer verstärkten Kontaktierung von Beratungsinstanzen der Schule. Als Schwierigkeiten werden auch uneinheitliche Bewertungsmaßstäbe der Lehrenden für Leistung und Kursbestehen thematisiert, was zu nachhaltigen Ungerechtigkeitserfahrungen führen kann (Elfe) Handlungsausrichtung im Lernprozess und benötigte Förderung und Beratung Die Lehrkräfte sind für sie besonders wichtig als Förderer und Lernberater, aber sie nehmen auch die Beratungsinstitutionen der Schule in Anspruch. Die Kursgruppe und die MitschülerInnen sind auf ihrem Weg, etwas „durchzuziehen“, weniger bedeutsam. Gruppenarbeiten, bei denen sie auf die Mitarbeit von anderen angewiesen sind, um gute Leistungen zu erzielen, bewerten sie negativ (Ludwig, Solo, Elfe, Anja). Sie suchen insbesondere bei den LehrerInnen nach Unterstützung darin, dass Lehrende „schon ein paar Ansätze bieten und ein paar Möglichkeiten bieten, und – ja - dem Schüler einfach gebe,n was er braucht in dem Moment, und das kann sowohl sein, irgendjemanden der sich auskennt, der vielleicht drüben aus der Uni ist, den Leuten ein paar Nummern in die 124

Hand zu drücken,„ruf den mal an, der hat eine Doktorarbeit darüber geschrieben und dann gibt’s halt überhaupt die erste Möglichkeit, dass man sich selbst für irgendwas motivieren kann und dass man auch einen Erfolg da hat.... dann muß halt da überhaupt ein Lehrer sein, der sich dafür stark macht,... der auch Geld besorgen kann... der das unterstützt “ (Ludwig). Tatsächlich hat Ludwig diese Form der Unterstützung von Lehrenden im Oberstufen-Kolleg in seiner Schullaufbahn erfahren und zusammen mit anderen den zweiten Platz bei einem Schulwettbewerb im Bereich Chemie erreicht. Ziel ist für diesen KollegiatInnentypus, „sich selber schlau zu machen, weil das gefordert ist im Rahmen von selbstständigem Arbeiten“ (Ludwig), „... sich auf das Wesentliche zu beschränken“ (Anja), „... dass man durch persönliche Anstrengungen seinen Weg finden kann“ (Solo). Förderung bedeutet für sie, dass Lehrer Lernberater sind und den „SchülerInnen das geben können, was sie brauchen“. Damit sind Lernanreize und Lerngelegenheiten und das Eröffnen von Möglichkeiten, eigene Fragestellungen erfolgsund produktorientiert zu bearbeiten, gemeint. Der hier formulierte Ansatz forschenden Lernens setzt nicht nur kompetente Lehrende, „die nicht im Lehrerzimmer verschwinden“ voraus, sondern auch ein gutes, offenes Lern- und Schulklima. Für diese KollegiatInnen ist insbesondere der dialogische Austausch auf Augenhöhe mit Lehrenden besonders wichtig, der gekennzeichnet ist von Symmetrie in der Kommunikation, Akzeptanz und Wertschätzung statt Hierarchie mit festgelegten Kompetenzzuschreibungen – sowohl zwischen Lernenden und Lehrenden als auch innerhalb der Lernendengruppe. Dieser persönliche Umgang ermöglicht ihnen, einen stärkeren Lerneinsatz zu zeigen. 9.1.4 Der schulorientierte pragmatische Anforderungstypus: „Dass mehrfaches Nachfragen erlaubt ist und man sich selbstständiger um Sachen kümmern muss“ Ausbildungsziele Diese KollegiatInnen haben sich häufig auf Grund des fehlenden Q-Vermerks für das Oberstufen-Kolleg entschieden. Im Vordergrund steht für sie das Abitur. Es ist für sie nicht selbstverständlich, das Abitur als Ziel zu erreichen, so dass die Frage, ob sie das Abitur schaffen, von ihnen direkt oder indirekt formuliert als Perspektive der Eltern bezogen auf die Bildungszukunft ihres Kindes von den KollegiatInnen formuliert wird. Eine Berufsausbildung kam für die meisten zu Beginn ihrer Ausbildung am Oberstufen-Kolleg nicht in Frage, da sie sich noch nicht festlegen wollten und auch keine konkreten Berufsinteressen bestehen. Mit dem Abitur verbinden sie eine allgemeine Verbesserung der späteren Berufschancen und einen Aufschub diesbezüglicher Entscheidungen und Festlegungen. „Als,o ich weiß es, ehrlich gesagt, noch gar nicht, was ich machen möchte. Vielleicht danach studieren oder so. Aber was? Als, ich habe gehofft, dass mir das jetzt in den drei Jahren klar wird, weil – Einige wissen das ja jetzt schon. Aber Einige auch noch nicht. Und ich hoffe, ich weiß das dann irgendwie. Keine Ahnung. Ich weiß es wirklich noch nicht“ (Anna). Das Abitur wird als Statuspassage gesehen, an die der nächste Schritt, ein Studium anknüpft (Anna, Tom, Kasimir, HMM). Sie haben häufig von Bekannten oder Freunden vom Oberstufen-Kolleg erfahren und erwarten mehr „Freiraum, dass es lockerer zugeht als an anderen Schulen“, und dennoch eine frühe Vorbereitung und Anknüpfung an die Universität ermöglicht wird. Das breite Spektrum der Leistungskurse ist für sie attraktiv, da sie so an Interessen oder schulische Stärken besser anknüpfen können.

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Zukunftspläne Die schulische Ausbildung am Oberstufen-Kolleg hat das Leben dieser KollegiatInnen wenig verändert. Sie leben noch zu Hause bei ihren Eltern, zu denen sie häufig einen guten Kontakt haben und sozialen Rückhalt in der Familie erfahren. Einerseits betonen KollegiatInnen dieses Typus im Gespräch, dass ihre Eltern ihnen Entscheidungsfreiheit bei der Berufswahl lassen, andererseits ist ihnen die Beeinflussung durch die Wünsche und Interessen der Eltern und deren manchmal eher skeptische Perspektive auf das Oberstufen-Kolleg bewusst, und dies wird auch in den Interviews thematisiert (Anna, HMM, Kasimir, Tom). „Also, mein Vater hat halt Pharmazie studiert. Und er ist halt Apotheker. Und hat eine Apotheke. Ja, und früher meinte er immer, dass ich die übernehmen könnte oder so. Aber, ehrlich gesagt, interessiert mich das nicht so sonderlich. Und, also, nein, ihnen ist halt wichtig, dass ich irgendwie eine gute Schulbildung habe. Aber was mit Studieren, da haben die sich, glaube ich, auch noch nicht so viele Gedanken drüber gemacht“ (Anna). Auch Tom betont in den Interviews, dass seine Eltern ihn nicht einengen in seinen beruflichen Plänen, sich jedoch wünschen, dass er studiert, aber dennoch nicht erwarten, dass er oder eines seiner Geschwister die ärztliche Praxis des Vaters übernimmt. Auffallend ist, dass die schon im ersten, aber insbesondere im zweiten Interview genannten möglichen Berufsperspektiven oder auch Studienabsichten doch stark an den Berufsfeldern der Eltern orientiert sind, „zum Beispiel in Argentinien Arzt ohne Grenzen oder so was in der Art zu werden, Entwicklungshelfer“. Das handlungsleitende Motiv ist aber z.B. bei Tom, „im Ausland zu arbeiten und zu reisen“, das Tätigkeitsfeld ist durch familiäre berufliche Vorbilder geprägt, aber eher sekundär. Ziel ist für ihn „ich will einfach mehr sehen von der Welt.. nicht hier in meinem blöden Dorf wohnen und da vor mich hin gammeln, ich will einfach hier weg, will mehr von der Welt sehen“ (Tom). Auch bei Kasimir wird deutlich, dass durch die wiederholte Praktikumstätigkeit in der Firma seines Vaters das Ziel entstanden ist, dort eine Ausbildung zum Mechatroniker zu beginnen oder auch einen technischen Studiengang aufzunehmen. Studienfachinteressen und Gründe für die Studienfachwahl Die Wahl der Studienfächer ist ebenso wie die Zukunftspläne zum Teil durch die Wünsche, Interessen, d.h. die Fürsorge der Eltern geprägt „Und ich habe halt erstmal die Fächer so genommen, ja meine Eltern wollten auch halt, ähm, das so ein bisschen. Und ich wusste halt nicht genau, was ich nehmen sollte“ (Anna), so dass Studienfachwechsel nicht selten vorkommen können. „Aber ich habe halt gemerkt, dass ich das auf keinen Fall irgendwie als Studienfach haben möchte, und deswegen wähle ich jetzt also höchstwahrscheinlich beide um“ (Anna). Auch bei Tom und Kasimir ist die Wahl der Studienfächer von den beruflichen Tätigkeitsfeldern der Eltern geprägt. Darüber hinaus werden Fächer gewählt, in denen in der bisherigen Schulkarriere gute Leistungen erbracht wurden (HMM) oder aufgrund der breiten Wahlmöglichkeiten an den persönlichen Interessen und Hobbys wie z. B. Reisen oder Computer angeknüpft werden kann (Tom, HMM). Berufliche Zielvorstellungen und Tätigkeitsperspektiven spielen eine untergeordnete Rolle. Lernerwartungen und Einschätzung der Lernschwierigkeiten Auffallend ist, dass KollegiatInnen dieses Typus in ihrer schulischen Karriere von keinen gravierenden Problemen oder Brüchen berichten. Ihre Haltung zu sich und zu anderen ist eher die, keine Probleme zu machen oder sehen zu wollen in Bezug auf ihre Schulausbildung. Das Oberstufen-Kolleg verbinden sie mit der nahtlosen Fortsetzung

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einer eher unauffälligen Schullaufbahn und sind sich ihrer Chance bewusst, die nächste Bildungshürde zu nehmen. Sie erwarten keine alternativen Lernmethoden oder spezifische reformpädagogisch-didaktischen Ansätze, sondern für sie ist zentral, dass das Oberstufen-Kolleg eine andere Lernatmosphäre bietet als die bisherige Schule, in der sie eher mitgelaufen sind und sich als eher unbemerkt erlebt haben: „auf der alten Schule gab es eigentlich niemanden so wirklich, der einem geholfen hat. Wenn man da was nicht verstanden hatte, dann war man irgendwie ganz schön arm dran, so nach dem Prinzip, wenn du es jetzt noch nicht verstanden hast, dann bist du selber schuld“ (Kasimir). Das Schulklima, eine persönlichere Unterstützung durch die Lehrenden, „dass mehrfaches Nachfragen erlaubt ist“, ohne Abwertungen zu erfahren, und dass auf ihre Fragen insbesondere eingegangen wird, wird als positiv für den eigenen Lernprozess und für das kollegiale Miteinander in den Lerngruppen hervorgehoben. „Sie sind zwar immer noch Lehrer, aber sie sind ein bisschen menschlicher“ (Anna). Hierbei wird auch das Duzen wie von den meisten anderen KollegiatInnen der anderen Typen als Ausdruck einer entspannten Lehrer- Schüler-Beziehung und als positiver Schulklimafaktor hervorgehoben. Dieses „freiere Lernen“ verschafft ihnen mehr Lust auf Schule,wirkt auf ihre generelle Lernhaltung motivierend und fördert ihr Engagement und ihren Lerneinsatz. Förderung ist für sie die direkte Unterstützung der Lehrperson bei Leistungsschwächen und, dass Lehrende sie auf Leistungsdefizite aufmerksam machen. „Auf jeden Fall kam der Lehrer zu mir und hat dann noch gesagt, ich erklär dir das, und wenn du mal irgendwie Probleme hast, dann setze ich mich auch mit dir hin“ (Kasimir). Leistungsdefizite werden erklärt entweder durch eine schlechte Lehrer- SchülerBeziehung, so dass das Interesse am Unterricht gestört ist (Tom) und wenig Unterstützung von der Lehrperson im Lernprozeß erfahren wird oder durch eigene Faulheit, d.h. eine unzureichenden Arbeitshaltung und Unterrichtsvorbereitung (Anna. Tom, Kasimir, HMM)) und mangelndes Interesse „wenn ich ein Fach besonders gerne mag, dann tue ich dafür auch viel und lerne viel. Und wenn jetzt so ein Fach wie Mathe, dann tue ich dafür kaum was, weil es mich einfach überhaupt nicht interessiert. Ah, das ist ja auch gerade falsch. Dafür sollte ich gerade mehr lernen.... es fällt mir schwer, für was zu lernen, was ich überhaupt... wo ich nicht verstehe, wozu ich das brauche“ (Tom). Eigentlich sollte Tom wissen, dass Mathematik und naturwissenschaftliche Grundlagen wichtige Voraussetzungen für ein Medizinstudium sind. Hier wird noch einmal deutlich, dass berufliche oder studienspezifische Verwertungszusammenhänge bei dem zu bearbeitenden Unterrichtsstoff für diesen KollegiatInnentypus sekundär sind und auch keinen Lernanreiz bilden. Handlungsausrichtung im Lernprozess und benötigte Förderung und Beratung Auffallend ist, dass diese KollegiatInnen so gut wie keine der offiziellen Beratungsinstanzen in ihrer Schullaufbahn in Anspruch genommen haben. Deren Existenz bewerten sie zwar durchweg positiv, insbesondere für andere KollegiatInnen. Für sie sind einzelne Lehrende, gerade in den Fachgebieten, wo Lernschwierigkeiten bestehen, die wichtigsten Ansprechpartner für Förderung und Beratung. Ziel ist hierbei insbesondere, selbstständig zu werden im Umgang mit Lernaufgaben und sich etwas zuzutrauen. Sie fühlen sich von ihren Eltern unterstützt, obwohl sie insbesondere in dem Interview kurz vor Ausbildungsende beschreiben, dass sie bei Schulproblemen Unterstützung bei MitkollegiatInnen und Freunden suchen und nicht bei ihren Eltern. Schulfreunde und –freundinnen sind auch wichtig zum Leistungsvergleich und als Ansporn für die eigene Leistungssteigerung. Von daher sind gruppenbezogene Arbeitsformen in ihrem Unterrichtsalltag wichtig. Die Peer- Gruppe und soziale

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Zugehörigkeit sind in ihrem Schulalltag wesentlich für die eigene Lernzufriedenheit, auch wenn sie sich in ihren Lernaufgaben durch Freunde und Bekannte abgelenkt fühlen und Arbeitsfreiräume eher zum sozialen Austausch als für individuelle Arbeitsaufgaben benutzen. 9.1.5 Entwicklungsperspektiven im Ausbildungsverlauf Einzelfalldarstellung: Julia Für Julia, die diverse Schulabbrüche aufweist, war ein verändertes soziales Umfeld und damit auch eine bewußtere Auswahl des Kontaktfeldes im Schulalltag ein wesentlicher Unterstützungsfaktor hin zu einem erfolgreichen Schulabschluß „und deshalb wollte ich generell einen Strich ziehen und noch mal neu anfangen... und hab dann auch hier mir neue Freunde gesucht. Ja, ich wusste ja, was ich wollte und wie ich dahin komme. Ich habe es halt noch nie gemacht..... J,a meine ganze Lebenshaltung ist irgendwie positiver... wieder freier, eine ordentliche Wohnung haben und all so Sachen, was mir früher, was einfach nicht wichtig war. Und wenn ich das habe, dann fühle ich mich damit viel ruhiger und kann damit besser umgehen. Ich bin vernünftiger geworden und finde das auch gut“ (Julia). Für sie ist das Ziel „etwas Vernünftiges zu machen, .....etwas, etwas richtig zu machen, dranzubleiben und sich dahinter zu klemmen ...... und durchzuziehen, ich wusste, was ich wollte und wie ich dahinkomme, ich habe es halt noch nie gemacht“ wichtig geworden, weil sie nur dann ihr Motiv „etwas Sinnvolles zu tun,... die Welt verbessern“, d.h. einen Beruf auszuüben, der auf gesellschaftliches Engagement und soziale Gerechtigkeit ausgerichtet ist, umsetzen kann. Nach dem 5. Semester haben sich im Vergleich zum 1. Semester ihr Berufsperspektiven nicht verändert, sie sind lediglich konkreter geworden. Sie möchte Agrarwissenschaften studieren und dann in die Entwicklungshilfe gehen. Hierfür fühlt sie sich auch durch die inzwischen erworbenen Fremdsprachenkenntnisse gut vorbereitet und sagt „das ist so mein Ding, das ist genau die Richtung, in die ich gehen möchte“. Wichtig in ihrer Schullaufbahn war zu lernen „wie man lernt. Wie man richtig strukturiert, dass man auch weiß, wenn man das nicht verstanden hat.. ...und da dann nachhaken kann. Dass man eigentlich immer beim Lernen mehr guckt, was ich kann und dann, was ich nicht kann, und das rauskriegt, das habe ich hier gelernt “. Dabei hebt sie das hohe Maß an Eigenständigkeit hervor, was für sie wichtig war, aber auch, klare Vorgaben zu bekommen „was man zu lernen hat, wie man es lernen kann“ und dennoch Verhandlungsspielräume zu haben und zu sagen „nee, mache ich jetzt nicht“. Wichtig war für sie, dass sie Leistungstermine auch verschieben konnte und Lehrende sich auf ihre Arbeitsweise eingelassen haben und ihr, soweit es die Unterrichtsplanung zuließ, entgegengekommen sind, ohne ihr Arbeitsverhalten als defizitär abzuwerten. Sie hat sich mit ihren Handlungsmustern des „einfach nicht mehr Hingehen“, was zu diversen Schul- und Ausbildungsabbrüchen geführt hat, auseinandergesetzt, und auch zu Beginn der Ausbildung hatte sie noch Angst, dass es wieder so kommen würde. Kurz vor den Abiturprüfungen im zweiten Interview ist auffällig, dass sie im Umgang mit ihren Versagensängsten eine Handlungsweise entwickelt hat, die ihr ein hohes Sicherheitsgefühl gibt. Schon vor dem Abitur hat sie sich einen Studienort ausgesucht, sich dort mit der Fachschaft in Verbindung gesetzt, Studienbedingungen abgeklärt und auch herausgefunden, wenn sie das Abi nicht schaffen sollte, dort auch mit Fachabitur studieren zu können. Dass sie ein Praktikum braucht, hat sie erfahren, und sie war zum Interviewzeitpunkt, einige Monate vor den Abiturprüfungen, schon auf der Suche nach einem Praktikumsplatz „also habe ich mich da auch schon schlau gemacht, was sind das für Rahmenbedingungen... da kann ich ziemlich entspannt und beruhigt an mein Abi rangehen, was auch sehr gut ist. Das ist bei mir ganz wichtig. Ich muss mir den Druck 128

dann selber machen. Ich muss es halt wollen. Ich warte mit dem Lernen halt bis zur letzten Minute, weil ich halt diesen Druck dann brauche. Aber so generell möchte ich schon selber entscheiden, wie viel ich wofür lernen soll“. Julia ist leistungsbereiter geworden und hat gelernt, wie sich ihre Ziele und Motive über konkrete Lernhandlungen realisieren lassen, so dass sie im zweiten Interview wesentliche Grundzüge des entwicklungsorientierten KollegiatInnentypus aufweist. Sie thematisiert im zweiten Interview ihr Alter „Ja, mein Problem ist ja, dass ich schon etwas älter bin, und wenn ich dann fertig studiert habe, noch älter bin. Das heißt, ich werde es eh nicht so leicht haben von der Wissensfrage werde ich dann vielleicht gute Voraussetzungen haben, aber heutzutage kann man halt nur mit 40 praktisch keinen Job mehr kriegen“. Nachbemerkung: Julia hat ohne Probleme ihr Abitur bekommen, ihr Praktikum absolviert und - nach unserem letzten Informationsstand - in Kassel begonnen, Agrarwissenschaften zu studieren.

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III. Individuelle Förderung in der Oberstufe. Zusammenfassung, Schlussfolgerungen und weiterführende Überlegungen Teil III fasst die wesentlichen (Zwischen-) Ergebnisse des Projekts zusammen und skizziert weiterführende Perspektiven in zwei Richtungen: Zum einen geht es darum, aus den bisherigen Ergebnissen erste Schlussfolgerungen für die Weiterentwicklung der Förder- und Beratungsstruktur der Versuchsschule Oberstufen-Kolleg abzuleiten (Kap. 11). Des Weiteren werden einige Schlussfolgerungen und Überlegungen präsentiert, die sich auf den wissenschaftlichen und schulpraktischen Diskurs um Heterogenität, individuelle Förderung und Beratung in der Schule resp. in der Sekundarstufe II beziehen (Kap. 12). Zuvor werden in Kapitel 10 wichtige Untersuchungsergebnisse überblicksartig zusammengefasst. 10. Zusammenfassung der Ergebnisse Im Zeitraum 2005 bis 2007 wurden insgesamt 30 SchülerInnen des Oberstufen-KollegJahrgangs 2004 in problemzentrierten Interviews zu bildungsbiografischen, schulsozialisatorischen und förderbezogenen Aspekten befragt (siehe Anhang). Die erste Befragung fand gegen Ende des ersten, die zweite Befragung gegen Ende des fünften Ausbildungssemesters statt. Von der Ausgangsstichprobe der 30 SchülerInnen absolvierten 15 die Ausbildung ‚linear’, neun SchülerInnen mussten eine Klasse wiederholen, sechs SchülerInnen brachen die Ausbildung vorzeitig ab. Die Mehrzahl der befragten SchülerInnen (n=16) weist nicht-lineare Schullaufbahnen auf, hat also vor dem Oberstufen-Kolleg Schulabbrüche, Abstufungen, Klassenwiederholungen erlebt (Kap. 5). Zusätzlich zu den SchülerInnen wurden neun LehrerInnen und BeraterInnen der Versuchsschule aus den Bereichen Tutoriat, Laufbahnberatung, Pädagogische Leitung, Basis- und Brückenkurse, Schulsozialarbeit und psycho-soziale Beratung in Experteninterviews befragt. Vorangegangen war dieser Befragung eine Sammlung schulinterner Dokumente, um die gegenwärtige Förder- und Beratungsstruktur analysieren und mit den Aussagen der SchülerInnen in Beziehung setzen zu können (Kap. 8). Zu den Ergebnissen der Schülerinterviews: Das Schulklima war für die befragten KollegiatInnen wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zwischen der bisher erlebten (Regel) Schulpraxis und dem Alltag am Oberstufen-Kolleg (Kap. 7.3). Sie verbinden in den Interviews das Schulklima mit hohem Integrationspotenzial, geringem Maß an Diskriminierung, wenig hierarchischem Lehrenden-Lernenden-Verhältnis, positivem Schüler-Schüler-Verhältnis sowie offener unterrichtlicher und alltagspraktischer Kommunikationskultur. Diese Einschätzung bleibt über die gesamte Ausbildungsdauer stabil, d.h. die KollegiatInnen betrachten es als Spezifikum der Versuchsschule, dass Einzelne oder Gruppen aufgrund individueller Merkmale (äußeres Erscheinungsbild, Leistungen) nicht diskriminiert, bloßgestellt oder ausgegrenzt werden. Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden stellt sich aus KollegiatInnenperspektive als vertrauensvoll, offen, wenig hierarchisch und sehr kollegial dar. Das Schulklima übt als quer zu den weiteren Analysekategorien liegender Faktor einen wesentlichen Einfluss aus auf subjektive Sichtweisen und Erwartungen an Förderung und Beratung und die damit verbundenen Handlungsorientierungen. Dabei wird regelmäßig ein Zusammenhang zwischen dem Schulklima, und eigenem Lernen, eigener Leistung und Leistungsbereitschaft gesehen. Motivation betrachten die Befragten als unverzichtbare Voraussetzung für fachliches Interesse und die eigene Lernbereitschaft. Da sowohl die

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befragten SchülerInnen als auch die interviewten LehrerInnen im Schulklima der Einrichtung eine Besonderheit und Stärke sehen, käme es für die Weiterentwicklung von Schule darauf an, Organisations- und Kommunikationsstrukturen zu schaffen, die ein solches Klima aufrechterhalten und fördern. Ansatzpunkte für Forschung und Entwicklung zum Schulklima könnten sich an folgenden Kriterien orientieren: 1. Lehrende, Lehrverhalten und Unterricht (Geschlecht, Engagement, Selbstwertgefühl, Lehrkompetenzen etc)

Alter,

Erfahrung,

2. Individuelle Merkmale der SchülerInnen und der SchülerInnenschaft (Geschlecht, Alter, Schichtzugehörigkeit, soziale Kompetenz, Selbstwertgefühl, Klassengröße und Klassenzusammensetzung etc.) 3. Schule als Institution (räumliche Lage, Größe, Organisationsstruktur, d.h. Curriculum, Schulleitungs-Stil, kollegiale Weiterbildung, Einbindung der Elternschaft, Öffnung der Schule nach außen etc.) 4. Interaktion und Verhältnis zwischen SchülerInnen und LehrerInnen (Disziplin, Vertrautheit, Diskussionsstil etc.) 5. Interaktion und Verhältnis zwischen SchülerInnen (Kohäsion, Konkurrenz, Disziplin etc.) 6. Interaktion und Verhältnis zwischen Kooperation; vgl. Freitag 1998).

LehrerInnen

(Kollegialität,

Respekt,

Projekte zur Kultivierung des Schulklimas können z.B. an gemeinsamen (Qualitäts-) Vorstellungen und pädagogischen Leitbildern, der Pflege der Schulgemeinschaft, der Arbeit an gemeinsamen Regeln oder der Schaffung von Partizipationsgelegenheiten und verlässlichen Bezugspersonen (z.B. TutorInnen) ansetzen. In den Interviews kommt ferner zum Ausdruck, dass KollegiatInnen am Oberstufen-Kolleg Förderung und Unterstützung des individuellen Lernweges durch ein im Vergleich zur vorher besuchten Schule verbessertes Lehrenden-Lernenden-Verhältnis erwarten. Zu Ausbildungsbeginn hoffen sie auf ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihren LehrerInnen und besonders den TutorInnen, ein zugewandtes und unterstützendes Kommunikationsverhältnis, das sie zum Lernen motiviert und ihre Interessenentwicklung fördert. In denjenigen Aussagen, die einen Vergleich von Erfahrungen an vorherigen Schulen und ersten Erfahrungen am Oberstufen-Kolleg anstellen, wird vor allem die besondere Gesprächsbereitschaft und Ansprechbarkeit der Lehrkräfte am OberstufenKolleg positiv hervorgehoben. An vorherigen Schulen haben die Befragten hingegen häufig erfahren, dass bei schulischen Problemen die entsprechenden AnsprechpartnerInnen und Beratungsangebote fehlten, unzureichend oder kaum auf ihre Probleme abgestimmt waren. Besonders KollegiatInnen mit nicht-linearen Schullaufbahnen und wiederholten Problemen in der Schullaufbahn berichten von fehlender Beratung und nicht gelungener Unterstützung und heben die ‚individualisierte’ Lernprozessbegleitung an der Versuchsschule positiv hervor. Entsprechend sind sie der Meinung, am Oberstufen-Kolleg für jeden Teil- bzw. Problemaspekt ihrer Schullaufbahn die passende Ansprechperson zu finden. Wichtig ist diesen SchülerInnen, dass die Lehrenden auf ihre besondere Situation und die damit verbundenen Fragen und Probleme individuell und verständnisvoll eingehen. Beim Lernen kommt es ihnen darauf an, die Möglichkeit zu haben, sich etwas auch mehrmals erklären zu lassen und zuzugeben, wenn etwas noch nicht verstanden wurde. Wichtig ist diesen SchülerInnen, aufgrund von (Leistungs-) Defiziten oder aufgrund von Äußerlichkeiten nicht beschämt oder bloßgestellt zu werden.

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Die themenzentrierte querschnittliche Auswertung der Interviews (Kap. 7) zeigt zudem, dass die Inanspruchnahme von Informations-, Beratungs- oder Förderangeboten in hohem Maße von persönlichen Motiven, bisherigen (bildungs-) biographischen Erfahrungen, aktuellen Erwägungen und Zukunftsplänen beeinflusst wird. Konkret heißt das: Subjektive Relevanzsetzungen und Inanspruchnahme der Angebote hängen von der aktuellen Lebenssituation, den Motiven, Zielen, dem Selbstkonzept und der bisherigen Schulbiographie ab und werden von den Erwartungen an die jeweilige Förder- bzw. Beratungsform beeinflusst. Bekanntheitsgrad, Wahrnehmung und Nutzungsformen schulischer Förder- und Beratungsangebote sind am Oberstufen-Kolleg äußerst heterogen und variantenreich. Für die Mehrzahl der befragten SchülerInnen stellen die TutorInnen zu Beginn der Ausbildung die wichtigsten Ansprechpartner dar. Sie fungieren als feste Bezugsgrößen im zunächst unübersichtlichen, komplexen und unbekannten Schulalltag. Im Laufe der Ausbildung verschiebt sich diese Relevanzsetzung von den TutorInnen auf die Laufbahnberatung, von der besonders verlässliche Informationen erwartet werden. Punktuelle und anlassbezogene Kontakte bestehen zu Fachlehrenden und Schulsozialarbeit; psycho-soziale Beratung wurde von den Befragten hingegen kaum in Anspruch genommen. Der hohe Grad der Individualisierung des Förder- und Beratungssettings kann als wesentliches Charakteristikum der Versuchsschule betrachtet werden. Diese Einschätzung wird von SchülerInnen und LehrerInnen geteilt. Gleichwohl lassen sich bei den Befragten bestimmte Förder- und Beratungspräferenzen erkennen, die sich z.T. durch die bisherige Schulbiographie erklären lassen. So scheinen sich besonders KollegiatInnen mit problematischen Schulerfahrungen (z.B. Diskriminierung, hohem negativ bewertetem Leistungsdruck) ein von Emotionalität und sozialer Sicherheit geprägtes Verhältnis zu schulischen AnsprechpartnerInnen (v.a. TutorInnen) zu wünschen. Bei KollegiatInnen, deren Schullaufbahn von wiederholten Schwierigkeiten und Diskriminierungserfahrungen (v.a.KollegiatInnen mit Migrationshintergrund) geprägt war, lässt sich zudem feststellen, dass sie den Förder- und Beratungsangeboten tendenziell eine höhere Relevanz zusprechen, ihnen positiv gegenüberstehen und ihre Hemmschwelle gegen deren Inanspruchnahme niedriger ist als bei SchülerInnen mit linearen und unproblematischen Schulbiografien. Emotionen spielten in den Aussagen der KollegiatInnen über das Schul- und Lernklima eine große Rolle. Vor allem am Beispiel des Phänomens der Beschämung wird deutlich, dass die davon ausgelösten Emotionen eher dazu geeignet sind, kognitive Leistungen zu behindern, womit auf den engen Zusammenhang zwischen Kognition und Emotion verwiesen ist. Aufgrund der vielfach diffusen Vorstellungen über die Tätigkeit und Aufgaben der BeraterInnen und angesichts der von den SchülerInnen teilweise als problematisch wahrgenommenen Organisationsabläufe (z.B. Informationsdefizite, unklare Zuständigkeiten) überwiegt die situative, informelle und individualisierte gegenüber einer an Transparenz, Rollenklarheit und Zielführung ausgerichteten Inanspruchnahme. Die Vielschichtigkeit und Komplexität der Ausgangslagen, Bedürfnisse und Erfordernisse der KollegiatInnen wird besonders deutlich, wenn man den Blick auf den ‚Einzelfall’ richtet. Kapitel 6 zeigt anhand positiver und problematischer Lernerfahrungen der SchülerInnen, welchen (möglichen) Einfluss Förderung und Beratung auf bestimmte Schlüsselsituationen im Ausbildungsverlauf ausüben. Die Erwartungen der KollegiatInnen führen mitunter zu weit reichenden Anforderungen an die schulischen AnnsprechpartnerInnen. Für die Lehrkräfte resultiert daraus ein hoher Zeitaufwand für Beratung, Förderung und v.a. Einzelfallbetreuung (vgl. Boller/ Müller/ Rosowski/ Schneider 2007; Koch-Priewe 2000). Dass ein Amt wie das Tutoriat vielfältige Rollenkonflikte produzieren und bei den LehrerInnen zu unauflösbaren Widersprüchen führen kann liegt auf der Hand (Kap. 8). Rollenkonflikte, hoher Zeitaufwand und die 132

Notwendigkeit professioneller Reflexion (z.B. durch Fortbildung) sind der Preis, für den ein individualisiertes Förder- und Beratungssystem zu haben ist. Mit Blick auf die vorliegenden Daten der SchülerInnen- und ExpertInneninterviews kann gefolgert werden, dass am Oberstufen-Kolleg schulorganisatorische Schwachstellen, strukturelle Defizite und Grauzonen gewissermaßen durch schulspezifische Kommunikations- und Interaktionsformen kompensiert werden. Dies führt mitunter dazu, dass aus Sicht der KollegiatInnen praktisch jede Lehrperson für jedes Problem zuständig ist bzw. ansprechbar sein kann. Hauptsache bei diesem hochgradig individualisierten, informellen System ist für sie, dass ‚die Chemie stimmt’. Angesichts der heterogenen Schülerschaft, die das Oberstufen-Kolleg mit dem Aufnahmeverfahren gewinnt, gilt es, die Konsequenzen dieses Förder- und Beratungssettings für das Handeln der Lehrkräfte in den Blick zu nehmen und hieraus Empfehlungen für die Organisations-, Unterrichts- und Personalentwicklung abzuleiten. Wie die Konstruktion der Handlungstypen zeigt, wirkt das Schulklima sehr unterschiedlich auf die KollegiatInnenschaft. KollegiatInnen zeigen in Abhängigkeit von ihren Motiven und Zielen einen unterschiedlichen Bedarf an Förderung und Beratung und auch ihre Erwartungen an den Unterricht sind heterogen. Während der alternative und der entwicklungsorientierte Typus im Oberstufen-Kolleg eine andere Schule, ein ‚menschlicheres Schulsystem’ erwarten, werden unterschiedliche Lernerwartungen schon bei der Bewertung der konkreten Lernhandlungen deutlich. Der alternative Typus erwartet eine weniger an Vorgaben orientierte Schulorganisation und ein menschlicheres Schulsystem mit einem „freieren Lernen“, das heißt bei diesem Typus insbesondere selbstverantwortlichem Lernen, ohne zuviel Druck. Wie beim schulorientierten pragmatischen Anforderungstyp besteht auch beim alternativen Typus die Vorstellung, dass die Versuchsschule ‚leichter’ zu bewältigen sei als andere Schulen. Im Gegensatz hierzu erwartet der entwicklungsorientierte Typus eine an reformpädagogischen Ansätzen orientierte Didaktik, die nicht das Lehrerhandeln, sondern die Lerngruppe und inhaltliche Herausforderungen in den Vordergrund stellt. Im Unterschied dazu hofft der erfolgsorientierte Leistungstypus eine auf sie selbst und ihre Talente bezogene Förderungsdidaktik, die den SchülerInnen genau das gibt, was sie zu ihrer Entfaltung brauchen. Der schulorientierte pragmatische Anforderungstypus erwartet keine alternativen Unterrichtsexperimente, sondern einfach ein besseres SchülerInnenLehrerInnen-Verhältnis und einen guten Kontakt zu MitkollegiatInnen. Diese unterschiedliche Ausgangslage erfordert von den Lehrenden eine hohe Differenzierungskomptenz im Umgang mit den Fähigkeiten, den sozialen und kognitiven Kompetenzen einzelner SchülerInnen und eine ebensolche Unterrichtsgestaltung. Die Erwartungen der KollegiatInnen an das Oberstufen-Kolleg als Versuchsschule und ein menschlicheres Schulsystem auf die konkreten Gegebenheiten dieser Versuchsschule und ihre Handlungsspielräume zu beziehen, ist hierbei eine wesentliche Aufgabe der Organisation. Nicht nur Leistungsdefizite und nicht wahrgenommene Leistungsschwächen führen zu Schulabbrüchen, sondern auch zunehmende schulorganisationsbezogene Reglementierungen. Enge Leistungs- und Lernvorgaben führen dann zu Enttäuschungen und zu Schulabbrüchen, wenn die erlebte Beziehungsebene zu MitkollegiatInnen und Lehrenden im Unterricht keinen partnerschaftlichen sozialintegrativen Lehr- und Lehrstil aufweist. Wenn Hierarchien, Abwertungen, geringe Verhaltensund Verhandlungsspielräume im Kontakt mit Lehrenden dominieren anstatt Akzeptanz und Toleranz für individuelle Arbeitsweisen, dann hat das Oberstufen-Kolleg seinen Versuchsspielraum nicht genutzt. Die Versuchsschule benötigt dementsprechend Lehrkräfte und Handlungsspielräume zur Förderung junger Menschen, deren

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Schulerfahrungen von persönlichen Abwertungen, Diskriminierungen, einem geringen Maß an Unterstützung und vielfach verschlungenen Bildungsbiografien geprägt sind. Zu den Ergebnissen der ExpertInneninterviews: Die Interviews lassen auf hohen persönlichen und zeitlichen Einsatz und eine hohe Expertise bei einer tendenziell stark individualisierten und mitunter schwach vernetzten Ausgestaltung der verschiedenen Funktionsämter schließen. Das Förder- und Beratungskonzept der Versuchsschule legt eher die Analogie lose gekoppelter Bausteine als eines vernetzten und systematisch lernenden Systems nahe. Der eher geringe Grad an systematischer Vernetzung und kontinuierlichem Austausch und die aus den Funktionsämtern gelegentlich resultierenden Rollenkonflikte führen zu einem als hoch erachteten Fortbildungs-, Reflexions- und Regulierungsbedarf. Die von SchülerInnenseite wahrgenommene relative Unübersichtlichkeit und z.T. Unverbindlichkeit des Förder- und Beratungskonzepts wird von den Aussagen der ExpertInnen tendenziell bestätigt. Vor diesem Hintergrund wäre zu überlegen, auf welche Weise die Offenheit und Integrationskraft des Systems beibehalten und den SchülerInnen gleichzeitig Strukturen und Funktionen klarer kommuniziert werden können. 11. Schlussfolgerungen für die Entwicklung der Förder- und Beratungsstruktur des Oberstufen-Kollegs Die Ableitung von Empfehlungen und Schlussfolgerungen zum Schulentwicklungsprozess des Oberstufen-Kollegs steht noch am Anfang. Es lassen sich jedoch einige unseres Erachtens wichtige Aussagen zur generellen Struktur der Förderung und Beratung treffen, die mit den zuständigen Personen und schulischen Gremien zu diskutieren sind. Aus der Perspektive der Projektgruppe setzen gelingende Förderung und Beratung eine enge und netzwerkartige Zusammenarbeit der beteiligten Akteure voraus, bei der die einzelnen KollegiatInnen mit ihren Handlungs- und Persönlichkeitsdispositionen (z.B. Bildungsbiographie, Leistungen, Problemmuster, sozialer Hintergrund usw.) in den Blick genommen und innerhalb klarer schulischer Strukturen in ihrem Bildungsgang begleitet werden. Hierzu bedarf es jedoch eines Konsens hinsichtlich übergeordneter pädagogischer Auffassungen und Leitziele. Die Ergebnisse aus Experteninterviews und Dokumentenanalyse (Kap. 8) deuten darauf hin, dass die Entwicklung verbindlicher und transparenter Regeln und Prozessschritte für Förderung und Beratung am Oberstufen-Kolleg optimierungsfähig sind. Diese Einschätzung wird durch die befragten KollegiatInnen und ihre Wahrnehmung der Förderund Beratungsangebote gestützt. Individuelle Förderung und Beratung sollten als Aufgabe von Schulentwicklung begriffen und in eine umfassende Strategie der Organisations-, Unterrichts- und Personalentwicklung eingebettet werden. Mit Blick auf die Organisationsebene von Schule bleibt festzuhalten, dass individuelle Förderung keine Aufgabe ist, die an einzelne schulische Akteure oder ExpertInnen delegiert werden kann. Sie erfordert vielmehr die Einbeziehung der Potenziale der gesamten Organisation Schule und stellt deshalb eine übergreifende Institutionsaufgabe für alle LehrerInnen und SchülerInnen als KoproduzentInnen des Lernens dar. Hierzu müssten Lehrende professionelle Beratungskompetenz erwerben, die sie in die Lage versetzt, die diffizile Kommunikationssituation dem Anspruch der Versuchsschule gemäß zu nutzen (Fortbildung, Personalentwicklung). Wie die empirischen Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, setzt dieses umfassende Verständnis von Beratung und Förderung auch eine Unterrichtsdidaktik

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voraus, die darauf ausgerichtet ist, dass bei Lernenden ein intellektuell und emotional aktivierter Zustand hervorgerufen wird, Lernende tatsächlich „anwesend“ sind (vgl. Rumpf 1998), sie Interesse entwickeln können und motiviert sind, Fragen und Zweifeln nachzugehen, sie aufzuklären, sich in das Wissen hinein zu begeben. Diese Art der Didaktik hat es dann „mit Lernkultur zu tun, mit der Aufmerksamkeit für das, was unsicher und fraglich ist, mit dem Wurzelbereich also jeder Wissenschaft. Es geht nicht um Vermittlungskniffe, sondern um eine Art, mit der Welt des Forschens und Wissens umzugehen“ (ebd., S. 26). LehrerInnen als LernberaterInnen und Lernförderer müssen demzufolge keine Beratungskniffe lernen, sondern benötigen umfassende Kommunikationskompetenzen, um in der Lage zu sein, ein Lern- und Unterrichtsklima herzustellen, in dem Lernende bewusst an ihren eigenen Erfahrungen anknüpfen können, damit ihr individueller Lernprozess befördert wird. Der Begriff Erfahrung meint hier nicht nur die durch die Sinneswahrnehmung produzierten psycho-physiologischen inneren Bilder oder Zustandsbeschreibungen, sondern auch die mentalen Vorgänge des Denkens über das Erlebte und Erfahrene, insbesondere die Vorstellungen über UrsacheWirkungszusammenhänge, Assoziationen und Interpretationen von Gefühlen und Gedanken (vgl. Fatzer 1998). Das Anknüpfen an Erfahrungen soll die Voraussetzung für den Lernprozess bieten, der Lernprozess selbst aber soll durch strukturierte Anleitung zur Begriffsbildung und damit zur Abstraktion von den eigenen Erfahrungen führen, und er soll eine systematische Reflexion der Erfahrungen ermöglichen. Lernen wird dieser konstruktivistischen Lerntheorie entsprechend als aktiver und konstruktiver Prozess betrachtet (vgl. Mandl/ Bruckmoser/ Konschak 1999), der situations- und kontextabhängig ist und darauf basiert, dass die zwischenmenschliche Kommunikation das Verstehen von Welt in begrifflich abstrakter Form erst durch den sozialen Erfahrungsgewinn des Individuums und seine kognitive Verarbeitung ermöglicht (vgl. Reinmann-Rothmeier/ Mandl, 2001) Wie auch internationale Studien aus dem Hochschul- und Schulbereich zeigen (vgl. Schmidt 1983; Boud 1987; Gomez/ Probst 1997), sind die besten Leistungsergebnisse zu erzielen, wenn „aktiv-konstruktive, situative, selbstgesteuerte und soziale Prozesse des Lernens angeregt und gefördert werden, ohne dabei auf instruktionale Unterrichtsanteile wie Anleiten, Darbieten und Erklären zu verzichten“ (Krapp/ Weidenmann 2001, S. 645). Die unterrichtliche Arbeit sollte dabei insbesondere die Diskrepanz zwischen vorhandener Erfahrung und erfolgreicher Realitätsdeutung und fehlenden Deutungsmustern für neue Erfahrungen aufgreifen, die dem lernenden Subjekt einen Anreiz bieten, neue Wissensstrukturen zu entwickeln um handlungsfähig zu werden und diese Diskrepanz zu bewältigen. Für die Umsetzung eines positiven Schulklimas sind auch Hinweise aus Einsichten anderer als pädagogischer Quellen zu Rate zu ziehen, die sich zunächst nicht unmittelbar auf Erziehung und Ausbildung beziehen: So sind für gelingende Kommunikation Voraussetzungen zu analysieren, die über den Bereich von Gruppendynamik hinaus in das Gebiet individueller Verhaltensmerkmale hinein reichen und damit grundlegende Persönlichkeits- bis hin zu Menschenrechts-Aspekten berühren können. In jedes Verhandeln sozialer Kompetenzen ist unweigerlich eine Folie eingezogen, die ein bestimmtes Menschenbild zur Basis hat. Martha Nussbaum, Philosophin und Professorin für Rechtwissenschaft und Ethik, definiert beispielsweise Emotionen als Ergebnisse bereits gefällter Urteile. Demzufolge wäre es bei der Förderung der wichtigen Kompetenz Urteilsbildung in einer Schule nicht sinnvoll, sie auf ihre kognitive Basis einzuschränken und den Anteil zu vernachlässigen, den Emotionen an der Urteilsbildung haben. Demzufolge wäre, wenn Schulen als wichtige 135

Kompetenz Urteilsbildung fördern und differenzieren, dies bei deren Einschränkung auf ihre kognitive Basis nicht sinnvoll, weil es den Anteil vernachlässigt, den Emotionen an der Urteilsbildung haben. Gezielte Fortbildung für Lehrende im Umgang mit Emotionen gibt es bereits; sie institutionell zu etablieren, wäre eine wichtiger Teil zur Generierung eines förderlichen Schulklimas. Dass Emotionen die Wahrnehmung fördern und die Gedächtnisleistung beeinflussen, ist längst bekannt, wird aber allenfalls individuell genutzt. Angst und Anspannung, die die Entfaltung der Persönlichkeit ebenso wie die Lernleistung hemmen, können durch ein positives Klima gelöst werden. Wenn z.B. Lernende die eigene Körperwahrnehmung schärfen und entsprechend früh bemerken und ausdrücken können, welche Bedingungen sie in einer Lernsituation brauchen (einige unserer Befragten waren dazu schon gut in der Lage), unterstützt das ebenso die Arbeitszufriedenheit von Lehrenden, die in der Lehrsituation vor der doppelten Aufgabe stehen, Inhalte und Gruppendynamik zugleich im Blick zu haben. Das Verlangen nach Pausen im richtigen Moment ist ein einfaches Beispiel für eine funktionierende Tradition am Oberstufen-Kolleg. Für das Projekt „Heterogenität in der gymnasialen Oberstufe. Individuelle Förderung auf dem Weg zur Hochschulreife“ ergibt sich aufgrund des starken Versuchsschul-Bezugs der Untersuchungsergebnisse die Notwendigkeit einer Öffnung in Richtung Regelschule. Deshalb ist geplant, im Forschungs- und Entwicklungsplan 2008-2010 auch Regelschulen in die Untersuchung einzubeziehen, um so einen Vergleichshorizont zur vertiefenden Analyse der eigenen Daten zu schaffen. Konkret sollen Interviews mit KlassenwiederholerInnen an zwei Bielefelder Oberstufen geführt und hinsichtlich der Begleitumstände von Klassenwiederholungen und des Einflusses von Förderung und Beratung analysiert werden. Dadurch eröffnet sich die Möglichkeit, die Wahrnehmungen und Deutungen der SchülerInnen zu untersuchen und unterschiedliche schulische Förderund Beratungssysteme in ihrer Wirkungsweise zu vergleichen. 12. Schlussfolgerungen für den schulpraktischen Diskurs zu Beratung und individueller Förderung und Ausblick Aus den oben ausführlich referierten (Zwischen-) Ergebnissen der Studie lassen sich einige erste Empfehlungen an andere Oberstufen formulieren. Ein durchgängiges Kriterium für die Qualität von Beratung und Förderung in den Interviews der KollegiatInnen ist, ob sie sich als Individuum wahrgenommen und anerkannt fühlen. Dabei scheint sowohl die Vielfalt der möglichen ‚Adressen’ für Beratung und Förderung (Tutoriat, Laufbahnberatung, Sozialarbeit, psychosoziale Beratung und pädagogische Leitung) als auch die personelle Vielfalt des Kollegiums im Vergleich mit Oberstufen des Regelschulsystems eine Besonderheit zu sein. KollegiatInnen können sich bei persönlichen Problemen sowohl an die/den TutorIn, die/den LaufbahnberaterIn, die pädagogische Leitung, die Sozialarbeiterin oder die Schulpsychologin wenden und machen davon auch Gebrauch. Neben spezifischen Kernaufgaben gibt es breite Überschneidungen in den Tätigkeiten der BeraterInnen. Dies ermöglicht den KollegiatInnen bei Bedarf jeweils aktuell eine für sie ‚stimmige’ Person auszuwählen und senkt so die Schwelle für die Inanspruchnahme von Unterstützung. In der ersten Phase der Ausbildung sind die TutorInnen für die SchülerInnen am wichtigsten. TutorInnen sind für 12 bis 15 KollegiatInnen zuständig, kennen sie einzeln mit Namen und sind die persönlichste Adresse insofern, als sie von den KollegiatInnen ausgewählt werden – im Unterschied zu allen anderen Adressaten. Dieser aktive Schritt auf eine Lehrperson zu

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erfordert etwas Mut und ist nach dem bewussten Ja-Sagen der Lehrperson der Beginn einer spezifischen Beziehung zwischen TutorIn und TutandIn. Im Regelschulsystem gibt es BeratungslehrerInnen, StufenleiterInnen, und evtl. SchulpsychologInnen und SozialarbeiterInnen, aber, soweit wir wissen, kein Tutoriat. Angesichts der Orientierungs- und Lotsenfunktion von TutorInnen ist unsere erste schulpraktische Schlussfolgerung, dass sich ein Tutorensystem auf die pädagogische Arbeit in der Oberstufe positiv auswirken kann – besonders, wenn es sich um SchülerInnen mit nicht-linearen und/oder problematischen Schullaufbahnen handelt. Es müssen jedoch die ‚Kosten’ eines solchen Systems in Betracht gezogen werden: TutorInnen benötigen für ihre Beratungs- und Unterstützungsleistungen entsprechende Rahmenbedingungen, d.h. v.a. einen klaren Auftrag, eine Aufgabenbeschreibung, kontinuierliche Reflexion sowie Fortbildung in den Bereichen Kommunikation, Beratung und Konfliktlösung. Eine weitere schulpraktische Schlussfolgerung ist die positive Wirkung der Brückenkurse (Förderkurse) in der Hinsicht, dass Unterschiede in der Leistung und im Verständnis des Faches ge- und beachtet werden als Ausgangsbasis für Lernfortschritte. In den Brückenkursen fühlen sich die KollegiatInnen in ihrer Leistungsheterogenität wahrgenommen und individuell gefördert und können als Person ihre z.T. fragmentarischen Kenntnisse zeigen, ohne beschämt zu werden. Da auch im Regelschulsystem Deputat für individuelle Förderung angesetzt wird, ist dies ein von unserer Versuchsschule übertragbares Element für den produktiven Umgang mit Heterogenität und individuelle Förderung in der Kategorie Leistung. Ein drittes übertragbares Element scheint das Angebot von Unterrichtsinhalten und Kommunikationsmethoden zu sein, in denen sich die KollegiatInnen als verschieden zu den anderen wahrnehmen und diese Unterschiede produktiv entfalten können (vgl. Portrait Asrin, Kap. 6.2.4): Die Bedeutsamkeit und Wirksamkeit des Subjekts bzw. des Individuums werden sichtbar. Dies stellt besondere Herausforderungen an Ideenvielfalt, Individualität und Persönlichkeit der Lehrenden. Sie müssen die SchülerInnen als Individuen wahrnehmen und akzeptieren und ihnen Rückmeldung geben, ohne auf Sanktionierung und Beschämung zurückzugreifen. Eine neuere Studie (Auer-Rizzi/ Blazejewski/ Dorow/ Reber 2007) aus dem Unternehmensbereich konstatiert einen Rückgang von Konkurrenzverhältnissen zugunsten kooperativer Verhältnisse, für die es interkulturelle Kompetenz braucht. Diese müsse auf gegenseitigem Respekt aufbauen und der Bereitschaft, gemeinsame Ziele auf der Basis geteilter Werte zu finden: „Establishing trust based on shared values that cross borders“. Auf dieser Folie lassen sich auch Aussagen der von uns Befragten darüber abbilden, was sie als geglückte Voraussetzung für optimale Lernsituationen und positives Schulklima erlebt haben. Die von der Studie als tragendes Element bezeichnete Haltung des „commitment“ – übersetzt als Selbstverpflichtung durch Willenseinsatz – findet sich bei unseren SchülerInnen in deren Schilderung von einer veränderten (Lern-) Haltung als innerer Entschluss, den eigenen Lernprozess selbst in die Hand zu nehmen, oft bezeichnet als „kick“, den sie sich geben müssen (und den sich Manche angesichts zäher Gewohnheiten noch von Anderen wünschen – seien es Fachlehrende, Tutoren oder Freunde). Nach Auer-Rizzi u.a. (2007) ist Voraussetzung einer gemeinsamen Zielsetzung, möglichst große Handlungsspielräume zu gewähren, in denen Vertrauen als verlässliche Basis die Kommunikation trägt, so dass die an der Zielfindung Beteiligten durch konsensorientiertes Verhalten zu einem Ergebnis kommen können.

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Die für diesen Prozess notwendigen Bedingungen Offenheit der Kommunikation und die Bereitschaft zu Selbstrelativierung seien dadurch zu gewährleisten, dass ein zunächst fest gefügter Komplex „mitgebrachter“ Wertvorstellungen allererst bewusst gemacht werden muss und sich dann in der Kommunikation lockern könne, wobei es zunächst weniger auf konkrete Ausformulierung inhaltlicher Werte ankommt als auf die Kompetenz, diese zu verhandeln und gemeinsam zu entwickeln. Da die so dargestellten Kompetenzen sich in erster Linie als soziale Kompetenzen erweisen, sind die von unseren Befragten geschilderten Entwicklungsfortschritte damit gut vergleichbar – so etwa Asrins Erfahrung, dass erst ihr Versuch, sich auf die Perspektive des Gegenübers einzulassen, zu einer Veränderung auf beiden Seiten und damit wirklicher Kommunikation führen konnte, oder die Einsicht mehrerer Anderer im Zusammenhang mit erlebtem „Informations-Chaos“, dass unübersichtliche, in Veränderung begriffene Institutionsstrukturen nicht durch Delegation und Rückgriff auf Hierarchie zu meistern sind. Zum Thema Ausbildungsinstitutionen macht der Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen darauf aufmerksam, dass im Widerspruch zur hierzulande weitgehend geteilten Überzeugung, für ein differenziertes Ausbildungssystem sei ökonomischer Wohlstand Voraussetzung das Beispiel asiatischer Gesellschaften zeigt, dass dieser Prozess auch umgekehrt verlaufen kann. Dort gab es schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine umfassende Alphabetisierung, lange bevor eine dem Wirtschaftswachstum im Westen vergleichbare ökonomische Entwicklung einsetzte. Sen hält dieses Faktum solchen Argumentationen entgegen, die als selbstverständlich voraussetzen, Bildung müsse man sich leisten können und betont, dass im Gegenteil Wirtschaftswachstum durch Eröffnung sozialer Möglichkeiten in Gang gebracht und aufrechterhalten wird. Was bei Sen in diesem Zusammenhang als „capabilities“ erscheint (und wohl am ehesten mit „Kompetenzen“ übersetzbar wäre), bezieht sich dementsprechend auf diejenigen Bereiche, die als Voraussetzung für möglichst umfassenden Zugang zu Bildung und Entwicklung angesehen werden. Die Philosophin Martha Nussbaum erstellte eine Liste von zehn „capabilites“, deren Bedeutung kulturunabhängig greifen soll. Beginnend mit körperlicher Gesundheit und Integrität umfasst sie als weitere Voraussetzungen für Entfaltungs-Chancen den Umgang mit Sinnes-, Vorstellungs- und gedanklicher Kapazität, ungestörte emotionale Entwicklung, die Möglichkeit des Aufnehmens sozialer Beziehungen, Spiel sowie die Möglichkeit zur Mitwirkung bei Entscheidungen, die das eigene Lebensumfeld betreffen (siehe Anhang). Interessant ist an ihrem Ansatz für unseren Zusammenhang, dass sie Emotionen einbezieht, und zwar als Teil und Voraussetzung jeder evaluativen Kritik. Am Beispiel des Phänomens der Beschämung wird deutlich, dass die bei den Betroffenen davon ausgelösten Emotionen eher dazu führen, ihre kognitive Leistung zu behindern. In dieser Einsicht ist jedoch immer noch eine Trennung von Emotion und Kognition impliziert, die bei Martha Nussbaum aufgehoben wird. Emotionen haben „imaginative capacities“, die für Interaktion in sozialen Gruppen unerlässlich sind und dort kultiviert werden. Als Ziel dieser Kultivierung, in dafür vorgesehenen Bildungsinstitutionen ebenso wie außerhalb von Institutionen, setzt Nussbaum die Fähigkeit, „to establish a relationship on a footing of equality and mutuality“, eine Beziehung auf der Grundlage von Gleichwertigkeit und Gegenseitigkeit aufzubauen. Im Vergleich mit den Interview-Aussagen fällt auf, dass genau diese Merkmale einer Kommunikations-Situation von den Befragten als förderlich für ihre Ausbildung empfunden werden und für ein gutes Schulklima stehen. Nussbaum schlägt als Kriterium für die Effizienz von Institutionen vor, zu prüfen, welche Kompetenzen der Persönlichkeit sie befördern. Punkt fünf der Capability-Liste lautet etwa: 138

Die eigene emotionale Entwicklung nicht durch Furcht und Angst behindert erfahren zu müssen. Hier zeigt sich der direkte Zusammenhang zur Funktion von Beschämung und vielen Aussagen unserer Befragten über erlebte Entwicklungssprünge, sobald ihre Angst, „dumme Fragen“ zu stellen und dafür „blöd angemacht“ zu werden, sich verlor.

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Kinder

mit

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Online:

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144

Anhang A.

Arbeits- und Zeitplan für den Forschungs- und Entwicklungsplan 20082010

B.

Publikationen, Kooperationen, Tagungsbeiträge

C.

Interview-Leitfaden für die erste Befragung von KollegiatInnen des Jahrgangs 2004 am Ende des ersten Semesters

D.

Interview-Leitfaden für die zweite Befragung von KollegiatInnen des Jahrgangs 2004

E.

Interview-Leitfaden für die Befragung rückgestufter KollegiatInnen des Jahrgangs 2004

F.

Leitfaden für Interviews mit AbbrecherInnen des Jahrgangs 2004

G.

Leitfaden für Experten-Interviews in den Bereichen Beratung und Förderung im Oberstufen-Kolleg

H.

H. Martha Nussbaum: The Central Human Capabilities

145

A. ..................................................................................................................... Arbeits- und Zeitp Zeitschiene

Aufgaben

02/08

Entwicklung des Erhebungsinstruments, Kontaktaufnahme und Interviews mit den rückgestuften Schüler/innen des Jahrgangs 2004 (n=6) (bis 03.04.2008) Gegenstand des Forschungs- und Entwicklungsplans 2006-08

03/08

Transkription der Interviews, erste Sichtung der Interviews mit den rückgestuften Schüler/innen, Vorbereitung des Abschlussberichts Gegenstand des Forschungs- und Entwicklungsplans 2006-08

04/08-08/08

Interne Ergebnissicherung und Datenauswertung Weiterentwicklung der Typologie), Erstellung des (Forschungsstand, theoretischer Rahmen, Methodik)

(Einzelfallportraits, Abschlussberichts

Gegenstand des Forschungs- und Entwicklungsplans 2006-08 09/08-01/09

Vorbereitung Schulvergleich: Sichtung der Websites relevanter Bielefelder Schulen, Kontaktaufnahme mit einer Vergleichsschule, Stichprobenziehung (Auswahlkriterien: Geschlecht, Migrationsstatus, Bildungshintergrund der Eltern, Schulleistung), Entwicklung des Erhebungsinstruments, Beschreibung der strukturellen Rahmenbedingungen der Vergleichsschule (Einzugsgebiet, Zusammensetzung der Schülerschaft, Förder- und Beratungskonzept)

02-03/09

Befragung von Schüler/innen einer Bielefelder Oberstufe (n=6, Jahrgangsstufe 13), Vorbereitung des Zwischenberichts

04-06/09

Auswertung der Interviews mit den rückgestuften Schüler/innen des OberstufenKollegs und den Schüler/innen der Vergleichsschule, Zwischenbericht an WBR

07-08/09

Datenauswertung: Weiterentwicklung der Handlungstypen, Erstellung von Einzelfallanalysen, Zusammenführung der Ergebnisse der Schüler/innenBefragung

09/09

Planung und Durchführung eines Schulentwicklungstags zum Thema „individuelle Förderung und Beratung am Oberstufen-Kolleg“ (ggf. unter Beteiligung der Vergleichsschule)

10/09-03/10

Datenauswertung: Weiterentwicklung der Handlungstypen, Zusammenführung der Ergebnisse der Schüler/innen-Befragung, Vorbereitung des Abschlussberichts

04-06/10

Berichtlegung: Abschlussbericht, externe Veröffentlichung, Rückmeldung an die Vergleichsschule

146

B.

Publikationen, Kooperationen, Tagungsbeiträge

Publikationen 

Boller, S./Rosowski, E./Stroot, T. (2008): Schulische Heterogenität und individuelle Förderung. Ein kritischer Blick auf die Debatte um Möglichkeiten und Grenzen schulischer Förderung in der Oberstufe. In: Keuffer, J./Kublitz-Kramer, M. (Hrsg.): Was braucht die Oberstufe? Diagnose, Förderung und selbstständiges Lernen. Weinheim u.a. In Druck.



Boller, S./Kobusch, A.-B./Marth, J./Müller, M./Roether, S./Rosowski, E./Schneider, A. (2007): Heterogenität in der gymnasialen Oberstufe: Individuelle Förderung auf dem Weg zur Hochschulreife. Zweiter Zwischenbericht der Forschungsgruppe. Bielefeld.



Boller, S./Müller, M./Rosowski, E./Schneider, A. (2007): Bildungsprozessbegleitung bei heterogenen Lernausgangslagen. Eine Herausforderung an das LehrerInnenhandeln. In: Journal für LehrerInnenbildung 1/2007. S. 46-52.



Boller, S./Rosowski, E. (2007): Heterogene Bildungslaufbahnen als Herausforderung für Beratung und Förderung in der Sekundarstufe II. In: Boller, S./Rosowski, E./Stroot, T. (2007): Heterogenität in Schule und Unterricht. Handlungsansätze zum pädagogischen Umgang mit Vielfalt. Weinheim. S. 90-102.



Boller, S./Rosowski, E./Stroot, T. (2007): Heterogenität in Schule und Unterricht. Handlungsansätze zum pädagogischen Umgang mit Vielfalt. Weinheim.



Boller, S./Marth, J./Müller, M./Rosowski, E./Schneider, A. (2006): Heterogenität in der gymnasialen Oberstufe: Individuelle Förderung auf dem Weg zur Hochschulreife. Zwischenbericht der Forschungsgruppe. In: TriOS 1/2006, S. S. 556. Bielefeld.



Günther-Boemke, G./Schneider, A. (2007): Alltagserfahrungen von Schülerinnen und Schülern und wissenschaftliche Theorien als Ansätze zur Bewältigung emotional bedingter Lernblockaden. Ein Beispiel aus dem Fach Gesundheitswissenschaften. In: Boller, S./Rosowski, E./Stroot, T. (Hrsg.): Heterogenität in Schule und Unterricht. Handlungsansätze zum pädagogischen Umgang mit Vielfalt. Weinheim. S. 158-169.



Marth, J. (2007): Beratung und Förderung am Oberstufen-Kolleg Bielefeld – Eine Dokumentenanalyse. Unveröffentlichtes Manuskript. Bielefeld.

Vorträge, Kooperationen und Netzwerke 

Workshop im Rahmen der Tagung des Nordverbundes Schulbegleitforschung, Bremen, 11. und 12. September 2008.



Planung und Organisation der Vortragsreihe „Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht. Individualisierung im Unterricht – und gleiche Anforderungen für alle?“ (WS 2005/06 bis SS 2006)



Vortrag im Rahmen der Vortragsreihe „Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht. Individualisierung im Unterricht – und gleiche Anforderungen für alle?“, 28.08.06, Oberstufen-Kolleg Bielefeld.



Vortrag im Rahmen des Methodenkolloquiums der AG 4, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Universität Bielefeld.



Austausch mit dem COMENIUS-Projekt TIPP (Teachers In Practice and Process), Bernd Trenner, Studienseminar für Lehrämter an Schulen Bielefeld II.

147



Mitarbeit in der Arbeitsgruppe „Individuelle Förderung“ (Bezirksregierung Detmold)



Seit April 2005 ist das Oberstufen-Kolleg Mitglied des neu gegründeten Netzwerks „Lehren und Lernen in heterogenen Gruppen“ der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

148

C.

Interview-Leitfaden für die erste Befragung von KollegiatInnen des Jahrgangs 2004 am Ende des ersten Semesters

Interview-Leitfaden für die erste Befragung von KollegiatInnen des Jahrgangs 2004 am Ende des ersten Semesters Stand: 19.01.05 Formulierungsvorschlag: „Das OS ist eine Versuchsschule, an der v.a. Unterricht entwickelt und erforscht wird. Wir, das sind zwei Lehrende und drei MitarbeiterInnen des Teams der wissenschaftlichen Leitung, wollen mit einer Untersuchung der Frage nachgehen, in welchen Bereichen und wodurch sich KollegiatInnen in ihrer Ausbildung am OS gefördert und unterstützt fühlen und welche Konsequenzen diese Förderung für den Ausbildungsverlauf hat. Zu diesem Thema möchten wir Dir einige Fragen stellen. Die Interviews werden später anonym ausgewertet und wir werden die von dir gegebenen Informationen selbstverständlich vertraulich behandeln! Beginnen möchte ich mit einigen Fragen zu der Zeit, als Du ans OS gekommen bist.“

I. Bisherige Bildungsbiographie und schulische Sozialisation 1. Erwartungen, Motive und Ziele der Ausbildung am OS 1.1 Wenn du dich zurück erinnerst, warum hast du dich für den Besuch des OS entschieden? 1.2 Gab es Alternativen, d.h. hattest du verschiedene Möglichkeiten, deine Ausbildung fortzusetzen, zur Auswahl? 1.3 Kannst du dich noch erinnern, mit welchen Erwartungen und Zielen du ans OS gekommen bist? 1.4 Wenn du jetzt auf die ersten Monate deiner Ausbildung zurückschaust: Wurden deine Erwartungen bisher erfüllt? 1.5 Wenn du zurück erinnerst, was waren deine ersten Eindrücke, als du im letzten Jahr ans OS kamst?

2. Bildungsbiographie 2.1 Welche Schule(n) hast du vor dem OS besucht (Grundschule, weiterführende Schule(e), berufliche Ausbildungen)? 2.2 Hast Du Klassen wiederholt oder zwischen verschiedenen Schulen oder Schulformen gewechselt, Ausbildungen begonnen bzw. abgebrochen? Falls ja, warum? 2.3 Wie würdest du deine Erfahrungen, die du in diesen Schulen gemacht hast, im nachhinein beschreiben: Vielleicht kannst du dich an für dich wichtige Schlüsselerlebnisse (z.B. besondere Erfolgserlebnisse oder problematische Situationen) erinnern? 2.4 Hast Du in der Vergangenheit Nachhilfestunden oder Förderunterricht bekommen? In welchen Fächern? Hat dir diese Förderung geholfen?

149

3. Gewählte Studienfächer 3.1 Welche Studienfächer hast du im vergangenen Jahr gewählt? Warum hast du diese Fächer gewählt? 3.2 Hast du deine Studienfächer umgewählt? Warum hast du deine Fächer umgewählt? 3.3 Was erwartest du von deinen Studienfächern?

4. Berufliche Perspektiven und Ziele 4.1 Hast du Vorstellungen oder Pläne, was du später - nach deiner Ausbildung am OS beruflich machen möchtest? 4.2 Möchtest du studieren? 4.3 Welche Rolle spielen deine Studienfächer bei deinen Studien- bzw. Berufsplänen?

5. Bildungsorientierung der Eltern, Geschwister, Familie 5.1 Was würden deine Eltern sich wünschen, was du nach dem OS beruflich machst? 5.2 Wie stehen deine Eltern zu deiner Ausbildung am OS? 5.3 Wie wichtig ist es ihnen, dass du die Hochschulreife erwirbst? 5.4 Möchten deine Eltern, dass du studierst? 5.5 Wie ist das mit deinen Geschwistern? 5.6 Unterstützen dich deine Eltern, Geschwister oder jemand anderes in deiner Familie (z.B. finanziell, bei schulischen Aufgaben, emotional)? Sprichst du mit ihnen über schulische Probleme?

6. Derzeitige Lebenssituation 6.1 Wie lebst du zur Zeit? Bitte versuche, deine augenblickliche Lebenssituation zu beschreiben (also z.B. wie/mit wem wohnst du, hast du einen Nebenjob etc.)! 6.2 Hat sich etwas in deinem Leben geändert, seit du deine Ausbildung am OS begonnen hast? 6.3 Wie kommst du mit dieser neuen Lebenssituation zurecht? (z.B. finanziell, mit deiner Wohnsituation, Organisation des Tagesablaufs, Kontakte etc.)

II. Beratung und Förderung 7. Kenntnis und Bewertung von Beratungs- und Fördermöglichkeiten 7.1 An wen wendest du dich, wenn es in der Schule Probleme gibt? Welches sind für dich die wichtigsten AnsprechpartnerInnen (Personen im OS oder auch außerhalb) und warum? 7.2 An wen können sich KollegiatInnen im OS wenden, wenn sie Fragen haben oder eine Beratung haben möchten, Probleme haben? 7.3 Hast Du eines dieser Beratungs- und Informationsangebote/dieser Personen schon einmal in Anspruch genommen? Welche Rolle spielen sie für dich in deiner Ausbildung? 7.4 Fühlst du dich über diese Angebote ausreichend informiert? Woher kennst du z.B. die Schulsozialarbeit? 7.5 Wenn du dich einmal zurück erinnerst: Welche Personen oder AnsprechpartnerÌnnen waren für dich früher – vor dem OS – in der Schule besonders wichtig? Bzw. Was hat dir früher in der Schule – vor dem OS – gefehlt?

150

7.6 Fehlen dir hier am OS - im Vergleich zu deiner vorherigen Schule Beratungsangebote oder Personen, die dich beraten und dich unterstützen? 7.7 Wenn du an Prüfungen (z.B. die Abiturprüfungen) in der Zukunft denkst: Was glaubst du, welche Personen oder AnsprechpartnerInnen für dich in dieser Zeit wichtig sein werden? Kannst du deine Einschätzung begründen? 7.8 Was glaubst du: Was sind wichtige Voraussetzungen, damit du am OS dein Abitur erfolgreich abschließen kannst?

8. Verlauf der Ausbildung am OS 8.1 Wie empfindest du die Leistungsanforderungen am OS (als angemessen, zu hoch, zu niedrig)? Bitte beschreibe genauer: In welchen Bereichen findest du sie angemessen, zu hoch, zu niedrig? 8.2 Gibt es Bereiche, in denen du dich unter- oder überfordert fühlst? Bitte beschreibe das genauer: Welche sind das und worauf führst Du das zurück? 8.3 Welche Erfolgserlebnisse und welche Schwierigkeiten hattest du bisher am OS? 8.4 Gibt es bestimmte Kurse, die dir Schwierigkeiten bereiten? Falls ja, erkläre bitte warum und wie du mit diesen Schwierigkeiten umgehst! Wer hilft dir bei der Lösung von Problemen?

9. Wahrnehmung der Förderung in den Basiskursen Formulierungsvorschlag: „Die Basiskurse sollen grundlegende Fähigkeiten in Deutsch, Englisch, Mathematik und Computer Literacy vermitteln und die KollegiatInnen ‚auf einen gemeinsamen Stand des Wissens’ bringen.“

9.1 Wie schätzt du das ein? Gibt es deiner Meinung nach Bereiche oder Probleme, bei denen dir die Basiskurse besonders helfen? Welche Basiskurse sind das und warum? 9.2 Was bringt dich weiter in deinen Basiskursen? 9.3 Was sollte anders sein/was stört dich in deinen Basiskursen? 9.4 Denkst du, dass du in den Basiskursen Dinge lernst, die für dich in deiner weiteren Ausbildung am OS wichtig sind? Welche Dinge oder Themen sind das? 9.5 Fällt dir eine konkrete Situation ein, in der du von den Basiskursen profitieren, also etwas, das du in Basiskursen gelernt hast, auch anderswo z.B. in einem anderen Kurs anwenden konntest?

10. Wahrnehmung der Förderung in den Brückenkursen Formulierungsvorschlag: „Wie ist das deiner Meinung nach in den Brückenkursen?“

10.1 Besuchst du Brückenkurse? Falls ja, fühlst du dich in diesen Kursen gefördert? 10.2 In welchen Bereichen fühlst du dich gefördert?/Was bringt dich weiter in deinen Brückenkursen? 10.3 Was sollte anders sein/was stört dich in deinen Brückenkursen? 10.4 Denkst du, dass du in den Brückenkursen Dinge lernst, die für dich in deiner weiteren Ausbildung am OS wichtig sind? Welche Dinge oder Themen sind das? 10.5 Fällt dir eine konkrete Situation ein, in der du von den Brückenkursen profitierst, also etwas, das du in Brückenkursen gelernt hast, anderswo z.B. in einem anderen Kurs anwenden konntest?

151

11. Wahrnehmung der Förderung/Beratung durch TutorInnen 11.1 Hast Du eine/n TutorIn gewählt? Wenn du kurz erklären solltest, was die Aufgabe und Funktion einer/s Tutorin/Tutors ist, was würdest du sagen? 11.2 In welchen Situationen und bei welchen Fragen würdest du dich an sie/ihn wenden? 11.3 Was erwartest du persönlich von deinem/r TutorIn?

12. Wahrnehmung der Förderung/Beratung durch LaufbahnberaterInnen 12.1 Warst Du schon einmal bei deiner/m LaufbahnberaterIn? Wenn du kurz erklären solltest, was die Aufgabe und Funktion der Laufbahnberatung ist, was würdest du sagen? 12.2 In welchen Situationen und bei welchen Fragen würdest du dich an sie/ihn wenden? 12.3 Wodurch unterscheiden sich die LaufbahnberaterInnen von den TutorInnen? Formulierungsvorschlag: „Damit sind wir am Ende unseres Gesprächs. Gibt es etwas, das du gerne noch loswerden möchtest oder ist Dir etwas aufgefallen?“ „Ich bedanke mich ganz herzlich bei Dir, dass Du Dir Zeit für das Interview genommen hast! Falls Du noch weitere Fragen haben solltest, wende Dich einfach an uns!“

152

D.

Interview-Leitfaden für die zweite Befragung von KollegiatInnen des Jahrgangs 2004

Interview-Leitfaden für die zweite KollegiatInnen des Jahrgangs 2004

Befragung

von

Erhebung fördernder und hemmender Faktoren im Ausbildungsverlauf am OS; Erhebungs- und Auswertungsfokus: schulische Beratungs- und Förderangebote. Eine verlaufsanalytische Perspektive auf Problemkonstellationen für Schüler/innen in der Oberstufe und deren Bewältigungsbedingungen Einstieg: Du stehst ja jetzt kurz vor dem Abitur. In wenigen Wochen wirst Du das OS verlassen. Ich möchte in diesem Interview mit dir reden über Deine Zeit hier im OS und die Erfahrungen, die Du vor allem mit dem Lernen gemacht hast. Besonders wichtig ist Deine Einschätzung dazu, was für Dich gute Lernbedingungen sind und wie Du das Lernen am OS erlebt hast. 1. Welche Erfahrungen hast Du im OS mit dem Lernen gemacht? 1.1 Was hat Dir beim Lernen geholfen?

Wie hast Du die Anforderungen und Erwartungen, die hier an dich gestellt wurden, erlebt? 1.2 Was waren für dich wichtige Lernerfolge? Wie sind sie zustande gekommen? Was waren Situationen und Bedingungen dafür? Was hast Du in solchen Situationen über Dich selbst gelernt oder erfahren? Was hast Du daraus allgemein mitgenommen? 1.3 Gab es während Deiner Zeit im OS Situationen, die für Dich problematisch oder schwierig waren oder solche, die Du als Misserfolge bezeichnen würdest?

Wie bist Du mit diesen Schwierigkeiten umgegangen? Was bzw. wer hat Dir in schwierigen Situationen geholfen bzw. Dich weiter gebracht? Gab es auch Situationen, in denen Du nicht weitergekommen bist bzw. in denen dir nicht geholfen wurde? Woran lag es, dass es für Dich in diesen Situationen zu wenig Unterstützung gab? Im OS gibt es ja unterschiedliche Förder- und Beratungsangebote, die Du in deiner Zeit hier kennen gelernt und in Anspruch genommen hast. 2. Gab es für Dich im OS bestimmte Beratungs- oder Förderangebote oder auch Personen, die Dir bei den genannten Problemen/ in schwierigen Situationen besonders geholfen haben oder besonders wichtig für Dich waren? Nenne Beispiele, Situationen! 2.1. Wie beurteilst du vor dem Hintergrund Deiner Erfahrungen im OS die Lernbedingungen hier? 2.2 Weshalb hast Du Beratungs- oder Förderangebote des OS nicht genutzt? Als Du vor drei Jahren Deine Ausbildung angefangen hast, hattest Du vermutlich bestimmte Erwartungen, Hoffnungen oder auch Befürchtungen, die Du mit dem Besuch

153

des OS und dem Lernen für das Abitur verbunden hast. Vielleicht erinnerst Du dich. Wir haben darüber im 1. Interview gesprochen. 3. Welche Deiner Erwartungen, Hoffnungen oder Befürchtungen haben sich in den drei Jahren deiner Ausbildung hier bestätigt, welche nicht? In den zurückliegenden drei Jahren, die Du im OS verbracht hast, ist sicherlich viel passiert, was Deine persönliche Entwicklung beeinflusst hat. 4. Wie ist Deine Einschätzung: Hast Du Dich in der Zeit im OS verändert? Kannst Du Beispiele oder Bereiche nennen, in denen das der Fall war? Was hat Dir in Deiner Entwicklung geholfen, bzw. was hat Dich behindert? Kannst Du solche Situationen näher beschreiben? Wie sehen das Freunde oder Deine Familie? Sicherlich hast Du Dir schon Gedanken gemacht, wie es nach dem OS weitergehen soll. 5. Wie würdest Du Deine Zukunftsperspektiven beschreiben? Was möchtest Du beruflich machen?

154

E.

Interview-Leitfaden für die Befragung rückgestufter KollegiatInnen des Jahrgangs 2004

Interview-Leitfaden für die Befragung rückgestufter KollegiatInnen des Jahrgangs 2004 Eine verlaufsanalytische Perspektive auf Problemkonstellationen, fördernde und hemmende Faktoren und deren subjektive Bewältigungsbedingungen Stand: 25.02.08 Einstieg: Du stehst ja jetzt kurz vor dem Abitur. In wenigen Wochen wirst Du das OS verlassen. Ich möchte in diesem Interview mit Dir über Deine Zeit im OS und die Erfahrungen, die Du vor allem mit dem Lernen hier gemacht hast, sprechen. Besonders wichtig ist Deine Meinung dazu, was für Dich gute Lernbedingungen sind und wie Du das Lernen am OS erlebt hast. 1. Lernen am OS 1.4 Was waren für dich wichtige Lernerfolge? Wie sind sie zustande gekommen? Was waren Situationen und Bedingungen dafür? Was hast Du in solchen Situationen über Dich selbst gelernt oder erfahren? Was hast Du daraus für Dich mitgenommen?

1.5 Was hat Dir beim Lernen besonders geholfen? 1.6 Wie beurteilst du vor dem Hintergrund Deiner Erfahrungen am OS die Lernbedingungen hier? 1.7 Wie hast Du die Leistungsanforderungen, die hier an dich gestellt wurden, erlebt? 2. Problematische Erfahrungen im OS 2.1 Gab es während Deiner Zeit im OS Situationen, die für Dich schwierig waren oder solche, die Du als Misserfolge bezeichnen würdest? Wie bist Du mit diesen Schwierigkeiten umgegangen?

2.2 Was bzw. wer hat Dir in schwierigen Situationen geholfen, was hat Dich weiter gebracht? Gab es auch Situationen, in denen Du nicht weitergekommen bist bzw. in denen dir nicht geholfen wurde? Woran lag es, dass es für Dich in diesen Situationen zu wenig Unterstützung gab?

3. Rückstufung

3.1 Welche Gründe haben dazu geführt, dass Du zurückgestuft wurdest? Kannst Du diese Situation beschreiben (z.B. Failkurse, persönliche oder finanzielle Gründe, etc.)? 3.2 Wie hast Du die Rückstufung erlebt? 3.3 Gab es auch etwas Positives daran? Wenn ja, was war das? Hat sich durch die Rückstufung etwas verändert? Was hätte das OS/was hättest Du selbst anders machen können, damit es nicht zur Rückstufung gekommen wäre?

4. Einfluss von Förderung und Beratung 155

Im OS gibt es unterschiedliche Förder- und Beratungsangebote, zum Beispiel die Tutoren, die Schulsozialarbeit oder die Laufbahnberatung. 4.1 Welche Erfahrungen hast Du mit den Förder- und Beratungsangeboten am OS gemacht? 4.2 Welche Angebote hast Du genutzt, welche nicht und weshalb? 4.3 Gab es für Dich im OS bestimmte Beratungs- oder Förderangebote oder auch Personen, die Dir bei in schwierigen Situationen besonders geholfen haben oder besonders wichtig für Dich waren? Nenne Beispiele, Situationen! Hast Du Dich in Deiner Zeit am OS ausreichend beraten, unterstützt und gefördert gefühlt? Welche Beratung, Unterstützung und Förderung hättest Du Dir gewünscht, hättest Du gebraucht?

5. Erwartungen bei Ausbildungsbeginn Als Du vor vier Jahren Deine Ausbildung angefangen hast, hattest Du vermutlich bestimmte Erwartungen, Hoffnungen oder auch Befürchtungen, die Du mit dem Besuch des OS und dem Lernen für das Abitur verbunden hast. Vielleicht erinnerst Du dich. Wir haben darüber im 1. Interview gesprochen. 5.1 Welche Deiner Erwartungen, Hoffnungen oder Befürchtungen haben sich während Deiner Ausbildung am OS bestätigt, welche nicht? 6. Persönliche Entwicklung In den zurückliegenden Jahren, die Du im OS verbracht hast, ist sicherlich viel passiert, was Deine persönliche Entwicklung beeinflusst hat. 6.1 Wie ist Deine Einschätzung: Hast Du Dich während der Zeit am OS verändert? Kannst Du Beispiele oder Bereiche nennen, in denen das der Fall war? 6.2 Was hat Dir in Deiner Entwicklung geholfen, bzw. was hat Dich behindert? Kannst Du solche Situationen näher beschreiben? 7. Zukunftsperspektiven Vielleicht hast Du Dir schon Gedanken gemacht, wie es nach dem OS weitergehen soll. 7.1 Was sind Deine beruflichen und privaten Ziele? Wie soll Dein Leben aussehen? 8. Sonstige Anmerkungen Damit sind wir am Ende unseres Gesprächs. Gibt es etwas, das du gerne noch loswerden möchtest oder etwas, das zu kurz gekommen ist? Ich bedanke mich ganz herzlich bei Dir, dass Du Dir Zeit für das Interview genommen hast! Falls Du noch weitere Fragen haben solltest, wende Dich einfach an uns!

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F.

Leitfaden für Interviews mit AbbrecherInnen des Jahrgangs 2004

Leitfaden für Interviews mit AbbrecherInnen des Jahrgangs 2004 Gründe für den Abbruch 



Welche Gründe haben dazu geführt, dass Du Deine Ausbildung am OS abgebrochen hast? (z.B. Failkurse, persönliche oder finanzielle Gründe, etc.) Wann hat sich entschieden, dass Du Deine Ausbildung am OS nicht fortsetzen wirst? Wie kam es dazu – kannst Du diese Situation beschreiben?

Hintergründe und Bewertung      

Wie würdest Du Deine Zeit am OS beschreiben? Wie bewertest Du Deine Erfahrungen im Nachhinein? Was hätte das OS in Deinem Fall anders bzw. besser machen können, so dass Du Deine Ausbildung hier hättest fortsetzen können? Hast Du Dich in Deiner Zeit am OS ausreichend beraten, unterstützt und gefördert gefühlt? Welche Beratung, Unterstützung und Förderung hättest Du Dir gewünscht, hättest Du gebraucht? Was hättest Du selbst anders bzw. besser machen können, damit Du Deine Ausbildung hier hättest fortsetzen können? Was würdest Du einem Freund/einer Freundin raten, der/die ans OS kommt und dort das Abitur machen möchte?

Zukunftsperspektive 

Was sind Deine weiteren beruflichen und privaten Pläne? Was planst Du für die Zukunft? (Z.B. berufliche Ausbildung, andere Schule Sek. II, jobben, etc.)

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G.

Leitfaden für Experten-Interviews in den Bereichen Beratung und Förderung im Oberstufen-Kolleg

Leitfaden für ExpertInnen-Interviews in den Bereichen Beratung und Förderung im Oberstufen-Kolleg Interview-Nr.

Geschlecht

InterviewDatum

Funktion im OS

Im OS tätig seit

Als __ tätig seit

Fragen an die Koordinatorinnen der Brücken- und Basiskurse sind kursiv hervorgehoben! 1. Arbeitsbereiche und -aufgaben 1.1 Bitte beschreibe Deine gegenwärtigen Aufgaben- und Tätigkeitsbereiche in Deiner Funktion als....! 1.2 Welche Aufgaben stellt die Institution an Dich in Deiner Funktion als...? 1.3 Wie verstehst Du deine eigene Arbeit als ... unter dem Gesichtspunkt Beratung und Förderung von KollegiatInnen im Oberstufen-Kolleg? 1.4 Welche Ziele verfolgst Du in Deiner Arbeit? Worauf kommt es Dir bei Deiner Arbeit besonders an? 1.5 Was erwarten die Institution Oberstufen-Kolleg, Deine KollegInnen und die KollegiatInnen von Dir in Deiner Funktion als ...? Gibt es Widersprüche zwischen diesen Erwartungen und Deinen eigenen Vorstellungen? 2. Zusammenarbeit und Vernetzungsgrad mit anderen Akteuren 2.1 Wie werden Brücken- und Basiskurse aufeinander abgestimmt? Gibt es Probleme oder unterschiedliche Positionen? 2.2 Mit welchen Personen(-gruppen) und anderen BeraterInnen im Oberstufen-Kolleg arbeitest Du zusammen? 2.3 Wie gestaltet sich diese Zusammenarbeit? Wann ist Zusammenarbeit produktiv und erfolgreich, wann problematisch? 2.4 Welche Akteure sollten deiner Meinung nach im Oberstufen-Kolleg für eine effektive Beratung und Förderung von KollegiatInnen enger kooperieren, sich vernetzen und austauschen? 3. Supervision/Fortbildung 3.1 Welche Rolle spielen Fort- und Weiterbildung in Deinem Tätigkeitsbereich? 3.2 Hast Du bzw. nutzt Du Möglichkeiten zur Supervision bzw. des kollegialen Austauschs über Deine Arbeit als ...? 4. Arbeitserfolge und Arbeitsprobleme 4.1 Was betrachtest Du selbst als Erfolg bzw. Misserfolg in Deiner Arbeit? 4.2 Wovon hängt es ab, ob Du mit Deinem Angebot Erfolg hast? 4.3 Welche Probleme und Schwierigkeiten siehst Du in Deiner Rolle und in Deinem Aufgabenbereich als....?

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4.4 Gibt es KollegiatInnen, die Dein Angebot nicht in Anspruch nehmen, obwohl sie Beratungsbedarf hätten? Welche Gründe kannst Du hierfür benennen? (Nicht für Koordinatorinnen der Brücken- und Basiskurse!) 4.5 Stichwort Arbeitszufriedenheit: Wie zufrieden bist Du mit Deiner Arbeit als ...? 5. Institutionelle Problembereiche bei Förderung und Beratung 5.1 Was müsste sich Deiner Meinung nach verändern, damit Du Deine Aufgabe als ... noch effektiver erfüllen könntest? (...damit die Brücken- und Basiskurse ihre Funktion optimal erfüllen können?) 5.2 Wie könnte man allgemein die Beratung und Förderung von KollegiatInnen im Oberstufen-Kolleg verbessern? 6. Schulklima 6.1 Wie würdest Du das Schulklima im Haus beschreiben? 6.2 Welche Rolle spielt das Schulklima für den Bereich Beratung und Förderung im Oberstufen-Kolleg? 6.3 Welche Faktoren sind für ein förderliches Kursklima von Bedeutung? 7. Abschluss des Interviews 7.1 Gibt es Aspekte, Anmerkungen oder Kritikpunkte, die in diesem Gespräch Deiner Meinung nach zu kurz gekommen sind und die Du gerne ergänzen möchtest?

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H. Martha Nussbaum: The Central Human Capabilities15 1.Life. Being able to live to the end of a human life of normal length; not dying prematurely, or before one’s life is so reduced as to be not worth living. 2. Bodily Health. Being able to have good health, including reproductive health; to be adequately nourished; to have adequate shelter. 3. Bodily Integrity. Being able to move freely from place to place; to be secure against violent assault, including sexual assault and domestic violence, having opportunities for sexual satisfaction and for choice in mattes of reproduction. 4. Senses, Imagination, and Thought. Being able to use the senses, to imagine, think, and reason – and to do these things in a „truly human“ way, a way informed and cultivated by an adequate education, including, but by no means limited to, literacy and basic mathematical and scientific training. Being able to use imagination and thought in connection with experiencing and producing works and events of one’s own choice, religious, literary, musical, and so forth. Being able to use one’s mind in ways protected by guarantees of freedom of expression with respect to both political and artistic speech, and freedom of religious exercise. Being able to have pleasurable experiences and to avoid non-beneficial pain. 5. Emotions. Being able to have attachments to things and people outside ourselves; to love those who love and care for us, to grieve at their absence, in general, to love, to grieve, to experience longing, gratitude, and justified anger. Not having one’s emotinal development blighted by fear and anxiety. (Supporting this capability means supporting forms of human association that can be shown to be crucial in their development.) 6. Practical Reason. Being able to form a conception of the good and to engage in critical reflextion about the planning of one’s life. (This entails protection for the liberty of conscience and religious observance.) 7. Affiliation. A. Being able to live with and toward others, to recognize and show concern for other human beings, to engage in various forms of social interaction; to be able to imagine the situaiton of another. (Protecting this capability means protecting institutions that constitute and nourish such forms of affiliation, and also protecting the freedom of assembly and political speech.) B. Having the social bases of self-respect and non-humiliation; being able to be treated as a dignified being whose worth is equal to that of others. This entails provisions of nondiscrimination on the basis of race, sex, sexual orientation, ethnicity, caste, religion, national origin. 8. Other species. Being able to live with concern for and in relation to animals, plants, and the world of nature. 9. Play. Being able to laugh, to play, to enjoy recreational activities. 10. Control over One’s Environment. A. Political. Being able to participate effectively in political choices that govern one’s lfe; having the right of political participation, protections of free speech and association. B. Material. Being able to hold property (both land and movable goods), and having property rights on an equal basis with others; having the right to seek employment on an equal basis with others; having the freedom from unwarranted search and seizure. In work, being able to work as a human being, exercising practical reason and entering into meaningful relationships of mutual recognition with other workers.

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Die Liste der 10 Capabilities nach Martha Nussbaum, aus denen entsprechende Kompetenzen für Ausbildung und Ausbildungsziele abzuleiten sind.

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