Folgende Kapitel erwarten dich:

EINLEITUNG Wut ist eine der stärksten Emotion, die wir Menschen fühlen können. Sie birgt viel Kraft und im Wut-Modus sind Menschen zu unglaublichen L...
Author: Monica Holzmann
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EINLEITUNG Wut ist eine der stärksten Emotion, die wir Menschen fühlen können. Sie birgt viel Kraft und im Wut-Modus sind Menschen zu unglaublichen Leistungen fähig - im positiven und im negativen Sinne. Im Volksmund wird sie häufig benannt: Arbeitswut, Zerstörungswut, blinde Wut, etc. Viele Menschen haben Angst vor dieser Emotion, lehnen sie ab und wollen einfach nichts mit ihr zu tun haben. Nicht selten habe ich den Eindruck, dass die Wut regelrecht tabuisiert wird und ich erlebe bei meinen Klienten häufig, dass sie sich schämen, wenn sie wütend geworden sind und dass sie in diesem Zusammenhang, die Kontrolle über sich selbst in Frage stellen. Nun lässt sich Wut aber weder abstellen, wegschicken oder gar unterdrücken. Gerade im Familienkontext, im Umgang mit unseren Kindern und unserem Partner, scheint die Wut gerade dann immer häufiger aufzutauchen, wenn wir sie überhaupt nicht haben wollen. Wir fühlen uns regelmäßig hilflos und ohnmächtig im Angesicht unserer Wutentladungen gegenüber den Menschen, die wir am meisten lieben. Mit diesem Arbeitsbuch möchte ich dir eine praktische Anleitung zum Umgang mit deiner Wut im Familienkontext geben. Diese Anregungen sind leicht auf dein ganzes Leben übertragbar. Ich wählte bewusst den Familienkontext, da ich um die Brisanz dieses Themas gerade im Familienleben weiß.

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Die Wut ist m.E. nach eine stark verkannte Emotion. Ich glaube, dass wir sie so flächendeckend zu unterdrücken versuchen, weil wir einfach Angst vor ihr haben und weil über diese Emotion viele Irrtümer vorherrschen. Mit diesem Arbeitsbuch möchte ich damit aufräumen und dir zeigen, wie du deine Wut vollständig ausdrücken kannst, ohne dabei jemand anderen zu verletzen, Dinge zu zerstören oder andere destruktive Handlungen auszuüben. Folgende Kapitel erwarten dich: Seite 5

1. Einführung

Seite 7

2. Was möchtest du mit Hilfe dieses Workbooks konkret erreichen? So formulierst du ein klares (Verhaltens) Ziel!

Seite 11

3. Was ist Wut eigentlich und warum empfinden wir sie?

Seite 15

4. Lerne zwischen Auslöser und Ursache deiner Wut zu unterscheiden.

Seite 21

5. Übernimm 100% Verantwortung für deine Gedanken und dein emotionales Erleben.

Seite 23

6. Erweitere die Kenntnisse über deine Bedürfnisse.

Seite 28

7. Arbeitet mit der Wut als Detektiv für deine Bedürfnisse

Seite 30

8. Selbstmitgefühl- ein wichtiger Schlüssel

Seite 39

9. Deine Wut vollständig ausdrücken

Seite 43

10. Mehr Gelassenheit und Frieden in der Familie etablieren

Seite 44

11. Über die Autorin

Seite 46

12. Gefühlsvokabeln

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Wenn du dich durch die Kapitel durch arbeitest, gelangst du Schritt für Schritt zu einem konstruktiven Ausdruck deiner Wut, der andere dazu einlädt, dich bei der Erfüllung deiner Bedürfnisse zu unterstützen (was das zu bedeuten hat, wird dir im Laufe der Lektüre noch klarer werden). Wie du dieses Workbook effektiv für dich nutzen kannst: Jedes Kapitel endet mit einer oder mehreren konkreten Aufgaben und Impulsen. Setz dir einen festen Zeitrahmen, indem du konstant jeden Tag mit diesem Buch arbeitest. Ich empfehle mindestens einen Zeitraum von 10 Tagen. Lies in diesem Zeitraum jeden Tag ein Kapitel und führe die dort aufgeführten Übungen durch. Falls dir das Pensum eines Kapitels zu viel ist, arbeite einfach am darauf folgenden Tag weiter daran und verlängere entsprechend deinen gesamten Arbeitszeitraum. Wichtig ist, dass du in dem von dir gewählten Zeitraum unbedingt jeden Tag mit diesem Buch arbeitest! Wenn du die Aufgaben genauso durchführst, wie ich es beschreibe, wirst du nach der Lektüre ein ganzes Stück souveräner im Umgang mit deiner Wut sein und du wirst diese Emotion wesentlich besser verstehen und entsprechend handeln können. Die von mir beschriebenen Schritte sind ein Entwicklungsprozess, der sehr wahrscheinlich länger dauert als die 10 Übungstage. Die eigene Wut in Live-Situationen vollständig und gewaltfrei ausdrücken zu können, bedarf einiger Übung, weshalb ich dich bitte, unbedingt dran zu bleiben und immer wieder mit den Anregungen und Übungen zu arbeiten. Ich empfehle dir darüber hinaus Folgendes zu tun, um mit der Wut souveräner umzugehen:  Leg dir ein schönes Tagebuch zu (das dich schon optisch animiert mit ihm zu arbeiten), das du nutzt, um die Inhalte dieses Buches zu bearbeiten und deine Entwicklung zu dokumentieren.  Nimm das Kapitel, in dem es darum geht ein konkretes Ziel zu

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formulieren ernst. Mit der Zielformulierung hast du einen klaren Fokus, der dir hilft, dich auch in den Momenten, wenn du starke Zweifel empfindest, bei der Stange zu bleiben. Dieses Ziel ist dein Fokus während der ganzen Zeit und hilft dir, dich auch bei größeren Widerständen zur Bearbeitung dieses Buches zu motivieren. Beginne zu meditieren (täglich 5- 10 Minuten am Morgen oder Abend sind ein guter Anfang), dabei reicht es, wenn du dich einfach auf deinen Atem konzentrierst. Das wird dir helfen, dich bei dieser Reise selbst besser kennen zu lernen (eine Anleitung zu einer einfachen Atemmeditation findest du im 4. Kapitel). Such dir Gleichgesinnte, tausch dich z.B. mit Freunden oder Familienmitgliedern über diese Arbeit an dir selbst aus. Auch die sozialen Netzwerke bieten viele Möglichkeiten für Austausch (z.B. Gruppen auf Facebook). Beobachte achtsam deine Wut, wann immer sie auftaucht, widerstehe dem Drang, sie zu unterdrücken! Übe dich darin, sie genau zu betrachten und zu fühlen. Mach dir immer wieder bewusst, dass diese Entwicklung ein Prozess ist und dass die Meisterschaft deiner Wut in einem beharrlichen „Dran-Bleiben“ zu finden ist. Die von dir gelebten Wutmuster haben sich über Jahre entwickelt. Erwarte nicht, dass sie über Nacht verschwinden! Wenn du mehr über Gewaltfreie Kommunikation lernen magst, lies Bücher zum Thema oder besuche Seminare.

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1. Einführung Nicht selten werde ich von Eltern gefragt, wie es ihnen gelingen kann, ihre Wut gegenüber dem eigenen Kind oder dem Partner zu unterdrücken. Meine Antwort darauf lautet dann immer:

Es wird dir nicht gelingen! Ja, genau, lies es dir noch einmal durch und dann lass es langsam in dein Bewusstsein sinken:

Es wird dir nicht gelingen, deine Wut dauerhaft zu unterdrücken! Ich würde auch niemandem raten, die eigene Wut gegenüber wem auch immer zu unterdrücken. Das ist gefährlich! Das führt u.a. zu seelischen und auch körperlichen Krankheiten und mündet meistens in einer starken Entladung der angestauten Wut, die ein viel verheerenderes Ausmaß hat, als dein ursprünglicher Wutausbruch gehabt hätte. Ich weiß schon, wie deine nächste Frage vermutlich lautet: "Soll ich also meine Wut ungehemmt entladen? Soll ich vor meinem unschuldigen Kind toben, schreien und brüllen und ggf. handgreiflich werden? Genau DAS will ich doch vermeiden?!"

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Ich kann dich beruhigen, ich werde dir nicht empfehlen, deine Wut ungehemmt zu entladen, sondern dir im Zuge dieser Lektüre zeigen, wie du konstruktiv mit deiner Wut umgehen und sie vollständig ausdrücken kannst. Deine Wut hat ihre Daseinsberechtigung und diese möchte ich im Laufe dieses Buches mit dir ergründen. Du wirst dich und deine Wut besser kennen lernen. Wenn du die Übungen gewissenhaft ausführst und auch sonst meine Impulse umsetzt, wirst du mehr Gelassenheit und Frieden finden. Versprochen!!

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2. Was möchtest du mit Hilfe dieses Workbooks konkret erreichen? So Formulierst du ein klares (Verhaltens-) Ziel! Viele Eltern haben verstanden, dass es kontraproduktiv für die Entwicklung ihrer Kinder ist, wenn sie ihre eigenen starken Emotionen, wie z.B. Wut, unreflektiert an ihren Kindern und ihrem Partner entladen. Wenn die Wut erst einmal kocht, sind wir zu Handlungen fähig, die wir hinterher meist stark bereuen, weil diese häufig unsere Liebsten verletzen - auf physischer und emotionaler Ebene gleichermaßen. Das ist m.E. nach der Grund, weshalb die Emotion Wut so stark abgelehnt wird und regelrecht verpönt ist. Wir als Eltern wissen also in den meisten Fällen ganz klar, dass wir solche Wutausbrüche nicht wollen. Allerdings liegt in diesem klaren Fokus darauf, was wir nicht wollen auch schon das erste Dilemma. Wenn du ganz klar weißt, was du nicht willst, hingegen jedoch nicht beschreiben kannst, was du stattdessen willst, wirst du auf kurz oder lang Probleme bekommen. Wenn wir etwas nicht wollen, und uns auch denken, wie es nicht sein soll, werden wir vor allem in angespannten und stressigen Situationen ins Straucheln geraten. Wir werden nämlich genau dann auf die Verhaltensweisen zurückgreifen, die wir kennen und eigentlich ablehnen. Warum? Versuch doch einmal, jetzt NICHT an einen rosa Elefanten zu denken!

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Du wirst vielleicht bemerken, dass dir das schwerfällt, weil das NICHT vom Gehirn quasi gestrichen wird und du dann unweigerlich an das denkst, was du NICHT wolltest. Wenn du also nicht wütend werden willst, dann ist es ein kluger Schritt, dir zu überlegen, was du stattdessen willst! Richte deinen Fokus darauf, wie du in stressigen Situationen mit deinem Kind oder deinem Partner eigentlich handeln willst. Was fällt dir dazu ein? Vielleicht Dinge wie: gelassen bleiben; Verständnis aufbringen; Mitgefühl haben; kreative Ideen entwickeln, wie die Situation zu handhaben ist? Nimm dir dein Tagebuch (falls du noch keines hast, tun es Zettel und Stift auch) und versuche einmal in 2-3 kurzen Sätzen zu beschreiben, wie du dich gern verhalten möchtest, wenn dein Kind (oder dein Partner oder dein Arbeitskollege, etc.) etwas tut, dass dir nicht gefällt (z.B. widerspricht, ganz andere Dinge tut, als du willst, bummelt, laut durch das Haus turnt, deinen Bitten nicht nachkommt, etc.). Wie verhältst du dich in einer solchen Situation idealerweise? Formuliere dieses Verhalten positiv. Anders ausgedrückt: Verwende keine Verneinung. „Ich streite nicht mehr mit meinem Kind.“ ist eine negative Formulierung.

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„Ich begegne meinem Kind liebevoll und versuche zu verstehen, welche guten Gründe mein Kind (mein Partner, mein Kollege) für sein Verhalten hat.“ Formuliere dein gewünschtes Verhalten in der Gegenwart. Vermeide: „Ich will meinem Kind auch in anstrengenden Situationen liebevoll begegnen.“, sondern: „Ich begegne meinem Kind auch in anstrengenden Situationen liebevoll und bleibe gelassen.“ Formuliere das Ziel (dein gewünschtes Verhalten) so, als wenn es bereits gelebte Normalität wäre. Formuliere dein gewünschtes Verhalten einfach, klar und kurz. Keine ewig langen, verschachtelten Sätze! Fasse dieses Ziel in einem oder maximal zwei Sätzen zusammen. Verwende eine Formulierung, die dir leicht über die Lippen geht, sodass du es in jeder denkbaren Situation - auch wenn ich dich nachts wecke - sofort benennen kannst. Das wichtigste Kriterium ist außerdem, dass dein „Wunschverhalten“ dir wirklich wichtig ist, dir sozusagen am Herzen liegt. Wenn du dein Verhalten ändern willst, weil du denkst, dass das notwendig ist oder weil dich dafür jemand anderes kritisiert, du es aber nicht wirklich willst, dann wird es schwierig, dies umzusetzen. Wie kannst du dein Verhaltens-Ziel formulieren, damit dir warm ums Herz wird, wenn du dir vorstellst, dass du dieses Ziel tatsächlich realisierst? Wenn du dein neues Verhalten (dein Ziel) gewählt hast, schreibe es in dein Tagebuch. Beginne den Satz ungefähr so: „Ich, … dein Name …, bin glücklich und dankbar, weil ich, …, hier setzt du dein Ziel ein …“ Beispiel: „Ich, Katrin, bin so glücklich und dankbar, weil ich in den

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stressigsten Situationen über enorme Gelassenheit im Umgang mit meinen 2 Kindern verfüge.“ Es ist möglich, dass die Formulierung, die du jetzt gefunden hast noch nicht 100% sitzt und du in den kommenden 1-2 Tagen noch ein bisschen daran herum tüftelst. Das ist in Ordnung. Es sollte sich für dich wirklich stimmig anfühlen und das kommt manchmal dadurch, dass man noch das ein oder andere Wort austauscht. Wenn du dein Verhaltensziel klar formuliert hast, schreibe es dir jeden Tag (am besten morgens) einmal auf eine neue Seite in deinem Tagebuch. Das hilft dir, dich mit ihm anzufreunden und dich klar darauf auszurichten. Sprich es auch jeden Tag einmal laut aus. Wenn du es wirklich verankern willst, verfahre so für die kommenden 21 Tage. Das ist die Zeit, die es braucht, um eine Gewohnheit zu festigen.

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3. Was ist Wut eigentlich und warum empfinden wir sie? Nachdem du nun klar formuliert hast, wie du dich verhalten willst, erforschen wir nun gemeinsam die Wut, denn sie zu verstehen, wird dich deinem Ziel ein ganzes Stück näher bringen. Dass Wut ein Gefühl oder eine Emotion ist (ich verwende diese Begriffe äquivalent), darüber sind wir uns vermutlich einig. Aber hast du dir jemals die Frage gestellt, warum wir überhaupt Gefühle haben? Warum wir traurig, glücklich, irritiert, ja und auch wütend sind? Gefühle haben eine enorm wichtige Funktion in unserem System: Sie weisen uns darauf hin, wie es um unsere Bedürfnisse steht. Sie geben Auskunft darüber, was unser System gerade braucht, um existieren, wachsen und gedeihen zu können. Vereinfacht kann man sagen, dass angenehme Gefühle darauf hinweisen, dass im Augenblick all unsere Bedürfnisse erfüllt sind, dass alles in Ordnung ist. Unangenehme Gefühle hingegen signalisieren uns, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass wir etwas brauchen. Und je stärker das unangenehme Gefühl ist, desto dringender ist das Bedürfnis. Richtig stark unangenehme Gefühle wie Ärger und Wut sind ein Hinweis darauf, dass wir richtiggehend eine innere Not leiden. Dazu möchte ich dir ein einfaches Beispiel geben: Das Gefühl Hunger kennt jeder von uns. Wenn der Hunger richtig groß wird, bekomme ich z.B. wirklich schlechte Laune. Vermutlich nickst du jetzt mit dem Kopf, weil du das von dir ebenfalls kennst. Das unangenehme Hungergefühl sorgt dafür, dass wir uns darum kümmern, uns mit Nahrung 11

zu versorgen. Würden wir das nicht tun, würden wir irgendwann tot umfallen, weil wir verhungert sind. Sicherlich können wir Hunger eine Weile aushalten. Aber irgendwann kommt der Punkt, wo sich unser ganzes Streben nur noch um Essen dreht. Dann sind wir sehr gereizt und poltern auch mal Jemanden an, der gar nichts für unseren Zustand kann. Und wenn wir dann endlich etwas gegessen haben, oh wie gut fühlt sich das an, wie glücklich und zufrieden sind wir plötzlich. Das leuchtet sicher Jedem ein und es ist ein Beweis für meine obigen Ausführungen: Das beglückende Gefühl, das in uns entsteht, wenn wir endlich etwas zu Essen haben, ist der Hinweis auf das befriedigte Bedürfnis nach Nahrung.

Unsere Gefühle sind die Signale für den Erfüllungsstand unserer Bedürfnisse! Unsere Gefühle geben uns Auskunft darüber ob unsere Bedürfnisse gerade befriedigt sind (angenehme Gefühle) oder ob wir etwas brauchen (unangenehme Gefühle). Im Anhang findest du Gefühlsvokabeln, die du in

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Zuständen, in denen du angenehme und unangenehme Gefühle wahrnimmst, benutzen kannst, um die Gefühle in dir ggf. deutlicher zu benennen. Wut ist so gesehen, einfach ein sehr deutliches Signal dafür, dass in uns etwas „hungert“. Sie ist also ein völlig legitimes Gefühl und es ist legitim, dass du dieses Gefühl hast! Also bitte verabschiede dich von dem Gedanken, deine Wut unterdrücken zu wollen. Sie darf sein! Sie hat eine wichtige Botschaft für dich! Welche das ist, kommt ganz auf die Situation an. Für den Augenblick möchte ich dich dazu einladen, dich mit deiner Wut anzufreunden als das, was sie ist:

EIN NOTSIGNAL! Du musst für heute nichts weiter tun, als dich mit folgenden Gedanken anzufreunden:

„Meine Wut darf sein! Sie hat eine wichtige Botschaft für mich.“ Wenn du mit dieser Information unbedingt etwas anfangen willst, dann kannst du dir diese 2 Sätze gern auf einen Zettel schreiben und ihn irgendwo hin hängen. Sichtbar! Und dann lass sie einen Tag lang auf dich wirken.

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Ich kann mir vorstellen, dass du dich mit diesem Gedanken zunächst ein wenig anfreunden musst, weil du damit vielleicht nicht gerechnet hast. Vielleicht bist du jetzt auch erleichtert, weil diese Erkenntnis das Ende deines Kampfes mit deiner Wut bedeutet. Vielleicht bist du jetzt auch verwirrt, weil ich dir versprochen habe, dass ich dir zeigen werden, wie du deine Wut vollständig ausdrücken kannst, ohne dabei zu schreien oder jemandem weh zu tun. Wenn du dich jetzt fragst, wie das alles sein kann, gerade weil du gestern ein Ziel für dein Verhalten formuliert hast, dass Wut nicht mehr beinhaltet, dann möchte ich dich beruhigen: Der Weg zur Erreichung deines Ziels liegt in der Bearbeitung der folgenden Kapitel.

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4. Lerne, zwischen Auslöser und Ursache deiner Wut zu unterscheiden. Wenn du lernen möchtest mit deiner Wut „erwachsen“ umzugehen und sie vollständig ausdrücken möchtest, dann findest du in diesem Kapitel einen entscheidenden Schlüssel: Es ist von großer Bedeutung, dass du dir klar darüber wirst, dass es einen Unterschied zwischen dem Auslöser und der Ursache für deine Wut gibt. Ich konfrontiere dich heute mit einem weit verbreiteten Irrtum und rüttele damit vielleicht an einem „Wissen“, das du bisher für gegeben angesehen hast. Also gut festhalten ;-) : Nicht das, was ein anderer Mensch in deiner Umgebung tut, macht dich wütend, sondern vielmehr etwas in dir selbst, das darauf reagiert, was dein Kind oder ein anderer Mensch gerade tut. Die Handlungen anderer Menschen können die Wut in dir auslösen, aber die Ursache für deine Wut liegt in deinem Inneren! Um diese Behauptung nachvollziehbar erklären zu können, ziehe ich zunächst nochmal den Zusammenhang zwischen deinen Gefühlen und deinen Bedürfnissen heran: Wut ist ein Gefühl und weist auf ein unerfülltes Bedürfnis hin. Deine Wut ist also ein Hinweis auf eine innere Not - darauf dass da ganz dringend ein Bedürfnis in dir gesehen und erfüllt werden will. Das ist aber nur die halbe Wahrheit über die Wut. Die ganze Wahrheit über Wut sieht wie folgt aus: Wut ist ein sekundäres Gefühl, das aus einem gedanklichen Konstrukt 15

entsteht. Das bedeutet, dass die Wut erst als zweites Gefühl auftaucht und ein erstes (primäres) Gefühl überlagert (dazu kommen wir noch ausführlicher). Wenn du genau beobachtest, welche Gedanken du hegst, während du dich in einem wütenden Zustand befindest, dann erkennst du häufig, dass diese überwiegend mit Schuldzuweisungen („Du bist Schuld, dass ich nicht fertig werde mit meiner Hausarbeit.“) oder Urteilen („Was bist du doch für ein undankbares Kind.“) oder auch einfach Verallgemeinerungen („Immer machst du so ein Theater! Nie kommen wir pünktlich los.“) einher gehen. Manchmal taucht im Kopf auch ein Glaubenssatz oder eine Überzeugung darüber auf, was sein darf und was nicht oder wie bestimmte Situationen ablaufen sollten („Man fällt den Erwachsenen nicht ins Wort.“ oder „Du musst gehorchen.“). Grundlegend denken wir dann immer in Begriffen, die das Handeln anderer Menschen analysieren und sie als fehlerhaft abstempeln. Wenn du in der Wut auf deine Gedanken achtest, wirst du immer auf solche Gedanken stoßen! Der Auslöser für deine Wut ist also die Handlung eines anderen Menschen gepaart mit einem der oben beschriebenen Gedankengänge (Urteil, Interpretation, Abwertung, Schuldzuweisung, Glaubenssatz, etc.).

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Ich gebe dir ein Beispiel dafür, was ich damit meine, wenn ich behaupte, dass unsere Gedankengänge unsere Gefühle beeinflussen. Mein Sohn besucht eine Kita. Es kommt immer wieder vor, dass er sich weigert, mit mir mitzukommen, wenn ich ihn am Nachmittag abholen möchte. Er will dann oftmals lieber noch mit seinen Freunden spielen. Es gibt verschiedene Varianten, wie ich die Situation bewerten und mich entsprechend fühlen kann. 1. Variante: Ich denke, dass ich ihm gar nicht so wichtig bin, weil er mir nicht in die Arme gelaufen kommt, nachdem er mich bemerkt hat. Dann werde ich ganz traurig. 2. Variante: Wir haben noch einen Termin am Nachmittag und ich möchte gern pünktlich sein. Mein Sohn weigert sich auch nach wiederholter Aufforderung mitzukommen. Ich denke: „Ach, immer so ein Theater und immer ausgerechnet dann, wenn wir es eilig haben!“. Ich spüre erst Frust, dann Ärger und wenn er nach der dritten Aufforderung mitzukommen immer noch nicht kommt, wallt Wut in mir auf. 3. Variante: Ich denke beim Anblick meines spielenden Kindes: „Wie schön! Mein Sohn scheint hier in der Kita gut aufgehoben zu sein und hat einen kleinen Freundeskreis, in dem er sich wohl fühlt.“ Bei diesem Gedanken steigt Freude in mir auf. 4. Variante: Ich weiß, dass wir am heutigen Nachmittag nichts weiter vorhaben. Ich denke „Warum nicht einfach noch ein bisschen beim Spiel zusehen?“ Ich empfinde Gelassenheit und Ruhe. Wie du siehst, sind diese Gefühle eng an die Gedanken gekoppelt, die ich in der Situation habe.

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Daher ist die Aussage „Du machst mich wütend!“ eine Fehlannahme! Nochmal zur Wiederholung: Die Wut kommt aus der Bewertung der Situation in Form einer Schuldzuweisung, Interpretation oder eines moralischen Urteils über das (Fehl)Verhalten eines anderen Menschen. Auch Verallgemeinerungen, wie „Immer, lässt du alles liegen!“ sind ggf. Auslöser für deine Wut. Wie du siehst, sind unsere Gefühle eng an die Gedanken gekoppelt, die wir in der Situation haben. Wenn ich wütend werde, dann deshalb, weil ich mit einer Bewertung, einem Urteil oder ähnlichem herum laufe. Um es noch einmal zusammen zu fassen: Die Handlungen eines anderen Menschen lösen Gefühle in uns zwar aus, sind aber nicht deren Ursache! Dementsprechend ist Niemand - aber auch gar niemand, außer wir selbst mit unseren Gedanken für unsere Gefühle verantwortlich! Unsere Gefühle entstammen unserer Bewertung der jeweiligen Situation. So, ab heute hast du keine Ausreden mehr! Du weißt jetzt, dass es DEINE Gedanken sind. Es braucht ein bisschen Übung, um diese Gedanken wirklich klar zu identifizieren. Dazu möchte ich dich zu folgender Übung einladen: Nimm dir dein Tagebuch hervor. Denke an die letzte 2-3 Situation, in denen

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du wütend warst. Versuche genau nachzuvollziehen, wer in der Situation beteiligt war und was er oder sie getan hat, das deine Wut ausgelöst hat. Versuche dann zu identifizieren, was du über dieses Verhalten gedacht hast. Welche bewertenden Gedanken kannst du in dir wahrnehmen? Diese kannst du entlarven, indem du Folgendes zu dir sagst: „Ich war/bin verärgert, weil ich selbst zu mir sage ...“ und dann forschst du nach den Gedanken, die sich in deinem Kopf ausgebreitet haben und dich in die Wut haben kommen lassen. Beobachte dabei auch, wie diese Gedanken deine Gefühle beeinflussen. Was fühlst du, wenn du solche Gedanken hegst? Ich rate dir wirklich, diese Übung vollständig schriftlich zu machen - mit mindestens einer Situation! Das ist zum einen wesentlich wirkungsvoller, als es nur im Kopf durchzuspielen. Zudem wirst du diese Vorlage noch einmal brauchen. Also bewahre deine Notizen gut auf! Eine weitere Übung ist die Schulung der Wahrnehmung unserer Gedanken. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Ich selbst habe gute Erfahrungen mit AtemMeditation gemacht.

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D.h. ich meditiere tatsächlich täglich und übe mich darin, meinen Atem wahrzunehmen und die dabei aufkommenden Gedanken zu beobachten, ohne mich in ihnen zu verlieren. Wenn ich versuche einfach nur meinen Atem wahrzunehmen, wird mir bewusst, wie viel Geplapper da in meinem Kopf ist. Indem ich wahrnehme, was mein Verstand die ganze Zeit plappert, werde ich mir meiner Gedankengänge bewusst und kann wiederum bewusst Abstand nehmen zu Urteilen die ich fälle, Bewertungen, die ich abgebe oder Überzeugungen, denen ich nachhänge und die mich veranlassen, die aktuelle Situation in einem Licht zu sehen, die mich ggf. in die Wut führen. Übrigens: Die Hirnforschung hat herausgefunden, dass wir in der Minute ca. 400 Worte zu uns selbst plappern. Was für eine Gedankenflut... Wenn du Meditation also wirklich ausprobieren willst, dann habe ich hier eine Anleitung für eine 10-minütige Sitzmeditation auf gesprochen: https://soundcloud.com/marlaef-653325148/sitzmeditation-10-minuten Wenn du Meditation in deinen Alltag einbauen möchtest, dann empfehle ich dir, dir einen festen Zeitrahmen (z.B. morgens direkt nach dem Aufstehen oder mittags, wenn du 10 Minuten Pause machst...) zu wählen, sodass du es quasi zu einer Routine werden lassen kannst. Anfangs benötigt es etwas Disziplin insofern, dass du dich ggf. zur Meditation aufraffen musst. Allerdings wird es leichter, je öfter du praktizierst. Ich kann dir für die Dokumentation deiner Zeit und auch als „Wecker“ die App „Insight Timer“ empfehlen.

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5. Übernimm 100% Verantwortung für deine Gedanken und dein emotionales Erleben Um aus der Wut auszusteigen, ist es notwendig, dass du aufhörst, dich wie ein Opfer zu fühlen. Damit meine ich, dass du nicht nur verstehen solltest, dass andere Menschen nicht für deine Gefühle verantwortlich sind, sondern dass du dies auch annimmst und danach handelst. Ich sage damit nicht, dass du für alles Verantwortung übernehmen musst, was dir passiert. Es ist in Ordnung, wenn das Verhalten anderer Menschen dir nicht gefällt, aber sie sind NICHT verantwortlich für die Gedanken, die du in diesen Situationen hegst und die Gefühle, die du daraus produzierst. Das liegt allein in deiner Verantwortung!

Übernimm also ab heute zu hundert Prozent die Verantwortung dafür, wie du die Situationen erlebst und diese interpretierst.

Dabei ist es hilfreich, sich an den Fakten zu orientieren, anstatt an Dingen, die wir nicht wirklich durch sehen, hören, riechen, schmecken und mechanisches Fühlen wahrnehmen können. Damit meine ich all die Urteile, Bewertungen, Interpretationen, Verallgemeinerungen, Glaubenssätze, etc., die wir tagtäglich zu hunderten produzieren. Wir Menschen sind ziemlich komplex und häufig fällt es uns schwer, nachzuvollziehen, was die guten Gründe für das Verhalten der anderen sind. Schnell machen wir es uns leicht, indem wir die Opferhaltung einnehmen:

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„Das macht die Kleine doch mit Absicht.“ „Immer passiert mir das.“ „Ich bin zu doof, für Mathematik.“ Solch eine Haltung wird dir vielleicht kurzfristig einen „Kick“ durch das Mitleid der anderen bringen, aber es enthebt dich nicht deiner Verantwortung! Du bist für das Erleben deiner Wirklichkeit zu 100% verantwortlich. Ja, es passieren viele Ungerechtigkeiten und es gibt viele Umstände, in denen es vorkommt, dass wir zu recht wütend sind. Aber letztendlich ist es nur unsere Bewertung der Situation, die uns in die Wut bringt!

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6. Erweitere die Kenntnisse über deine Bedürfnisse. In diesem Kapitel stelle ich dir ein weiteres Puzzle-Teil für den gesunden Umgang mit deiner Wut zur Verfügung. Anfangs erwähnte ich ja bereits, dass es einen starken Zusammenhang zwischen Gefühlen und Bedürfnissen gibt. Ich möchte dir zeigen, wie dir diese Erkenntnisse ganz speziell dabei helfen, in Situationen in denen du wütend bist, deine Wut sozusagen zu transformieren oder umzulenken, indem du dich mit dem Bedürfnis, dass in dir hungert, verbindest. Du hast bereits gelernt, dass Wut zu den Sekundärgefühlen zählt, weil sie andere, häufig schmerzlichere Gefühle überlagert. Wenn sich bei dir Wut einstellt, dann kannst du von heute an von folgenden Dingen ausgehen:  Du kannst dir sicher sein, dass sich dahinter noch andere, häufig sehr unangenehme Gefühle verbergen (Angst, Ohnmacht, Schmerz, Trauer, etc.).  Du kannst dir außerdem sicher sein, dass sich in dir gerade ein wirklich wichtiges Bedürfnis meldet, das du ggf. schon länger ignorierst.  Du hast weder Kontakt zu deinen primären Gefühlen noch hast du Kontakt zu deinen Bedürfnissen. Du bist vielmehr damit beschäftigt, deinem Urteil über den vermeintlich Schuldigen für deine unangenehmen Gefühle nachzuhängen.  Dieses Urteil ist eine verzerrte Ausdrucksform deiner Bedürfnisse.

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 Wenn du aus der Wut heraus möchtest, ist es jetzt an der Zeit, die Verantwortung für deine Gefühle zu übernehmen und zu erforschen, welche destruktiven Gedanken die Wut in dir zum Kochen bringen. Was kannst du von nun an sofort tun, um deine Wut positiv für dich zu nutzen? Die Gefühle hinter der Wut, geben dir deutlich Auskunft über deine Bedürfnisse. Lass dich von ihnen leiten, um Kontakt zu deinen Bedürfnissen herzustellen. Falls dir dies nicht auf Anhieb gelingt, kann ich dich auch in diesem Fall wieder beruhigen: Es ist relativ weit verbreitet, das wir Schwierigkeiten damit haben, unsere Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen. Wir haben nie gelernt, uns wirklich mit unseren Gefühlen auseinander zu setzen und die Ursache für diese, wahr und ernst zu nehmen. Bislang lag unser Fokus vielmehr darauf, einen Schuldigen für unsere unangenehmen Gefühle zu finden und diesen dann entsprechend mit Vorwürfen zu beladen. Das dies aber nicht zur Lösung beiträgt, ist vielen Menschen nicht bewusst. Darum lade ich dich ein, von nun an wirklich Verantwortung für deine Gefühle zu übernehmen. Es wird dir natürlich immer mal passieren, dass du wütend wirst. Aber du hast bereits jetzt genug gelernt, um diese souveräner handhaben zu können.

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Ein guter Wegweiser zu den Gefühlen und Bedürfnissen hinter der Wut ist die Konzentration auf deinen Atem. Wenn es dir gelingt, dich in den Momenten, in denen du Wut spürst auf deinen Atem zu konzentrieren, bekommst du ein wenig Abstand zu diesem Gefühl. Dann machst du einen Raum auf, in dem du dir und deinen primären Gefühlen und Bedürfnissen begegnen kannst. Auch dafür ist es hilfreich, sich in Meditation zu schulen, weil du dabei die Atemfokussierung lernst und diese im Ernstfall sofort abrufbereit ist - ja sogar automatisch erfolgt, wenn du ein wenig Übung hast.

In ruhigen Phasen, kann es zudem hilfreich sein, dass du deine Kenntnisse über deine Bedürfnisse erweiterst. Vergegenwärtige dir, was Bedürfnisse eigentlich sind. Dafür gebe ich dir einen Bedürfnis-Wortschatz an die Hand, der dir helfen kann, schneller Zugang zu ihnen zu bekommen.

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Beispiele für universelle menschliche Bedürfnisse sind: Nähren der physischen Existenz: Luft, Nahrung, Wasser, Bewegung, Körpertraining, Schutz vor lebensbedrohenden Lebensformen (Viren, Raubtiere), Ruhe, Unterkunft, Kontakt, Sexualität Miteinander/ Leben in sozialer Gemeinschaft: Mitgefühl, Wertschätzung, Nähe, Gemeinschaft, Rücksichtnahme, emotionale Sicherheit, Geborgenheit, Respekt, Unterstützung, Vertrauen, Verständnis, Zugehörigkeit Autonomie: Träume/ Ziele/ Werte wählen, Pläne für die Erfüllung der eigenen Träume/ Ziele / Werte entwickeln Feiern/ Trauern: Feiern, was das Leben nährt und bereichert, Bedauern (trauern), wenn die Bedürfnisse nicht erfüllt wurden, Verluste, Trennungen feierlich begehen Authentizität / Integrität (Übereinstimmung zwischen Handeln und eigenen Werten): Stimmigkeit, Wachstum, Kreativität, Sinn, Selbstwert, Selbstvertrauen, Lernen Spiel: Freude, Lachen, Leichtigkeit Spirituelle Verbundenheit: Schönheit, Harmonie, Inspiration, Ordnung (im Sinn von Struktur/ Klarheit), Frieden, zur Bereicherung des Lebens beitragen, Verbunden sein mit dem gesamten Leben

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Als heutige Übung möchte ich dich einladen, deine Bedürfnisse zu erkunden. Nimm dein Tagebuch hervor und überlege, welche Bedürfnisse du dir heute im Laufe des Tages erfüllt hast. Wie gelingt es dir, den Fokus auf deine Bedürfnisse zu legen? Hier ist noch eine kleine Übung: Welche Bedürfnisse stecken hinter diesen Aussagen? Du verletzt mich, weil du mich nicht verstehst. Es nervt mich, wenn in der Konferenz endlos diskutiert wird. Ich bin sauer, weil du mich nicht ernst nimmst. Es enttäuscht mich, dass in unserer Gesellschaft Frauen so viele Hindernisse in den Weg gelegt werden. Ich fühle mich unwohl, weil im Kollegium so ein schroffer Umgangston herrscht. Ich bin frustriert, weil mir diese Tätigkeit keinen Spaß macht. Ich fühle mich enttäuscht, weil ich hier nur übersehen werde.

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7. Arbeitet mit der Wut als Detektiv für deine Bedürfnisse! Du hast in inzwischen gelernt, dass dir, wenn du Ärger oder Wut fühlst, in diesem Augenblick der Zugang zu deinen Bedürfnissen fehlt. Deine Wut zeigt dir deutlich, dass ein Bedürfnis in dir hungert. Und anstatt die Wut zu unterdrücken, nimm sie vom heutigen Tag an zum Anlass, dich auf die tiefer liegenden Gefühle und Bedürfnisse zu konzentrieren. Hierfür hilft dir wiederum, wenn du lernst, dich mit Hilfe der Atmung auf das zu konzentrieren, was in dir gerade lebendig ist. Wenn du Ärger oder Wut in dir aufwallen spürst, atme also tief durch. Vielleicht reicht das schon, um zu erspüren, welche Erschöpfung oder Hilflosigkeit vielleicht hinter der Wut liegen, wenn deine Kinder sich streiten. Wenn du in solchen Momenten deinen Bedürfnissen auf die Spur kommst, kannst du auch klarer sagen: „Ich brauche Ruhe oder Klarheit darüber, worum es in eurem Streit eigentlich geht. Könnt ihr mir das sagen?“ Auch wenn du ein bisschen Anlauf brauchst, wird es dir bald gelingen, wenn du einfach immer wieder übst. Du hast dazu jeden wütenden Moment deines Lebens zur Verfügung :-) ! Es ist gut möglich, dass dieses Vorgehen nicht sofort in der „Live-Situation“ funktionieren wird. Wenn du bemerkst, dass du dich schwer tust, dann nimm die aktuellen Wutsituationen und drösele sie im Nachhinein für dich auf. Das kann helfen, deine Wutmuster näher kennen zu lernen. Als heutige Übung durchzuführen.

empfehle ich dir sofort eine Trockenübung

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Du hast hoffentlich bereits 2-3 Situationen aus der Vergangenheit aufgeschrieben, in denen du wütend warst (du erinnerst dich? Die Aufgabe lautete, nachzuvollziehen, welche Gedanken es waren, die deine Wut befeuert haben.). Nimm dir diese Situationen nun wieder zur Hand. Nutze sie jetzt, um zu erspüren, welche Bedürfnisse du in den Situationen hattest, worum es dir eigentlich ging, als du so wütend warst. Das hilft dir, ein Gefühl zu bekommen, was sich dann „live“ abspielen kann. Zudem möchte ich dich einladen, zunehmend die „leiseren Töne“ deiner Wut zu erkunden. Wut kommt selten „plötzlich“ in uns auf. Sie kündigt sich meistens mit anderen unangenehmen Gefühlen an: innerer Druck, Frustration, Unmut, leichte Verärgerung... Wann immer du dich z.B. ärgerst oder auch Frust hast, nimm auch diese Gefühle zum Anlass deine Bedürfnisse dahinter zu erkunden. Werde dir der Gedanken bewusst, die dich in die Wut bringen und frage dich stattdessen:

Was brauche ich in diesem Moment? Was hungert da so sehr in mir?

Und noch eine Anregung: Übe dich in Geduld dir selbst gegenüber! Auch wenn es die ersten Male nicht klappt, bleib dran!

Es ist ein Prozess!

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8. Selbstmitgefühl ein wichtiger Schlüssel zum Glück Das Thema Selbstmitgefühl ist für den souveränen Umgang mit Wut von zentraler Bedeutung. Ich weiß, wir Menschen, die wir geprägt sind von Schuld- und Straf-Denkmustern kommen erstmal nicht auf die Idee, uns Mitgefühl zu schenken, wenn wir trotz aller guten Vorsätze wieder einmal geplatzt sind - besonders wenn dies im Umgang mit einem von uns geliebten Menschen passiert ist. Nachdem wir uns nach einem Wutausbruch wieder gefangen haben, kommt meistens der Moment, in dem ein Prozess der Selbstzerfleischung einsetzt. Dann beginnen innere Monologe, wie z.B.: „Du bist die schlechteste Mutter/der schlechteste Vater der Welt.“ „Du packst es einfach nicht, deine Mitmenschen gut zu behandeln.“ „Du bist unfähig, selbst bei solchen Lappalien ruhig zu bleiben.“ Erkennst du dich darin wieder? Dann hast du vermutlich bereits mehrfach die Erfahrung gemacht, dass diese Selbstkritik zu nichts führt, es in der nächstbesten Situation trotzdem wieder zu einem Wutausbruch kommt und du dich danach wieder elend fühlst. Ein Teufelskreis, der in manchen Fällen bis in die Depression führen kann. Das Tragische ist zudem, dass sich unser Verhalten im Angesicht dieser Selbstkritik niemals positiv verändern wird, ja gar nicht verändern kann! Unter solchen Umständen können wir uns für "alternative Verhaltensweisen" nämlich nicht öffnen. Wir lenken unsere Gedanken immer wieder hin zu dem, was wir nicht wollen und das verstärkt die Scham- und Schuldgefühle in uns. Die Angst, wieder zu versagen, lähmt uns 30

so sehr, dass wir nicht in der Lage sind, in uns hinein zu spüren. Der Blick für die Bedürfnisse bleibt verschlossen und wir kommen von einer gnadenlosen Selbstkritik in die nächste. Als wirksames Gegengift propagiere ich daher Selbstmitgefühl! Was ist Selbstmitgefühl? Selbstmitgefühl ist die Fähigkeit wohlwollend und freundlich mit sich selbst umzugehen. Aus der Arbeit mit meinen Klienten weiß ich, dass viele Menschen Schwierigkeiten haben, einen solchen Umgang mit sich zu pflegen. Sie selbst sind häufig ihre ärgsten Kritiker. Um deine Wut vollständig ausdrücken zu können, ist es jedoch von zentraler Bedeutung, dass du lernst, dir selbst Mitgefühl zu geben und dass du damit dann aufhörst, dich selbst zu zerfleischen, wenn du dich deinem Kind oder einem anderen Menschen gegenüber „schlecht“ benommen hast! Mit Selbstkritik boykottierst du dich ausschließlich selbst! Damit bereitest du den Nährboden für Verzweiflung und rutschst ggf. in eine handfeste Depression. Letztendlich hilft das niemandem weiter. Du hast inzwischen gelernt, dass deine Wut ein Notsignal für ein unerfülltes Bedürfnis ist. Selbstmitgefühl ist die Komponente, die dich aktiv dabei unterstützt, deine Wut sofort als diesen Hinweis zu erkennen und dir zudem einen schnelleren Zugang zu deinen Bedürfnissen gewährt. Wenn du wütend wirst, fordert dich das Leben in dir auf, gut für dich zu sorgen! Und dann ist es natürlich sinnvoll, dich dir selbst freundlich zuzuwenden.

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Aus einer Haltung der Güte und Milde heraus, kannst du dich fragen, was du in der Situation brauchst? Dein Mitgefühl dir selbst gegenüber ist sozusagen ein direkter Zugang zu deinen Bedürfnissen. Mach dir bewusst, dass deine Bedürfnisse (genau wie deine Gefühle) sein dürfen. Folgender Satz, den du gern auch wieder als Mantra anwenden kannst, könnte dir dabei dienlich sein: „Meine Bedürfnisse sind genauso wichtig und richtig, wie die Bedürfnisse eines jeden anderen.“ Mitgefühl für dich selbst aufzubringen ist zudem eine essentielle Komponente für das Mitgefühl mit deinen Mitmenschen. Ich vertrete die These, dass du nur dann aufrichtig mitfühlend und liebevoll mit deinen Mitmenschen sein kannst, wenn du dir selbst freundlich, mitfühlend und nachsichtig begegnen kannst. Das hat einfach etwas mit unserer Energie zu tun. Wenn wir uns selbst gut behandeln, kommen wir in eine innere Kraft, die uns natürlich auch im Umgang mit anderen Menschen zur Verfügung steht.

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Was unterscheidet Selbstmitgefühl von Selbstmitleid? An dieser Stelle möchte ich gern betonen, dass Selbstmitgefühl gar nichts mit Selbstmitleid zu tun hat, die beiden Begriffe jedoch leicht verwechselt werden. Darum möchte ich den Unterschied zwischen den beiden Begriffen hier deutlich herausstellen: Wenn wir uns bemitleiden, dann verstärken wir unser Leid, indem wir die Urteile („Ja, ich bin unfähig, ein Versager.“) und Interpretationen („Ich bin total blockiert und nicht in der Lage, mir Selbstmitgefühl zu geben.“) über uns selbst lediglich verstärken. Die Folge ist, dass wir uns noch unwohler fühlen. Wir kommen aus dem Selbstmitleid auch leicht in die Opferhaltung („Ich armes Opfer meiner Umstände.“), die ich weiter oben beschrieben habe und aus der wir ja heraus wollen. Selbstmitgefühl ist (ich wiederhole) die Fähigkeit, mit sich selbst wohlwollend und mitfühlend umzugehen. Wenn wir uns aufrichtiges Mitgefühl entgegenbringen, dann hat diese Haltung eine Qualität, in der alle Gefühle so sein dürfen wie sie sind. In der Haltung des Selbstmitgefühls haben wir weder den Drang, Gefühle zu unterdrücken, noch verstärken wir sie durch unsere Urteile/Interpretationen. Wir nehmen dann z.B. einfach wahr, dass wir im Augenblick erschöpft, traurig oder gereizt sind. Wir übernehmen also Verantwortung dafür, wie wir unsere Realität gerade erleben. Ein innerer Dialog in der Haltung des Selbstmitgefühls könnte dann z.B. wie folgt ablaufen: „Ja, ich bin überfordert und genervt, wenn mein 3-Jähriger voll ausflippt und mit Sachen um sich wirft. Ich hatte dazu noch einen anstrengenden Tag heute im Büro. Ich brauche Ruhe und Leichtigkeit.“

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Kraftquelle Selbstmitgefühl Selbstmitgefühl ist besonders dann hilfreich, wenn die Ursache für unsere Wut in unerfüllten Bedürfnissen zu finden ist, die unserer Kindheit entstammt. Es kommt gar nicht selten vor, dass unsere Kinder uns durch ihr Verhalten unbewusst an unsere eigene Kindheit erinnern. In diesen Situationen poppen dann häufig die Glaubens- und Erziehungssätze unserer Eltern auf. Die können z.B. lauten: „Mit dem Essen spielt man nicht.“ „Ein Junge weint nicht.“ „Wenn man etwas falsch gemacht hat, dann muss man dafür Reue zeigen.“ „Benimm dich! Was sollen nur die Nachbarn denken!“ Wenn wir solche Sätze in unserer Kindheit häufig gehört haben und diese Überzeugungen auf einer rationalen Ebene zwar anzweifeln und in Frage stellen, kann es trotzdem vorkommen, dass sich im Alltag mit unseren Kindern unser eigenes "inneres Kind" meldet, wenn wir Situationen erleben, die unsere Eltern mit uns anders gehandhabt haben, als wir dies (rational) für richtig halten. Wir erlebten damals häufig, dass wir mit unseren Bedürfnissen gar nicht gesehen wurden und unsere Eltern erzogen uns in die von ihnen gewünschte Richtung. Ich erlebe selbst immer wieder, wie diese alten ungesehenen Bedürfnisse immer noch in mir hungern. Da ich inzwischen ein wenig Übung habe, bin ich in der Lage, diese alten Gefühle und Bedürfnisse von damals wahrzunehmen und anzuerkennen. Damit nehme ich mein inneres Kind liebevoll in den Arm und gebe mir selbst die Kraft, die ich brauche, um u.a. aus den Wutmustern auszusteigen.

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Dies ist ein wirklich heilsamer Weg. Ich habe inzwischen viele Stunden mein inneres Kind gehalten, ihm Mitgefühl geschenkt, ihm zugehört, alte Bedürfnisse angesehen und sie mir zugestanden. So, als wäre ich mir selbst ein mitfühlendes und nachsichtiges Elternteil. Dieses aktiv angewendete Selbstmitgefühl macht uns unabhängig von der Zuwendung durch unsere Umgebung. Somit wird Selbstmitgefühl zu einer unerschöpflichen Quelle für Kraft und Energie. Gleichzeitig erleichtert uns die mitfühlende Zuwendung, die wir uns selbst geben den Zugang zu unserer Umwelt. Wenn du dir in den Situationen, in denen du einen Wutausbruch hast, selbst mitfühlend begegnen kannst, kannst du auch leichter dazu übergehen, dein letztes (Fehl-)Verhalten gemeinsam mit deinem Kind oder einem anderen Betroffenen zu betrauern. Damit schaffst du den Raum, deine eigenen Bedürfnisse gleichrangig mit denen des anderen zu sehen und dich auf beides einzustellen sowie einzulassen. Um dieses Wissen zu vertiefen, möchte ich dir heute folgende Übungsaufgabe an die Hand geben: Übe den ganzen Tag lang, dir selbst gegenüber freundlich und wohlwollend zu sein im Angesicht all der Dinge, die heute „schief laufen“ (wenn du erst abends mit dem Buch arbeitest, dann gilt diese Übung für den morgigen Tag). Lass immer wieder bewusst ab von Selbstkritik, wenn du sie wahrnimmst. Tue heute den ganzen Tag lang einfach so, als wärst du deine beste Freundin/ dein bester Freund. Als krönenden Abschluss schreibst du

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dir aus diesem Blickwinkel heute Abend einen Brief und übst darin Mitgefühl für alles, womit du heute unzufrieden gewesen bist. Anstatt dich selbst zu bewerten und abzuwerten, sagt dir dieser Freund, „Das kann uns allen passieren!“ oder "Du hast dein Bestes gegeben." Um diesen Fokus zu verstärken, notiere, was du am heutigen Tag alles geschafft hast und wofür du dankbar bist. Wenn du dies von nun an täglich notierst, wird sich dein Fokus immer mehr auf die förderlichen Dinge in deinem Leben richten und du kommst automatisch heraus aus destruktiven Verhaltensweisen dir selbst gegenüber. Halte auch schriftlich fest, wie es dir mit dem Selbstmitgefühl geht. Welche Gefühle werden in dir lebendig, wenn du dir selbst freundlich und wohlwollen begegnest? Notiere auch, wenn es sich zunächst ungewohnt, merkwürdig usw. anfühlt. Viele Menschen, die ich bisher zu Selbstmitgefühl angehalten habe, meldeten mir zurück, dass sie sich damit „egoistisch“ vorkommen. Wenn du ebenfalls solche Gedanken hegst, dann lese dir noch einmal die obere Passage durch und werde dir wirklich bewusst, dass du nur dann liebevoll, freundlich und mitfühlend mit anderen sein kannst, wenn du es auch mit dir selbst bist!

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Aus dieser Perspektive heraus ist es weder egoistisch noch rücksichtslos, wenn wir Selbstmitgefühl praktizieren. Es ist tatsächlich zum Wohle aller! Erlaube dir vom heutigen Tag aus vollem Herzen dir selbst freundlich und wohlwollend zu begegnen. Jeden Augenblick deines Lebens! Je häufiger du dich auf eine milde und nachsichtige Perspektive mit dir selbst einlässt, desto genährter wird deine Seele. Du bekommst aus dir selbst heraus die Stabilität, die es braucht, um auch deinem Kind und anderen Menschen gegenüber dauerhaft mitfühlend und empathisch zu sein! Ich möchte dir dazu noch eine kleine Meditation mit an die Hand geben, die du quasi zu jeder Zeit an fast jedem Ort ausführen kannst: Setz dich aufrecht hin und lege deine Hände auf dein Herz. Spüre die Wärme und den sanften Druck deiner Hände auf dem Brustkorb, oder wähle eine andere umsorgende Berührung, die dir guttut. Sage dann zu dir selbst: „Möge ich wohlwollend und freundlich mit mir selbst umgehen“ Das ist Mitgefühl! Wiederhole diesen Satz, so oft, bis dir wörtlich ganz warm ums Herz wird. Du kannst auch andere Sätze verwenden, die in diesem Moment besonders gut zu deiner speziellen Situation passen, z.B.

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„Möge ich mir selbst das Mitgefühl geben, das ich brauche.“ „Möge ich gut für mich sorgen.“ „Möge ich mich so annehmen wie ich bin.“ „Möge ich mir selbst vergeben.“ „Möge ich stark sein.“ „Möge ich sicher und geborgen sein.“ „Möge ich in Frieden sein, mögen wir in Frieden sein.“ „Möge ich …“

Arbeite damit, so oft du es brauchst und schau, was passiert in dir und deinem Umfeld!

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9. Deine Wut vollständig ausdrücken Wie ich bereits ganz am Anfang erwähnt habe, geht es uns in unserem Leben darum, uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Du hast gelernt, dass du Aufgrund unerfüllter Bedürfnisse und deiner eigenen Urteile/ Schuldzuweisungen/ Glaubenssätze, etc. in die Wut kommst. In diesem Kapitel kommt nun all dies zusammen. Ich zeige dir im Folgenden, wie du deine Wut durch den in dir ablaufenden Reflexionsprozess, den du im Laufe der letzten Tage geübt hast, vollständig ausdrücken kannst, ohne dabei jemanden anzuschreien oder handgreiflich zu werden. Dies in einer „Live-Situation“ umzusetzen setzt voraus, dass du in der Lage bist, deine Gefühle und Bedürfnisse in dem Augenblick wahrzunehmen, wenn du Wut in dir aufzuwallen spürst. Das hast du bislang geübt, wenn du die vorangehenden Kapitel aktiv bearbeitet hast. Ich bin mir bewusst, dass dies noch einiges mehr an Übung brauchen könnte und möchte dich ermutigen, einfach weiter zu üben. Dabei kann dich bewusstes Atmen immer wieder unterstützen. Auch die mitfühlende Auseinandersetzung mit der Situation im „Nachhinein“ kann dir helfen, zukünftig gleich bei deinen Bedürfnissen zu bleiben. Für den Anfang ist es ausreichend, wenn du mit deinen notierten Situationen übst und diesen Ansatz in einer ähnlichen Situation „live“ anwendest. In diesem Kapitel geht es also darum laut auszusprechen, was du in den letzten Tagen an Gefühlen, Bedürfnissen und Mitgefühl in dir erkundet hast. Heute übst du, Gewaltfreie Kommunikation im Alltag tatsächlich anzuwenden!

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Da es für dich vielleicht wirklich ungewohnt ist, dich auf diese Art auszudrücken, gebe ich dir (obwohl ich Rezepte grundlegend ablehne) ein Muster zur Vorgehensweise an die Hand, an dem du dich anfangs orientieren kannst. Es dient der Übung, damit du dich daran gewöhnst, diese Elemente in deine Kommunikation einzubauen. Wenn du eines Tages routinierter darin bist, läuft der Prozess wesentlich intuitiver ab. Es ist normal, dass es sich zunächst „holprig“ oder „ungewohnt“ anfühlt. Lass dich also davon nicht abschrecken! Also, los geht’s! Sprich nacheinander aus, was auf die folgenden Punkte zutrifft: 1. Was genau hat dein Kind / Partner / Kollege... getan, wodurch verhindert wird, dass sich deine Bedürfnisse erfüllen? 2. Welche Gefühle nimmst du hinter der Wut wahr? Angst, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Traurigkeit, Schreck, etc.? 3. Welche Bedürfnisse werden von ihnen ausgedrückt und sind nicht erfüllt worden? 4. Was brauchst du von deinem Kind / Partner / Kollegen... in Bezug auf dein Gefühl und dein unerfülltes Bedürfnis? Ich gebe dir dazu ein paar Beispiele dafür, wie das klingen kann. 1. Kind mag sich am Morgen nicht anziehen: „Du hast ‘Nein’ gesagt, als ich dich bat, deinen Sachen anzuziehen. Ich bin gerade ganz hilflos, weil ich jetzt gleich mit dir in die Kita gehen möchte und danach zur Arbeit. Mein Chef verlässt sich darauf, dass ich pünktlich zur Arbeit komme. Ich brauche Unterstützung und Leichtigkeit. Kannst du mir sagen, was dich daran hindert, deine Sachen anzuziehen?“

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2. Zwei Kinder streiten: „Ich höre euch beide schreien. Das bereitet mir Schmerz in meinem Ohr und ich bin ganz ratlos, weil ich nicht weiß, worum es euch gerade geht. Außerdem wünsche ich mir Frieden und Ruhe im Haus. Könnt ihr mir nacheinander sagen, worum es euch geht?“ 3. Dein Partner kommt nach Hause und hat etwas vergessen, worum du ihn gebeten hast: „Ich sehe, du hast die Kartoffeln nicht eingekauft, um die ich dich gebeten habe. Ich bin frustriert, weil ich sie für das Abendessen eingeplant hatte. Ich wollte gern Leichtigkeit, indem du mir diesen Weg zum Supermarkt abnimmst. Kannst du sie bitte noch holen? Oder hast du eine andere Idee, was wir heute alternativ zum Abendessen haben?“

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Es handelt sich hierbei um Beispiele, die dir eine Orientierung geben können, wie das vollständige Ausdrücken deiner Wut ablaufen kann. Es gibt unzählige Beispiele und jede Situation ist anders. Also halte nicht zu sehr an starren Satzkonstruktionen fest. Ganz am Anfang sagte ich ja, dass es darum geht, Gewohnheiten zu ändern. Bei all dem geht es also darum, deinen gewohnten Umgang mit der Wut von den Schuldzuweisungen / Urteilen / Verallgemeinerungen, etc. weg hin zu deinen Bedürfnissen zu lenken. Dazu möchte ich dich zu folgender Übung anregen: Nimm deine Notizen hervor und bearbeite die Situationen, die du anfangs notiert hast nach dem o.g. Muster. Wenn du die Zeit zurück drehen könntest, was hättest du mit deinem heutigen Wissen gesagt, anstatt auszuflippen? Sprich dies auch laut aus, damit du auf deinen Lippen ein Gespür für die Formulierung deiner Bedürfnisse bekommst. Außerdem lade ich dich ein, ab jetzt „live“ zu üben, so oft du kannst. Nutze dafür Situationen, in denen du dich z.B. ärgerst oder Frust verspürst, ohne dabei gleich wütend zu sein. Dies ist ein guter Einstieg für dich, weil Ärger und Frust die Vorstufen zur Wut sind.

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10. Mehr Gelassenheit und Frieden in der Familie etablieren Du kannst den Fokus auf die Bedürfnisse in deiner gesamten Familie etablieren, wenn du dich im täglichen Umgang damit übst. Besonders Kinder nehmen diese Art miteinander zu sprechen schnell auf. Es macht Spaß, sich an deinen Bedürfnissen und denen deiner Lieben auszurichten und zu schauen, was ihr tun könnt, damit so viele Bedürfnisse wie möglich erfüllt werden. Wenn wir den Fokus auf die Bedürfnisse richten, öffnen sich Türen und das Miteinander wird wärmer, liebevoller und friedvoller. Somit kann der Ausstieg aus deiner Wut der Beginn eines neuen Miteinanders werden.

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11. Über die Autorin Ich bin Mareike Lange und lebe mit meiner Familie in der schönen thüringischen Landeshauptstadt Erfurt. Mein Leben war lange Zeit geprägt von einer Wut, die ich in mir trug und die ich des Öfteren an meinen Mitmenschen entlud. Dadurch haben gerade die mir liebsten Menschen um mich herum häufig zu leiden gehabt und ich selbst war ebenfalls sehr unglücklich damit, weil ich mich in einem Taumel aus Wut und Schuldgefühlen befand. Dass dies ein Verhaltensmuster ist, das ich in meiner Kindheit erlernt habe, wurde mir erst bewusst, als ich Anfang 2012 zum ersten Mal der Gewaltfreien Kommunikation begegnete. Das war eine Offenbarung und ich bin dankbar, dass die Haltung der Gewaltfreien Kommunikation zunehmend meine eigene geworden ist. Ich bin überwiegend im Frieden mit mir selbst und meinen Mitmenschen. Das bedeutet nicht, dass ich keine Konflikte mehr habe und keine Wut mehr spüre. Ich habe dank der GFK einfach gelernt, diese wie oben in den Kapiteln beschrieben, zunehmend vollständig auszudrücken. Dadurch habe ich viele Konflikte einfach nicht mehr. Und wenn sich dennoch in unachtsamen Momenten Streit oder Wut anbahnt, sind die Situationen weitaus weniger aussichtslos. Ich weiß einfach, dass ich immer einen Weg finden kann, meine Bedürfnisse zu artikulieren und meine Mitmenschen dazu einladen kann, zur Erfüllung dieser beizutragen. Außerdem höre ich inzwischen auch aus den Vorwürfen anderer die Bedürfnisse heraus und übersetze sie intuitiv. 44

Ich möchte dich ermutigen, diesen Weg der Gewaltfreiheit und der Bedürfnisorientierung ebenfalls zu gehen. Es lohnt sich, weil dies der Weg der Liebe und des Friedens ist und uns mit tiefen und an Bedürfnissen ausgerichteten Beziehungen belohnt.

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12. Gefühlsvokabeln für den Alltagsgebrauch Angenehme Gefühle:

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Unangenehme Gefühle:

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