Aus der Praxis
Psychotherapie im Dialog 4• 2013
Hans-Christoph Friederich • Wolfgang Herzog • Beate Wild • Henning Schauenburg
Fokale Psychodynamische Psychotherapie der Anorexia nervosa
Im Zuge der wachsenden Bedeutung von Evidenzbasierung und Störungsorientierung von Psychotherapie ist die Entwicklung von Behandlungsmanualen auch für die Psychodynamische Therapie unverzichtbar geworden. Im Rahmen einer großangelegten, multizentrischen Vergleichsstudie zur ambulanten Psychotherapie der Magersucht (Anorexia Nervosa Treatment of Outpatients, ANTOP) wurde ein Manual zur fokalen Psychodynamischen Psychotherapie der Anorexie verwendet, das im folgenden Beitrag vorgestellt wird. Hintergrund
accepted). Für die störungsorientierte, kogni-
hen, bei dem die intrapsychische Entwick-
tive Verhaltenstherapie zeigte sich ggü. der
lung im Rahmen biologischer Einwirkungen
Wirksamkeit erwiesen Die Wirksam-
Kontrollbehandlung ebenfalls eine verbes-
und unter dem Einfluss soziokultureller und familiärer Interaktionen verläuft.
keit ambulanter Psychotherapie der Ma-
serte klinische Wirksamkeit, die jedoch das
gersucht wurde bisher nicht systematisch
Signifikanzniveau nicht erreichte. Im folgen-
untersucht, sodass die aktuelle S3-Leitlinie
den Beitrag werden die Kernelemente des im
Pubertät als Auslöser Der bevorzugte
Essstörung (Leitliniengruppe Essstörung
Rahmen der Studie erarbeiteten Manuals für
Beginn der Magersucht in der Pubertät mit
2010) noch zum Ergebnis kommt, dass kei-
die fokale Psychodynamische Behandlung
engem zeitlichem Zusammenhang zur Men-
ne hinreichend effektive, evidenzbasierte
der AN vorgestellt.
arche weist auf konflikthaft verarbeitete An-
rexia nervosa (AN) vorliegt. Im Rahmen der
Störungsorientierung Das Manual sieht
deutsam in dieser Entwicklungsphase sind
durch das Bundesministerium für Bildung
eine störungsspezifische Weiterentwick-
▶ die Auseinandersetzung mit der körper-
und Forschung (BMBF) geförderten Psycho-
lung Psychodynamischer Therapie in zwei-
lichen Reifung und Identitätsbildung als
therapieverbünde (2006–2013) wurde die
erlei Hinsicht vor:
Wirksamkeit ambulanter Psychotherapien
▶ Zum einen wird ein therapeutischer Rah-
forderungen dieses Lebensabschnitts hin. Be-
Behandlungsform für Erwachsene mit Ano-
bei AN abgesichert.
men definiert, der Klarheit und Sicherheit hinsichtlich des Umgangs mit kör-
Frau, ▶ die Lösung von primären Bezugspersonen ▶ und die Entwicklung eines autonomen, erwachsenen Selbst.
Ergebnisse der ANTOP-Studie Inwie-
perlich stabilen Anorexie-Patientinnen
weit ein manualisiertes, speziell auf die
(Body-Mass-Index [BMI] > ca. 15 kg/m²)
tionen, in denen es zu einer Zunahme der
Eigenheiten des Erkrankungsbildes abge-
im ambulanten Setting vermitteln soll.
anorektischen Symptomatik kommen kann,
stimmtes psychodynamisches oder verhal-
▶ Zweitens werden Anregungen gegeben,
sind erste Partnerschaften, Au-pair Aufent-
Typische Auslösesituationen bzw. Situa-
tenstherapeutisches Vorgehen der bisher üb-
inwieweit die allgemeine psychodynami-
halte, Ende der Schulzeit sowie reale oder
lichen Behandlung überlegen ist, wurde im
sche Therapietechnik störungsspezifisch
fantasierte Trennungen vom Elternhaus.
Rahmen der multizentrischen randomisiert-
für AN angepasst werden kann (Schau-
kontrollierten ANTOP-Studie untersucht
enburg et al. 2009, Schäfert et al. 2011).
Die Patientin bleibt „Kind“ Durch die
(Wild et al. 2009). Die Ergebnisse zeigen,
Erkrankung treten körperliche Verände-
dass eine manualisierte, störungsorientier-
rungen der sexuellen Reifung wie z. B. die
te Psychodynamische Therapie eine höhe-
Ursachen und Psychodynamik
re klinische Effektivität zum Zeitpunkt der
sekundären Geschlechtsmerkmale oder die Menstruation nicht ein oder werden zu-
1-Jahres-Katmanese aufweist, verglichen mit
Die Entstehung und Aufrechterhaltung der
rückgebildet. Der bewusste Verzicht auf die
der bisher üblichen Behandlung (Zipfel et al.
Magersucht ist ein multifaktorielles Gesche-
„Vergnügungen“ der Adoleszenz dient ano-
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Ein Behandlungsmanual für mehr Appetit aufs Leben
Psychotherapie im Dialog 4• 2013
Vor diesem Hintergrund wird die anorektische
▶ Hinsichtlich des Gewichtsziels gilt als allgemeine Empfehlung ein BMI von
Bewältigung der alterstypischen Verunsi-
Symptombildung psychodynamisch als dys-
cherungen. Durch die gewichtsbedingte Rei-
funktionaler Versuch einer Identitätsbildung,
fungs- und Entwicklungsverzögerung bleibt
der Abgrenzung bzw. Autonomiebildung sowie
▶ Des Weiteren sollte vorab mit der Pa-
die magersüchtige Patientin „Kind“ und ver-
der Befriedigung des Bedürfnisses nach Selbst-
tientin vereinbart werden, dass bei Un-
hindert die Ablösung vom Elternhaus.
kontrolle verstanden (Herzog et al. 2006). Infobox 1
gen Erkrankte ein ausgeprägtes Ringen um
Typische Beziehungskonstellationen:
Autonomie, Unabhängigkeit und Kontrolle,
▶ Bedürftigkeit wird abgewehrt, „Ich
personell auf die erfolgreiche Kontrolle von Hunger und Gewicht reduziert. Aus der Sicht der Objektbeziehungstheorie versucht der anorektische Identitätsentwurf die bedrohlich erlebte Objekt-Abhängigkeit zu negieren („Ich brauche niemanden“).
Dismissives Bindungsverhalten Das Beziehungsverhalten von AN-Patientinnen ist
handlung notwendig ist.
Monitoring und Mahlzeitenstruktur
brauche niemanden“
Vorstellungen beim Hausarzt einschließ-
▶ andere Personen werden aufopferungsvoll umsorgt
lich laborchemischer Verlaufskontrollen sollten mindestens einmal alle 2 Monate
▶ Überangepasstheit und Folgsamkeit zur Vermeidung interaktioneller Konflikte ▶ Patientin möchte „anders“ sein und dennoch das „Kind“ bleiben
durchgeführt werden, in Abhängigkeit von körperlichen und psychischen Risikokonstellationen (z. B. ausgeprägtes „purging“ Verhalten) auch häufiger (Friederich 2008).
▶ unbewusster Vorwurf an die Familie
Zu den nicht verhandelbaren Vereinbarun-
▶ Untergewicht sichert Aufmerksamkeit
gen zählt des Weiteren eine regelmäßige
und Zuwendung
Mahlzeitenstruktur mit 3 Haupt- und 3–4
durch eine elementare Objektverlustangst
Zwischenmahlzeiten. Zusätzlich erhalten
sowie ein unsicher-vermeidendes („dismissives“) Bindungsverhalten gekennzeichnet.
terschreitung des BMI von 14 kg/m² über mehr als 2 Wochen eine stationäre Be-
Streben nach Autonomie Daneben zei-
was sich häufig intrapsychisch und inter-
mindestens 18,5 kg/m².
die Patientinnen einen Ernährungsleitfaden,
Therapeutischer Rahmen
der über basale ernährungsphysiologische
Dieses Bindungsmuster wird vermutlich
Grundlagen informiert.
beeinflusst durch frühe Erfahrungen von
Behandlungsvereinbarungen
In der
Täuschungsversuche Ausdruck der Am-
fehlender Verlässlichkeit und Vertrauen zu
Behandlung der AN ist ein therapeutischer
primären Bezugspersonen, die dazu geführt
Rahmen von grundlegender Bedeutung.
bivalenz und des Autonomiebedürfnisses
haben, dass elementare Abhängigkeitssitu-
Dieser vermittelt der Patientin Sicherheit
der Patientinnen ist meist eine Atmosphäre
ationen als bedrohlich und potenziell ver-
und ist die Voraussetzung für eine erfolg-
der Heimlichkeit und der Täuschung bezo-
nichtend erlebt wurden. Charakteristisch
reiche Gewichtszunahme sowie Integration
gen auf die Kernsymptome der Erkrankung.
für unsicher-vermeidende Bindungsmus-
neuer Erfahrungen. Hierzu zählen insbeson-
Häufig zu beobachten sind vorgetäuschte
ter ist das Minimieren der Bedeutung von
dere Vereinbarungen, die das Gewicht so-
Motivationsbekundungen zunehmen zu
Verbundenheit, um diese schmerzlichen
wie das medizinische Monitoring betreffen.
wollen, das Verstecken einer Gewichtsab-
Erinnerungen abzuwehren und eine innere Unabhängigkeit bewahren zu können.
nahme durch das Tragen weiter Kleidung so-
Gewichtszunahme
Körperlich stabi-
wie Gewichtsmanipulationen beim Wiegen.
len Patientinnen (BMI > ca. 15 kg/m²) ohne Durch Überangepasstheit ggü. den Eltern
schwerwiegende somatische oder psychi-
Therapiebarometer Gewicht Intrapsy-
werden konflikthafte Auseinandersetzun-
sche Komorbidität sollte primär eine am-
chische und interpersonelle Konflikte wer-
gen vermieden. Das distanzierte Bindungs-
bulante psychotherapeutische Behandlung
den über das dysfunktionale Muster der
verhalten ist mit einem Defizit emotionaler
angeboten werden.
Essstörung wie Hungern, Erbrechen, Essan-
Fähigkeiten assoziiert (Brockmeyer et al.
▶ Im ambulanten Bereich ist eine Gewichts-
fälle reguliert.
2012a), das eine Verarbeitung von negati-
zunahme von 400–600 g (keinesfalls
▶ Der Zugang sowie die Bearbeitung zu-
ven Erlebnissen einschließlich konflikthaf-
mehr als 1000 g) pro Woche anzustreben.
grundeliegender Ängste, Affekte und
ter Beziehungsthemen erschwert.
Die Patientin sollte 1 x pro Woche jeweils
Konflikte haben somit den Verzicht auf
vor der Therapiesitzung gewogen werden.
die „Symptomhandlungen“ als wesentli-
Für das Führen der Gewichtskurve sollte die
Durch die Magersucht „grenzt sich die Ano-
che Voraussetzung.
Patientin verantwortlich sein. Bis zu einer
▶ Eine Gewichtszunahme ist mit einer
rektikerin von der Familie ab, ohne sich tren-
signifikanten Gewichtszunahme von min-
vermehrten Wahrnehmung von Emotio-
nen zu müssen“ (Reich 2003).
destens einem BMI-Punktwert sollte die ak-
nen und Wünschen assoziiert.
tuelle Gewichtsentwicklung zur Eröffnung jeder Sitzung thematisiert werden.
▶ Durch die Gewichtszunahme verliert die Patientin die sie umgebende „schützende
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rektischen Jugendlichen möglicherweise zur
Aus der Praxis
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Anorexiehülle“, die ihr emotionale Sicher-
zeitliche Begrenztheit erfordert, dass das
heit gibt und zur Selbstwertstabilisierung
Ende akzeptiert und in die Therapieplanung
beiträgt (Brockmeyer et al. 2012a, b).
Infobox 2
von Beginn an mit einbezogen wird (Prinzip
Therapeutische Grundhaltung in der An-
eines therapeutischen Bogens).
fangsphase: ▶ Halt geben, strukturieren
Anfangsphase Therapeutische Grundhaltung Aufgrund
OPD-2 als Referenzsystem Die fokus-
der häufig fehlenden Krankheitseinsicht, der
orientierte Therapie setzt eine genaue psy-
Ambivalenz bezüglich der Behandlung sowie
chodynamische Diagnostik voraus.
der großen Bedeutung der Gewichtzunahme
▶ Für die Ableitung des Therapiefokus
für die Therapie ist in der Anfangsphase der
empfehlen die Autoren das Vorgehen
Behandlung der AN eine „aktivere“ Grund-
nach den Vorgaben der Operationalisier-
haltung des Therapeuten erforderlich:
ten Psychodynamischen Diagnostik (Ar-
▶ Therapeuten sollten aktiv auf die Gefah-
beitskreis OPD-2 2006).
▶ Vertrauen aufbauen (Unterstützung als „Mentor“) ▶ Zentrierung auf die Gewichtszunahme, ohne Druck auszuüben ▶ Einfühlen in die inneren Ängste und Erlebniswelt der Patientin ▶ Akzeptieren des häufigen „Hin und Her“ als Teil des Veränderungsprozesses ▶ Aushalten eigener Ohnmacht
ren der Magersucht hinweisen und ihre
Im Rahmen des OPD-Interviews werden
Patientin davon überzeugen, dass Thera-
auf verschiedenen Achsen u. a. maladap-
pie notwendig ist.
Motivationsphase
Für den Aufbau und
tive zyklische Beziehungsmuster, zentrale
Bei längerem Schweigen der Patientin bzw.
lebensbestimmende Konfliktthemen sowie
fehlender Motivation sollte interveniert
bündnisses ist es bedeutsam, Therapiehin-
strukturelle Einschränkungen erfasst. Im
werden. Die Zentrierung auf die Gewichts-
dernisse ausführlich zu thematisieren. Die
Anschluss an das OPD-Interview wird der
zunahme sollte erfolgen, ohne zu viel Druck
AN-Patientin entwickelt im therapeutischen
Therapiefokus formuliert und festgelegt, in-
auf die Patientin auszuüben.
wieweit dieser eher konflikt- oder struktur-
Kontakt große Angst vor dem Verlust ihrer inneren Unabhängigkeit und Autonomie.
bezogen bzw. gemischt konflikt- und strukturbezogen ist.
die Förderung eines therapeutischen Arbeits-
▶ Das anorektische Muster ist für viele
Mit der Gewichtzunahme sollte frühestens
AN-Patientinnen zum inneren Ratge-
4 Wochen nach Beginn der Behandlung und
ber geworden, dem sie blind vertrauen.
nach Aufbau eines therapeutischen Arbeits-
Daher sollte intensiv daran gearbeitet
stellen sich als beziehungsdynamische For-
bündnisses begonnen werden. Dies dient
werden, welche Vor- und Nachteile die
mulierung häufig wie folgt dar:
dazu, die Patientin nicht zu früh unter Druck
Erkrankung für die Patientin hat.
Die psychodynamischen Aspekte der AN
zu setzen und die Gewichtszunahme vorzu-
Ferner kann gemeinsam versucht werden
bereiten.
zu antizipieren, wie das Leben ohne Ano-
„Die Patientin fühlt sich von anderen Men-
rexie aussehen könnte. Das Anstoßen von
schen kontrolliert und im Stich gelassen und
Reflexionsprozessen sowie das probeweise
reagiert darauf einerseits, indem sie für an-
Gefahr von Machtkämpfen Ziel sollte
dere sorgt und sich kümmert, aber auch mit
die Stärkung desjenigen Persönlichkeitsan-
bensseite erweist sich als sehr hilfreich zur
Rückzug und betonter Unabhängigkeit, ins-
teils sein, der für eine Gewichtszunahme
Förderung der Therapiemotivation.
besondere in Bezug auf die Nahrungsaufnah-
motiviert ist. Hauptgefahr für den Thera-
me und das Gewicht. Andere erleben die Pa-
peuten liegt darin, sich mit der Patientin in
Ambivalenz der Patientin Diese sollte
tientin als kontrollierend und sich entziehend.
Machtkämpfe zu verstricken. In diesen fühlt
als natürliche Phase des Veränderungspro-
Darauf reagieren sie dann häufig mit einer
sich die Patientin zwangsläufig unterlegen
zesses gesehen werden, stellt jedoch „kei-
Mischung aus Zuwendung, forcierter Kon-
und reagiert mit Gewichtsstillstand bzw.
nen Ort zum Verweilen dar“. Sofern die
trolle und Rückzug, was wiederum von der
Gewichtsabnahme. Dies erfordert eine hohe
Patientin sehr ambivalent bleibt und keine
betroffenen Patientin als Bevormundung oder
Flexibilität auf Therapeutenseite. Ferner
Fortschritte in der Behandlung erkennbar
auch im Stich gelassen werden erlebt wird.“
scheint ein empathisches Einfühlen in die
sind, sollte dies frühzeitig thematisiert wer-
anorektische Erlebniswelt der Patientin so-
den. Jedoch ist es wichtig, Betroffene in der
wie das Akzeptieren des häufigen „Hin und
Anfangsphase nicht zu schnell zu konfron-
Her“ als Teil des Veränderungsprozesses
tieren, da auch die Wünsche des Therapeu-
Therapiephasen
Identifizieren mit der abgespaltenen Le-
wesentlich, da es der Patientin die notwen-
ten an die Patientin vehement abgelehnt
dige Offenheit und Unabhängigkeit vermit-
werden und Impulse von sozialem Rückzug
Das Manual wurde für eine Therapiedau-
telt, an der Entwicklung neuer Perspektiven
und Selbstkontrolle verstärken.
er von insgesamt 40 Sitzungen erstellt. Die
im Umgang mit der Erkrankung zu arbeiten.
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Diagnostik und Fokusableitung
Psychotherapie im Dialog 4• 2013
▶ Die Patientinnen leiden häufig massiv un-
▶ Die Entfaltung der im Fokus definier-
Die therapeutische Beziehungsgestaltung
ter einem Streben nach Perfektion sowie
ten Symptomatik wird gezielt durch
lebt von der Spannung zwischen Autonomie
der ständigen Angst, Fehler zu machen.
typische psychodynamische Interventi-
gewähren einerseits (äußert sich in Rebellion
Therapeuten sollten eine verständnisvolle
onstechniken unterstützt (spiegeln und
gegen die Therapie) und Übernahme der Für-
Haltung ggü. dem hohen Anspruchsdruck
klarifizieren von Affekten, Affekterleben
geln und Begrenzungen durch die Therapie).
einnehmen. Hierzu gehört auch, dass Therapeuten be-
intensivieren, Affektentlastung anbieten, etc.). Das therapeutische Vorgehen
reits kleine Behandlungsfortschritte ausrei-
in dieser Phase entspricht überwiegend
chend würdigen. Die meist unangemessenen
den allgemeinen Merkmalen fokaler
Die Herausforderung für den Therapeuten
generalisierenden Negativaussagen und das
Psychodynamischer Psychotherapie.
ist es, diese interaktionelle „Gratwande-
„Schwarz/Weiß-Denken“ der Patientin soll-
rung“ zwischen bedürftigen Wünschen
ten identifiziert und thematisiert werden.
und Autonomiebestrebungen der Patien-
Mit dem Rückgang der Affektverflachung durch die Gewichtzunahme und Locke-
tin möglichst flexibel auszubalancieren. In
Einbeziehung der Familie/Partner Am
rung der Abwehr spüren die Patientinnen
diesem Zusammenhang unausweichlich
Ende der Anfangsphase empfehlen die Au-
meist ihnen unbekannte und bedrohliche
auftretendes Ohnmachtserleben gilt es auf
toren, ein orientierendes Familien- oder
Gefühle. Im Verlauf können Zusammen-
Therapeutenseite auszuhalten, ohne über
Paargespräch durchzuführen. Mithilfe der
hänge zwischen auftretenden Affekten und
die beschriebene Rahmensetzung hinweg
familien-/paarorientierten Perspektive
interaktionellen Verhaltensmustern (auch
zu viel Druck auf die Patientin auszuüben.
werden aktuelle Beziehungskonflikte mit
zum Therapeuten) eher zugelassen wer-
Patientin und Therapeut sollten an eine Re-
realen Bezugspersonen aufgedeckt. Ferner
den und somit im therapeutischen Kontakt
mission und Genesung glauben.
entlastet das Familiengespräch die Eltern
bearbeitet werden. Die Patientin ist mögli-
von Schuldphantasien und vermittelt den
cherweise überrascht darüber, wie neidisch,
Angehörigen Informationen.
rachsüchtig, gierig etc. sie sein kann. Der
Infobox 3 Motivationsphase:
beziehungsdynamische Fokus erlaubt eine
▶ zunächst nicht wertendes Akzeptieren
Orientierung im Sinne eines roten Fadens,
des anorektischen Identitätsentwurfs
Ein therapeutisches Bündnis mit den Eltern
der die Arbeit an relevanten Beziehungsthe-
der Wunschlosigkeit
ist – insbesondere bei jüngeren Patientinnen
men erleichtert.
▶ therapeutische Hindernisse thematisieren (Angst vor Gewichtszunahme, Angst
– für den weiteren positiven Therapieverlauf unerlässlich.
vor Ausgeliefertsein und Abhängigkeit)
Abschlussphase Vorbereitung auf das Ende
▶ Information über Risiken und Folgen der
In der Ab-
schiedsphase geht es darum, die Autonomie
Mittlere Therapiephase
der Patientin weiter zu fördern, Trennung
Therapeutische Grundhaltung Die mitt-
und Abschied zu thematisieren und die in-
Veränderung und Gewichtszunahme
lere Therapiephase dient der fokalen Arbeit
nere Bereitschaft seitens des Therapeuten
anstrebt
an den Beziehungsmustern, zentralen Kon-
zu entwickeln, die Patientin gehen zu lassen.
Erkrankung ▶ Bündnis mit Persönlichkeitsanteil, der
▶ Ambivalenz als natürlicher Veränderungsprozess ▶ Diskrepanz zwischen aktuellem und angestrebten Zustand herausarbeiten ▶ „Wiederbeleben“ verbotener Prozesse der Wahrnehmung und des Erlebens
fliktthemen und strukturellen Schwächen.
Besonderheiten am Ende der Behandlung
Daneben wird die Gewichtsentwicklung
einer Patientin sind einerseits die zeitliche
weiter im Auge behalten. Die therapeutische
Dynamik des Verlaufs der Anorexie mit der
Haltung ist weniger aktiv und die Gewichts-
Thematisierung nicht erreichter Therapie-
kontrolle wird wieder mehr in die Verant-
ziele sowie die zentrale Bedeutung der Se-
wortung der Patientin gegeben. Anleitende
parationsangst.
und strukturierende Interventionen werden zugunsten einer Arbeitsbeziehung reduziert.
Selbstwertthematik
Infobox 4 Therapeutische Grundhaltung in der Ab-
Die Selbstwert-
Emotional-affektives Erleben im Fokus
schlussphase:
einen Therapieabbruch in der Anfangsphase
Im Zusammenhang mit der Gewichtszunah-
▶ Förderung der Autonomie, Selbstwirk-
(Halmi et al. 2005). Der fragile Selbstwert
me werden emotionale Belastungen und
sollte daher früh fokussiert und reguliert
konflikthafte Beziehungen stärker wahrge-
▶ Bereitschaft, Patientin gehen zu lassen
werden. Der Therapeut sollte gezielt Situati-
nommen, sodass auf affektives Erleben und
▶ Bilanzierung der Therapie
problematik gilt als bedeutsamer Faktor für
onen fördern, in denen sich die Patientin als
Emotionen intensiver eingegangen werden
Urheberin kompetenten Handelns erlebt hat.
kann.
samkeit
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sorge durch den Therapeuten andererseits (Re-
Chancen der zeitlichen Therapiebegrenzung Therapeuten sollten daher frühzei-
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Interessenkonflikt Der korrespondierende Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
tig das nahende Therapieende aktiv ansprechen („Therapie vom Ende her sehen“). Die Erfahrungen der ANTOP-Studie zeigen, dass die Chancen, die eine zeitliche Begrenztheit des Settings mit sich bringt, häufig unterschätzt werden. ▶ In der Schlussphase werden aufgrund der Separationsangst und der Angst vor Veränderung zentrale Konfliktthemen der Patientin berührt. Nicht selten kommt es in dieser Phase zu einer Zunahme von Symptomen der Essstörung. ▶ Die Reaktivierung alter dysfunktionaler
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den Therapieprozess genutzt werden. Das Zulassen der schmerzlichen Gefühle des Verlassenwerdens, von Trennung und Enttäuschungswut kann die Verselbstständigung unterstützen. In der ANTOP-Studie war die Therapiedauer und -dosis bei mehr als einem Drittel der Patientinnen mit 40 Sitzungen ausreichend.
Die Magersucht zeigt eine hohe Rate von Rückfällen innerhalb des ersten Jahres nach Behandlung und eine Neigung zu chronischen Verläufen. Vor diesem Hintergrund sollten Betroffene nach einer Behandlung regelmäßig hausärztlich oder psychotherapeutisch nachgesorgt werden.
Fazit Das Erkrankungsbild der Magersucht ist durch zahlreiche Paradoxien und Eigenheiten gekennzeichnet, die eine störungsspezifische Modifikation Psychodynamischer Psychotherapie erfordern. Das vorgestellte Psychodynamische Psychotherapiemanual hat zum Ziel, das störungsspezifische Verstehens- und Verhaltensrepertoire von Therapeuten für die Behandlung von AnorexiePatientinnen zu erweitern. Die Überprüfung des Manuals im Rahmen der multizentrischen ANTOP-Studie zeigte gute Behandlungsergebnisse und eine hohe Akzeptanz seitens der Therapeuten.
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PD Dr. med. HansChristoph Friederich Medizinische Universitätsklinik Heidelberg Abteilung für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik Im Neuenheimer Feld 410 69120 Heidelberg hans-christoph.friederich@ med.uni-heidelberg.de Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Innere Medizin, leitender Oberarzt der Abteilung für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg, Schwerpunkte: Essstörungen, psychobiologische Aspekte psychosomatischer Erkrankungen, Psychoonkologische Versorgungsforschung.
Prof. Dr. med. Wolfgang Herzog Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Facharzt für Innere Medizin, Geschäftsführender Ärztlicher Direktor des Zentrums für Psychosoziale Medizin der Universität Heidelberg, Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg, Forschungsschwerpunkte: Essstörungen, Somatoforme Störungen, Komorbidität psychischer und psychosomatischer Störungen bei körperlicher Krankheit.
Dr. Beate Wild, Dipl.-Psych. Dipl.-Math. Leitende Biometrikerin und Psychologin an der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Heidelberg, Leiterin der Sektion Psychosomatische Interventionsund Prozessforschung, Forschungsschwerpunkte: Essstörungen, Adipositas, Alternsforschung, Statistische Methoden.
Prof. Dr. med. Henning Schauenburg Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik, Universitätsklinikum Heidelberg Thibautstr. 2 69115 Heidelberg Henning.Schauenburg@ med.uni-heidelberg.de Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalyse, Professor für Psychosomatik und Psychotherapie an der Universität Heidelberg, stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg.
Beitrag online zu finden unter http://dx.doi.org/10.1055/s-0033-1363009
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