Bericht zur Roundtable-Konferenz

“Political Herstory – Women/Emancipation/Revolution/Feminism“ Vom 25.-27 Januar 2013 fand in Petersburg die zweite Roundtable Konferenz statt. Dieses auf historische Analyse zielende Format verfolgt zugleich das Ziel praxisnahe interdisziplinäre transnationale Kommunikationplattformen zu entwicklen. Das Projekt ist aus der langjährigen Zusammenabreit von AG Russland (BRD) und Humanistischer Jugendbewegung Murmansk (RF) erwachsen. Nachdem das Treffen im Dezember 2011 in Kronstadt im Kontext des 90. Jahrestages der KronstadtRebellion stand, wurde nun die Perspektive auf Geschichte und Gegenwart der Frauenemanzipation erweitert. Thematisch war das Treffen damit viel breiter angelegt als im vorletzten Jahr. Der Austausch zwischen Forscher_innen, politisch Aktiven und Künstler_innen insbesondere aus Deutschland, Russland, der Ukraine und Estland sollte jedoch wieder das Brennglas sein, das die vielfältigen Ansätze und Perspektiven bündelt. In methodischer Hinsicht verband die Veranstaltung daher zwei gleichwertige Arbeitsformate: ein formelles, im Format einer Konferenz, stärker durch „traditionelle“ Referate geprägt und ein informelles, der „Social Bar“ - einem interaktiven durch Diskussion in kleineren Gruppen geprägten Raum, in dem die Vorträge hinsichtlich gegenwärtiger praktisch politischer Herausforderungen für die Emanzipationsfrage kontextualisiert werden konnten.

Formaler Konferenzteil Mit den Einführungsvorträgen von Felicita Reuschling zur „Familie im Kommunismus“ und Deborah Jeromin zur „Spache der Solidarität“ waren die Mitreferierenden und lokalen Gäste (ca. 25-35 Teilnehmer_innen) schon mitten drin in einigen der für die Konferenz immer wiederkehrenden Fragen des Interesses – wie gestaltet sich gesellschaftliche Arbeitsteilung, unter welchen Bedingungen produzieren wir als politische Bildner_innen, Kunst- und Kulturschaffende sowie Wissenschaftler_innen und welche Perspektiven liegen in solidarischen Ansätzen, sowohl in der politischen Arbeit als auch hinsichtlich der ökonomischen Bedingungen unter denen wir wirken? Felicita Reuschlings Vortrag fragte, wie sich in Hinsicht auf Familienkonzeption und gesellschaftliche Arbeitsteilung das (in der deutschen Tradition durchaus gespaltene) Verhältnis von Marxismus und Feminismus in der sowjetischen Praxis zwischen 1917 und 1935 gestaltet? Anhand der Analyse der Schriften Alexandra Michailowna Kollontais zeigte Reuschling, wie auch in der sozialistischen Konzeption reproduktive Arbeit abgewertet und damit die liberaler, kapitalistischer Ideologie eigene Trennung von produktiver und unproduktiver Arbeit weitergeführt wird. Letztlich kam Reuschling zu dem provokanten Schluß, die von Kollontai formulierte Utopie einer freien Gesellschaft sei nichts weiter als die einer auf Produktivititätssteigerung ausgerichteten Gesellschaft, die eine alternative Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern nicht thematisiert und die kapitalistische Logik unter kommunistischem Vorzeichen fortführt. Deborah Jeromin untersuchte die Stellung von Solidarität in feministischem Denken und Handeln. Aufgrund deren zentralen Rolle plädierte Jeromin auch mit Blick auf die Konferenzsituation für eine Perspektive auf Solidarität, die über ein identitätspolitisches Verständnis hinausweist. Solidarität im feministischen Kontext

hat die Möglichkeit, sich auf mehr als auf an „win-win-Situationen“ orientierte strategische Allianzen zu berufen – und sie sollte dies auch. In auf einen langfristigen Dialog ausgerichteten gemeinsamen Prozessen der Anerkennung verschiedener und der Reflexion eigener Positionen, die Differenzen nicht verschweigt, sondern nutzbar macht, wird Solidarität nicht mehr zum Mittel, sondern zum eigentlichen Ziel. Eine wesentliche Perspektive für die Entwicklung von Solidarität liegt dabei in der Untersuchung der jeweils bestehenden Vorstellungen von Differenz – wer definiert Differenz, von welchen Normen geht (m)eine Gruppe aus, welche Zuschreibungen kommen von außen, wie gestaltet sich Repräsentanz, sind die Differenzen flach oder hierarchisch? Im Nachmittagspanel des ersten Tages warf Oleg Kluenkov einen Blick in die gegenwärtige Lage der Sexualaufklärung an russischen Schulen. In einem sehr informativen Vortrag zeichnete er die Positionen und Kampagnen der Gegner_innen nach und machte gleichzeitig die Folgen des Mangels an sexueller Aufklärung unter Jungendlichen in Russland deutlich. Hierbei, so Kulenkov, geht es um mehr als Abtreibungsstatistiken und die Ansteckungsgefahr mit Geschlechtskrankheiten – Sexualaufklärung birgt ein emanzipatorisches Element, in dem es um die Entwicklung eines positiven Verhältnisses zur Sexualität geht, die Befreiung aus Scham, Selbstbestimmung über den eigenen Körper und ein Verständnis von Sexualität, das über die Reproduktion in der heterosexuellen Familie und traditionelle Rollenvorstellungen hinaus geht. Im Anschluß präsentierten Lene Albrecht und Charlotte Eifler ihre Videoarbeit zur Inszenierung von Weiblichkeit in der populären Musik. Mit ihrer Verarbeitung von Songtexten seit den 70er Jahren thematisierten sie Mechanismen der Selbstinszenierung und Fremdzuschreibung von „Weiblichkeit“ vom sanften, zerbrechlichen Wesen der 1970er bis zum sexy powergirl des 21. Jahrhunderts. Die wesentliche These – in der Gegenwart werden inzwischen vielfach feministische Codes übernommen, nicht aber die Inhalte. Vielmehr „inszeniert sich“ der weibliche Körper als Projektionsfläche neoliberaler Vorstellungen und ist verbunden mit Wiederaufstehmentalität, herausgestellter Individualität und dem Ausblenden gesellschaftlicher Ursachen für mögliches Scheitern der/des Einzelnen.

Der zweite Tag der Konferenz folgte der Annäherung an „Political herstory“ im eigentlichen Sinne des Konzepts. In ihrem Vortrag zeichneten Dmitry Rublev und Eugeny Kazakov wesentliche Stationen des politischen Werdeganges der Anarchist_in Maria Nikiforova nach. Besonderes Interesse galt dabei der Intersexualität Nikiforas. Genau dies warf in der anschließenden Diskussion eine Reihe an Fragen auf – ist die Intersexualität Nikiforas eine Selbst- oder Fremdzuschreibung, wie sind die historischen Quellen zu beurteilen, hatte ihre (ob tatsächliche oder inszenierte) Intersexualität Einfluß auf die Wahrnehmung und Stellung Nikiforas als politische_r Akteur_in in ihrer Zeit und gab es in der anarchistischen Bewegung des frühen 20. Jahrunderts eine Reflexion der Bedeutung von auf körperlichen oder sexuellen Merkmalen beruhenden Ausgrenzungsmechanismen? Johannes Spohrs Beitrag widmete sich den nicht-erinnerten Akteurinnen der roten Armee im Zweiten Weltkrieg. Am Beispiel der Biografie Eva Vaters, eingeführt anhand von Filmausschnitten des Dokumentarfilmprojekts cectpa, machte Spohr in seinem Vortrag auf eine doppelte Marginalisierung Vaters aufmerksam – als Frau in der Roten Armee und als kämpfende (!) lettische Jüdin. Gemeinsam wurde erörtert, warum Geschichten wie ihre so wenig bekannt sind und welche Projekte dies ändern können? Am Ende der Diskussion fand sich eine Gruppe zusammen, die für den letzten Konferenzabend ein Screening des Films organisierte.

Einen wichtigen Beitrag zur Frage der Vielfalt der Forderungen und Selbstverständnisse feministischer Bewegungen lieferte Ekaterina Rodionova mit ihrem Vortrag zur Rolle der Frau in und nach der islamischen Revolution im Iran (1979). In diesem zeichnete sie die Entwicklung eines „islamischen Feminismus“ nach. Letzterer muß, so Rodionova, angesichts des Selbstverständnisses der islamorientierten Frauenbewegung im Iran als abstrakte Konstruktion verstanden werden. Feminismus eher als Schimpfwort denn als ein Bezugspunkt der Identifikation. Dennoch finden sich in der Bewegung auch Selbstbezeichnungen, insbesondere in den Strömungen, die frauenverachtende bzw. diskriminierende Lesarten des Islam kritisieren. Demgegenüber wird das Ideal eines echten Islam formuliert, der die Rechte der Frau achtet, aber nicht auf Gleichheit zielt.

Tag drei der Konferenz widmete sich feministischen Perspektiven auf das Verhältnis von Kunst und Politik. Den Auftakt bot Natalia Shectakova mit einem Abriss der Rolle der Frau in der abendländischen Kunst bis zur Gegenwart. Sie kam zu dem unter den Teilnehmenden eher umstrittenen Schluß, daß moderne Kunst sich in eine Art „feministische Kunst“ verwandelt habe, dies jedoch nicht im Sinne der Kunst sein kann. Kunst kann und sollte nicht der gesellschaftlichen Veränderung diesen, sondern sich anstelle sozialer Anliegen der inneren Gründe der Kunst widmen. Diese inneren Gründe inhaltlich auszudifferenzieren blieb die Referentin der Runde jedoch schuldig. Direkt im Anschluß hieran stellte auch Tina-Maleen Bölle in ihrem Vortrag die Frage, ob künstlerische Interventionen ein Mittel zu politischer Veränderung sein könne, konkreter: gibt es feministische Performancekunst? Ihre Antwort fiel differenzierter aus. Anhand verschiedener Beispiele aus der Performancekunst ab Mitte der 1950er Jahre demonstrierte sie verschiedene Topoi feministischer Peformancekunst, z.B. den menschlichen Körper als konkreten Ort von Erfahrung und Wissensproduktion oder die Politik der Emotionen (Wut als visionäre Kraft), die nicht als „weibliche Kunst“ zu identifizieren seien, sondern eher bestehende Mythen „weiblicher“ Performancekunst sabotieren. Mit diesem Beitrag wurde ein während der Konferenz immer wieder reflektierter und diskutierter Punkt angesprochen – es gibt nicht nur den einen Feminismus und ein feministisches Subjekt, sondern verschiedene Feminismen, die unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen integrieren. Ein Feminismus, der allein die Genderbrille trägt, greift aus dieser Perspektive zu kurz. Im Nachmittagspanel gab Natalia Zvyagina einen Überblick zum politischen Spektrum der derzeit in Russland agierenden Aktivistinnen. Besonderes Interesse fand im Publikum ihre Analyse zur Rezeption – so scheinen zu Politikerinnen im rechten und mittleren Spektrum eher Informationen über deren Familienverhältnisse sowie deren Äußeres bekannt zu sein, während linke Politikerinnen eher mit ihren Inhalten verbunden werden. Airi Trisberg schloß den formalen Konferenzteil des dritten Tages mit einem Bogenschlag zum Panel des ersten Tages. In ihrem Vortrag zu Frauen, Kunst und Arbeitskämpfen stellte Trisberg die Frage nach den strukturellen Gemeinsamkeiten zwischen künstlerischer Arbeit und Haus- und Sorgearbeit. Beide Felder, so ihre Analyse, sind durch ein hohes Ausmaß an unbezahlter und/oder unterbezahlter Arbeit gekennzeichnet. Darüber hinaus sind sie überwiegend von weiblichen Arbeiterinnen dominiert und es scheint extrem schwierig, in den beiden Feldern Organisierungsmodelle zu finden oder Arbeitskämpfe zu lokalisieren. Daher liegt es nahe, eine Diskussion über die Vergeschlechtlichung der prekären Arbeit zu initiieren. Doch mit welchen praktischen Konsequenzen? Am Beispiel von „Precarious Workers Brigade“ verwies Trisberg auf zeitgenössische Organisierungsmodelle im Kulturfeld, die Aspekte von Solidaritätsökonomien und Sorgegemeinschaft beinhalten. Hier

zeigte sich, es ist die zu Beginn der Tagung geäußerte Frage nach der Rolle von Solidarität in feministischer Theorie und Praxis, in der die Antworten auf die Frage nach den Potentialen und Allianzen, die diese Vergeschlechtlichung der prekären Arbeit mit sich bringen kann, liegen.

Social Bar Die „Social Bar“ stellte den weniger formalen und diskussionsorientierten Teil der Konferenz am späteren Nachmittag jedes Tages dar. An jedem der drei Tage wurde ein jeweils etwas unterschiedlicher Rahmen definiert, den die Teilnehmenden dann selbstorganisiert füllten. Die Moderation sorgte dabei lediglich für den Zeitplan und die Zusammenführung der Ergebnisse. Während die „Social Bar“ des letzten Tages der Ergebisreflektion, Auswertung und Vernetzung gewidmet war, beschäftigte sich die „Social Bar“ des zweiten Tages mit „freien“ Themen. Dabei wurde in einer der Gruppen die Diskussion zu geschichtswissenschaftlichen und medialen Narrativen über die Kämpferinnen der Roten Armee im zweiten Weltkrieg fortgesetzt während identitätspolitische Fragen in einer kontroversen Auseinandersetzung über „weibliches Schreiben“ zur Sprache kamen. Die „Social Bar“ des ersten Tages hatte angesichts von Konflikten im Vorfeld der Konferenz besondere Bedeutung. Dabei wurden in 3 Gruppen zum Feminismusverständnis der Teilnehmenden und zur politischen Kommunikationskultur diskutiert sowie in einer dritten die Ziele der Konferenz selbst kritisch reflektiert und kartiert. Im Vorbereitungskreis, der Vertreter_innen verschiedene interessierter Gruppen eingebunden hatte, war es zu Kontroversen über den feministischen Ansatz der Konferenz bzw. deren politisches Selbstverständnis und über die Methodik der Entscheidungsfindung im Vorbereitungsprozess gekommen. Darauf reagierten die Organisator_innen mit der Einrichtung einer Plattform auf der Konferenz um diese Fragen zu diskutieren.

Resümee Die Roundtable-Konferenz kann allermindestens als interessante und gelungene Erprobung eines offeneren, Theorie- und Praxis einbindenden transnationalen Formats verstanden werden. Die positiven Beurteilungen eines Teils der Organisator_innen gingen aber weit über diese Einschätzung hinaus. In deren interner Auswertung waren sowohl sehr zufriedene, aber auch differenzierte und zum Teil kontrovers diskutierte Einschätzungen zur Sprache gekommen, wie über das Verhältnis zwischen inhaltlicher Breite und inhaltlicher Tiefe oder zwischen formellen und informellen Arbeitsformaten. Die Teilnehmenden allerdings haben sich sehr überwiegend lobend über die Konferenz geäußert. Sehr positiv kann das trotz des auch in feministischen Teilöffentlichkeiten bekannt gewordenen Konflikts im Vorfeld sehr gewürdigte kommunikationskulturelle Setting bewertet werden. Die Methodik und auch insbesondere die weniger formellen Teile wurden als innovativ und zukunftsweisend bewertet, die Leistungen der Moderator_innen und die technische Organisation gelobt. Von einigen der Petersburger_innen wurde die mangelnder Einbindung lokaler Strukturen angesprochen. Die war jedoch nicht nur einem begrenzten räumlichen Rahmen und des im Vorfeld notwendig gewordenen kurzfristigen Verlagerung des Konferenzortes von Kronstadt nach Petersburg geschuldet, sondern hatte auch konzeptionelle Gründe, denn die Konferenz hatte einen überregionalen Ansatz und eine bewusst und methodisch begründet eingeschränkte Teilnehmer_innenzahl. Diese Kritik kann auf jeden Fall als wichtiger Hinweis auf eine lokale Nachfrage nach

Veranstaltungen dieser Art in der großen Metropole Petersburg verstanden werden. Darüber hinaus verweist sie auf die erfreulich weit gestreute Wahrnehmung dieser Konferenz in der verzweigten linken und feministischen Szene dieser Stadt. Bis auf einen Beitrag verlief die Konferenz auf einen hohen wissenschaftlichen Niveau und war wohl eines der bisher gelungensten Beispiele der angestrebten interdisziplinären Kommunikation in der Arbeit der beiden Partnerorganisationen der RLS. Auch künftig wird das Halten der Augenhöhe-Balance zwischen den verschiedenen Handlungsfeldern Wissenschaft/Theorieproduktion und politische Praxis ein wichtiges und arbeitsintensives Ziel bleiben. Es wird weiter zu diskutieren sein, welche Aspekte der Nachhaltigkeit der gemeinsamen Arbeit welches Gewicht haben sollen. Hinsichtlich der transnationalen und großregionaler Netzwerkentwicklung, der Etablierung weniger patriarchaler politischer Kulturpraxen hat die Konferenz zweifellos wichtiges geleistet. Es stellt sich die Frage, ob es lohnenswert ist, eine neue Publikationspraxis zu entwickeln. Diese müsste allerdings Formen finden, die sich jenseits symbolischer Repräsentation bewegen, wie wir sie aus traditioneller Wissenschaftler_innengemeinschaft kennen. Ein Beispiel für das Angehen eines solchen Projektes kann die auch auf der Konferenz vertretene Praxis von «Спільне» aus der Ukraine gelten.