Faust und die Folgen - Eine besondere Rezeptionsgeschichte

Manuskript radioWissen Faust und die Folgen - Eine besondere Rezeptionsgeschichte AUTORIN: Julia Devlin REDAKTION: Petra Herrmann ZITATOR Der Wort...
Author: Erika Fuchs
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Manuskript radioWissen

Faust und die Folgen - Eine besondere Rezeptionsgeschichte AUTORIN:

Julia Devlin

REDAKTION: Petra Herrmann

ZITATOR Der Worte sind genug gewechselt, lasst mich auch endlich Taten sehn. ZITATORIN Es irrt der Mensch, solang er strebt. ZITATOR Grau ist alle Theorie. ZITATORIN Das also war des Pudels Kern! ZITATOR und eh man sich's versieht, ist's eben ein Roman. SPRECHERIN Faust ist allgegenwärtig. Selbst wenn man ihn schon lange nicht mehr gelesen hat, oder gar noch nie gelesen hat: Fetzchen aus Goethes Tragödie kennt man trotzdem. ZITATOR Dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält. ZITATORIN Denn was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. ZITATOR Vom Eise befreit sind Strom und Bäche...

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ZITATORIN Name ist Schall und Rauch. 1. ZUSPIELUNG Das ist wie bei Hamlet für die Engländer, und Hamlet ist überall vorhanden. Und das sind einfach Zeilen, die zitiert werden, innerhalb des Kontextes und außerhalb des Kontextes, ist das auch der Fall und vielleicht noch potenzierter der Fall bei Goethes Faust. ... "der Weisheit letzter Schluss", "habe nun ach", "nicht jedes Mädchen hält so rein", und das sind so Redewendungen, das sind geflügelte Worte, und man weiß nimmer, woher sie kommen, nicht. SPRECHERIN Martin Swales ist Germanistikprofessor in Cambridge. Wir haben uns mit ihm über Goethe und den Einfluss seiner Faust-Tragödie unterhalten. Das offenkundigste Beispiel für die Reichweite des Werkes sind ja die vielen Wendungen, die in die deutsche Sprache eingegangen sind. 2. ZUSPIELUNG Was nicht zu leugnen ist, ist, dass der Einfluss, die Resonanz für die deutsche Sprache absolut immens ist, wahrscheinlich größer als von irgendeinem anderen Werk, mit Ausnahme der Lutherbibel, natürlich, die absolut entscheidend ist. Aber es ist eine Art Bibel gewesen für die deutsche Sprache, für die literarische Sprache. ZITATOR Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust ZITATORIN Verweile doch! Du bist so schön! ZITATOR Aus den Augen, aus dem Sinn! ZITATORIN Da steh ich nun, ich armer Tor! Und bin so klug als wie zuvor. SPRECHERIN Wenn man aber einmal das Original liest, fällt auf, dass viele Zitate sinnentfremdet benutzt werden. Zum Beispiel "Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wissen". Nicht

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Heinrich Faust sagt es, sondern sein Famulus Wagner. Und zwar nach einem fruchtlosen Dialog mit seinem Lehrmeister, in dem die beiden Männer ununterbrochen aneinander vorbeireden. Wagner zeigt sich in diesem Dialog als ein strebsamer, aber begrenzter Schüler, der nur trockenes Bücherwissen anhäuft. Es ist also ironisch gemeint, wenn Goethe ihn sich mit den Worten verabschieden lässt: ZITATOR (Wagner) Mit Eifer hab ich mich der Studien beflissen; Zwar weiß ich viel, doch möcht ich alles wissen. SPRECHERIN Faust kommentiert denn auch verächtlich: ZITATOR (Faust) Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet, Der immerfort an schalem Zeuge klebt, Mit gier'ger Hand nach Schätzen gräbt, Und froh ist wenn er Regenwürmer findet! SPRECHERIN Das Zitat ist also nicht der Ausspruch des rastlos nach Wissen dürstenden Gelehrten. Ein Biedermann spricht die Worte, der zu begrenzt ist, seine eigenen Grenzen zu erkennen. Der ursprüngliche Sinn geht außerhalb des Kontextes verloren. Und so ist es mit vielen Faust-Zitaten, sei es "Hier bin ich Mensch" oder "Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!" 3. ZUSPIELUNG Aber sie stimmen als Zitate und irgendwie da ist die deutsche Sprache ungeheuer expressiv und deswegen sind sie haften geblieben. Selbst dann, wenn der Kontext völlig aus dem Blickfeld geraten ist, ist es nämlich so, dass die Sprache von Goethe animiert worden ist, angekurbelt worden ist, auf eine grandiose Art und Weise. Und es ist eine Sprache, die immens breitspektrig ist, von umgangssprachlich bis zu hohen Versen... es ist fast ein Kompendium dessen, was im Deutschen sagbar war, denkbar war, zwischen 1770 und 1830, und das ist eine immense Leistung. SPRECHERIN 1808 ist der erste Teil des "Faust" erschienen. Er erfreut sich seitdem einer Langlebigkeit, die nur wenigen literarischen Werken beschieden ist. Mehr als 200 Jahre später wird "Faust" immer noch aufgeführt, verfilmt, gelesen und ja, auch parodiert und

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persifliert, wie auf dem Nockherberg, wo Horst Seehofer den Faust als bayerisches Stück aufführen will. 4. ZUSPIELUNG Gabriel: Ein bayerisches Stück? Goethe war doch ein Hesse. Seehofer: Ich hab ein bayerisches Stück daraus gemacht. Ein Hesse. Der freiwillig in den Osten gegangen ist, noch vor dem Mauerfall. Das ist kein Vorbild für die bayerische Jugend. Und deshalb wird es ab dem nächsten Jahr meine veränderte Fassung in den bayerischen Schulbüchern geben. ... Gabriel: Und das Stück heißt dann auch nicht mehr Faust? Seehofer: Nein, das Stück heißt Horst! Horst eins, Horst zwei... Merkel und Gabriel: Und Urhorst. SPRECHERIN Wie erklärt sich diese Langlebigkeit des Faust? Wir haben Rolf Selbmann gefragt, Germanistikprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. 5. ZUSPIELUNG Die Schillerforscher, Schiller-Gesellschaft zum Beispiel, haben große Schwierigkeiten, den Schiller in die Moderne, in die Gegenwart zu transportieren, und zu sagen: "Was hat uns der heute noch zu sagen?" Bei Goethe gibt's überhaupt kein Problem. Also den Wilhelm Tell, Maria Stuart, den Don Carlos zu aktualisieren und zu sagen, das ist ein Stoff, der uns heute interessiert, muss man mit sehr vielen Verfremdungen und Verbiegungen machen. Bei Faust geht das völlig problemlos. SPRECHERIN Goethe hat den "Faust" nicht erfunden. Es soll einen echten Faust gegeben haben, der um 1480 geboren wurde, also gegen Ende des Mittelalters. Ein Scharlatan, der in Alchemie und Magie dilettierte, ein intelligenter, charismatischer, aber zweifelhafter Charakter. Um diese Figur rankten sich im Laufe der Jahre allerlei bunte Anekdoten, die weniger mit dem historischen Faust zu tun hatten, sondern mehr mit den Turbulenzen des Zeitalters. Faust steht auf der Schwelle zur Neuzeit, er lässt das Mittelalter hinter sich - mit seiner Missachtung althergebrachter Regeln, gegen die er in seinem Forscherdrang verstößt. 6. ZUSPIELUNG Dass das Dinge sind, die eigentlich nicht erlaubt sind, jetzt nicht bloß im moralischen Sinn, sondern auch juristisch strafbar sind, und dass da so eine Mischfigur entstanden

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ist, also die Steigerung aller Ungewöhnlichkeiten, Grenzüberschreitungen, Widerstandsund Aufbegehrungshaltungen. SPRECHERIN Grenzüberschreitung. Das ist der Kern der Faust-Legende. Sie stellt einen grundlegenden menschlichen Konflikt dar. Dem Menschen sind Grenzen gesetzt. Er muss sich an die Regeln der Gesellschaft halten, in der er lebt. Und auch durch seine eigene Physis, durch seinen Körper erfährt er die Begrenztheit der menschlichen Existenz. Andererseits hat der Mensch den Drang und die Möglichkeit, diese Grenzen zu hinterfragen und sie zu übertreten. Diese Übertretungen bringen Veränderungen mit sich. Erkenntnis, Fortschritt, Reichtum, beispielsweise. Sie können aber auch Verderben bringen. 7. ZUSPIELUNG Das heißt, dass der Mensch einfach das kreativste und das destruktivste Geschöpf ist, in der ganzen Welt. Und Goethe hat das gewusst. SPRECHERIN Zweihundert Jahre nach Faust. Ein junger Mann sitzt in einer hochgewölbten, gotischen Studierstube. Er hat sich der Magie ergeben. Aus geheimnisvollen, uralten Büchern lernt er Zaubersprüche, er braut Zaubertränke, er ringt um Erkenntnis. Sein Leben hat in der Begegnung mit der dunklen Macht eine schicksalhafte Wendung genommen, und ein Teil dieser dunklen Macht hat sich dabei auf ihn übertragen. Sein Name ist die englische Version des deutschen "Heinrich": Harry. Harry Potter. 8. ZUSPIELUNG Dieses zentrale Anliegen der Faustsage, nämlich ein Bündnis mit dem Teufel, wird philosophisch erweitert, denn man kann schon sagen, dass zum Teil Mephisto nicht nur Fausts Gegner ist, sondern in Faust selber vorhanden ist. SPRECHERIN Wie auch ein Seelenbruchstück von Voldemort in Harry vorhanden ist. In den Harry-Potter-Romanen ist Grenzüberschreitung ein häufiges Thema. Zwischen verschiedenen Welten, der Muggelwelt und der magischen Welt, dem Erlaubten und dem Verbotenen, dem Guten und dem Bösen. Und es geht um die Macht, die durch die erlaubt oder unerlaubt erworbenen Erkenntnisse gewonnen wird. Doch Harry lernt, verantwortungsvoll mit der Macht umzugehen. Sein Pate, Sirius Black, ermahnt ihn:

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ZITATOR (Sirius Black) Wir tragen alle sowohl eine helle als auch eine dunkle Seite in uns. Es kommt darauf an, welche Seite wir für unser Handeln wählen. Das macht uns wirklich aus. SPRECHERIN Harry Potter ist einer der jüngeren literarischen Figuren, in denen die Spannung zwischen Begrenzung und Übertretung zum Ausdruck kommt. Diese Spannung ist ein Ur-Konflikt des Menschen, eine anthropologische Konstante. Drei große Menschheitsmythen erzählen von diesem Konflikt. Einer steht gleich am Anfang der Bibel: der Sündenfall, die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies, weil sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten. Dann der Mythos von Prometheus, der für die Menschen das Feuer stahl und so den Göttervater Zeus gegen sich aufbrachte. Und schließlich: Faust, der Erkenntnis sucht, koste es, was es wolle. 9. ZUSPIELUNG Goethes Stück hat den Vorteil, dass es so viele Einstiege bereithält für uns als Publikum, als Leser. Da können wir eine Brücke schlagen zwischen unserer Erfahrung und dem, was im Goetheschen Text steht. SPRECHERIN Das lässt der Interpretation einen breiten Raum. Die Teufelsfigur, beispielsweise. Wie kann man sie in eine moderne, säkulare Welt übertragen? 10. ZUSPIELUNG Ich finde es absolut legitim, was etwa die Mephistofigur angeht, eben in Mephisto, in dieser Teufelsfigur jemand zu sehen, der die Beschleunigung der menschlichen Existenz der Moderne, unserer Moderne zum Ausdruck bringt. Und diese Beschleunigung bringt mit sich ein wachsendes Bedürfnis nach immer mehr, immer schneller, immer billiger, immer auf etwas aus zu sein, und mit dieser Beschleunigung kommt auch die Möglichkeit einer Art Entwertung. Weil es so schnell verfügbar ist. ZITATOR (Mephisto) Euch ist kein Maß und Ziel gesetzt. Beliebt's Euch überall zu naschen. Im Fliehen etwas zu erhaschen, Bekomm' Euch wohl was Euch ergetzt. Nur greift mir zu und seid nicht blöde!

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SPRECHERIN So spricht Mephisto zu Faust, nachdem der Pakt geschlossen ist. 11. ZUSPIELUNG Und Mephisto hat dieses Zweierlei: Einerseits ist er ein sehr geschickter Verkäufer - "ist ja auch klar, wir können all überall hinfahren, wo du willst, kannst Sex haben, kannst Geld haben, was du willst", ... andererseits ist er der Zyniker. Und manchmal passen diese beiden Aspekte sehr eng zusammen. ZITATOR (Mephisto) Ich muß dich nun von allen Dingen In lustige Gesellschaft bringen, Damit du siehst, wie leicht sichs leben lässt. SPRECHERIN Und die Liebesgeschichte? Sie zeigt den Kontrast zwischen zwei Prinzipien. Da ist zum einen der entwurzelte Individualist, zum anderen das angepasste Mädchen. 12. ZUSPIELUNG Faust ist der moderne Mensch, und Gretchen verkörpert diese prämoderne Welt. Für die gibt es bindende Institutionen, Schule, Familie, Kirche und so weiter... was da mitvibriert, ist eine Art Allegorie der europäischen Moderne. SPRECHERIN Diese Allegorie hat viele Künstler inspiriert. Maler, Bildhauer, Autoren, Komponisten und Regisseure haben sich mit der Faust-Legende auseinandergesetzt. 13. ZUSPIELUNG Von Mahler, Müller, bis zu Heine, Lenau, Grabbe, Lord Byron, Turgenev, Valéry, dann das berühmte Buch "Der Meister und Margarita" von Bulgakov, bis Thomas Manns Doktor Faustus, das ist schon eine sehr beeindruckende Wirkungsgeschichte, die auch in den Bereich der Oper hineinläuft und vor allen Dingen in Verfilmungen. Es gibt schon sehr früh mit den Stummfilmen berühmte Verfilmungen, die berühmteste vielleicht von Murnau, 1926 schon. Und dann in vielen anderen Adaptionen, Klaus Mann mit seinem Roman Mephisto, der ja auch eine Art von Faust-Wirkungsgeschichte ist und der 1981 durch die große Verfilmung mit Brandauer so eingeschlagen hat.

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SPRECHERIN Besonders oft haben sich Komponisten von der Faust-Tragödie inspirieren lassen. Von den Goethe-Zeitgenossen Beethoven und Spohr über Liszt, Berlioz und Gounod bis zu Gustav Mahler, Ferruccio Busoni, Hanns Eisler und Alfred Schnittke, um nur einige zu nennen. 14. ZUSPIELUNG Musik ist transzendent, einerseits physikalisch, andererseits metaphysikalisch. Und das ist zentral im Faustdilemma. Und vielleicht weil die Musik gerade diese Spannungen verkörpert, ist es so, dass Komponisten immer wieder angezogen worden sind von Teilen der Faustsage. Sie konntens nicht lassen, und sie hatten auf eine Art Recht. SPRECHERIN Faust ließ sich in den verschiedensten Genres interpretieren. Faust ließ sich aber auch in die verschiedensten Epochen übertragen. 15. ZUSPIELUNG Das Leben eines jeden literarischen Stückes besteht darin, dass das ständig sich ändert, changiert, mit der Zeit. SPRECHERIN Und weil es sich so ändern konnte, konnte Goethes Stück auch instrumentalisiert werden. Die Nationalsozialisten beispielsweise vereinnahmten den Faust für ihre Zwecke. 16. ZUSPIELUNG Als das Deutsche, und als der nordische Mensch schlechthin. SPRECHERIN In nationalsozialistischer Lesart rechtfertigte Fausts Drang nach Erkenntnis, sich als Übermensch über alle Gesetze der Menschlichkeit hinwegzusetzen. Und dabei war er gar noch ein Auserwählter. 18. ZUSPIELUNG Kriminell, ja, geht über Leichen, hat nur sein Eigenes im Sinn, völlig gewissenlos, also nicht bloß Gretchen gegenüber, sondern auch in vielen anderen Situationen, ein absoluter gewissenloser Egoist - der dann gleichzeitig auserwählt ist. Denn - Prolog im Himmel: Gott schlägt ja dem Mephisto den Faust vor - "kennst Du den Doktor?"

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SPRECHERIN Faust, der zupackende Mensch der Tat, wird schuldig und findet trotzdem Erlösung. Eine Steilvorlage für die Nazi-Ideologen. Wer dann noch mit ein wenig propagandistischem Ehrgeiz im Text stöberte, konnte so einige Zitate zutage fördern, die sich ideologisch trefflich fehlinterpretieren ließen. 19. ZUSPIELUNG Blut ist ein besonderer Saft - kann man natürlich unter der Rasseideologie plötzlich ganz anders verstehen, und schon hat man wieder ein Faust-Zitat, was passt. ZITATOR Im Anfang war die Tat! ZITATORIN Es lebe wer sich tapfer hält! ZITATOR (Faust) Das Drüben kann mich wenig kümmern; Schlägst du erst diese Welt zu Trümmern, Die andre mag darnach entstehn. SPRECHERIN Auch die DDR-Ideologen fanden im Faust, was sie finden wollten. 20. ZUSPIELUNG Da war lange die Argumentation, dass nämlich das sozialistische Deutschland, dass die DDR die legitimen Nachfahren sind der Weimarer Klassik. 21. ZUSPIELUNG Und selbst so ein Mann wie Walter Ulbricht, der ja nun wirklich das Gegenteil von einem Intellektuellen war, hat tatsächlich versucht, den Faust als Tatmenschen, als sozialistischen Tatmenschen zu instrumentalisieren und die Teile aus dem Faust Zwei herauszupicken, die er sozusagen für den Sozialismus brauchen konnte. Da gibt es ja diesen Monolog, der dann gipfelt in dem Satz: "auf freiem Grund mit freiem Volke stehen". 22. ZUSPIELUNG Ulbricht Goethe ließ den alten Faust erst am Ende seiner Tage erkennen, dass allein die schöpferische, gemeinschaftliche Arbeit des befreiten Volkes höchstes Glück bringt.

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"Solch ein Gewimmel möcht ich sehen auf freiem Grund mit freiem Volke stehen. Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön." SPRECHERIN Walter Ulbricht, Vorsitzender des Staatsrats der DDR, zitiert den Faust. 23. ZUSPIELUNG Mit dem ironischen Beigeschmack, dass diese Stelle in Faust 2 ja die Stelle ist, wo der Faust schon blind ist und nur noch die Grabgeräusche hört und glaubt, das sind die Arbeiter, die diese Kolonisationsarbeiten machen, in Wirklichkeit graben die sein Grab. Also das könnte man jetzt auch als Prognose auf das Weiterleben des Sozialismus in der DDR sehen. Da hat sich der Faust verschätzt, und so hat sich sicher auch der Walter Ulbricht verschätzt. 24. ZUSPIELUNG Ulbricht Erst weit über hundert Jahre, nachdem Goethe die Feder für immer aus der Hand legen musste, haben die Arbeiter und Bauern, die Angestellten und Handwerker, die Wissenschaftler und Techniker, haben alle Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik begonnen, diesen dritten Teil des "Faust" mit ihrer Arbeit, mit ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus zu schreiben. SPRECHERIN Sprach Walter Ulbricht und übersah dabei geflissentlich, dass der dritte Teil des Faust ja ebenfalls eine Tragödie werden musste. ZITATOR (Faust) Die Zeiten der Vergangenheit Sind uns ein Buch mit sieben Siegeln; Was ihr den Geist der Zeiten heißt, Das ist im Grund der Herren eigner Geist, In dem die Zeiten sich bespiegeln. SPRECHERIN Vom nordischen zum sozialistischen Tatmenschen: Faust ist wandelbar.

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25. ZUSPIELUNG Also da kann er offensichtlich durch die Systeme einfach durchwandern. Und insofern ist das eine spannendere Wirkungsgeschichte als die bundesdeutsche. SPRECHERIN Faust ist in der deutschen Geschichte ziemlich präsent gewesen. Hat denn die Figur des "Faust" das Bild der Deutschen im Ausland geprägt? 26. ZUSPIELUNG Also das berühmte Zitat "Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust" als das deutsche Wesen schlechthin zu betrachten glaub ich kommt schon daher. Auch die ganz banale Geschichte, das blonde Gretchen, der Text gibt's nicht her, Gretchen muss nicht blond sein, alle berühmten Gretchen auf der Bühne sind natürlich blond. 27. ZUSPIELUNG Ich glaube, ich kenne kein anderes Beispiel in der europäischen Literatur, das so sehr als Sinnbild für die Identität der Nation dasteht. Ist ja klar, in England, Shakespeare ist wichtig, das ist unser Nationaldichter, aber es ist nicht so, dass Hamlet sozusagen die Identität der englischen Nation ausspricht, oder Henry V., ein patriotisches Stück, ok, Aber durch all die Jahre hindurch war es so, dass Faust mit dem Deutschsein verbunden ist. SPRECHERIN Was sicherlich als etwas sehr Deutsches empfunden wird, ist der Forscherdrang. Martin Swales: 28. ZUSPIELUNG Dieser Durst nach Wissen, dieses Wissen-Wollen, und zwar nicht nur Wissen, sondern Erkenntnis, verbunden mit der deutschen Tradition der Verherrlichung von Geist, von Innerlichkeit, von den Abenteuern des menschlichen Geistes... ZITATOR (Faust) Dass ich erkenne was die Welt Im Innersten zusammenhält... SPRECHERIN Professor Swales hat für seinen Unterricht am University College in London übrigens eine recht unorthodoxe Methode gewählt: Er hat mehrmals mit seinen Studenten den "Faust" im Theater aufgeführt. Noch dazu beide Teile.

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29. ZUSPIELUNG Und zwar in deutscher Sprache. Das war schon etwas waghalsig. SPRECHERIN Aber das Stück hat ihn nicht losgelassen. Der "Faust" musste gehört, musste gesehen werden. 30. ZUSPIELUNG Ich hab immer wieder und mit Liebe Goethe unterrichtet und wollte immer, dass es nicht papieren bleibt. Denn das vibriert. Das vibriert, immer noch, immer noch, immer noch. stopp

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