Fall 6 - Schweinestall

Rechtswissenschaftliches Institut Fall 6 - Schweinestall Dr. Philipp Egli, Rechtsanwalt 20./21. April 2015 Seite 1 Quelle: Solothurner Zeitung / ...
Author: Kristian Fried
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Rechtswissenschaftliches Institut

Fall 6 - Schweinestall Dr. Philipp Egli, Rechtsanwalt

20./21. April 2015

Seite 1

Quelle: Solothurner Zeitung / Hanspeter Bärtschi

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Urteil 2C_960/2013 vom 28. Oktober 2014 BGE 133 II 400 (Urteil 1C_2/2007 vom 4. Oktober 2007) Urteil 1A.108/2004, 1P.290/2004 vom 17. November 2004 20./21. April 2015

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Frage 1 – Widerruf der Baubewilligung

20./21. April 2015

Fall 6 - Schweinestall, Übungen öffentliches Recht III, Philipp Egli

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Frage 1: Widerruf der Baubewilligung 1. Ausgangslage –

Eine formell rechtskräftige Verfügung kann nur mehr unter bestimmten Voraussetzungen zurückgekommen werden.



Begründung?

2. Uneinheitliche Terminologie –

Wiedererwägung = Zurückkommen der verfügenden Behörde auf Gesuch hin



Widerruf

= Änderung einer formell rechtskräftigen Verfügung

3. (Minimal-)Garantien aus der BV –

– 20./21. April 2015

Anspruch auf Wiedererwägung gestützt auf Art. 29 Abs. 1 BV… –

(1) …bei Vorliegen von Revisionsgründen



(2) …bei wesentlicher Änderung der Umstände

Vgl. z.B. BGE 136 II 177 E. 2.1 S. 181 Fall 6 - Schweinestall, Übungen öffentliches Recht III, Philipp Egli

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Frage 1: Widerruf der Baubewilligung 4. Allgemeines Prüfprogramm zu Wiedererwägung und Widerruf –

Liegen ausreichende Gründe vor, um auf die formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen? (verfahrensrechtlicher Schritt; Eintretensfrage) (1) Ursprünglich fehlerhafte Verfügung: Liegen Revisionsgründe i.w.S. (= klassische Revisionsgründe oder qualifizierte Fehlerhaftigkeit) und damit anerkannte Rückkommensgründe vor? (2) Nachträglich fehlerhafte Verfügung: Fällt ein anderes Ergebnis ernstlich in Betracht und liegen damit anerkannte Anpassungsgründe vor?



Liegen ausreichende Gründe vor, um die der formellen Rechtskraft entkleidete Verfügung in der Sache inhaltlich zu ändern? (materiellrechtlicher Schritt)



Vorrang spezialgesetzlicher Regelungen (z.B. § 22 VRG-SO)

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Fall 6 - Schweinestall, Übungen öffentliches Recht III, Philipp Egli

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Frage 1: Widerruf der Baubewilligung 5. (Spezial-)Gesetzliche Grundlage: § 22 Abs. 1 und 2 VRG SO Verfügungen und Entscheide können durch die zuständige Behörde oder die Aufsichtsbehörde abgeändert oder widerrufen werden, falls sich die Verhältnisse geändert haben oder, sofern Rückkommensgründe bestehen, überwiegende Interessen dies erfordern. Vorbehalten bleiben Verfügungen und Entscheide, die nach besonderen Vorschriften oder der Natur der Sache nach nicht oder nur unter erschwerten Voraussetzungen widerrufen werden können.

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Fall 6 - Schweinestall, Übungen öffentliches Recht III, Philipp Egli

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Frage 1: Widerruf der Baubewilligung 6. Anwendung im vorliegenden Fall – Prüfschritt 1: Eintretensfrage – Nachbarn beschweren sich nach Inbetriebnahme des Stalls über untragbare Geruchsimmissionen. – Hätten sie diese Rüge nicht bereits im Einspracheverfahren vorbringen können? – – –

– 20./21. April 2015

Dafür spricht: Wer sein Recht verschläft, darf sich nicht beklagen! („Ius vigilantibus scriptum est“) Dagegen spricht: Schutz vor Umweltbelastung als wesentliches öffentliches Interesse; (zeitlich unbegrenzter) Verstoss als qualifizierte Fehlerhaftigkeit Fazit BGer: Wer von einer schädlichen oder lästigen Umweltbelastung mehr als jedermann betroffen ist, kann von der zuständigen Behörde den Erlass einschränkender Anordnungen verlangen – unabhängig von der Parteistellung im kantonalen Baubewilligungsverfahren (Urteil 1A.108/2004, 1P.290/2004 vom 17. November 2004 E. 2.3).

Behörde kann auch auf blosse Anzeige von Privaten (= keine Parteistellung) auf Verfügung zurückkommen. Fall 6 - Schweinestall, Übungen öffentliches Recht III, Philipp Egli

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Frage 1: Widerruf der Baubewilligung –

Prüfschritt 2: Materiellrechtliche Prüfung (BGE 137 I 69; 56 I 191) –

20./21. April 2015

Einzelne Prüfschritte –

Interesse an richtiger Durchführung des objektiven Rechts



Interesse an Vertrauensschutz (Voraussetzungen gegeben?)



Interessengewichtung und -abwägung



Der Vertrauensschutz spricht in der Regel dann gegen eine spätere Aufhebung – zumindest gegen eine entschädigungslose –, wenn von den Rechten aus der Verfügung im guten Glauben Gebrauch gemacht geworden ist (vgl. F. Gygi, Verwaltungsrecht, 1986, 312).



Ist der Widerruf überhaupt erforderlich? Oder können die Emissionen durch bauliche, technische oder betriebliche Massnahmen reduziert werden?

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Quelle: Universität Bern

Fritz Gygi (1921-1989)

Fritz Gygi, Verwaltungsrecht, Bern 1986 Fritz Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern 1983 20./21. April 2015

Fall 6 - Schweinestall, Übungen öffentliches Recht III, Philipp Egli

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Frage 2 – Entschädigungsansprüche

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Fall 6 - Schweinestall, Übungen öffentliches Recht III, Philipp Egli

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Frage 2: Entschädigungsansprüche

Quelle: Tschannen/Zimmerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2014, S. 582 20./21. April 2015

Fall 6 - Schweinestall, Übungen öffentliches Recht III, Philipp Egli

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Frage 2: Entschädigungsansprüche 1. Entschädigungspositivismus –

Eine Ersatzpflicht des Staates besteht nur dann, wenn sie in einer gesetzlichen Entschädigungsnorm vorgesehen ist (Legalitätsprinzip).



Entschädigung direkt aus der Verfassung?

2. Ausgangspunkt: Rechtmässiges oder rechtswidriges Handeln? –

Staatshaftung: Ob der Widerruf rechtmässig war oder nicht, kann nicht erneut zum Thema das Staatshaftungsprozesses gemacht werden (Prinzip der Einmaligkeit des Rechtsschutzes; § 3 VGSO).



BGer: Anspruchsgrundlage ist indes nicht der (rechtmässige oder rechtswidrige) Widerruf der Baubewilligung, sondern das Vertrauen in die seinerzeit erteilte Baubewilligung, die sich nachträglich als ursprünglich fehlerhaft erweist.

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Frage 2: Entschädigungsansprüche 3. Voraussetzungen für Vertrauensschutz –

Vertrauensgrundlage



Vertrauen in das Verhalten der staatlichen Behörden



Vertrauensbetätigung



Interessenabwägung

4. Voraussetzungen für Vertrauenshaftung –

20./21. April 2015

Vertrauensschutz ist nach überkommener Auffassung primär Bestandesschutz. –

Vertrauenshaftung (Art. 9 BV) wird in Lehre und Praxis nur zurückhaltend bejaht (Schattendasein).



Weiterführender Hinweis: Gemäss BGer gibt es keine Pflicht, alle Rechtsmittel gegen die Widerrufsverfügung auszuschöpfen (Urteil 2C_960/2013 vom 28. Oktober 2014 E. 3.3.4 mit Hinweis auf eine abweichende Lehrmeinung). Offene Frage: Wir damit die Vertrauenshaftung aufgewertet? Fall 6 - Schweinestall, Übungen öffentliches Recht III, Philipp Egli

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Frage 2: Entschädigungsansprüche –

Ersatzpflicht des Staates setzt grundsätzlich eine gesetzliche Grundlage voraus (sog. „Entschädigungspositivismus“). –

Entschädigungsanspruch direkt aus Art. 9 BV?



Kantonales Recht: § 22 Abs. 3 VRG-SO

5. Vertrauensschutz und Enteignung –

Schutzbereich Eigentumsgarantie (Art. 26 BV): Eigentumsgarantie schützt nach überkommener Auffassung nur die rechtmässige Ausübung des Privateigentums (BGE 111 Ib 213 E. 6c S. 225)



Kriterien zur Abgrenzung Vertrauensschutz / Enteignung:

20./21. April 2015



Ausgleich des Verlusts oder der Einschränkung konkreter Eigentumsrechte („sachenrechtliche Fixierung“) oder



Ersatz von Aufwendungen, die getätigt worden sind und sich als nutzlos erwiesen haben („vertrauensbildende Beziehung“)?

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Frage 2: Entschädigungsansprüche 6. Ersatz des negativen Interesses –

Die betroffene Person ist so zu stellen, als ob sie die Vermögensdispositionen nicht getroffen hätte. in casu: Investitionskosten, Abbruch- und Stilllegungskosten, Prozesskosten; nicht: entgangener Gewinn



Das Bundesgericht zieht Parallelen zur privatrechtlichen Vertrauenshaftung (c.i.c.)

7. Weiterführender Hinweis: Vertrauensschutz als Investitionsschutz – eine Herausforderung für das Recht –

Schnelllebigkeit des Rechts: Was heute gilt, ist morgen anders…



BGer: „Der Grundsatz von Treu und Glauben schützt unter gewissen Voraussetzungen das Vertrauen darin, dass getätigte Investitionen angemessen amortisiert werden können, schliesst aber neue, strengere materiellgesetzliche Anforderungen nicht generell aus, namentlich wenn sie aus polizeilichen Gründen erfolgen“ (Urteil 2C_347/2012, 2C_357/2012 vom 28. März 2013 E. 8.2; nicht publ. in: BGE 139 II 185 [Mühleberg I]).

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