Fachpolitisches Forum

Verbesserung der Situation junger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland

Dokumentation der Veranstaltung der BAG Jugendsozialarbeit in Kooperation mit dem Bundesfachverband UMF vom 9. bis 10. November 2006 in Berlin-Schmöckwitz

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Impressum Herausgeberin:

BAG Jugendsozialarbeit Hohe Straße 73 53119 Bonn Tel. 0228/9596810 Fax 0228/9596830 Mail: [email protected] Internet: www.bag-jugendsozialarbeit.de Komm. Geschäftsführer: Manfred Weißkopf

Redaktion:

Brigitte Mies-van Engelshoven

Technische Redaktion:

Gerlinde Hollnsteiner

Grafische Gestaltung:

Anne Schönhofen, Bonn

Fotos:

Andreas Schwarzer, Bottrop

Bonn, Februar 2007 Gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)

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Inhaltsverzeichnis Begrüßung und Eröffnung Wilhelm Schürmann ................................................................................. 6 Stefan Kurzke-Maasmeier ......................................................................... 8 Grußworte Diana von Webel .................................................................................... 10 Prof. Dr. Maria Böhmer ........................................................................... 13 Einführungsreferate zum Kindeswohl bei jungen Flüchtlingen mit unsicherem Aufenthaltsstatus Rechte von jungen Flüchtlingen aus der Sicht der Jugendhilfe Markus Schnapka ................................................................................... 15 Rechte von jungen Flüchtlingen im Aufenthaltsrecht Hubert Heinhold ..................................................................................... 20 Diskussionsforen Forum 1 Bleiberecht für junge Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthalt „Wir sind integriert und wir wollen eine Perspektive“ Islam und Ras ......................................................................................... 30 Psychische Folgen einer langjährigen Aufenthaltsunsicherheit bei Kindern und Jugendlichen Sabine Haversiek-Vogelsang ................................................................... 32 Kriterien für eine Bleiberechtsregelung Josef Winkler............................................................................................ 35 Zusammenfassung der Ergebnisse Nele Allenberg ......................................................................................... 37 Forum 2 Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten „Eine Ausbildung machen und eine Zukunft aufbauen“ Danet und Mohammed ........................................................................... 39 Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten für junge Flüchtlinge Prof. Dr. Joachim Schroeder .................................................................... 41 Aufenthaltsrecht und Chancen gesellschaftlicher Teilhabe für heranwachsende Flüchtlinge mit Duldung oder humanitärem Aufenthaltsrecht Dr. Michael Maier-Borst .......................................................................... 58 Zusammenfassung der Ergebnisse Dietrich Eckeberg .................................................................................... 69

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Forum 3 Aufenthaltsrecht „light“ – Kindgerechte Gestaltung des aufenthaltsrechtlichen Clearing „Das Clearing braucht Zeit und Vertrauen“ Amir......................................................................................................... 71 Asylverfahren und kindgerechte Gestaltung, Zahlen und Fakten Vorstellung des in Nordbayern praktizierten Clearingverfahrens Bernd Emtmann ...................................................................................... 72 Vorstellung des Internationalen Sozialdienstes (ISD) und seiner Einzelfallarbeit Dagmar Rhese ......................................................................................... 77 Zusammenfassung der Ergebnisse Katharina Vogt und Susanne Bourgeois ................................................. 84 Forum 4 Erstversorgung von jungen Flüchtlingen gemäß SGB VIII „Eine gute Betreuung und Erstversorgung“ Xenia, Raymond, Jude............................................................................. 86 Umgang mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen Änderungen durch § 42 SGB VIII oder bleibt alles beim Alten? – Bericht über einen mühevollen Prozess Gila Schindler ......................................................................................... 90 Neue Rechtsentwicklungen bei der Erstversorgung von jungen Flüchtlingen gemäß SGB VIII Dr. Erich Peter ......................................................................................... 92 Zusammenfassung der Ergebnisse Harald Löhlein ...................................................................................... 100 Podium Einführungsstatement Kindeswohl im Aufenthaltsrecht Anforderungen an gesetzliche Anpassungen Prof. Dr. Lothar Krappmann ................................................................. 102 Podiumsdiskussion – Ergebnisse und Forderungen ............................ 109 Schlusswort Hermann Laubach ................................................................................ 112 Anhang • Pressemitteilung vom 09.11.2006 .................................................. 116 • Pressemitteilung vom 15.11.2006 .................................................. 118 • Tagungsprogramm .......................................................................... 120 • AutorInnenverzeichnis................................................................... 121

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Unsere Tagungsstätte

Wernsdorfer Straße 43 in 12527 Berlin

Akademie Berlin-Schmöckwitz (Vorderansicht)

Blick vom Bootssteg der Akademie auf den Wernsdorfer See

Blick vom Wernsdorfer See auf die Akademie Berlin-Schmöckwitz

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Begrüßung und Eröffnung Wilhelm Schürmann

Unser Thema heute und morgen heißt: „Verbesserung der Situation junger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland“ Sehr geehrte Damen und Herren, im Namen des Vorstandes der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit darf ich Sie ganz herzlich zu unserem fachpolitischen Forum begrüßen. Wir freuen uns, dass Sie Interesse an dem Thema haben und danken Ihnen für Ihre Mitarbeit. Gestatten Sie mir einige Informationen zur Organisation. Die Jugendsozialarbeit hat zur Vertretung ihrer fachlichen und fachpolitischen Interessen nach dem 2. Weltkrieg eine föderale Struktur entwickelt. Neben 5 bundeszentralen Trägerorganisationen gibt es 8 Arbeitsgemeinschaften auf Länderebene. Die Aufgaben der BAG Jugendsozialarbeit sind in einer Bundesgeschäftsstelle gebündelt. Diese Organisationsform der Jugendsozialarbeit ist nun im Umbruch. Die Mitglieder der BAG JSA haben vor einigen Wochen die Auflösung des bestehenden Vereins zum 30.6.2007 beschlossen. Die aus Mitteln des Kinder und Jugendplans geförderten sieben bundeszentralen Trägerorganisationen der Jugendsozialarbeit haben einen Kooperationsverbund gebildet, der ab 1.7.2007 die Vertretung der fachlichen und fachpolitischen Interessen der Jugendsozialarbeit übernimmt und fortführt. Die bundeszentralen Träger wollen im Rahmen dieser neuen Organisationsform mehr Verantwortung direkt übernehmen und so flexibler auf Entwicklungen reagieren können. Ein zentrales Anliegen der organisierten Jugendsozialarbeit war in der Vergangenheit und ist auch in Zukunft die Vertretung der Interessen junger Menschen mit besonderem Förderbedarf und die Unterstützung der Fachentwicklung. Die BAG verfolgt dieses Ziel zum einen über eigene Gremien und durch Fachveranstaltungen, zum anderen – und das wird in Zukunft immer notwendiger sein – durch die Vernetzung der jugendpolitischen Akteure mit allen gesellschaftlichen Ebenen: in Wirtschaft, Wissenschaft, Bildung, Politik. Deshalb freuen wir uns, dass wir dieses Forum heute und morgen in Koordination mit dem Bundesfachverband UMF und vielen Gästen durchführen können. Welche Ziele und Erfahrungen verbinden wir mit der Tagung?

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Insbesondere wünschen wir uns mehr Wissen um die Situation der jungen Flüchtlinge in der Gesellschaft, d.h. insbesondere die Schaffung von kalkulierbaren Rahmenbedingungen für einen kind- und jugendgerechten Entwicklungsprozess.

2005 hat die BAG Jugendsozialarbeit zusammen mit dem Bundesfachverband UMF „Forderungen zur Verbesserungen der Situation minderjähriger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland“ veröffentlicht, die auch Anlass und Grundlage für die Durchführung dieses Fachpolitischen Forums in Kooperation mit dem Bundesfachverband UMF sind. •

Eine besondere Aktualität hat das Thema „Bleiberechtsregelung“. Die Innenministerkonferenz wird sich am 16./17. Nov. (kurz nach der Tagung), mit diesem Thema beschäftigen, das bereits seit Monaten auch öffentlich kontrovers diskutiert wird. Wir werden dieses Thema in Forum 1 und in der Podiumsrunde vertiefen.



Die intensive und konstruktive Zusammenarbeit mit dem Bundesfachverband UMF ist ein positives Ergebnis der Vernetzung der BAG Jugendsozialarbeit mit Organisationen im Flüchtlingsbereich. Die Kooperation mit dem Bundesfachverband UMF (und anderen NGO’s) stärkt die gemeinsame Lobbyarbeit für junge Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthaltsstatus.



Die BAG Jugendsozialarbeit vertritt als Fachorganisation der Jugendhilfe die Interessen benachteiligter und individuell beeinträchtigter junger Menschen im Alter von 12 bis 27 Jahren. Sie hat bereits 2001 konkrete Forderungen zur Verbesserung der Situation junger Flüchtlinge veröffentlicht und mit Abgeordneten diskutiert.



Jugendsozialarbeit hat eine hohe Fachkompetenz für sozial und bildungsschwache junge Menschen und bietet Jugendlichen individuelle Hilfestellungen im Übergang von der Schule in den Beruf. Ein wichtiges Handlungsfeld sind die Integrationshilfen für Jugendliche mit Migrationshintergrund, hier insbesondere die Jugendmigrationsdienste.



In den Angeboten/Maßnahmen der Jugendsozialarbeit sind aufgrund der gesetzlichen Grundlagen in der Regel nur junge Flüchtlinge mit gesichertem Aufenthalt vertreten. In ihrer Orientierung an den Lebenslagen der Jugendlichen sieht die BAG Jugendsozialarbeit, u.a. auf der Grundlage des SGB VIII (KJHG), daher dringenden Handlungsbedarf für die jugend- und ausländerrechtliche Praxis bzw. Gesetzgebung.

Ich denke, wir haben ausreichend Schnittstellen zum Thema und wir haben ein dichtes und anspruchsvolles Tagungsprogramm. Ich danke an dieser Stelle insbesondere den Jugendlichen, die bereits im vorgeschalteten Workshop sich intensiv mit den Themen der Foren auseinandergesetzt haben und ihre Erfahrungen und Kompetenzen in die Tagung einbringen. Ein weiterer Dank gilt unseren Gästen, die unserer Veranstaltung Glanz und Kompetenz verleihen. Und nicht zuletzt danke ich den fachkundigen Expertinnen und Experten, die unsere Foren vorbereitet haben und sie moderieren. Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich wünsche uns allen informative Vorträge, anregende Diskussionen und einen guten Verlauf der Tagung!

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Begrüßung und Eröffnung

Stefan Kurzke-Maasmeier Sehr geehrte Damen und Herren, im Namen des Vorstands und des gesamten Bundesfachverbandes Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge darf auch ich Sie alle sehr herzlich zum Fachpolitischen Forum hier in der Akademie Schmöckwitz begrüßen und mich bereits an dieser Stelle bei unserem Kooperationspartnern, der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit für die hervorragende Zusammenarbeit in der Vorbereitung dieser Tagung bedanken. In den Vorträgen, Diskussionen und Arbeitsforen soll es heute und morgen um Möglichkeiten eines effektiven Schutzes und verbesserter pädagogischer und psychosozialer Hilfen für junge Flüchtlinge in der Bundesrepublik gehen. Ich freue mich sehr, dass heute so viele Fachfrauen und Fachmänner aus praktischen und wissenschaftlichen Arbeitsfeldern der Jugendhilfe und des Ausländerrechts zusammen gekommen sind, um gemeinsam nach Wegen für eine Verbesserung der sozialen und rechtlichen Situation junger Flüchtlinge zu suchen. Ganz besonders froh bin ich, dass Sie diese Aufgabe nicht – wenn ich das so sagen darf – allein bewältigen müssen, sondern den kritischen Blicken und den heilsam unterbrechenden Fragen derer ausgesetzt sind, um die es eigentlich geht: den jungen Frauen und Männern, die als Flüchtlinge in unser Land gekommen sind und die ihr Recht auf Anerkennung einfordern. Es ist schön, dass Ihr gekommen seid, dass Sie gekommen sind und ich darf mich schon jetzt für Ihr und Euer Engagement in den Arbeitsgruppen von Herzen bedanken. Die politische und gesellschaftliche Situation hat sich, das wissen Sie alle, dramatisch verändert; insbesondere was die Ressourcen für die psychosoziale Arbeit mit jungen Flüchtlingen angeht. Hier haben ein harter Sparkurs der öffentlichen Hand in vielen Bereichen der Jugendhilfe, gepaart mit einer nach wie vor bedenklichen ordnungspolitischen Haltung gegenüber minderjährigen Flüchtlingen dazu geführt, dass immer weniger junge Flüchtlinge eine angemessene pädagogische Betreuung in Anspruch nehmen können. Als Stichworte nenne ich an dieser Stelle nur die rechtlich ungeklärten und ethisch fragwürdigen Altersfeststellungsverfahren, unzureichende Ressourcen im Bereich der Erstversorgung und Clearinghäuser, die übermäßige Anzahl an nicht immer unproblematischen Amtsvormundschaften, eilige Asylverfahren und Unterbringung von über 16-Jährigen mit Erwachsenen sowie die weiterhin schwierige Schul- und Ausbildungssituation. Neben den drängenden Themen Bleiberecht, aufenthaltsrechtliches Clearing und Erstversorgung steht gerade die Bildungssituation junger Flüchtlinge im Fokus dieser Tagung wie der Arbeit des Bundesfachverbandes insgesamt. Lassen Sie mich an diesem Punkt kurz innehalten, denn das Problem verhinderter und verpasster Bildungschancen für junge Flüchtlinge steht aus meiner Sicht gerade zu exemplarisch für die rechtliche und gesellschaftliche Stellung dieser besonders verletzbaren Gruppe. Das immens wichtige Anerkennungsmedium der Bildung ist etwas, was wir uns gegenseitig und insbesondere jungen Menschen schulden, die Schutz und Orientierung benötigen. Bildung ist in ihrem Kern Aus-

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druck der Bedürftigkeit und der Fähigkeit des Menschen, zum Autor seiner eigenen Lebensgeschichte zu werden. Sie gilt als Fundamentalrecht, auf dessen Grundlage es jedem Menschen ermöglicht werden soll, aus Unmündigkeit und Ohnmacht herauszutreten und die Welt verstehen zu lernen. Nach den würdeverletzenden Widerfahrnissen von Gewalt und Flucht kann Bildung für junge Flüchtlinge dazu beitragen, einen Weg aus dem Nicht-Verstehen, aus der Erfahrung des Unglücks hinauszubahnen in eine selbst gestaltete und als sinnvoll erlebte Zukunft. Die sogenannten PISA-Untersuchungen zeigen allerdings, dass diese Zukunft schon früh verbaut zu werden droht. Denn das deutsche Bildungssystem trägt nachweislich dazu bei, soziale Ungleichheiten zu verfestigen, anstatt sie aufzuheben. Diese – insbesondere auch minderjährige Flüchtlinge betreffende – Ungerechtigkeit muss schnell überwunden werden. Denn: Unabhängig davon, ob ein junger Flüchtling künftig im Exil oder wieder in seiner Heimat leben wird: Ohne Bildung und damit ohne Perspektive für eine selbst bestimmte berufliche Existenz, wird dies ein Leben mit eingeschränkter Hoffnung bleiben. Eine Benachteiligung, wie sie im Bereich der elementaren Bildung für Kinder ohne Aufenthaltsstatus oder hinsichtlich der Ungleichbehandlung in der Berufsausbildung zu Tage tritt, verstößt gegen das Diskriminierungsverbot und gegen die Universalität internationaler Schutzabkommen. Sie ist damit nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch bedenklich, weil sie die Grundsätze der Gleichbehandlung, der Chancengleichheit und der Teilhabegerechtigkeit massiv verletzt. Es gilt, diese Position nachdrücklich und klug begründet in das Gespräch mit Politikerinnen und Politikern wie mit Entscheidungsträgern in Ämtern und Behörden einzubringen. Nicht nur deshalb sind Fachforen wie dieses von so großer Bedeutung. Wenn für minderjährige Flüchtlinge in den elementaren Bereichen der Bildung, der pädagogischen Förderung, der rechtlichen und vormundschaftlichen Vertretung sowie der medizinischen und psychosozialen Versorgung nicht die gleichen Schutz- und Förderbedingungen wie die für deutsche Kinder gelten, dann, so sind wir der Überzeugung, ist der berechtigte Stolz auf unsere Verfassung und die sozialstaatliche Ausrichtung unseres Landes faktisch unterhöhlt und wertlos. Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor nunmehr siebzehn Jahren hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Übereinkommen über die Rechte des Kindes beschlossen. Mit diesem Schritt haben die Vereinten Nationen die Menschenrechte ausdrücklich für die Kinder dieser Welt in Kraft gesetzt. Schutz- und Freiheitsrechte, die Gewährleistung leiblich-seelischer Integrität, der Zugang zu Nahrung und Bildung, das Verbot der Diskriminierung oder das Recht auf humanitäre Hilfe bilden die Fundamente dieser Deklaration, durch die Kinder zum ersten Mal als Träger von Rechten in den Blick genommen werden. Möge von diesem Fachpolitischen Forum das Signal ausgehen, dass die Sozialverbände, Kirchen, Nichtregierungsorganisationen, die Akteure der Zivilgesellschaft und die Fachleute in der Jugendhilfe und Jugendsozialarbeit gemeinsam mit den Verantwortungsträgern in Politik, Justiz und Verwaltung an der Verbesserung eines effektiven Schutzes von Kinderrechten arbeiten. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wünsche ich eine interessante, erkenntnisreiche Tagung und gute Diskussionen, die getragen sein mögen von einer Kultur des entschiedenen aber abwägenden Streits und des gegenseitigen Zuhörens. Vielen Dank!

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Grußwort

Diana von Webel Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jugendliche, zunächst einmal möchte ich mich auch im Namen von Frau Christiansen für die Einladung bedanken. Im Programm bin ich angekündigt „für Sabine Christiansen“. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass ich als Diana von Webel zu Ihnen spreche, wenngleich Frau Christiansen sicherlich nichts gegen meinen Text einzuwenden hätte. Viele von Ihnen fragen sich vielleicht, was hat denn Sabine Christiansen mit jungen Flüchtlingen zu tun? Nun, wie Sie vielleicht wissen, setzt sich Frau Christiansen schon seit Jahren für Kinder in aller Welt ein, am prominentesten wahrscheinlich in ihrer Funktion als UNICEFBotschafterin. Als sie die Sabine Christiansen-Kinderstiftung gründete, sollte es auch hier um Kinder gehen, spezieller um Kinderrechte. Wir suchten dann für die Stiftung einen Förderschwerpunkt im Zusammenhang mit Kinderrechten, bei dem es in Deutschland etwas „anzupacken“ gibt. Frau Christiansen stieß über einen Bericht über ein Einzelvormundschaftsprojekt in Berlin, AKINDA, auf das Thema „unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“. Und da hatten wir unseren ersten Förderschwerpunkt. Als ich anfing, über „UMF“ zu recherchieren, wollte ich zunächst gar nicht glauben, was ich da alles erfuhr. Im Laufe der Zeit habe ich die Erfahrung gemacht, dass es vielen anderen auch so geht. Wenn ich vom Förderschwerpunkt der Sabine Christiansen-Kinderstiftung erzähle, steht den meisten Menschen ein großes Fragezeichen ins Gesicht geschrieben. Vorbehalte gegen die Kinderrechtskonvention? Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge? Zunächst einmal glaubt fast niemand, dass jährlich mehreren hundert Minderjährigen die Flucht aus ihrer Heimat nach Deutschland gelingt und das ohne erwachsene Begleitung. Aber wenn sie dann erstmal hier sind, so die landläufige Meinung, wird schon für sie gesorgt werden. Nun gut – dass es Flüchtlinge bei uns nicht sonderlich leicht haben, ist allgemein bekannt.

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Wie sehr aber gerade Kinder und Jugendliche unter der Rechtslage in Deutschland leiden und dass es für sie keine besonderen Schutzbestimmungen gibt, weiß einfach kaum jemand. Das liegt unter anderem daran, dass die Materie sehr kompliziert ist. Beschreiben Sie mal in „BILD“-Zeitungslänge und -manier die rechtliche Situation der Flüchtlingskinder. Allein der Ausdruck „junge Flüchtlinge ohne sicheren Aufenthaltsstatus“ ist schon ziemlich „unsexy“ für einen Journalisten. Und dann die ganzen mit diesem Ausdruck verbundenen komplexen Zusammenhänge: Aufenthaltsgesetz, Inobhutnahme, Clearing, Duldung, Asylverfahrensfähigkeit… Ein Laie kommt da schnell ins Schwitzen. Am Rande bemerkt: Bis vor einem guten halben Jahr gehörte ich selbst noch zur Laien-Gruppe. Und es dauerte auch eine Zeit, bis sich mir die ganzen Zusammenhänge erschlossen hatten. Nun kann man von einem guten Journalisten oder einer guten Journalistin verlangen, dass er oder sie sich in die Materie einarbeitet und das Ganze für die Leserinnen und Leser verständlich aufbereitet. Das passiert auch gelegentlich. Doch Medien-Aufmerksamkeit für das Thema läuft fast immer über mehr oder weniger spektakuläre Fälle (und das leider im Positiven wie im Negativen, wobei ich Letzteres bei aller Kritikwürdigkeit hier einmal vernachlässigen will). Nur über Beispiele von betroffenen Kindern und Jugendlichen gelingt es, die Zustände, denen Flüchtlinge in Deutschland ausgesetzt sind, adäquat darzustellen. Weil nur so die Auswirkungen von trockenen Gesetzen und Bestimmungen auf Menschen, auf Kinder begreifbar werden, die Auswirkungen in der realen Welt abseits der Plenarsäle und Amtsstuben. Vor einigen Wochen gab es bei Spiegel online einen großen Artikel über Moghim Mohammed Rahmati aus Afghanistan, der als 15-jähriger nach Deutschland kam und seit seinem 16. Geburtstag in einer Asylantenunterkunft nahe Flensburg wohnt. Kürzlich gewann er den Anne-Frank-Wettberwerb, traf Bundespräsident Köhler und kann nicht verstehen, weshalb er jetzt, mit 18 Jahren, abgeschoben werden soll in sein Geburtsland, das keine Heimat mehr für ihn ist. Er will lernen, zur Schule gehen, eine gute Ausbildung bekommen, um eine Chance auf eine bessere Zukunft zu haben. UN-Botschafter ist sein Berufswunsch. In diesem Artikel bekamen all die komplexen Vorgänge im Umgang mit jungen Flüchtlingen in Deutschland plötzlich ein Gesicht: Dass die Minderjährigen zunächst in Kinderheime kommen, mit 16 jedoch von einem Tag auf den anderen wie erwachsene Flüchtlinge behandelt werden können, inklusive Unterbringung im Asylantenheim und schlimmstenfalls sogar Abschiebehaft. Dass sie von da an auf sich alleine gestellt sind, es sei denn, sie haben das Glück einen engagierten Vormund zu bekommen. Dass sie in den meisten Bundesländern ab 16 kein Recht auf Schulbesuch mehr haben, in einigen noch nicht einmal, wenn sie jünger sind. Und dass mit dem 18. Geburtstag meist die Ausreise droht, ungeachtet der persönlichen Situation wie Traumatisierung, Ausbildungsstatus oder Lebenschancen im Heimatland. Ich finde es deshalb großartig, dass bei diesem Fachpolitischen Forum einige Jugendliche hier sind und den Themen, über die wir hier diskutieren wollen, ein Gesicht geben. Sie erinnern die Verantwortlichen daran, dass es hier um Kinder geht, dass sich die von ihnen formulierten Gesetzestexte direkt auf ihr Wohlergehen auswirken. Diese Jugendlichen setzen sich aktiv für ihre Rechte ein. Sie können damit einen

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wertvollen Beitrag leisten nicht nur zu dieser Tagung, sondern für alle jungen Flüchtlinge in Deutschland. Ich bin gespannt darauf zu erfahren, mit welchen Erwartungen die jungen Leute hierher gekommen sind und welche Ideen sie haben, wie ihre Situation verbessert werden könnte. Gerade in Zeiten, da in der Bundesregierung über eine mögliche Aufnahme der Kinderrechte ins Grundgesetz diskutiert wird, ist es für meine Begriffe unglaubwürdig, die Vorbehaltsklauseln gegen die Kinderrechtskonvention aufrechtzuerhalten. Doch wenn es – aus welchen Gründen auch immer – keine Aufhebung der Vorbehalte gibt, müssen wenigstens die Auswirkungen auf die Kinder im Einzelnen untersucht und im Zweifelsfall zu Gunsten des Kindeswohls verändert werden. Es kann nicht angehen, dass Menschen, die unseren besonderen Schutz brauchen wie unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, dass diese Kinder in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2006 keinen besonderen Schutz genießen. Ich freue mich nun auf einen regen Gedankenaustausch mit Ihnen allen und darauf, dass wir Lösungen finden werden, die sich in die Realität umsetzen lassen. Ich hoffe – und das sage ich mit Blick auf die hier anwesenden Vertreterinnen und Vertreter aus der Politik – dass die hier anwesenden Jugendlichen am Ende dieser Veranstaltung berechtigte Hoffnung haben dürfen, dass sich ihre Lage tatsächlich verbessern wird. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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Grußwort Prof. Dr. Maria Böhmer* Erst seit relativ kurzer Zeit steht die Situation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Zentrum der öffentlichen Debatte um eine gute und zeitgemäße Integrationspolitik. Neben den alarmierenden bekannten bildungspolitischen Fakten, die deutlich machen, dass ausländische Jugendliche überproportional oft ein nur niedriges Schulniveau erreichen und einen extrem hohen Ungelerntenanteil stellen, belegen internationale Vergleichsstudien die hohe Abhängigkeit der Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland vom sozio-ökonomischen Status der Eltern. Damit werden Bildungs- und Qualifizierungschancen schon im frühen Kindesalter ungleich verteilt, „Sozialhilfekarrieren“ werden – gerade in Familien mit Migrationshintergrund – quasi vererbt. Oftmals zu wenig beachtet wird, wie stark die Integrationschancen auch von den Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe abhängen. Auch wenn sich gerade junge Flüchtlinge immer wieder überraschend gut integrieren und die Schule mit gutem oder gar sehr gutem Erfolg abschließen, obwohl sie nur über eine Duldung oder eine Aufenthaltsgestattung verfügen, bleibt festzuhalten: Die Duldung erschwert ein eigenverantwortliches selbstbestimmtes Leben in Deutschland. Sie schneidet Jugendliche vom Zugang zu einer Ausbildungsförderung oder anderen Fördermaßnahmen ab und verweist sie nicht selten in Tätigkeiten von Ungelernten oder gar in die Arbeitslosigkeit. Die Erteilung eines Aufenthaltstitels würde in vielen Fällen endgültig den Zugang zu unserer Gesellschaft eröffnen. Es geht jetzt darum, eine tragfähige Bleiberechtsregelung zu erreichen. Dazu gehört der gleichrangige Zugang zum Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Auch über die Ausbildungsförderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz und dem SGB III muss intensiv diskutiert werden. Es sind nicht zuletzt die dieses Fachpolitische Forum veranstaltenden Verbände, die auf diese Zusammenhänge seit Jahren hinweisen. Wir brauchen rechtliche Regelungen in Deutschland, die das Migrationsgeschehen der letzten 20 Jahre aufnehmen und integrationspolitische Pfade in unsere Gesellschaft weisen. Hierzu gehört es, den als Kindern geflüchteten, nunmehr Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen aus Ex-Jugoslawien, Bosnien-Herzegowina, Afghanistan, dem Libanon, dem Irak und der Türkei eine faire Chance zu geben, wenn sie sich hier integriert haben. Ebenfalls zeitgemäß ist es, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bis zu ihrer Volljährigkeit möglichst frühzeitig dem Schutzbereich der Kinder- und Jugendhilfe zu übergeben. In diese Richtung weisen die mit

* Das Grußwort lag schriftlich vor.

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dem Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz – „KICK“ – vorgenommenen Änderungen im SGB VIII. Das Fachpolitische Forum ist eine gute Gelegenheit, Antworten auf die uns bewegenden Fragen zu erörtern und auch Kontroversen Raum zu geben. Dabei wünsche ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie den veranstaltenden Verbänden viel Erfolg!

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Einführungsreferat

Kindeswohl bei jungen Flüchtlingen mit unsicherem Aufenthaltsstatus Rechte von jungen Flüchtlingen aus der Sicht der Jugendhilfe

Markus Schnapka

1. Bild Kein abgerundetes, vielleicht noch nicht mal konstruktives Referat. Zu oft haben wir uns in Runden wie diesen mit Maßnahmen, Konzepten, Vorschlägen und Forderungen befasst. Unangenehm: seit ca. 10 Jahren lebt dieses Thema von Wiederholungen, denn die Projekte, wissenschaftlichen Untersuchungen, politischen Vorleistungen sind längst erbracht. Wir müs-

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sen nichts mehr neu erfinden, wir müssten endlich konsequent sein und tun, was wir theoretisch konstruieren. Deshalb bitte ich um Nachsicht für einen Vortrag, der zuspitzt, der nicht harmonisiert. „Vertriebene“ – das Wort hat in Deutschland Tradition – ich verwende es hier bewusst und – wie ich meine – in seiner guten traditionellen Bedeutung.

2. Bild Die Gründe für Vertreibung und Flucht sind nur scheinbar individuelle, aber die Not wirkt auf das Individuum. Die Regionen, in denen Krieg herrscht, sind meist auch diejenigen, in denen ein Menschenleben, ein Kinderleben wenig wert ist und wo sich die Not konzentriert. Die Flucht vor Armut hat in Deutschland ihre eigene und sehr intensive Vergangenheit. Die Welt hat sich seitdem verändert: Wir können nicht mehr in nationalen Grenzen denken, wenn es uns gerade passt. Die Globalisierung erfasst uns alle – aber unsere Menschlichkeit hält noch nicht Schritt.

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3. Bild Europa schottet sich ab.

Während weltweit die Zahl der Flüchtlinge zunimmt, nimmt in Deutschland die Zahl der Asylbewerber und Asylinhaber permanent ab. Es ist wahr: Wir brauchen eine Eine-Welt-Politik, die an den Ursachen von Flucht, Vertreibung und Verfolgung ansetzt. Aber bis sie gelingt, können wir nicht so tun, als wäre sie schon Wirklichkeit und alle, die fliehen, dazu auffordern, in ihren Ländern mit Kriegen und Armut zu bleiben. Unsere Verantwortung ist es, mit Flüchtlingen zu leben, solange Flucht notwendig ist.

4. Bild Es sind keine Engel, die zu uns kommen. Man muss schon eine Menge Energie aufbringen, um diese Torturen einer Flucht nach Deutschland zu überstehen. Viele schweigen, wenn sie befragt werden, und wollen nicht verstehen, auch wenn die Fragen in ihrer Heimatsprache formuliert werden. Schweigen ist eine der Grundvoraussetzungen für eine gelingende Flucht. Auch hier ist die Erinnerung an das Nachkriegsdeutschland hilfreich, um zu verstehen.

5. Bild Mit dem Wir sind wir Deutschen gemeint, oder besser unsere Gesellschaft, die aus Niedergelassenen besteht und hier ihre Heimat hat. Bildungsprojekt hier, Integrationsversuch da, die Jugendhilfe und die

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Sozialarbeit kann nicht kitten, was an Lücken durch Politik, Recht und Gesetz verursacht wird. Und sie versucht es dennoch – es bleibt aber Stückwerk. Eindeutiger Fortschritt und mutiger Schritt: Die jüngste Veränderung des KJHG, die nun im ordnungsrechtlichen Sektor nachvollzogen werden muss. Besonderen Mut beweisen die Fachkräfte, die Träger, die Wohlfahrtsverbände, die Kirchen, die Politiker, die Regierungsbeamten, die in einer verunsichernden politischen Umgebung tun, was sie können.

6. Bild Die Verdrängungspolitik der Bundesregierungen beweist eine Kontinuität, die wir uns international und national nicht weiter leisten können. Umdenken scheint allmählich einzusetzen: Die jüngste Bereicherung des KJHG ist der erste eindeutige gesetzgeberische Schritt, dem die weiteren im Bereich der Ordnungspolitik folgen werden.

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7. Bild

Mit der Umsetzung der UN-Konvention wäre eine Hauptbarriere, die konsequentes Handeln in Politik und Sozialwesen verhindert, beiseite geräumt.

8. Bild Gerade ist wieder eine Kommission beim Jugendministerium zusammengesetzt worden, um Verfahren und Kostenerstattung aufeinander abzustimmen. Dabei sind die Regeln bereits anwendbar – die Vereinheitlichung und verbindliche Durchsetzung ist Sache der Politik.

9. Bild Hier sollte jeder seine eigenen Notizen hinzufügen!

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Einführungsreferat

Rechte von jungen Flüchtlingen im Aufenthaltsrecht

Hubert Heinhold Würde ich nur den Titel meines eigentlichen Referats „Rechte von jungen Flüchtlingen im Aufenthaltsrecht“ abhandeln, wäre ich schnell am Ende, weil nur wenige der Flüchtlinge ein Aufenthaltsrecht im eigentlichen Sinne besitzen. Das Kindeswohl ist nicht bei diesen wenigen tangiert, sondern bei der Mehrheit jener jungen Flüchtlinge, die mit einem unsicheren Aufenthaltsstatus leben müssen. Meine Fragestellung lautet daher: Wird das Kindeswohl von jungen Flüchtlingen im Aufenthaltsrecht ausreichend berücksichtigt? 1) Der Jurist nimmt bei einer solchen Frage das Gesetz zur Hand und blättert es durch. Diesen Vorgang nennt man „Subsumption“. Man fragt also beispielsweise danach, was die Gesetze anordnen, wenn A dem B einen Gegenstand auf den Schädel gehauen hat. Man wird dann feststellen, dass es sich hierbei um eine – möglicherweise gefährliche – Körperverletzung gehandelt hat, die nach dem StGB strafbedroht ist und nach dem BGB Schadenersatzansprüche auslöst. Befragen wir die hier einschlägigen Gesetze, nämlich das AufenthG und das AsylVfG zu unserem Thema des Kindeswohls, stellen wir als erstes fest, dass sich dieser Begriff dort nicht findet.

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Auch wenn wir auf den Einwand der Juristen unter Ihnen, dass „Kindeswohl“ ja selbst schon ein juristischer Begriff ist und wir deshalb bei unserer Überprüfung einen Schritt zurückgehen müssen, nämlich zu der Frage, ob und wie der Gesetzgeber in diesen Gesetzen das Schicksal von Kindern und Jugendlichen im Ausländer- und Asylrecht bedacht hat, ist das Ergebnis dasselbe: „Kein Treffer“.

In beiden Gesetzen finden sich lediglich zwei Bestimmungen, die Sonderregelungen für Minderjährige enthalten, nämlich § 80 AufenthG und § 12 AsylVfG, die sie – eine einzigartige Vorschrift im deutschen Recht – bereits ab dem 16. Lebensjahr für verfahrensfähig erklären. Mit dem Kindeswohl hat diese Bestimmung nichts zu tun, was spätestens dann deutlich wird, wenn Sie die komplizierten Regelungen des deutschen Asyl- und Ausländerrechts einem 16-jährigen Deutschen – nehmen Sie ruhig einen Gymnasiasten und keinen Hauptschüler – vorlegen und ihm die Aufgabe stellen, sie zu erläutern. Dieser deutsche Schüler wird auch die Aufgabe nicht alleine bewältigen, die ihn betreffenden rechtlichen Angelegenheiten selbständig zu regeln, wie etwa beim Kindergeld, bei schulrechtlichen Fragen oder einem Schadensersatzanspruch nach einem Mopedunfall. 90 Prozent der hier aufgewachsenen deutschen SchülerInnen werden scheitern. Warum sollte ein 16-jähriges afrikanisches Mädchen, das vom deutschen Rechtssystem noch weniger Ahnung hat und nicht einmal deutsch spricht, damit zurechtkommen? Nein: Mit Kindeswohl haben diese Vorschriften nichts gemein – sie dienen ausschließlich dem Staatsinteresse, die Verfahren möglichst schnell und ungestört durchzuziehen. Da sich auch sonst weder im AsylVfG noch im AufenthG irgendeine Regelung finden lässt, die der besonderen Situation von Kindern und Jugendlichen Rechnung trägt und die Forderung erhebt, auf sie besondere Rücksicht zu nehmen, ist das erste Resümee, das zu ziehen ist: Der deutsche Gesetzgeber schenkt dem Kindeswohl im Ausländerund Asylverfahrensrecht keine Beachtung. 2) Dieser Befund besagt noch nicht allzuviel. Denn Gesetze setzen lediglich einen Rahmen, der von der Verwaltungspraxis auszufüllen ist. Im zweiten Schritt ist daher zu untersuchen, ob das gesetzliche Defizit von der Realität ausgeglichen wird, ob also die deutsche Verwaltung trotz fehlender Gesetzesgebote dem Kindeswohl ausreichend Rechnung trägt. Ich gehe chronologisch vor: Einreisesituation Den ersten Kontakt zum deutschen Rechtskreis hat ein Flüchtling bei der Einreise ins Bundesgebiet. Da ich hier vor einem Fachpublikum spreche, kann ich als bekannt voraussetzen, dass infolge der Drittstaatenregelung und der EG-Asylzuständigkeitsverordnung (Vulgo: DublinII–Regelung) grundsätzlich die Einreise nur den Flüchtlingen gestattet wird, die weder auf dem Landweg kommen noch aus einem der Staaten, die die Dublin-II-Regelung unterschrieben haben oder mit einem diesbezüglichen Visum ausgestattet sind. Die Fragestellung für uns lautet daher, ob der Aspekt des Kindeswohls Ausnahmen von dieser generellen Regelung erlaubt. 2.1 Die Drittstaatenregelung des Art. 16a II GG enthält keine Ausnahmen. 2.2 Die Dublin-II-Verordnung sieht Ausnahmen vor.

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2.2.1 Nach Art. 6 S. 1 der EG-Asyl-Zuständigkeitsverordnung ist der Mitgliedsstaat, in dem sich ein Angehöriger seiner Familie im Sinne von Art. 2i rechtmäßig aufhält, für die Prüfung des Asylantrags zuständig, sofern dies im Interesse des Minderjährigen liegt. Es fällt auf, dass die Regelung verlangt, dass die Eltern einen rechtmäßigen Aufenthalt besitzen. Sind sie nur geduldet, greifen die allgemeinen Zuständigkeitsbestimmungen ein. Da das Kindeswohl nicht oder nur wenig damit zu tun hat, welche Papiere die Eltern besitzen und dem Staat zudem eine Beurteilungsprärogative eingeräumt ist („wenn es im Interesse des Minderjährigen liegt“), ist das Gewicht des Kindeswohls hier nicht allzugroß. 2.2.2 Nach Art. 6 Satz 2 der EG-Asyl-Zuständigkeitsverordnung ist der Mitgliedsstaat, in dem ein Minderjähriger ohne Familie seinen Asylantrag gestellt hat, für das Verfahren zuständig. Da diese Regelung die Zuständigkeit des Mitgliedsstaates, in dem der unbegleitete Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, verbindlich festschreibt und sie damit von der Verschiebepraxis der Dublin-II-Verordnung ausnimmt, wird dem Kindeswohl insoweit der Vorrang eingeräumt. Trotz dieser Feststellung ist die Freude nicht ungetrübt. Der Grund liegt darin, dass sich die Grenzbehörden immer wieder anmaßen, die Minderjährigkeit nach eigenen Vorstellungen festzustellen und eigenmächtig zu bezweifeln und dann vollendete Tatsachen zu schaffen. Auch wenn die Altersangaben der Kinder1 nicht immer zutreffend sind, ist die Praxis, die eigene (vermeintliche) Wahrheit gegenüber der vom Flüchtling behaupteten als verbindlich sofort durchzusetzen, nicht akzeptabel, weil keine Überprüfung der unterschiedlichen Positionen stattfindet. Dies bedeutet die vorsätzliche Inkaufnahme eines Irrtums zu Lasten des Kindeswohls im Interesse der Abschottung. Dies ergibt sich eindeutig aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (Ds. 16/2633 vom 20.09.06) zum Umgang mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen: Obwohl § 42 des 8. Buches SGB, der im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfeerweiterungsgesetzes (KICK) geändert wurde und eine Inobhutnahme von Minderjährigen bis 18 Jahren bei unbegleiteter Einreise ausdrücklich festschreibt, hält die Bundesregierung eine Zurückweisung und Zurückschiebung im Falle eines Grenzaufgriffs auch von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen für zulässig. Sie argumentiert, der Wortlaut des § 42 SGB VIII beziehe sich auf Kinder und Jugendliche, „die bereits nach Deutschland eingereist sind. In den Fällen, in denen die Einreise durch die Grenzbehörden verweigert wird, erfolgt grundsätzlich keine Unterrichtung der Jugendämter.“ Dies ist – mit Verlaub – Wortklauberei. Denn tatsächlich sind die Kinder ja schon in Deutschland, lediglich rechtlich gilt die Einreise nicht. An der Realität und nicht an der Fiktion aber ist das Kindeswohl zu messen!

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Wenn ich von „Kindern“ spreche, verwende ich den Begriff der UN-Kinderrechtskonvention. „Kinder“ sind danach alle Personen unter 18 Jahren.

Auch im Falle einer im Rechtssinne erfolgten Einreise hält die Bundesregierung nach dieser Stellungnahme die Zurückschiebung für zulässig. Ausdrücklich heißt es in der Antwort: „In Fällen, in denen von der Bundespolizei unbegleitete Minderjährige festgestellt wurden, die unerlaubt nach Deutschland eingereist sind, prüft die Grenzbehörde … die Möglichkeit der Aufenthaltsbeendigung. Sofern hierfür Haft zur Sicherung der Zurückschiebung erforderlich ist, beantragt die Bundespolizei diese beim zuständigen Gericht unter Hinweis auf die Minderjährigkeit des Betroffenen. In diesen Fällen unterrichtet das Gericht das Jugendamt.“ Gleichwohl arbeitet die Abschiebungsmaschinerie weiter, wie der übernächste Satz deutlich macht: „Sofern die aufenthaltsbeendende Maßnahme zeitnah erfolgt, erfolgt im Regelfall keine Unterrichtung der Jugendbehörde.“ Dies zeigt: Trotz Art. 6 der EG-Asylzuständigkeitsverordnung ist dem Kindeswohl nicht stets der Vorrang eingeräumt. Forderung: Es ist daher zu fordern, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen die Einreise ins Bundesgebiet zu gestatten und sie an der Grenze weder zurückzuweisen noch nach einem Grenzübertritt zurückzuschieben. Die Klärungsphase 2.3 Ist der unbegleitete minderjährige Flüchtling ins Land gelangt und hat sich an die Behörden gewandt, hängt der weitere Verlauf von mehreren Umständen ab: Maßgeblich ist zum einen das Alter, zum anderen, ob er einen Asylantrag stellt und zum dritten die Situation in den einzelnen Bundesländern. Idealerweise wird ein Kind als erstes einem Clearingverfahren zugeführt. Das Verfahren ist in den Bundesländern unterschiedlich und bescheidet sich meist mit der Klärung der aufenthaltsrechtlichen und jugendrechtlichen Situation. Hierbei wird zum einen das Alter festgestellt und geprüft, ob ein Vormund zu bestellen ist; zum zweiten, ob ein Asylantrag gestellt wird (je nachdem wird das Bundesamt oder die Ausländerbehörde zum Herr des Verfahrens) – und schließlich, ob das Kind in eine Jugendhilfeeinrichtung oder eine Gemeinschaftsunterkunft verbracht wird. Da die diesbezüglichen Verfahren nicht bundeseinheitlich geregelt sind – und Sie als Fachpublikum an dieser Problematik näher dran sind, als ich als Rechtsanwalt (der typischerweise erst zu einem späteren Zeitpunkt eingeschaltet wird) –, beschränke ich mich auf einige grundsätzliche Bemerkungen: •

Am Anfang steht oft eine Altersschätzung, die meist auf dem Augenschein und angeblichen Erfahrungen und nur selten auf wissenschaftlich nachprüfbaren Fakten beruht. Vorherrschend ist das Misstrauen gegenüber den Angaben des Flüchtlings. Dieses Misstrauen soll nach dem Evaluationsbericht zum Zuwanderungsgesetz Niederschlag in einer Gesetzesänderung finden, die zu einer Beweislastumkehr führt: Nicht die Verwaltung soll das von ihr gefundene oder gar erfundene Alter beweisen, sondern der Minderjährige.

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Abgesehen davon, dass es einem Kind im Regelfall kaum möglich sein wird, sein Alter zu beweisen – Dokumente hat es praktisch nie, Verwandten wird oft nicht geglaubt und Gutachten zur Altersfeststellung kann es schon aus finanziellen Gründen nicht in Auftrag geben –, wird es durch ein solches Prozedere von Anfang an als Lügner abgestempelt. Einen „Gutglaubensschutz“ gibt es nicht; es wird nach der Altersstufe behandelt, die der Verwaltung genehm erscheint. Führt diese Einstufung dann dazu, dass der Betreffende als verfahrensfähig (§ 80 AufenthG; § 12 AsylVfG; d. h. älter als 16 Jahre) definiert wird oder gar als volljährig, bedeutet dies im Ergebnis, dass er auf sich allein gestellt bleibt. Es gibt dann keinen Vormund, der ihm gegen die staatliche Macht zur Seite stehen könnte und ihm behilflich sein könnte, seine Rechte als Kind oder Jugendlicher geltend zu machen. Dies wirkt sich im Hinblick auf die Unterbringung aus. Wird das Kind älter als 16 Jahre eingestuft, landet es oft in der Asylbewerberunterkunft. Eventuelle Jugendhilfemaßnahmen enden regelmäßig früher (und meist zu früh). Denn nur in Ausnahmefällen werden sie über das 18. Lebensjahr hinaus gewährt. Die Unterbringung in Asylbewerberunterkünften oder Lagern ist nicht kind- und jugendgerecht. Im Gegenteil: Oftmals sind dies jugendgefährdende Orte, wie Beispielsfälle, in denen heranwachsende Mädchen zur Prostitution veranlasst wurden, deutlich aufgezeigt haben. •

Damit einher geht oft ein grundlegender Mangel an Betreuung. Es ist keine Frage, sondern offenkundig, dass unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, meist auch über das 18. Lebensjahr hinaus, einer intensiven Betreuung bedürfen. Ungeachtet ihres Alters haben sie ein schweres Schicksal hinter sich. Sie sind in eine ihnen fremde Welt hineingestoßen worden: Sie müssen nicht nur den Verlust ihrer vertrauten Umgebung, sondern auch den ihrer Eltern und Bezugspersonen verarbeiten. Wenn sie nicht schon in ihrer Heimat traumatisierende Erlebnisse erleiden mussten, waren sie solchen oft während der Flucht ausgesetzt. Die Flucht – oder drücken wir es neutral aus: Die Migration – unter den Bedingungen, die die Abschottung Europas hervorgebracht hat, findet nicht in der economy class der Lufthansa statt, sondern unter entwürdigenden Umständen. Die Kinder und Jugendlichen sind monatelang als „Illegale“ unterwegs. Sie sind ihren Schleppern hilflos ausgeliefert. Missbrauch und Vergewaltigung sind keine Seltenheit. Aber selbst wenn Derartiges nicht stattfindet, zeigt ein Blick in den „Grundkurs Psychologie“, welche Schäden eine kindliche Seele nimmt, die unter derartigen Bedingungen die Eltern verliert und sich allein in der Fremde zurechtfinden muss. Dem trägt weder das geltende Recht noch die Praxis in Deutschland Rechnung. Allenfalls dann, wenn psychische Auffälligkeiten unübersehbar werden und zur Reaktion zwingen, gibt es im Einzelfall therapeutische Hilfe durch PsychologInnen und ÄrztInnen. Richtig und erforderlich wäre es demgegenüber, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen generell, von Anfang an und möglichst frühzeitig eine psychologische Hilfestellung zukommen zu lassen. Denn eine Gefährdung des Kindeswohls ist bei allen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu bejahen.

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Hieraus resultiert die Forderung • dass zum einen alle Flüchtlinge unter 18 Jahren eine psychotherapeutische Erstbetreuung erhalten müssen, zum anderen, dass eine Unterbringung in Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen und eine Betreuung zwingend vorzuschreiben ist. • Damit von Anfang an die Weichen richtig gestellt werden, ist es erforderlich, während des Clearing-Verfahrens ein Aufenthaltsrecht einzuräumen. § 25 Abs. 5 AufenthG könnte Rechtsgrundlage sein, da während der Klärung eine Aufenthaltsbeendigung unzulässig ist. Das Verfahren 2.4 Der Zugangssituation, die ich bisher beschrieben habe, folgt das eigentliche Verfahren. Dieses findet nach dem deutschen Recht entweder in Form des Asylverfahrens oder in Form eines ausländerrechtlichen Verfahrens statt. 2.4.1 Ein Asylverfahren wird in der Zuständigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durchgeführt, wenn entweder asylrechtlicher Schutz nach Art. 16a GG oder die Feststellung der Flüchtlingseigenschaften nach der GFK gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt wird. Die Weichenstellung erfolgt durch einen Asylantrag, der entweder von dem Flüchtling selbst gestellt wird – sofern er über 16 Jahre alt ist – oder von seinem Vormund, sofern und sobald ein solcher bestellt wurde. Im Fall eines Asylantrags hat das BAMF dann auch zu prüfen, ob ein sog. „zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot“ vorliegt, also, ob dem Kind im Fall der Abschiebung in sein Herkunftsland eine menschenrechtswidrige Behandlung droht oder es in eine extreme Gefahr für Leib und Leben geriete. Dem Kindeswohl wird vom BAMF insoweit Rechnung getragen, als speziell geschulte AnhörerInnen (oft, aber nicht immer) die Kinder und Jugendlichen anhören: Wünschenswert wäre, dass dies generell geschieht und auch 16- bis 18-Jährige hiervon profitieren. Wenn ich gleichwohl kritisiere, dass die Anhörung oftmals nicht kindund jugendgerecht ist, liegt dies nicht an den Personen, sondern an den Vorgaben, teilweise durch das Gesetz, teils durch Dienstanweisungen. Das übliche Anhörungsschema wird der besonderen Lage dieser Klientel nicht gerecht. Viele sind durch die Flucht oder ganz einfach durch den Verlust der Eltern und der Heimat traumatisiert, alle sind misstrauisch; eine Vertrauensbasis besteht zu den unbekannten Anhörerinnen und Anhörern natürlich nicht. Selbst zu den Betreuerinnen und Betreuern sowie den Vormunden kann sie oftmals erst nach Monaten oder Jahren aufgebaut werden. Man darf sich daher nicht wundern, wenn Halbwahrheiten und Lügen erzählt werden und das wahre Schicksal erst sehr viel später zur Sprache kommt. Das deutsche Asylrecht fragt danach, ob eine politische (religiöse, ethnische, rassische) Verfolgung vorliegt, was bei Kindern und Jugendlichen nur ausnahmsweise und dann auch eher als Reflex der Verfolgung der Eltern der Fall sein wird. Die Hürden für die Bejahung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG sind von der obergerichtlichen Rechtsprechung extrem hoch errichtet worden. Viele überwinden sie nicht. Gelegentlich „helfen“ die Untergerichte dann dadurch, dass sie den Rechtsstreit erst verhandeln, wenn das Kind volljährig geworden ist.

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Es ist an der Zeit, dass sich der Gesetzgeber – aber auch die Behörden und Gerichte – Gedanken machen, ob eine solche Herangehensweise bei Kindern und Jugendlichen sachgerecht ist. Die herrschende Abschottungspraxis muss in Frage gestellt werden. Wie geht es zusammen, dass die Globalisierung als unvermeidbar akzeptiert wird (wie dies die europäische Politik tut), wenn die russische Gaz-Prom ein Drittel des deutschen Gasmarktes, die taiwanesische Ben-Q das Siemens-Handy-Geschäft übernommen hat und koreanische Automarken auf den Markt drängen, die Menschen aus diesen und anderen Drittstaaten aber nicht hier willkommen sind? Den Marken, Firmen und Waren folgen stets Menschen nach und dies nicht nur als Ingenieure und Touristen. Die deutsche und europäische Abschottungspolitik ist daher, objektiv gesehen, ein Auslaufmodell. Sollte man nicht bei der Auslegung der Gesetze – konkret also etwa der Fragestellung, ob Abschiebungsverbote vorliegen, die Migrationsursachen stärker berücksichtigen und das Kindeswohl mehr in den Vordergrund rücken, so dass als Konsequenz schon die miserablen ökonomischen Verhältnisse in Teilen Afrikas genügen, oder die sonstigen, allgemeinen Fluchtursachen, wie Krieg, Bürgerkrieg und Menschenhandel, um Kindern und Jugendlichen ein Bleiberecht einzuräumen? Eine vorausschauende Politik sollte die Migration von Jugendlichen als Chance begreifen – und zwar sowohl für uns, die wir überaltern, als auch im Fall einer (freiwilligen) Rückkehr für die Herkunftsländer. Dies würde allerdings voraussetzen, dass wir den Aufenthalt für eine gezielte Förderung und Ausbildung nutzen und nicht für gezielte Destruktion und Desintegration. Forderung: Der besonderen Situation der Kinder muss durch eine großzügige Auslegung der asylrechtlichen Bestimmungen und des Rechts der Abschiebungsverbote Rechnung getragen werden. Schwerwiegende Notlagen, auch wenn sie aus Krieg, Bürgerkrieg, Menschenhandel, Umweltzerstörung oder ökonomischer Not resultieren, müssen zu einem Aufenthaltsrecht führen. 2.4.2 Ist ein Asylantrag nicht gestellt, hat die Ausländerbehörde zu prüfen, ob inlands- oder zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse vorliegen. Im letztgenannten Fall wird eine Stellungnahme des Bundesamtes eingeholt. Zu den Kriterien gilt das oben Gesagte. Die Situation während des Verfahrens 2.5 Während sich das Kind, das einen Asylantrag gestellt hat, mit einer Aufenthaltsgestattung ausweisen kann und damit einen rechtmäßigen (wenn auch schlechten) Aufenthaltsstatus im Bundesgebiet hat, bekommt das Kind, für das hierauf verzichtet wurde, lediglich eine Duldungsbescheinigung. Sein Aufenthalt ist nicht rechtmäßig; aufgrund einer meist illegalen Einreise hat es sich im Regelfall strafbar gemacht. Wurde bislang hierüber oft hinweggesehen, wurden in letzter Zeit öfter Strafverfahren eingeleitet bzw. Ausweisungen auf diesen Sachverhalt gestützt. 2.5.1 Je nach Alter sind die Kinder und Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen (regelmäßig unter 16 Jahren, darüber nur im Ausnahmefall), ansonsten in Asylbewerberunterkünften (regelmäßig über 16

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Jahren) oder sonstigen Unterkünften und Lagern untergebracht. Nur ausnahmsweise wird eine Privat-Wohnung gestattet. 2.5.2 Eine Arbeitsaufnahme ist während des ersten Aufenthaltsjahres generell untersagt (§ 61 Abs. 2 AsylVfG, § 10 BeschVerfV), danach unter Berücksichtigung des Vorrangsprinzips gemäß § 39 AufenthG und der zugehörigen Verordnungen. Wegen der hohen Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland stehen AsylbewerberInnen oder Geduldeten damit kaum Jobs zur Verfügung. Allenfalls wird eine Teilzeitbeschäftigung im untersten Lohnbereich gestattet (üblich: Zwei Stunden bei 5 Tage-Woche). Behauptet die Ausländerbehörde bei geduldeten AusländerInnen – und dies ist in manchen Landstrichen nicht selten –, dass sie sich ins Bundesgebiet begeben hätten, um Leistungen nach dem AsylbLG zu erlangen oder dass bei aus von ihnen zu vertretenden Gründen der Aufenthalt nicht beendet werden könne, besteht gemäß § 11 BeschVerfV kraft Gesetzes ein Beschäftigungsverbot. Wenn etwa Streit über die Identität oder das Geburtsdatum besteht oder Pässe nicht besorgt werden (können), dient diese Vorschrift dazu, auch Kinder und Jugendliche jahrelang von jeder Arbeit fernzuhalten. Es liegt auf der Hand, dass dies geradezu eine Aufforderung zur Schwarzarbeit oder einer sonstigen illegalen Tätigkeit ist. Auf diese Weise werden Kinder und Jugendliche systematisch der Arbeit entwöhnt und in die Randbezirke der Kriminalität gedrängt. Dies ist das Gegenteil von „Kindeswohl“. Forderung: Kindern ist der Schulbesuch und die Aufnahme einer (qualifizierten) Ausbildung zu gestatten, ebenso eine Weiterbildung und die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Nach der Entscheidung über den Status Der weitere Aufenthalt regelt sich danach, welcher Status dem Kind zugewiesen wurde. 2.6.1 Wer als Asylberechtigte/r oder sonstiger Flüchtling den Flüchtlingsstatus nach der GFK erhalten hat, bekommt eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG. Im Jahr 2005 erhielten 5,2 % aller AsylantragstellerInnen diesen Status, in den ersten neun Monaten des Jahres 2006 waren es 3,9 %.2 Die Statistik weist nicht aus, wieviele von ihnen unbegleitete minderjährige Flüchtlinge waren. Nach meiner Einschätzung sind die Zahlen bei ihnen deutlich geringer; bei einem Großteil der Anerkennungszahlen dürfte es sich um abgeleitetes Familienasyl handeln. 2.6.2 Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG gibt es, wenn das Bundesamt festgestellt hat, dass die Voraussetzungen nach § 60 Abs. 2, 3, 5 oder 7 AufenthG vorliegen. Bei 1,4 % aller AsylbewerberInnen war dies im Jahr 2005 der Fall, 2006 bei 1,8 %.3 Der Anteil der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge dürfte hier leicht überproportional 2 3

http://www.bamf.de/cln_043/nn_564242/DE/DasBAMF/Statistik/statistik-node.html__nnn=true siehe Fußnote 3

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sein. Dies liegt daran, dass die Minderjährigkeit als solche bei manchen Herkunftsstaaten ein Abschiebungsverbot begründet. Dies ist dann der Fall, wenn die soziale und wirtschaftliche Lage so schlecht bzw. die staatliche Desorganisation so groß ist, dass dem Kind oder Jugendlichen ein Überleben kaum möglich wäre und ihm nichts anderes als ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums drohen würde. 2.6.3 Ist weder asylrechtlicher Schutz zugebilligt worden noch ein förmliches Abschiebungsverbot attestiert, bekommen die Kinder eine Duldung, solange sie nicht abgeschoben werden können. Daraus wird dann oft eine sog. „Dauerduldung“. Manchen gelingt der „Aufstieg“ in eine Aufenthaltserlaubnis auf der Grundlage von § 25 Abs. 4 und 5 AufenthG. Voraussetzung ist das Vorliegen eines dringenden humanitären oder persönlichen Grundes, eines außergewöhnlichen Härtefalls (§ 25 Abs. 4 AufenthG) oder eines inlandsbezogenen Abschiebungsverbots (§ 25 Abs. 5 AufenthG). Von der ersten Regelung machen vernünftige Ausländerbehörden (unter großzügiger Handhabung ihres Ermessens) manchmal Gebrauch, um Jugendlichen eine Ausbildung zu ermöglichen – denn hierfür ist faktische Voraussetzung der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Die Jugendlichen müssen dann unterschreiben, dass sie nach Abschluss der Ausbildung das Land verlassen und aus der Ausbildung keinen Vertrauensschutz ableiten. Sie tun dies meist in der Hoffnung auf eine Änderung der Rechtslage oder ihrer persönlichen Verhältnisse (z. B. durch eine Eheschließung). Dies erscheint mir ein pragmatischer und vernünftiger Weg, zumindest die gröbsten Härten zu lindern und zu einer vernünftigen Zwischenlösung zu kommen. Eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG hingegen steht meist am Ende einer bedauerlichen Entwicklung. Denn sie darf nach der herrschenden Rechtsprechung und verbreiteten Praxis nicht erteilt werden, wenn eine freiwillige Ausreise möglich ist – und dies wird fast immer behauptet. Mit dem Argument der fehlenden Mitwirkung an einer freiwilligen Ausreise oder Passbeschaffung gibt es daher eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG meist nur, wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt und vom Gesundheitsamt attestiert wird. Denn dann kann eine freiwillige Ausreise selbst bei Besitz eines Passes nicht mehr verlangt werden. Die Betroffenen freilich sind in diesen Fällen oft schon schwer geschädigt. Forderung: Die langen Verfahren dürfen nicht zu Lasten der Kinder gehen. Es ist zu berücksichtigen, dass Kinder sich rasch integrieren. Ihnen sollte daher nach einem 2-jährigen Aufenthalt im Bundesgebiet ein Aufenthaltsrecht eingeräumt werden. 2.7.1. Sowohl die Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG als auch die nach § 25 Abs. 3 AufenthG berechtigt zur Aufnahme jeder Erwerbstätigkeit. Das Vorrangsprinzip gilt nicht. Dieser Personenkreis unterliegt auch nicht den Einschränkungen des AsylbLG und damit auch nicht den Beschränkungen, die andere Sozialgesetze durch Verweise auf das AsylbLG angeordnet haben. 2.7.2. Wer nur eine Duldung hat, ist damit de facto über viele Jahre von der Erwerbstätigkeit ausgeschlossen und dem Asylbewerberleistungs-

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gesetz und den damit einhergehenden Restriktionen (z. B. zwangsweiser Lageraufenthalt in Bayern aufgrund des Bayerischen Landesaufnahmegesetzes) unterworfen. 2.7.3. Auch eine Ausbildung ist nur in seltensten Fällen möglich. Die BeschVerfV enthält zwar in § 8 eine Sonderregelung für die „Ausbildung und Beschäftigung von im Jugendalter eingereisten Ausländern“, doch sind die Voraussetzungen zu eng, so dass nicht allzu viele hiervon profitieren. Denn die Regelung verlangt den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Damit hat sie Relevanz nur für die wenigen Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 4 und 5 AufenthG erhalten. Auch die weiteren Voraussetzungen sind – angesichts der vorangegangenen Praxis einer Desintegration – für viele nicht erreichbar. 3) Mein Resümee zur Frage, wie es um die Beachtung des Kindeswohls im Aufenthaltsrecht bestellt ist, ist daher ein negatives: Praktisch nie kommt dem Kindeswohl der absolute Vorrang zu; nur in einzelnen Verfahrensschritten ist seine Berücksichtigung vorgesehen. Im Großen und Ganzen hat dieser Begriff weder für die gesetzlichen noch für die Verwaltungsregeln noch für die ausländerrechtliche Praxis Gewicht. Das entscheidende Kriterium für den Umgang mit Kinderflüchtlingen ist nicht ihr Alter, sondern die Ausländereigenschaft und der daraus abgeleitete Status. Für eine weltoffene und tolerante Gesellschaft, die wir angeblich sein wollen, ist dies ein bitterer Befund. Es ist an der Zeit, umzudenken. Die aufgestellten Forderungen, die den „Forderungen zur Verbesserung der Situation minderjähriger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland“, die die BAG Jugendsozialarbeit von 2005 erhoben hat, weitgehend entsprechen, sollten Grundlage für die weitere Diskussion sein. Als erster Schritt – sozusagen als Zeichen des guten Willens – sollte eine Bleiberechtsregelung beschlossen werden die ihren Namen verdient und allen Kindern, die hier seit mindestens 2 Jahren leben, ein Aufenthaltsrecht zubilligt.

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Forum 1 Bleiberecht für junge Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthalt

Bleiberecht für junge Flüchtlinge mit langjährig ungesichertem Aufenthalt

„Wir sind integriert und wir wollen eine Perspektive“

Islam und Ras 1. „Wir sind integriert“ Mein Name ist Islam. Ich bin mit meiner Familie aus dem Kosovo gekommen. Ich lebe seit 15 Jahren hier in Deutschland und habe immer noch die Duldung. Es kann passieren, dass ich abgeschoben werde. Ich bin hier aufgewachsen und habe mich hier integriert. Ich bin der deutschen Sprache mächtig. Ich habe die Schule erfolgreich abgeschlossen, habe hier meinen Freundeskreis. Ich fühle mich hier beheimatet. Im eigenen Land würde ich mich fremd fühlen. Hier möchte ich meine Zukunft aufbauen. Und dazu brauche ich Sicherheit. Mein Name ist Ras. Ich bin mit meinem Zwillingsbruder hier. Wir leben seit 4 ½ Jahren in Deutschland. Wir sind mit unseren Eltern aus dem Irak gekommen. Wir haben – bis zu unserer Volljährigkeit – die Aufenthaltserlaubnis gehabt. Wir sind am 20. Dezember 2005 18 Jahre alt geworden. Nach 6 Monaten haben sie uns die Aufenthaltserlaubnis entzogen. Wir haben nun die Duldung. Mein Bruder und ich sind hier integriert. Wir lesen und sprechen die deutsche Sprache, wir haben die Schule besucht und abgeschlossen, wollen eine Ausbildung machen.

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2. Gründe für die Flucht mit der Familie Islam: Ich bin mit meiner Familie geflüchtet, weil Krieg im Kosovo war, wegen der schlechten Situation und aus Angst um unser Leben. Ras: Wir sind nach Deutschland geflüchtet wegen dem politischen Regime und Terrorismus. Mich wollte man zum Beispiel zwingen, ein Kopftuch zu tragen oder meinen Bruder, in die Moschee zu gehen. 3. Leben mit der Duldung Islam: Ich habe die Schule erfolgreich abgeschlossen, aber danach hatte ich keine Wahl, außer zu Hause zu bleiben. Ich habe keine Perspektive und keine Chance meine Zukunft selber zu gestalten. Ich will etwas machen, doch es geht nicht mit Duldung. Ich muss mich oft immer wieder neu motivieren. Das wirkt sich auf meine Psyche aus, auch wegen der Unsicherheit, was mit mir werden soll. Ras: Duldung heißt für mich Stress. Ich reagiere mit psychsomatischen Krankheiten wie zum Beispiel Kopfschmerzen oder mein Bruder mit Magenschmerzen. Ich denke immer über mich selbst nach und was mit mir bzw. uns passiert. Unsere Mutter, die krank ist, braucht unsere Unterstützung. Sie kann ohne unsere Hilfe nichts machen. Wir machen uns große Sorgen. 4. Forderungen – Wir wollen eine Perspektive Islam: Ich will endlich eine Aufenthaltserlaubnis und eine Arbeitserlaubnis, um eine Ausbildung machen zu können. Ich will mich hier in Deutschland frei bewegen, mich endlich sicher fühlen und in Ruhe mein Leben leben und unabhängig sein. Ras: Ich erwarte von der Politik in Deutschland, dass mein Bruder und ich wieder die Aufenthaltserlaubnis bekommen, dass mein Bruder und ich eine Ausbildung machen können und wir hier arbeiten können. Wir erwarten, dass unsere Familie zusammen bleiben kann, dass wir eine gute Zukunft haben und ein schönes Leben ohne Stress und Probleme wie jetzt mit der Duldung.

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Forum 1 Bleiberecht für junge Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthalt

Psychische Folgen einer langjährigen Aufenthaltsunsicherheit bei Kindern und Jugendlichen Sabine Haversiek-Vogelsang 1. Einführung Aufenthaltsunsicherheit heißt in diesem Fall: die Betroffenen haben keinen anerkannten Flüchtlingsstatus im Sinne der §§ 16aGG (politisches Asyl), bzw. §60.1 AufenthG (humanitäres Asyl), keine Aufenthaltserlaubnis, sondern eine Duldung, d.h. Aussetzung der Abschiebung, und damit keinen Pass. Was es heißt, keinen Pass zu haben, hat Bertolt Brecht in seinem Stück ‚Flüchtlingsgespräche’ wie folgt ausgedrückt: „Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“ 2. Implikationen Die Lebenssituation von Flüchtlingen, die in Deutschland mit einer Duldung leben, ist geprägt von eingeschränkten Rechten. Die Implikationen einer solchen Lebenslage sind wie folgt: Lebensalltag mit psychosozialer Belastung: • eingeschränkter Bewegungsradius • Wohnheimleben • (ortsabhängig) kein Bargeld • (ortsabhängig) kein Schulbesuch • keine altersgemäße Förderung • eingeschränkte medizinische Versorgung • Angst vor Abschiebung. Dies alles führt dazu, dass der Alltag geprägt ist von chronischem Stress. Die Betroffenen erleben gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung, Kinder und Jugendliche erfahren: „Ich bin ausgeschlossen“, „Ich gehöre nicht dazu“, „Ich bin anders“, „Ich bin nicht normal“, wenn sie z.B. wie noch in 4 Bundesländern Praxis, keine Schule besuchen, wenn sie nicht wie andere Kinder in Privatwohnungen leben oder auch an Klassenfahrten nicht teilnehmen dürfen. Die Lebenslage der Flüchtlingskinder ist somit geprägt von einer strukturellen Verletzung der Grundbedürfnisse, wie sie in der UN-Kinderrechtskonvention formuliert sind und durch die sog. Vorbehaltserklärung der Bundesregierung für Flüchtlingskinder nicht gelten (sollen). Verletzt werden die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, nach Gleichbe-

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handlung, nach Förderung und Bildung, nach Gesundheit sowie nach Spielen, Freizeit und Erholung. Ein derart strukturell belasteter Lebensalltag birgt hohe Risiken für die psychische Gesundheit der Flüchtlingskinder. So gelten beispielsweise im Multiaxialen Klassifikationsschema für psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter nach ICD 10 der WHO auf der Achse 5 („Aktuelle abnorme psychosoziale Umstände“) ein Drittel der als für psychische Störungen identifizierte Risikofaktoren bei Flüchtlingskindern und -jugendlichen als strukturell erfüllt. Die Frage, ob Kinder und Jugendliche unter derartigen Belastungen psychische Störungen entwickeln, kann mit einem Einschätzungsmodell beantwortet werden, welches das Verhältnis zwischen Risiko- und Schutzfaktoren beleuchtet: Risikomildernde Schutzfaktoren im Kindesund Jugendalter (Scheithauer u. Petermann 1999). Resilienzfaktoren: Positives Sozialverhalten, Positives Selbstwertgefühl und Selbstwirksamkeitsüberzeugung Aktives Bewältigungsverhalten Umgebungsbezogene Schutzfaktoren: Stabile emotionale Beziehung zu einer Bezugsperson Offenes, unterstützendes Erziehungsklima Familiärer Zusammenhalt Modelle positiven Bewältigungsverhaltens Soziale Unterstützung Positive Freundschaftsbeziehungen Positive Schulerfahrungen (Kindbezogene Faktoren) Vor allem Kinder und Jugendliche, deren Eltern traumatisiert oder sonst wie erkrankt sind, haben hier ein deutlich erhöhtes Risiko. 3. Psychische Folgen Depressionen: • Minderung von Antrieb und Aktivitäten • Beeinträchtigung von Konzentration, der Fähigkeit, Freude zu empfinden, und der Interessen • Körperliche Erschöpfungszustände: Müdigkeit, Appetitlosigkeit, gestörter Schlaf • Minderung von Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen • Gefühle von Schuld und Wertlosigkeit Ängste: • Trennungsängste • generalisierte Ängste Störungen der (schulischen) Entwicklung- bzw. Leistungsfähigkeit: Störungen der Familienbeziehungen:

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• •

Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit, Resignation bestimmen das Familienklima Eltern „delegieren“ ihre Aufgaben an die Kinder (Rollenumkehr kann zur emotionalen Überforderung führen)

Verhaltensstörungen Die Behandlung dieser Störungen sowie die Prognose für Besserung und Heilung sind wiederum maßgeblich abhängig von den folgenden Rahmenbedingungen: • • • • • •

größt mögliche äußere Sicherheit und Stabilität in Beziehungen, d.h. Verlässlichkeit im Kontakt; ruhiges, vorhersehbares Verhalten der Erwachsenen funktionierender Alltag: Erfolgserlebnisse, z.B. in der Schule; Spiel und Bewegung; (sichere) Orientierung in der Wohnumgebung; aktive Freizeitgestaltung; eine“ Person des Vertrauens“; soziale Bezüge gute familiäre Beziehungen („meine Eltern helfen mir, beschützen mich, nehmen mich ernst“) Identitätskohärenz, d.h. positive Identifikation mit der Herkunftskultur, Erleben von Wertschätzung und Akzeptanz der Herkunftskultur im Asylland Persönlichkeitsfaktoren, d.h. Optimismus, Humor, Zähigkeit, Fähigkeit zu positiver Selbstverstärkung.

Bei der Betrachtung, wie diese Bedingungen und Faktoren im Einzelnen bei Flüchtlingskindern erfüllt sind bzw. zutreffen, wird angesichts des oben Ausgeführten schnell deutlich, dass Besserung und Heilungschancen durch die Unsicherheit der Aufenthaltsperspektive schwer zu erreichen sind bzw. Behandlungsziele bestenfalls auf die Verhinderung größerer Schäden auszurichten sind.

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Forum 1

Kriterien für eine Bleiberechtsregelung Josef Winkler1 Die Innenministerkonferenz (IMK) will sich auf ihrer Tagung am 16. und 17. November 2006 mit der Schaffung einer Bleiberechtsregelung für langjährig in Deutschland geduldete Personen beschäftigen.

Bleiberecht für junge Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthalt

Derzeit führen Landesinnenminister und Bundesminister im Vorfeld der IMK intensive Verhandlungen um die Ausgestaltung einer Bleiberechtsregelung. Diese Verhandlungen sind geprägt von taktischen Manövern – wie Verhandlungsblockaden und wechselseitigen Ultimaten – und Verknüpfung mit sachfremden Themenbereichen. Ein Eckpunktepapier des Bundesinnenministers Dr. Wolfgang Schäuble (aus dem „Die Welt“ vom 6. November 2006 zitiert) sowie die Äußerungen verschiedener Landesinnenminister legen den Schluss nahe, dass über die IMK nur eine Regelung gefunden werden dürfte, die lediglich für einen kleinen Teil der ca. 180.000 langjährig in Deutschland geduldeten Personen ein Bleiberecht schafft. Dem großen Rest der Betroffenen hingegen droht eine weitere Verschärfung ihres sozialen und aufenthaltsrechtlichen Status sowie eine Ausweitung von Abschiebungsmöglichkeiten. Derartige Vorschläge sind integrationspolitisch nicht zielführend. Nur eine großzügig bemessene Bleiberechtsregelung kann zum politisch beabsichtigten Abbau der Kettenduldungen beitragen. Dabei wird besonders die Ausgestaltung der Kriterien für den erforderlichen Nachweis des Lebensunterhalts entscheidend dafür sein, wie viele Geduldete sie in Anspruch nehmen können. Bündnis90/DIE GRÜNEN treten seit langem für eine gesetzliche Bleiberechtsregelung ein, um den Streit der Innenminister um die Kriterien für eine solche Regelung zu beenden. Folgende Kriterien sollten eine wirksame Bleiberechtsregelung enthalten: 1. Die Begünstigten erhalten keine Verlängerung der Duldung, sondern sofort eine Aufenthaltserlaubnis. 2. Ein Bleiberecht darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass die potentiell Begünstigten zum Zeitpunkt der Ersterteilung der Aufenthaltserlaubnis in einem dauerhaften Beschäftigungsverhältnis stehen, weil sie bislang praktisch keinen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt hatten. 3. Es dürfen keine unverhältnismäßigen Anforderungen an die Erfüllung von Mitwirkungspflichten gestellt werden.

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Herr Winkler musste seine Teilnahme kurzfristig absagen, hat aber seinen Beitrag schriftlich vorgelegt.

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4. Vorhandene Deutschkenntnisse dürfen nicht zur Voraussetzung für ein Bleiberecht gemacht werden, weil Geduldete von Sprachkursen ausgeschlossen worden sind. 5. Bleiberechtsregelung darf nicht mit einer Verschärfung des Asylbewerberleistungsgesetzes (insbesondere einer Entfristung des §2 AsylbLG) verknüpft werden. 6. Personen dürfen nicht allein deswegen von der Bleiberechtsregelung ausgeschlossen werden, weil sie aus einem bestimmten Herkunftsland (z.B. Irak) stammen.

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Forum 1

Zusammenfassung der Ergebnisse

Bleiberecht für junge Flüchtlinge mit ungesichertem Aufenthalt

Nele Allenberg 1. Eckpunkte Aufenthaltsdauer ! " 6 Jahre 8 Jahre Integrationsleistungen # Deutschkenntnisse # Lebensunterhaltssicherung 2. Diskussion $ Arbeitserlaubnis Grundlage " Duldung de Luxe Ausschlussgründe Verknüpfung 3. Thesen # Bleiberecht für Menschen, die integriert sind, d.h. die 2 Jahre hier leben, denn das bedeutet: • sich hier beheimatet fühlen • sich hier und nicht im Herkunftsland sicher fühlen • die Sprache sprechen • soziale Kontakte hier unterhalten • sich mit den Werten und Normen der hiesigen Gesellschaft auseinander zu setzen;

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# Bleiberechtsregelung muss die besondere Situation von schutzbedürftigen Gruppen berücksichtigen (Traumatisierte, chronisch Kranke, Familien, UMF, Minderjährige, Ältere); # Bleiberechtsregelung muss einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Ausbildungsmöglichkeiten eröffnen; # Eine Bleiberechtsregelung muss Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen ermöglichen; # Keine Trennung von Familien bei Erreichung der Volljährigkeit; # Kein pauschaler Ausschluss von Staatsangehörigen bestimmter Herkunftsländer; # Perspektivwechsel ! Flüchtlinge sind keine Gefährdung für die Gesellschaft, sondern bedeuten ein Potential für die Gesellschaft.

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Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten „Eine Ausbildung machen und eine Zukunft aufbauen“

Forum 2 Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten

Danet und Mohammed

1. Mein Berufswunsch und meine Stärken Ich bin die Danet, komme aus Eritrea und bin seit fast drei Jahren in Deutschland. Ich bin 17 Jahre alt. Ich bin alleine - ohne Eltern - geflüchtet. Mein Berufswunsch und auch Traumberuf ist Einzelhandelskauffrau. Ich will diese Ausbildung machen und ich weiß, ich kann das. Ich habe - obwohl ich noch nicht solange in Deutschland bin - den Hauptschulabschluss mit Quali und guten Noten gemacht. Ich kann gut mit anderen Menschen umgehen. Ich bin freundlich und lasse mich nicht unterkriegen. Ich heiße Mohammed, bin 18 Jahre alt und komme aus Gladbeck. Geboren bin ich hier in Deutschland. Meine Herkunftsfamilie stammt aus dem Libanon. 2. Bisherige Erfahrungen Danet: Als ich in der 9. Klasse war, habe ich mir selber einen Praktikumsplatz in einem Einzelhandelsbetrieb in Bad Soden gesucht. Dann habe ich für sechs Wochen das Praktikum gemacht. Ich war sehr zufrieden mit den Mitarbeiterinnen und besonders mit der Geschäfts-

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führerin. Es hat mir Spaß gemacht, mit den Kundinnen und Kunden zu arbeiten. Nach dem Praktikum habe ich die Geschäftsführerin gefragt, ob ich einen Ausbildungsplatz bei ihr bekomme. Sie hat mir eine Lehrstelle angeboten, weil sie zufrieden mit meiner Arbeit war und weil ich beliebt bei den Mitarbeiterinnen war und mich sehr bemüht habe. Sie hat dann in dem Antrag für die Ausländerbehörde und das Arbeitsamt extra begründet, warum sie mich haben will. Trotzdem hat das Arbeitsamt keine Erlaubnis gegeben, die Lehrstelle anzutreten, weil ich eine Duldung habe. Heute bin ich in einer Berufsfachschule für Wirtschaft und Verwaltung. Mohammed: Zur Zeit besuche ich eine Qualifikationsmaßnahme bei der Arbeitsförderung und Qualifizierungsgesellschaft Gafög gGmbH in Bottrop. Inhalt der Qualifizierung ist ein Sprachunterricht und eine Qualifizierung im Metallbereich. Ab nächstes Jahr werde ich voraussichtlich in den Elektrobereich wechseln. 3. Unterstützung und Hindernisse Danet: Meine Klassenlehrerin war immer für mich da. Sie hat mir geholfen und mir immer Kraft gegeben, weiter zu machen und Mut gemacht, dass es viele Möglichkeiten gibt. Mit dem Berufsberater vom Arbeitsamt habe ich einen Termin gemacht. Er hat zu mir gesagt: „Vergiss es! Wenn überhaupt, kannst du vielleicht in eine Metzgerei oder solche Betriebe, die die anderen Jugendlichen nicht wollen.“ Er hat mich fertig gemacht. Mohammed: Gerne würde ich eine Ausbildung im Elektrobereich absolvieren, weil mich dieser Berufszweig sehr interessiert. In meiner Freizeit führe ich kleine Reparaturen an Elektrogeräten durch (z.B. Fernseher, Radio, Hifianlage und Haushaltsgeräte). 4. Forderungen – eine Ausbildung machen und eine Zukunft aufbauen Danet: Ich will eine Arbeitserlaubnis bekommen und eine Ausbildung machen. Ich will mein Leben selber in die Hand nehmen, ich will unabhängig sein. Ich will wie die anderen Jugendlichen gleich behandelt werden! Mohammed: Ich möchte endlich einen dauerhaften Status in Deutschland erhalten und vor allem eine Arbeitserlaubnis, weil ich endlich eine Ausbildung absolvieren möchte.

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Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten für junge Flüchtlinge

Forum 2 Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten

Prof. Dr. Joachim Schroeder

In den Vorgesprächen wurden von der Tagungsorganisation zwei Erwartungen an meinen Beitrag formuliert: (1) Soll der Ist-Stand der schulischen und beruflichen Integration (Ausbildung, Qualifizierung) von jungen Flüchtlingen dargelegt und (2) soll aufgezeigt werden, wie wichtig und notwendig eine rechtzeitige Förderung der Flüchtlingskinder und -jugendlichen im sprachlichen, vorschulischen, schulischen und beruflichen Bereich ist, welche Auswirkungen die Versäumnisse einer verspäteten und eingeschränkten Förderung der Kinder und Jugendlichen haben und welche Folgerungen im Sinne einer lebenslagenorientierten Sichtweise sich hieraus ergeben. Bei der Ausarbeitung des Referats habe ich den Umstand, dass junge Flüchtlinge zunächst nicht wissen und nur in Ausnahmefällen selbst entscheiden können, ob sie in Deutschland bleiben, nicht berücksichtigt. Ich zeige – bezogen auf Rückkehr, Verbleib bzw. Weiterwanderung/Transmigration – Konzepte und Maßnahmen der Bildungsgestaltung für junge Flüchtlinge auf und leite entsprechende bildungspolitische Forderungen ab. 1. Zum „Ist-Stand“ der schulischen und beruflichen Integration junger Flüchtlinge Die Möglichkeiten für eine berufliche Integration hängen (1) davon ab, ob ein Schulabschluss erworben wurde oder werden kann, (2) Praktika und berufsvorbereitende Maßnahmen absolviert bzw. Ausbildungen angetreten werden dürfen und (3) flankierende finanzielle und pädagogische Maßnahmen die erfolgreiche berufliche Qualifizierung absichern. Für die verschiedenen Flüchtlingsgruppen ist der Zugang zu diesen Bildungsangeboten rechtlich sehr unterschiedlich geregelt.

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1.1 Möglichkeiten zum Erwerb eines Schulabschlusses Für den Zugang zur beruflichen Erstqualifizierung ist in Ausbildungsberufen in der Regel der Nachweis eines Schulabschlusses erforderlich. Die wenigsten jungen Flüchtlinge haben einen solchen in ihrem Herkunftsland erworben, in Deutschland kann er prinzipiell durch den erfolgreichen Besuch einer allgemein bildenden Regel- bzw. Sonderschule oder eines Berufsvorbereitungs- bzw. -grundbildungsjahres erlangt werden. Die Regelung des Zugangs zu diesen abschlussrelevanten Bildungsgängen obliegt aufgrund des föderalen Systems der Bundesrepublik den einzelnen Bundesländern und ist nicht einheitlich gefasst (vgl. Tabelle 1). In die neun- bis zehnjährige Vollzeitschulpflicht werden lediglich Konventionsflüchtlinge (§60 Abs.1 AufenthG im ZuwG) bzw. Kontingentflüchtlinge (§23 AufenthG im ZuwG) ohne Einschränkungen einbezogen. Diese Kinder und Jugendlichen können somit einen ihren Möglichkeiten entsprechenden Schulabschluss erwerben, der ihnen einen Zugang zur beruflichen Qualifizierung eröffnet. Gab es in den meisten Bundesländern für junge AsylbewerberInnen (§10 AufenthG im ZuwG) und Geduldete (§60a AufenthG im ZuwG) jahrelang allenfalls ein Schulbesuchsrecht, sofern die sächlichen, finanziellen und personellen Bedingungen der Schule bzw. des Schulamtsbezirks dies zuließen, so zeichnet sich gegenwärtig eine Entwicklung ab, dass in immer mehr Bundesländern diese Kinder und Jugendlichen ohne gesicherten Aufenthaltstatus zumindest bis zum vollendeten 16. Lebensjahr in die Schulpflicht einbezogen werden. Nur noch in drei Bundesländern finden sich andere Bestimmungen: In Baden-Württemberg und im Saarland besteht keine Schulpflicht während des laufenden Asylverfahrens, aber für längerfristig Geduldete, wenngleich die Schulpflicht für mindestens 14Jährige aufgrund einer Ermessensregelung eingeschränkt werden kann. In Hessen besteht keine Schulpflicht bei geduldeten Kindern, jedoch bei solchen im laufenden Asylverfahren (vgl. Harmening 2005). Tabelle 1: Möglichkeiten zum Erwerb eines Schulabschlusses (vgl. Harmening 2005) Konventions-/ Geduldete Kontingentflüchtlinge

AsylbewerberInnen

Kinder „ohne Papiere“

Baden-Württemberg

Schulpflicht

Längerfristig Geduldete Schulantragsrecht Kein Schulbesuchsrecht schulpflichtig

Bayern

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Berlin

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

Brandenburg

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

Bremen

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Hamburg

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

Hessen

Schulpflicht

Schulantragsrecht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

Mecklenburg-Vorpommern Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

Niedersachen

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

Nordrhein-Westfalen

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Rheinland-Pfalz

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

Saarland

Schulpflicht

Längerfristig Geduldete Schulpflicht schulpflichtig

Kein Schulbesuchsrecht

Sachsen

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

Sachsen-Anhalt

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

Schleswig-Holstein

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht strittig

Thüringen

Schulpflicht

Schulpflicht

Schulpflicht

Kein Schulbesuchsrecht

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Sehr prekär ist die Situation von jungen Flüchtlingen „ohne Papiere“, die nur in Bayern, Bremen und Nordrhein-Westfalen in die Schulpflicht einbezogen sind, in den anderen Bundesländern wird ihnen noch nicht einmal ein Schulbesuchsrecht zugestanden. Verschärfend kommt hinzu, dass etwa bei der Einschulung die jeweiligen Einrichtungen verpflichtet sind, die als „illegal“ bezeichneten Kinder und Jugendlichen ohne aufenthaltsrechtlichen Status der Ausländerbehörde zu melden (§87f. AufenthG im ZuwG). So hat das hessische Kultusministerium die Schulämter per Erlass angewiesen, dieser Anzeigepflicht umgehend und sorgfältig nachzukommen (vgl. Frankfurter Neue Presse vom 30.04.2006). In Hamburg wurden die Voraussetzungen hierzu durch die Einführung eines zentralen Schulregisters (ZSR) geschaffen (Hamburger Abendblatt vom 29.09.2006). Kaum eine gesetzliche Regelung widerspricht jedoch so fundamental dem Grundgedanken der „pädagogischen Freiheit“ für das Lernen. Mag sein, dass die Meldung in Schulen selten wirklich vollzogen wird, ebenso gibt es pädagogische Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche ohne aufenthaltsrechtlichen Status stillschweigend versorgt, betreut und unterrichtet werden, ohne sie behördlich anzuzeigen. Und einige Kommunen (Bonn, Freiburg, München) verzichten auf die Erfassung des Aufenthaltstatus bei der Aufnahme in eine Bildungseinrichtung (vgl. Alt 2006). Aber dennoch: Die Denunziationspflicht von Pädagoginnen und Pädagogen ist mit ihrer pädagogischen Freiheit nicht in Einklang zu bringen. Darüber hinaus werden durch diese Bestimmung nicht nur die Flüchtlinge, sondern auch jene kriminalisiert, die sie versorgen und unterrichten. 1.2 Möglichkeiten zur Berufsvorbereitung und -qualifizierung Zeichnet sich somit ein politischer Trend ab, die Bildungsangebote in der Primar- und Sekundarstufe I für alle Flüchtlingsgruppen zu öffnen, sind entsprechende Entwicklungen für die Sekundarstufe II (und dem damit verbundenen Zugang zu einem Studium) und für die Berufliche Bildung dagegen allenfalls punktuell feststellbar. Tabelle 2: Möglichkeiten zur Berufsvorbereitung und -qualifizierung Kontingentflüchtlinge/ Geduldete Konventionsflüchtlinge Arbeitsgenehmigung

AsylbewerberInnen

Ja

1 Jahr Wartefrist, dann Beschäftigungserlaubnis (§18 AufenthG im ZuwG)

1 Jahr Wartefrist, dann Beschäftigungserlaubnis (§18 AufenthG im ZuwG)

Freiwilliges Soziales Jahr

Ja

Ja

Nein

Berufsvorbereitendes Praktikum

• Teilnahme an max. sechsmonatigen betrieblichen Praktika möglich (§2 BeschV) • Manche Arbeitsämter verlangen für Praktika eine Aufhebung des Arbeitsverbots • Eine Aufenthaltszusage ist zumeist nicht damit verbunden

Berufsvorbereitende Kurse

Ja

Möglich, aber kein Förderanspruch

Möglich, aber kein Förderanspruch

RegelAusbildungen

Ja

Nein (bislang nur in EQUAL)

Nein (bislang nur in EQUAL)

Sonderausbildungen

Ja

Schwierig

Schwierig

Überbetriebliche Ausbildungen

Ja

Nein (bislang nur in EQUAL)

Nein (bislang nur in EQUAL)

Ja

Schwierig (abhängig vom Bundesland)

Schwierig (abhängig vom Bundesland)

Studium

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Um eine berufliche Ausbildung beginnen zu können, ist eine Arbeitsgenehmigung erforderlich. Mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes ist für AusländerInnen eine „Beschäftigungserlaubnis“ (§18 AufenthG im ZuwG) eingeführt worden, deren Erteilung vom individuellen Aufenthaltstitel abhängig ist. In Deutschland war mit dem Stichtag 15.05.1997 ein pauschales Arbeitsverbot für Flüchtlinge eingeführt worden. Später wurde diese Regelung dahingehend geändert, dass Flüchtlinge, die seit dem 01.01.2001 nach Deutschland einreisen, eine einjährige Wartefrist haben und dann - zu bestimmten Bedingungen - eine Beschäftigungserlaubnis erhalten können. Für Geduldete gilt Gleiches: Nach der einjährigen Wartefrist ist nach einer Prüfung des Arbeitsmarktes unter Umständen die Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis möglich. Jedoch können einschränkende Auflagen der Ausländerbehörde bei Geduldeten faktisch eine dauerhaftes Arbeitsverbot bedeuten. Wird eine Beschäftigungserlaubnis nicht erteilt, kann weder ein Ausbildungs- noch ein Arbeitsvertrag abgeschlossen werden. Das Absolvieren eines Freiwilliges Soziales Jahres ist zumindest für junge Geduldete zustimmungsfrei (§9 BeschVerfV - Beschäftigungsverfahrensverordnung) und ermöglicht somit manchen Jugendlichen eine anschlussfähige Überbrückung von Wartezeiten. Rechtlich unstrittig ist auch, dass Flüchtlinge ein berufsvorbereitendes Praktikum absolvieren dürfen. Denn ein Betriebspraktikum ist nach §2 der Beschäftigungsverordnung (BeschV) bis zu einer Dauer von sechs Monaten arbeitserlaubnisfrei - auch für AsylbewerberInnen und Geduldete. Trotz dieser eindeutigen Rechtslage weichen manche Ämter dahingehend von den Bestimmungen ab, dass für junge Flüchtlinge eine zusätzliche individuelle ausländerrechtliche Prüfung gefordert wird, worin eine unangemessen massive Einschränkung für den Zugang zu den Maßnahmen zu sehen ist. So behaupten einige Ausländerbehörden, dass ein Praktikum zwar arbeitserlaubnisfrei sei, jedoch müsse zuvor ein bestehendes Arbeitsverbot aufgehoben werden. Eine Aufenthaltszusage ist für den Zeitraum der Maßnahme ohnehin nicht damit verbunden. Der Besuch berufsvorbereitender Kurse ist auch AsylbewerberInnen und Geduldeten erlaubt, sofern diese Angebote nicht aus Mitteln der Arbeitsverwaltung gefördert werden. Es ist somit zumeist den Flüchtlingen überlassen, ob sie die anfallenden Kursgebühren und die Kosten für Unterrichtsmaterial aufbringen können. In vielen Bundesländern ist die „räumliche Beschränkung“ auf das Gebiet des Bundeslandes vorgesehen (§61 Abs. 1 AufenthG im ZuwG). Allerdings ist es den Ausländerbehörden erlaubt, weitere Auflagen an die Duldung zu knüpfen. Die Praxis, die „räumliche Beschränkung“ auf das Stadt-/Kreisgebiet einzuengen, wird oftmals ohne weitere Begründungen umgesetzt. Bei Zugang zu Bildung und Beruf kann die Residenzpflicht eine unüberwindbare Hürde sein. Ohne Besuchserlaubnis ist ein Sprachkurs in einem Nachbarkreis legal nicht erreichbar. Jedes Vorstellungsgespräch außerhalb des zugewiesenen Kreises muss langfristig geplant werden, da Anträge auf eine Reiseerlaubnis nur während der Öffnungszeiten der Ausländerbehörden gestellt werden können. Hartnäckigen Widerstand leisten das Innenministerium, das Arbeitsministerium und die Bundesagentur für Arbeit gegen das Ansinnen, AsylbewerberInnen und Geduldeten Berufsausbildungen im dualen System zu ermöglichen. Selbst in aus EU-Mitteln geförderten Qualifizierungs-

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programmen, in die – wie z.B. bei der Gemeinschaftsinitiative EQUAL – Flüchtlinge explizit einbezogen sind, wird die für eine Ausbildung im Rahmen des dualen Systems erforderliche Beschäftigungserlaubnis zumeist verwehrt. Zudem können AsylbewerberInnen und Geduldete häufig selbst dann, wenn sie einen Betrieb finden, keine Ausbildung machen, wenn ihr Bleiberecht nicht gesichert ist. Oft haben auch Arbeitgeber Vorbehalte, AsylbewerberInnen auszubilden, weil ihnen das Antragsverfahren zur Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis zu kompliziert erscheint und nicht alle für die Dauer der Arbeitsmarktprüfung mit der Einstellung warten können; andere haben Bedenken wegen des befristeten Aufenthalts der Bewerberinnen und Bewerber. Im Rahmen der „Rückführungsangelegenheiten“ bezüglich der Flüchtlinge aus Afghanistan haben die Innenminister beschlossen, dass es diesen Kindern und Jugendlichen in bestimmten Fällen gestattet wird, eine begonnene Ausbildung oder ein Schuljahr zu Ende zu führen, bevor sie abgeschoben werden: „Bei Schülern und Auszubildenden kann im Einzelfall nach Ermessen die Durchsetzung der Ausreiseverpflichtung vorübergehend ausgesetzt werden, sofern sich der Schüler oder der Auszubildende bereits im letzten Schul- bzw. Ausbildungsjahr befindet, oder wenn ein sonstiges Schuljahr nur noch wenige Wochen dauert. Bei den Ermessenserwägungen ist zu berücksichtigen, ob der Lebensunterhalt des Ausländers im Sinne des §2 Abs. 3 AufenthG gesichert ist. Ein Anspruch anderer Familienmitglieder auf die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) kann hieraus nicht abgeleitet werden“ (Beschlussniederschrift über die 175. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 18./19. November in Lübeck). Jungen Flüchtlingen ist auch die Teilnahme an fast allen Sonderausbildungen verwehrt: Lediglich einige Angebote der Berufsfachschulen (BFS) kommen in Frage. Die vollqualifizierenden Bildungsgänge – in denen also ein Beruf ausschließlich in der BFS erlernt wird – sind zumeist verschlossen, da hierfür eine Beschäftigungserlaubnis benötigt wird. In beschränktem Umfang ist Flüchtlingen dagegen der Zugang zu den einoder zweijährigen teilqualifizierenden Berufsfachschulen möglich, doch selbst bei diesen wird eine individuelle Nachrangigkeitsprüfung durchgeführt. Überbetriebliche Ausbildungen sind – da nach SGB III gefördert – ausgeschlossen, auch die Sonderausbildungen nach §48 des Bundesbildungsgesetzes (BbiG) bzw. §42 der Handwerksordnung (Hwo) sind nicht zugänglich, wenngleich es in manchen Bezirken der Kammern und Innungen für einzelne Berufe Ausnahmeregelungen geben mag. In vielen Bundesländern erteilen die Ausländerbehörden AsylbewerberInnen und Geduldeten keine Erlaubnis, um ein Studium aufzunehmen; mancherorts, so beispielsweise in Berlin, wird dies genehmigt, wenn verschiedene Bedingungen erfüllt werden: So muss das Asylverfahren noch anhängig und ein Ende noch nicht absehbar sein, die Zulassung einer Berliner Hochschule vorliegen, der Nachweis erbracht werden, dass für die Dauer des Studiums der Lebensunterhalt gesichert ist (die entsprechende Zustimmung eines Sponsors bzw. eine förmliche Verpflichtungserklärung wird jedoch nicht verlangt), es muss eine Erklärung erfolgen, dass für die Dauer des Studiums auf Sozialhilfe und auf Leistungen nach Asylbewerberleistungsgesetz verzichtet wird. Mit Streichung des Studierverbots wird

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laut Weisung der Berliner Ausländerbehörde zugleich die für ausländische Studierende übliche Beschäftigungserlaubnis in die Aufenthaltsgestattung eingetragen (90 Tage im Jahr arbeitserlaubnisfreie Beschäftigung). Wird der Asylantrag im weiteren Verlauf abgelehnt und ist das Studium noch nicht beendet, wird eine Aufenthaltsbewilligung erteilt, um den Abschluss des Studiums zu ermöglichen. 1.3 Berufliche Qualifizierung sichernde Maßnahmen Selbst wenn einzelne Flüchtlinge einen Ausbildungsvertrag erhalten, sind die zum erfolgreichen Abschluss der Berufsbildung erforderlichen finanziellen Rahmenbedingungen zumeist nicht gegeben, ebensowenig werden flankierende pädagogische Maßnahmen bewilligt: Tabelle 3: Finanzielle Absicherung und pädagogische Begleitmaßnahmen Konventions-/ Kontingentflüchtlige

Geduldete

AsylbewerberInnen

SGB III

Ja

Nein (§ 63 SGB III)

Nein (§ 63 SGB III)

SGB IX

Ja

Nein

Nein

Ausbildungsbegleitende Hilfen (abH)

Ja

Nein

Nein

BundesausbildungsJa beihilfe (BAB)

Nein Nein (aber Härtefallregel)

Ausbildungsförderung (BaföG)

Ja

Nein Nein (aber Härtefallregel)

Sozialleistungen

Ja

Nein Nein (aber Härtefallregel) (aber Härtefallregel)

Stipendien

Ja

Nein

Nein

AsylbewerberInnen und Geduldete sind von den Förderinstrumenten der Arbeitsverwaltung (SGB III, Benachteiligtenprogramm) weitgehendst ausgeschlossen und in das SGB IX (Behindertenförderung und Rehabilitation) nicht einbezogen. Dies bedeutet, dass beispielsweise ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) nicht in Anspruch genommen werden können, die jedoch für viele Migrantenjugendlichen unabdingbar sind, sollen die fachtheoretischen und allgemein bildenden Prüfungen erfolgreich bestanden werden. Ebenso sind junge Flüchtlinge nicht in die Förderinstrumente der Ausbildungsbeihilfen (BAB oder BaföG) einbezogen. Zusätzliche Sozialleistungen (Unterhalt, Wohngeld, Büchergeld, Kosten für Berufskleidung oder für die erforderlichen Werkzeuge) können zumindest in Härtefallen und nach Einzelfallprüfung gewährt werden. Die Inanspruchnahme von Stipendien, die jungen Benachteiligten von Industrie- oder Bürgerstiftungen angeboten werden, um ein Studium oder eine Ausbildung zu ermöglichen, ist Flüchtlingen zumeist verwehrt, weil ein sicherer Aufenthaltstitel an die Förderung geknüpft wird.

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Der „Ist-Stand“ lässt sich somit dahingehend zusammenfassen, dass Jugendliche ohne gesicherten Aufenthaltsstatus von den Angeboten der beruflichen Vorbereitung, Qualifizierung und Ausbildung einem dreifachen Ausschluss unterliegen: eine Beschäftigungserlaubnis wird nicht oder nur nach Wartefristen und Nachrangigkeit erteilt, sie werden nicht dem förderungsfähigen Personenkreis nach SGB III zugeordnet und sie dürfen an keinem zum BaföG-Bezug berechtigenden Bildungsgang teilnehmen. Die minimalen Verbesserungen für langjährig in Deutschland lebende junge

Geduldete, denen inzwischen unter bestimmten Bedingungen erlaubt wird, eine berufliche Ausbildung zu absolvieren, können nicht darüber hinweg täuschen, dass für die meisten Jugendlichen weiterhin kein Bleiberecht während des Asylverfahrens zum Zwecke des Besuchs einer Schule oder zur Teilnahme an einer beruflichen Qualifizierung – außer für Teilnehmerinnen bzw. Teilnehmer in EQUAL – gewährt wird. 2. Auswirkungen und bildungspolitische Forderungen Für Flüchtlinge gibt es drei Szenarien, wo sie ihr künftiges Leben gestalten dürfen oder können: Sehr wahrscheinlich ist die Rückkehr in das Herkunftsland, ein Weg, der zumeist von den deutschen Behörden erzwungen und durch Abschiebung vollzogen wird. Für manche – gerade junge Flüchtlinge – ist die Rückkehr zur Herkunftsfamilie aber auch ein dringendes persönliches Bedürfnis. Eine andere Option ist der Verbleib im Exilland, viele Flüchtlinge durchlaufen das Asylverfahren mit diesem Ziel. Je länger sie in Deutschland leben, desto ausgeprägter wird zumeist der Bleibewunsch, denn die Distanz zum Herkunftsland wächst und Ideen, wie man sich in Deutschland eine Existenz aufbauen möchte, nehmen konkrete Gestalt an. Es gibt aber auch etliche Jugendliche und junge Erwachsene, die von einer Weiterwanderung träumen, die also weder in die Heimat zurück noch in Deutschland bleiben wollen, sondern die ihre Zukunft in anderen europäischen oder transatlantischen Ländern sehen, weil dort Familienmitglieder leben, sie die lokale Verkehrssprache bereits beherrschen (vor allem Englisch, Französisch, Portugiesisch). Andere Gründe sind vermeintlich bessere berufliche Möglichkeiten oder die Hoffnung auf ein Leben mit weniger Restriktionen. Nicht selten sind diese Muster miteinander vermischt – in den Sozialwissenschaften wird dies dann als Transmigration bezeichnet. Belegbar ist, dass sich immer mehr Bildungsbiografien und Erwerbskarrieren von Migrantinnen und Migranten potenziell transnational vollziehen (vgl. Pries 1997, ZfE 2004). So ist beispielsweise über Flüchtlinge aus Afghanistan bekannt, dass sie in weltweiten sozialen Netzwerken leben, die sich aufspannen zwischen dem Herkunftsland über die Transitländer, dem Exilland sowie den Ländern der Weiterwanderung. Für jeden dieser subjektiv gewünschten oder behördlich erzwungenen Wege (Rückkehr, Verbleib, Weiterwanderung/ Transmigration) ist der Erwerb schulischer Bildung und beruflicher Qualifizierung von entscheidender Bedeutung. Kennzeichnend für die deutsche Flüchtlingspolitik ist jedoch, dass sie diese Tatsache schlichtweg ignoriert – die Dauer des Asylverfahrens oder der Duldung, die zumeist mehrere Jahre umfasst, wird nicht als Bildungszeit verstanden, in denen die Flüchtlinge in Deutschland eine Bildungskarriere beginnen, eine bereits in anderen Ländern begonnene vervollständigen sowie formale schulische und berufsqualifizierende Abschlüsse erwerben dürften. Vielmehr ist das System so gestaltet, dass es den jungen Flüchtlingen möglichst schwer gemacht wird, Bildung nachzufragen. Kennzeichnend für viele Bildungssysteme – und so auch für das deutsche – ist zudem, dass davon ausgegangen wird, ein Individuum habe seine Bildungszeit vornehmlich in ein und demselben Bildungsraum zu absolvieren, verstanden als dem nationalen Territorium, dem das

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Individuum staatsrechtlich zugehört. Unter Bedingungen von Flucht, wie auch bei anderen Formen der Migration, können jedoch Bildungszeit und Bildungsraum in dieser Weise nicht miteinander zur Deckung gebracht werden, sondern sie sind entkoppelt. Eine auf Flüchtlinge bezogene Schulpolitik hat diese strukturell verursachte Entkoppelung von Raum, Zeit und Bildung zu berücksichtigen. Unabhängig von ihrem Aufenthaltstitel ist somit allen Flüchtlingen die Inanspruchnahme einer angemessenen individuellen Bildungszeit zuzugestehen und die Vervollständigung einer in anderen Ländern begonnenen Bildungslaufbahn zu ermöglichen. Das Recht auf Bildung ist Flüchtlingen unabhängig von ihrem biologischen Alter zu gewähren. Der Anspruch auf Bildungszeit muss sich nach der bislang im jeweiligen individuellen biografischen Verlauf erworbenen Bildung und daraus ableitbaren Bedarfen richten, nicht nach willkürlich festgesetzten Altersgrenzen. Inhaltlich sind die Bildungsangebote so zu gestalten, dass sie anschlussfähig werden, an die verschiedenen ‚Wanderungsmuster‘ und somit in ihrer Gesamtheit dazu beitragen, dass die jungen Flüchtlinge jene für eine Rückkehr, den Verbleib oder die Weiterwanderung erforderlichen schulischen und beruflichen Kompetenzen und Qualifikationen erwerben können, die ihnen den Aufbau einer Existenz sichern helfen. Im Folgenden möchte ich hierzu einige Bildungsinhalte umreißen (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4: Wichtige Bildungsangebote für junge Flüchtlinge Rückkehr ins Herkunftsland

Verbleib in Deutschland

Sprachliche Bildung

• Förderung der Herkunftssprache(n), • der im Heimatland wichtigen Verkehrssprache(n) und • Schriftsysteme

Schulische Bildung

• Anschlussfähige Grundbildung • Kompetenzen im Sinne einer „Überlebenskunst“ (life skills)

• Förderung der Herkunftssprache(n) • Förderung des Deutscherwerbs • Gezielte Förderung von Fachsprachen • Abschlussorientierte, formale Schulbildung • Möglichst viele Zusatzzertifikate (Führerschein, Praktika etc.)

Berufliche Bildung

• Entweder allgemeine ökonomisch verwertbare Kompetenzen oder • Hochspezialisierte berufliche Qualifikationen, die anschlussfähig sind • Frühzeitige Einbindung in Rückkehrprogramme und -organisationen • Sicherung der ersten Phase des Existenzaufbaus (Kredite, Kontakte)

Flankierende Maßnahmen der Existenzsicherung

• Formale Berufsausbildung bzw. Studium oder • Modularisierte Qualifizierung (Teilzertifikate), um spätere Ausbildung zu sichern • Frühzeitige Beziehungen zu Vereinen, Vormündern, Alltagsbegleitern aufbauen • Familienersetzende Maßnahmen zum Existenzaufbau (Geld, Know-how)

Weiterwanderung/ Transmigration • Förderung der Familiensprache(n) und • der Verkehrssprache des Wanderungslandes • Vermittlung metasprachlicher Kompetenzen • Abschlussorientierte, formale Schulbildung • Möglichst viele Zusatzzertifikate (Führerschein, Praktika etc.) • Formale Berufsqualifizierung (Ausbildung, Studium) • Möglichst viele Zusatzzertifikate, Nachweis vielfältiger Praxiserfahrungen • Frühzeitige Einbindung in transnationale Netze • Schaffung transnationaler Bildungs- und Beschäftigungsräume

2.1 Bildung für die Rückkehr in das Herkunftsland Das Thema „Rückkehr“ ist politisch brisant und wird pädagogisch zumeist tabuisiert. Weil es gegenwärtig Hauptziel der deutschen aber auch europäischen Flüchtlingspolitik ist, Asylsuchende und Geduldete rasch und umfassend in ihre Herkunftsländer rückzuführen, und weil die dafür eingesetzten Methoden (Abschiebungen, Transitlager

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an Flughäfen, Ausreiseeinrichtungen, Abschiebehaft) zurecht als menschenverachtend kritisiert werden, da sie die Flüchtlinge in eine durch permanente Angst und Bedrohung gekennzeichnete Lebenssituation zwingen, wird von Lehrkräften, SozialpädagogInnen und BeraterInnen die Rückkehr gar nicht erst thematisiert, geschweige durch entsprechende Bildungsangebote vorbereitet. Die gerade in Deutschland überaus repressive politische Praxis im Umgang mit Flüchtlingen führt dazu, pädagogisch zweckmäßige und wichtige Überlegungen zum „heiklen Thema: Rückkehr“ (vgl. Hänlein/Korring/Schwerdtfeger 1999, 27) gar nicht erst zu führen. Meines Erachtens ist es aber auch inhuman, die Jugendlichen lediglich ihrem behördlich verordneten „Schicksal“ zu überlassen, ohne entsprechende Vorkehrungen zu treffen, dass ihnen der Aufbau einer neuen Existenz im Herkunftsland möglich wird – hierzu wurden inzwischen von verschiedenen Wohlfahrtsverbänden wichtige Vorschläge unterbreitet (vgl. BAGFW 2006, BAMF 2006, DRK 2006). Wird Flüchtlingen in einem fairen, transparenten und rechtsstaatlichen Verfahren keine Schutzwürdigkeit festgestellt, so ist entscheidend, dass mit der Rückführung auch eine dauerhafte Perspektive im Herkunftsland eröffnet wird. Die Rückkehr hat freiwillig zu erfolgen, die persönliche, rechtliche und materielle Sicherheit muss gewährleistet sein, dies gilt insbesondere für besonders schutzbedürftige Personen, wie etwa traumatisierte Flüchtlinge, unbegleitete Minderjährige, Behinderte oder allein stehende Frauen. Sprachliche Bildung Nicht nur für eine Rückkehrvorbereitung ist es unabdingbar, durch entsprechende Bildungsangebote bei den jungen Flüchtlingen die Kompetenzen in den Familiensprache(n) sowie der im Herkunftsland vorherrschende Verkehrssprache(n) und Schriftsysteme zu sichern und weiterzuentwickeln. Es ist perfide, dass in Deutschland deren Muttersprachen zumeist nicht gefördert werden, bilden diese nicht nur eine wesentliche Voraussetzung, um den Kontakt zum Heimatland halten zu können, sondern stellen zudem das entscheidende „Startkapital“ bei einer Rückkehr dar. Das heißt, auch die von Flüchtlingsjugendlichen gesprochenen außer-europäischen Sprachen sollten im deutschen Schulsystem einen Platz haben. So werden Feststellungsprüfungen für Schülerinnen und Schüler afrikanischer oder asiatischer Herkunftssprache in aller Regel von Lehrkräften und Schulverwaltungen überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Hinzu kommt allerdings die Schwierigkeit, für alle unter Flüchtlingskindern und -jugendlichen vertretenen Sprachen auch einen Prüfer oder eine Prüferin zu finden. Dies ist jedoch in erster Linie ein organisatorisches Problem, denn es gibt in Deutschland zahlreiche Universitätsinstitute, die sich mit dem Studium solcher außereuropäischen Sprachen befassen. Ausgehend von den jeweiligen Sprachenschwerpunkten könnten die Bundesländer arbeitsteilig Prüfungen für bestimmte Sprachen durchführen. Schulische Bildung Ein erfolgreicher deutscher Schulabschluss ist sicherlich auch im Herkunftsland verwertbar, vor allem um dort einen begonnenen Bildungs- oder Ausbildungsverlauf fortzusetzen. Andererseits ist bekannt,

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dass formalen Abschlüssen außerhalb Deutschlands oftmals nur eine geringe Bedeutung zukommt, vielmehr neben einer fundierten Grundbildung (Lesen, Schreiben, Rechnen) Kompetenzen erworben werden müssen, um im informellen Arbeitsmarkt bestehen zu können, also im Sinne einer „Überlebenskunst“ über Fähigkeiten zu verfügen, die in die Lage versetzen, lebenswichtige Probleme zu lösen (Seukwa 2005). In vielen Ländern Afrikas oder Asiens wurde in den Schulen beispielsweise das Unterrichtsfach „Life skills“ eingeführt, in dem es darum geht, vielfältige Kompetenzen der Gesundheitsvorsorge, der Familienökonomie, der Selbstverteidigung bei Gewalt u.ä. zu vermitteln. Orientiert an solchen Lehrplänen könnten entsprechende Bildungsangebote kontextbezogen auch in Deutschland konzipiert und realisiert werden. Berufliche Bildung Entgegen der verbreiteten Annahme, die in Herkunftsländern benötigten Kompetenzen beruhten auf wenigen und einfachen Schlüsselqualifikationen, zeigen Untersuchungen zu unterschiedlichen ökonomischen Tätigkeitsfeldern in verschiedenen Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas, dass diese durch hohe Anforderungen charakterisiert sind. Es ist in der Regel nicht realistisch anzunehmen, dass Personen – in der Regel Jugendliche - nach Abschluss einer formellen oder informellen Lehre in der Lage sind, selbst einen, wenn auch kleinen Betrieb zu gründen. Vielmehr sind langfristige Arbeits- und Lernerfahrungen erforderlich, um die für eine erfolgreiche Betriebsgründung erforderliche komplexe Einschätzungsfähigkeit in Bezug auf Betriebsabläufe, Kostenkalkulation, Personalführung usw. zu erwerben. Beim Kompetenzerwerb für eine kleinunternehmerische Tätigkeit kommt es auf eine jeweils spezifische Kombination von in der Sozialisation erworbenen Persönlichkeitsmerkmalen und allgemeinen Kompetenzen mit schulischer und nonformaler Bildung sowie betrieblichen Formen der Ausbildung und Arbeitserfahrung an (vgl. Karcher/Overwien 1998, 12). Solche im ökonomischen Sektor der Südländer gewonnenen Einsichten machen skeptisch gegenüber Bildungsprogrammen, in denen Flüchtlinge in Deutschland oder anderswo in Europa mittels einiger niedrigschwelliger und kurzzeitiger Kurse qualifiziert und beschäftigungswirksam auf die Rückkehr vorbereitet werden sollen. Vielmehr müssten effektive Projekte längerfristig angelegt sein und formale, nonformale sowie informelle Elemente verknüpfen, wenn sie den jungen Flüchtlingen aussichtsreiche Chancen auf eine Existenzgründung in den Herkunftsländern eröffnen sollen. Sofern Qualifizierungsmaßnahmen die Reintegrationschancen verbessern, sollte Rückkehrern die Möglichkeit der Teilnahme eröffnet und ggf. der Aufenthalt entsprechend verlängert werden. Qualifizierungs- und Beratungselemente sollten ebenfalls zur Vorbereitung von Existenzgründungen im Herkunftsland in die berufliche Förderung integriert werden. Existenzsicherung Eine frühzeitige Auseinandersetzung mit der Aufenthaltssituation und den Perspektiven der Rückkehr bedeutet, den Flüchtlingen mit gesicherten und aktuellen Informationen sowie einer objektiven Bewertung der dortigen Lebenssituation (Sicherheitslage, Wohnsituation, gesundheitliche Versorgung, Arbeitsmarkt, soziale Sicherung, Bildung/

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Ausbildung) eine Entscheidungshilfe zu geben. Auch Orientierungsreisen ins Herkunftsland haben sich als erfolgreiches Instrument zur Förderung der freiwilligen Rückkehr erwiesen (DRK 2006, 6). Besonders Menschen, die lange in Deutschland gelebt haben sowie junge Flüchtlinge, die das Heimatland womöglich kaum kennen, sollten eine Wiederkehroption erhalten. Unterstützung sollte gewährt werden in der Beschaffung der Reisepapiere und anderer notwendiger Unterlagen, zur Organisation des Umzugs und insbesondere in Form einer materiellen Rückkehrunterstützung (Überbrückungshilfen, Kredite, Existenzgründungen). In Zusammenarbeit mit Einrichtungen und Anlaufstellen im Rückkehrland lassen sich sowohl Familienkontakte wieder herstellen, als auch Qualifizierungsmöglichkeiten und Existenzgründungen organisieren. Hierfür können Mittel aus deutschen oder europäischen Rückkehrerfonds genutzt werden oder aus entwicklungspolitischen Programmen, die vor Ort arbeiten. Nicht zuletzt haben die Selbstorganisationen von MigrantInnen in Deutschland sehr wirksame Unterstützungssysteme entwickelt, um ihren Landsleuten bei einer Rückkehr zu helfen. Wichtig ist die Sicherung eines Monitoring, um zu überprüfen, ob tatsächlich eine sichere und dauerhafte Reintegration stattfindet. 2.2 Bildung für den Verbleib in Deutschland Ausbildungs-, Berufsvorbereitungs-, Qualifizierungs- und Umschulungsprojekte, die auf eine zügige und nachhaltige Integration in den deutschen Arbeitsmarkt zielen, müssen konsequent in einem lebenslagenorientierten Konzept beruflicher Förderung entfaltet werden: Wurde in Deutschland jahrzehntelang in der beruflichen Benachteiligtenförderung unterstellt, dass durch die Fokussierung der pädagogischen Arbeit auf Qualifizierung und Ausbildung die Bedingungen für eine erfolgreiche berufliche Integration geschaffen werden, so setzt sich langsam die Einsicht durch, dass die berufliche Eingliederung dann am ehesten erfolgreich verläuft, wenn der gesamte Lebenszusammenhang der Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch entsprechende pädagogische Interventionen stabilisiert wird. Um den Arbeitsmarkt für Flüchtlinge zugänglich zu machen, ist insbesondere die Öffnung des Gesundheitssystems erforderlich. Aufgrund ihrer besonderen biografischen und aktuellen Situation sind die kassenärztlichen Leistungen abzusichern, um die Beschäftigungsfähigkeit von Flüchtlingen zu unterstützen. Insbesondere therapeutische Angebote, bislang gar nicht, zu kurz oder mit immensem bürokratischem Aufwand möglich, müssen bereitgestellt werden. Aber auch die besondere Bedeutung der Herstellung körperlicher und seelischer Gesundheit für ein erfolgreiches Absolvieren von Maßnahmen ist zu beachten. Die Verknüpfung beruflicher mit gesundheitlicher Förderung ist ein ganz wesentlicher Ansatz zu Überwindung von Benachteiligungen, denen Flüchtlinge unterliegen (Albrecht u.a. 2005). Dies verweist ebenso auf die Erfordernis zur „interkulturellen Öffnung“ des Gesundheitssystems, im Sinne der Erleichterung von Zugängen für Menschen mit Migrationshintergrund. Und dies gibt Hinweise auf eine defizitäre Sichtweise im Berufsbildungssystem, in dem Gesundheit, Bildung und Qualifizierung, wenn überhaupt, in einer Logik aufeinander folgender Stufen, nicht jedoch im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes bedacht werden.

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Sprachliche Bildung Die jungen Flüchtlinge sind in der Regel zwei- bzw. mehrsprachig. Mit der Schulpflicht bzw. mit dem Bildungsrecht ist nicht das Angebot verbunden, die Familiensprachen in der Schule lernen zu dürfen. Manche Bundesländer bieten einen solchen Unterricht auf freiwilliger Basis an, in anderen Bundesländern gibt es Vereinbarungen mit Konsulaten, die Zuschüsse erhalten, wenn sie einen solchen Unterricht für die Kinder ihrer Staaten organisieren. Junge AsylbewerberInnen können aber nicht am muttersprachlichen Unterricht der konsularischen Vertretungen der Länder teilnehmen, aus denen sie geflohen sind. Und so ist festzustellen, dass Kinder oder Jugendliche, beispielsweise aus dem Iran, bald nicht mehr in der Lage sind, Briefkontakte zu ihren Eltern zu halten, weil sie die arabische Schrift verlernen. Kennzeichnend für das deutsche Schul- und Berufsbildungswesen ist die hartnäckige Weigerung, das muttersprachliche Kapital ausländischer Jugendlicher als solches überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn es zu fördern. Englisch und Französisch, Türkisch und Arabisch, Spanisch und Russisch sind Sprachen, die in Deutschland einen hohen Marktwert haben, weil sie in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen wie auch für den Binnenmarkt bedeutsam sind: Mehrsprachige MechanikerInnen und LKW-FahrerInnen sind ebenso gesucht wie Verkaufs- und Pflegepersonal, das andere Sprachen kann als lediglich Deutsch. Jugendliche, die eine, gar mehrere dieser Sprachen beherrschen, werden in Deutschland in der Regel jedoch entweder im Fremdsprachenunterricht mit LernanfängerInnen zusammen beschult und somit völlig unterfordert, oder sie werden überhaupt nicht gefördert. Selten können sie ihr sprachliches Vermögen in den schulischen Raum einbringen oder es gar erweitern. Nicht anders als in allgemein bildenden Unterrichtsangeboten sind auch in berufsvorbereitenden und -qualifizierenden Bildungsgängen am Leitbild „Mehrsprachigkeit“ orientierte Sprachbildungskonzepte erforderlich. Gleichwohl ist anzuerkennen, dass junge Flüchtlinge offensichtlich zunächst am Erwerb differenzierter Kompetenzen in der deutschen Schriftsprache interessiert sind, weitere Fremdsprachen dagegen für sie eine untergeordnete Bedeutung haben. Ein aus sprachpädagogischer Sicht innovativer Ansatz – Förderung des Deutschen durch das Anknüpfen an die herkunftssprachlichen Kenntnisse – scheint viele Jugendliche zu überfordern. Als tragfähig und zukunftsweisend haben sich dagegen jene Konzepte erwiesen, in denen der Deutschunterricht stark auf die Vermittlung berufsbezogener Fachsprachen orientiert und unter Nutzung der Neuen Medien durchgeführt wird (vgl. Deutschmann 1998). Schulische Bildung Das Angebot von Vorbereitungsklassen ist pädagogisch zweckmäßig, inklusionsorientiert ist dies jedoch erst, wenn eine Vorbereitung auf alle Bildungsgänge und Schulformen stattfindet: Es ist kein Grund erkennbar, dass bei Kindern und Jugendlichen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus die Begabungspotenziale anders verteilt sind als bei solchen mit verfestigten Aufenthalten. Es muss somit unterstellt werden, dass dort, wo jungen Flüchtlingen keine Vorbereitungsklassen zum Übertritt

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in die Realschule oder in das Gymnasium angeboten werden, es am bildungspolitischen Willen fehlt, diese Kinder und Jugendlichen ihren individuellen Fähigkeiten entsprechend zu fördern. Inklusionsorientierte Maßnahmen wären auch solche, die es zulassen, dass junge Flüchtlinge in Deutschland in anderen EU-Sprachen unterrichtete Bildungsgänge besuchen oder in diesen Sprachen Schulabschlüsse erwerben können. Für viele afrikanische Jugendliche wäre es leichter, eine Abschlussprüfung in englischer oder französischer Sprache abzulegen – die bildungspolitischen Möglichkeiten, die sich durch den europäischen Einigungsprozess eröffnen, sind für AsylbewerberInnen und Flüchtlinge noch nicht einmal in Ansätzen ausgeschöpft. Wichtig sind jedoch nicht nur abschlussorientierte Bildungsangebote, sondern es wären auch Möglichkeiten zu schaffen, dass die Jugendlichen verwertbare Zusatzqualifikationen erwerben können: Den Führerschein, das Erste-Hilfe-Zertifikat, den „Maschinenschein“ zur Bedienung und sachgerechten Wartung technischer Geräte, Nachweise über betriebliche, soziale, kulturelle und ökologische Praktika, den „Computer-Führerschein“, das Sportabzeichen usw. Gerade für Jugendliche, die aufgrund ihrer rechtlichen Ausgrenzung erhebliche Schwierigkeiten beim Übergang in einen beruflichen Anschluss haben werden, ist es wichtig, möglichst reichhaltige Portfolios vorweisen zu können, in denen detailliert die erworbenen Kompetenzen und Qualifikationen dokumentiert sind. Berufliche Bildung Ein wichtiges Ergebnis der in EQUAL durchgeführten Entwicklungspartnerschaften im Themenbereich „Asyl“ ist es, erstmalig in Deutschland den Beweis erbracht zu haben, dass auch Asylbewerberinnen und Geduldete trotz (oder gerade wegen) ihrer erschwerten Lebensbedingungen eine berufliche Ausbildung sehr erfolgreich absolvieren können (vgl. Schroeder/ Seukwa 2005). Weitverbreitete Vorurteile, Flüchtlinge seien aufgrund mangelhafter Grundbildung, Sprachproblemen, traumatischer Erfahrungen, psychischer Instabilität, unzureichender Motivation und fehlendem Durchhaltevermögen ungeeignet für eine Ausbildung, können mit den Projektergebnissen eindeutig widerlegt werden. Aus der Anerkennung ihrer Ausbildungsfähigkeit folgt jedoch zwingend, dass sich die vorhandenen Qualifizierungsangebote zielgruppenadäquat öffnen müssen und entsprechende Begleitangebote (sozialpädagogische Betreuung, Stützunterricht, Deutsch als Zweitsprache) unterbreitet werden, weil bislang die curricularen und konzeptionellen Rahmenbedingungen des Berufsbildungssystems ausschließlich auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft ausgerichtet sind. Zudem muss zur beruflichen Integration von „SeiteneinsteigerInnen“ das Berufsbildungssystem durchlässiger gestaltet werden, indem Anpassungsqualifizierungen als Brückenschlag zum Regelsystem fungieren, um die Lern- und Arbeitserfahrungen der Flüchtlinge aufzugreifen und weiterzuentwickeln. Aufgrund der geschilderten Hindernisse im Zugang zur beruflichen Erstausbildung ist es ratsam, solche Bildungsgänge in modularisierter Form zu organisieren, d.h. durch Verhandlungen mit Innungen und Kammern die Teilzertifizierung anerkannter Ausbildungsberufe zu erreichen, damit den Jugendlichen im Falle aufenthaltsrechtlich bedingten Ausscheidens aus der Maßnahme dennoch Qualifizierungserfolge

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bescheinigt werden können. Dies wiederum kann sich auf die Motivation zur Teilnahme und zum Verbleib in den Maßnahmen auswirken. Positive Erfahrungen konnten diesbezüglich in den bereits erwähnten EQUAL-Projekten gewonnen werden (ebd., 116ff.): So haben sich Handwerkskammern bereit erklärt, Ausbildungsverträge in die Lehrlingsrollen auch dann einzutragen, wenn nur für wenige Monate nach Vertragsschließung ein gesicherter Aufenthalt vorhanden ist. Ebenso wurden beispielsweise für den Ausbildungsberuf „TischlerIn“ Teilzertifizierungen möglich gemacht und durch die Kammern bescheinigt. Die Innungsinhalte der drei Ausbildungsjahre sind auf drei Einzelzertifikate verteilt worden. Diese werden dann von den Handwerkskammern abgestempelt und besiegelt, so dass den Jugendlichen im Falle eines abschiebungsbedingten vorzeitigen Abbruchs zumindest eine Teilzertifizierung ausgehändigt werden kann. Existenzsicherung Aufgrund der für AsylbewerberInnen und Geduldete sehr eingeschränkten Möglichkeiten, Beratungs-, Betreuungs- und Bildungsangebote des öffentlichen Hilfs- und Sozialsystems in Anspruch zu nehmen, sind zur Kompensation solcher institutioneller Benachteiligungen Ausgleiche vonnöten. Junge Flüchtlinge sind deshalb in besonderer Weise darauf angewiesen, sich das für ihr Leben in Deutschland erforderliche „soziale Kapital“ im Sinne tragfähiger, unterstützender sozialer Beziehungen zu solchen Menschen zu verschaffen, die sich im deutschen System auskennen und sie in den alltäglichen Erschwernissen kompetent beraten und begleiten können. Viele Projektergebnisse belegen, dass sich selbst für diejenigen, die einen prekären Aufenthaltsstatus haben, die Chancen deutlich erhöhen, erfolgreich in den Bildungsund Qualifizierungsmaßnahmen zu sein, wenn sie durch engagierte Betreuung gefördert werden: dies können SchülerInnen, Studierende oder ehrenamtlich Tätige sein. Coaching ist vor allem auch zur Bewältigung der fehlenden Anschlussperspektiven wichtig. Zur Vorbereitung auf die Begleitungsaufgaben sind entsprechende Schulungs- und Reflexionsangebote zu machen (vgl. Duhnkrack-Hey u.a. 2002). Trotz widrigster Umstände zeigen junge Flüchtlinge jene Leistungsund Integrationsbereitschaft, die anderen Zugewanderten für die Einbürgerung abverlangt wird: Hierzu zählen der zügige Erwerb des Deutschen, durch eine Prüfung nachgewiesene Kenntnisse in Staatsbürgerkunde, Bemühen um ausreichenden Wohnraum, erfolgreiche Suche eines Arbeitsplatzes usw. (§9 AufenthG im ZuwG). Somit sind Initiativen sehr zu begrüßen, um unabhängig vom Erfolg des Asylverfahrens denjenigen ein Bleiberecht zu gewähren, die die im Zuwanderungsgesetz geforderten Integrationsleistungen nachweislich erbringen. Dies würde den jungen Menschen signalisieren, dass sie bei entsprechend persönlichem Einsatz Chancen auf mittelfristige Lebensperspektiven für sich entwickeln und verwirklichen dürfen, statt Woche um Woche, Monat für Monat in unerträglicher Ungewissheit auszuhalten und dabei die Erfahrung machen zu müssen, dass ihnen trotz ihrer Anstrengungen jegliche Chance auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration versperrt bleibt. Und auch die Interessen der deutschen Gesellschaft würden befriedigt, weil relativ kostengünstig und entkriminalisiert jener leistungsfähige Nachwuchs herangebildet würde, der für die künftige Entwicklung des Landes erforderlich ist.

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2.3 Weiterwanderung/ Transmigration Viele schulische und berufliche Qualifizierungsprogramme sind im Rahmen der „doppelten Option“ ausgelegt, pendeln also konzeptionell zwischen Rückkehrförderung und Integrationsangeboten. Empirische Untersuchungen zu in Deutschland lebenden jungen Flüchtlingen belegen jedoch (Niedrig/Schroeder 2004, Fürstenau 2004, Seukwa 2005), dass etliche der jungen Leute ihr Leben „pluri-lokal“ gestalten: Ihre Zukunft können sie sich an vielen Orten vorstellen, je nach Bildungszweck und Lebensphase denken sie über längere oder begrenzte Aufenthalte in London, Moskau oder Accra nach, ihre Biografien und ihr transnationales familiäres Netzwerk scheinen ihnen ein Leben und eine Ausbildung an und zwischen verschiedenen Orten nahe zu legen. Durch Besuche bei Verwandten in den USA oder Skandinavien werden frühzeitig verschiedene Orte auf ihre Qualität als künftige Lebens- und Bildungsräume geprüft. Nichts deutet zudem darauf hin, dass sie Lebensortwechsel – auch über nationale Grenzen hinweg – als biografische Brüche erleben, vielmehr sehen sie es als Bildungschancen. Sprachliche Bildung Mündlich und schriftlich wird im transnationalen sozialen Netzwerk zumeist in der Familiensprache kommuniziert: Telefonate und persönliche Kontakte mit Verwandten in USA, in England, Italien, Frankreich und Schweden werden, so sagten uns übereinstimmend verschiedene Jugendliche aus Ghana, in Twi sprachlich gepflegt – und nicht in Englisch (Niedrig/Schroeder 2004, 86). Neben der Verkehrssprache des Wanderungslandes sind für „Transmigranten“ vor allem metasprachliche Kompetenzen wichtig, um rasch und situationsadäquat neue Sprachen erlernen zu können – je nach dem, welche am jeweiligen Aufenthaltsort wichtig werden: Wie gehe ich vor, um die sprachlichen Informationen zu erhalten, die ich benötige? Wie erprobe ich die sprachlichen Mittel in der Praxis? Wie übe ich sie ein? Welche Sprachlernstrategien haben sich bewährt oder waren nicht erfolgreich? Solch eine Sprachbildung kombiniert die Aneignung von sprachpraktischen Kompetenzen mit der Förderung metasprachlicher Reflexionsfähigkeit (vgl. Gogolin 1992, 192f.) Schulische Bildung Für die Erhöhung der Beschäftigungschancen in einem Land der Weiterwanderung ist ein möglichst qualifizierter formaler Schulabschluss anzustreben. Von Bedeutung ist aber auch der zertifizierte Nachweis des Erwerbs beruflicher Kompetenzen (Praktika in unterschiedlichen Berufsfeldern, Sprachdiplome, Tätigkeit in verschiedenen Jobs, Kurse usw.). Die Teilnahme an internationalen Schüleraustauschprogrammen – wenigstens innerhalb der Schengen-Länder – ist den jungen Flüchtlingen ebenso zu ermöglichen wie ihnen erlaubt werden sollte, an akademischen Summer-schools, begegnungspädagogischen Workcamps und anderen Formen des sozialen, kulturellen, politischen und sportlichen Jugendaustausches teilzunehmen. Es geht nicht an, dass Stiftungen kulturpädagogische Ferienprogramme, theaterpädagogische Sprachkurse, jugendpolitische Reiseprojekte oder entwicklungspolitische Planspiele anbieten, um junge MigrantInnen zu fördern, davon

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aber Flüchtlinge ausgeschlossen werden müssen, weil sie nicht einmal innerhalb Deutschlands eine Reisegenehmigung erhalten. Berufliche Bildung Die Entfaltung transnationaler Erwerbsbiografien kann vielfältig unterstützt werden: Durch die Vermittlung von Kontakten zu internationalen Konzernen, die mehrsprachige, mobile und leistungsorientierte Nachwuchskräfte suchen; durch die frühzeitige Einbindung der jungen Leute in entwicklungspolitische Organisationen; durch eine gezielte Berufsberatung, ein entsprechendes Profiling und eine passgenaue Karriereplanung. Erforderlich ist ebenso, bei Personalchefs, Unternehmerinnen und Verbandsvertretern das Bewusstsein zu schärfen, dass zu einem sich an „Diversity“ orientiertem Firmenleitbild auch die Einbeziehung von Flüchtlingen gehört. Als recht erfolgreich hat sich das in einem Projekt in Lyon entwickelte Instrument der „Parrainage“ erwiesen, in der jeweils ein/e Unternehmer/in und ein/e junge/r Asylsuchende/r in einer „Patenschaft“ zusammengebracht und begleitet werden (vgl. DASRIE 2005, 46). In der direkten Begegnung mit den Asylsuchenden in den Betrieben haben viele Unternehmer erstmalig etwas über die Arbeitsmarktprobleme von Flüchtlingen erfahren, und konnten konkrete und differenzierte Einsichten in deren Schwierigkeiten gewinnen; manch eine/r setzt sich erstmalig mit Flüchtlingsproblemen auseinander. Informationsdefizite, interkulturelle Kommunikationsprobleme und verfestigte Stereotype konnten auf diesem Wege gut bearbeitet werden, etliche Flüchtlinge wurden in Beschäftigungsverhältnisse übernommen. Existenzsicherung Gegen eine vorwiegend optimistische Sicht auf das Phänomen der Transnationalisierung von sozialen Bezügen, die tendenziell Kreativität und Selbstbestimmtheit betont, wenden andere ein, dass „Transnationale Soziale Räume” von Dominanz und Herrschaft durchdrungen sind (Mecheril/Plößer 2001). Dramatische Belege für diesen Einwand liefert die pädagogische Flüchtlingsarbeit. Ob Migrantinnen und Migranten die transnationale Dimension ihrer Biografien tatsächlich produktiv für den Aufbau einer tragfähigen Existenz nutzen können, hängt vor allem von den politisch-legalen Rahmenbedingungen ab, die in Deutschland, wie gezeigt, für Asylsuchende besonders restriktiv sind. Gleichwohl muss eine Zukunftschancen eröffnende Bildungspolitik für junge Flüchtlinge im Spannungsverhältnis zwischen transnationaler Dimension und rechtlicher Begrenzung gedacht werden, d.h. Wanderung findet in einem potenziell grenzüberschreitenden Raum statt, der entsprechende ökonomische, soziale und kulturelle Ressourcen bietet, der andererseits aber ein begrenzter, kontrollierter und teilweise repressiv strukturierter Sozialraum ist. Während aus der Sicht der Subjekte die Räume, in denen Bildung erworben, Arbeit gefunden sowie soziale Beziehungen geknüpft werden, sich schon lange ausdifferenziert haben und transnational geworden sind, bleiben diese sozialen Räume in ihren politischen Grenzziehungen, in der Gesetzgebung und in ihren kulturellen Markierungen dagegen immer noch in hohem Maße nationalstaatlich verfasst. Eine das Entfaltungsrecht von Flüchtlingen respektierende Bildungspolitik ist deshalb nicht nur als ein schleswigholsteinischer, deutscher oder europäischer, sondern zuvörderst als ein transnationaler Bildungsraum zu denken.

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Literatur Albrecht, N.-J.; Borde, T.; Durlanik, L. (Hg. 2005): Sprach- und Kulturvermittlung. Ein neuer Weg zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen und MigrantInnen. Göttingen. Alt, J. (2006): Asylrecht in den Bundesländern. Berlin (www.joerg-alt.de). BAGFW – Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (2006): Positionspapier zu Bedingungen von freiwilliger Rückkehr von Flüchtlingen. Berlin. BAMF – Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hg. 2006): Expertentreffen „Erfahrungsaustausch freiwillige Rückkehr“. Dokumentation. Nürnberg. DASRIE – Developing Asylum Seekers and Refugee Integration into Europe (2005): Final Report. Rome. DRK – Deutsches Rotes Kreuz (2006): Perspektivenberatung und Rückkehrunterstützung. Berlin. Deutschmann, Rolf (1998): Berufsbezogenes Sprachenlernen. In: Behörde für Schule und Berufsbildung Hamburg (Hg.): Deutsch als Zweitsprache in der Berufsschule. Hamburg: 11-16. Duhnkrack-Hey, E.; Kako, K.; Schroeder, J. (2002): Fit für Flüchtlinge. Ein Seminarkonzept zur Qualifizierung von Freiwilligen für die Alltagsbegleitung von Flüchtlingen. Hamburg. Fürstenau, S. (2004): Mehrsprachigkeit als Kapital im transnationalen Raum. Perspektiven portugiesischsprachiger Jugendlicher beim Übergang von der Schule in die Arbeitswelt. Münster. Gogolin, I. (1992): Interkulturelles sprachliches Lernen. In: Deutsch lernen, 17. Jg., Nr. 2, 183-197. Hänlein, R.; Korring, K.; Schwerdtfeger, S. (1999): Soziale Arbeit zwischen Welten. In: Woge e.V. u.a. (Hg.): Handbuch der sozialen Arbeit mit Kinderflüchtlingen. Münster, 14-35. Harmening, B. (2005): Schulpflicht und Schulrecht von Flüchtlingskindern in Deutschland. Juristische Expertise im Auftrag von terre des hommes Deutschland e.V. Osnabrück. Karcher W.; Overwien, B. (1998): Zur Bedeutung allgemeiner Kompetenzen im städtischen informellen Sektor und Bedingungen für ihren Erwerb. In: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 21. Jg., Heft 1, 8-14. Mecheril, P.; Plößer, M. (2001): Semantiken räumlicher Positionierung. Selbstverständnisse Migrationsgezeichneter. In: Bukow, W.-D.; Nikodem, C.; Yildiz, E. (Hg.): Auf dem Weg zur Stadtgesellschaft. Die multikulturelle Stadt zwischen Neuorientierung und Restauration. Opladen, S. 127-144. Niedrig, H.; Schroeder, J. (2004): Bildungsperspektiven jugendlicher Transmigranten. In: Oßenbrügge, J.; Reh, M. (Eds.): Social Spaces of African Societies. Aplications and Critique of Concepts about „Transnational Social Spaces“. Münster, 77-110. Pries, L. (1997): Neue Migration im transnationalen Raum. In: ders. (Hg.): Transnationale Migration. Soziale Welt, Sonderband 12. Baden-Baden: 15-44. Schroeder, J.; Seukwa, L.H. (2005): Was bleibt? Qualifizierungsoffensive für Asylbewerber/innen und Flüchtlinge. Evaluationsbericht. Hamburg. Seukwa, L.H. (2005): Der Habitus der Überlebenskunst. Zum Verhältnis von Kompetenz und Migration im Spiegel von Flüchtlingsbiographien. Waxmann. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 7. Jg. (2004) Heft 1. Schwerpunkt: Transnationale Bildungsräume.

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Forum 2 Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten

Aufenthaltsrecht und Chancen gesellschaftlicher Teilhabe für heranwachsende Flüchtlinge mit Duldung oder humanitärem Aufenthaltsrecht 1

Dr. Michael Maier-Borst Vorbemerkung Integration ist zum einen abhängig von den individuellen Fähigkeiten und der individuellen Bereitschaft der Betroffenen, sich in einem Aufnahmeland auf Dauer niederzulassen. Sie ist zum anderen aber auch in ebenso hohem Maße abhängig von den sozialen, ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen inklusive der vorherrschenden Ordnungsvorstellungen in dem Aufnahmeland. Zwischen diesen beiden Ebenen bestehen erhebliche Wechselwirkungen: • Rechtliche Angebote wie etwa ein Anspruch auf Teilnahme an einem Integrationskurs können u.U. die individuelle Bereitschaft, sich in Deutschland zu integrieren, erhöhen. • Wird eine fehlende Bereitschaft von AusländerInnen festgestellt, sich in Deutschland zu integrieren (z.B. unter Bezugnahme auf eine erhöhte Straffälligkeit oder aber auch einer vergleichsweise hohen Arbeitslosenquote von Menschen mit Migrationshintergrund), kann dies Forderungen nach rechtlichen Sanktionen verstärken (Ausweitung von Ausweisungsgründen im Falle bestimmter Straftaten oder bei SGB-II-Leistungsbezug u.ä.). Das Aufenthaltsgesetz – aber auch das Staatsangehörigkeitsrecht – ist an vielen Stellen noch von der Vorstellung geprägt, das von der Aufnahmegesellschaft erwartete Verhalten von AusländerInnen ggf. zu „belohnen“ und von diesen Erwartungen abweichendes Verhalten zu „sanktionieren“. In 1

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Der Autor ist Referent im Arbeitsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration. Der Beitrag gibt allein seine persönliche Meinung wieder. Der mitunter etwas verkürzende Vortragsstil wurde weitgehend beibehalten.

einer freien, sich ausdifferenzierenden modernen Gesellschaft ist jedoch der Konsens darüber, was erwartet werden darf, zunehmend schwieriger festzulegen. Darüber hinaus, setzt das internationale, europäische Recht sowie das deutsche Verfassungsrecht der Auswahl von Sanktionsinstrumenten gewisse Grenzen. Das Zuwanderungsgesetz hat sich in einigen Punkten von der Tradition des Belohnens und Sanktionierens gelöst. Es kann teilweise schon als Instrument zur Beförderung von Integration verstanden werden, z.B. bei dem Zugang zur Erwerbstätigkeit nachziehender Ehegatten oder bei der Festschreibung des Anspruchs auf Teilnahme an einem Integrationskurs.2 Trotzdem – im Grundsatz gilt: Die integrationspolitisch eminent wichtigen Maßnahmen bzw. Regelungen • zur Erteilung einer Erlaubnis zur abhängigen und/oder selbständigen Erwerbstätigkeit, also die Regelungen des Beschäftigungsverfahrensrechts, • des SGB II, • des Eltern- und Kindergeldes oder auch • des Einbürgerungsrechts folgen im Wesentlichen aufenthaltsgesetzlichen Entscheidungen über die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Das klingt erst einmal überzeugend. Stimmt dieser Grundsatz tatsächlich? „Ja“ und „Nein“. „Nein“, weil aus einem anderen Blickwinkel auch behauptet werden könnte, dass das Aufenthaltsrecht selbstverständlich oftmals lediglich den von Menschen frei getroffenen Entscheidungen folgt bzw. folgen sollte: Aus einer freien Eheschließung mit einem/r Deutschen oder einem hier lebendem/r AusländerIn mit Aufenthaltstitel und Einkommen folgt grundsätzlich ein Aufenthaltsrecht in Deutschland. Aus einem längeren Aufenthalt in Deutschland erwachsen für den/die Ehegatten/ in Ansprüche auf ein eigenständiges und dauerhaftes Aufenthaltsrecht. „Nein“ auch deshalb, weil in Deutschland auch aus einem nicht rechtmäßigen, also etwa einem geduldeten Aufenthalt Rechte erwachsen, die über die ohnehin unveräußerlichen und nicht an Aufenthaltstitel gebundenen Menschenrechte hinaus gehen: So hat auch ein/e geduldeter AusländerIn jedenfalls Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Er/Sie hat unter gewissen Bedingungen auch Anspruch auf eine Arbeitserlaubnis, nämlich dann, wenn er/sie über ein Jahr in Deutschland ist, er/sie die Abschiebungshindernisse nicht selbst zu vertreten hat und keine auf dem Arbeitsmarkt bevorrechtigte Person (Deutsche oder EU-BürgerIn bzw. andere bereits bevorrechtigte Drittstaater) für die Arbeit zur Verfügung steht. Es stimmt also wohl Beides: • Die Rechte von AusländerInnen in Deutschland folgen dem Aufenthaltsrecht. Aber auch: • Es gibt individuelle Entscheidungen und Rechte, die unabhängig von dem Aufenthaltsrecht sind und aufenthaltsrechtliche Prozesse erst anstoßen bzw. in Gang setzen können.

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Vgl. § 29 Abs. 5 AufenthG und § 44 AufenthG. Die Unterschiedlichkeit von Integrationskonzepten systematisiert Kees Groenendijk: Rechtliche Konzepte der Integration im EG-Migrationsrecht, ZAR 4/2004, S. 123-130.

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Das klingt etwas abstrakt, deswegen vier konkrete Beispiele aus dem Recht zu dem umrissenen Problemkreis. 1. Beschäftigungsverfahrensverordnung (BeschVerfV) und Bleiberechtsregelung a) Beschäftigungsverfahrensrechtlicher Vorschlag von Bundesinnenminister Schäuble aus dem Oktober 2006 Die Frage der Abschaffung der Kettenduldung wurde neben der Frage der Verbesserung der Aufenthaltssicherheit insbesondere unter dem Blickwinkel eines besseren Zugangs der Betroffenen zu Rechten diskutiert, die die Integrationschancen verbessern.3 Hier wären bspw. der Leistungsbezug nach dem SGB II statt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz oder der gleichrangige statt des nachrangigen Arbeitsmarktzugangs zu nennen. Das Aufenthaltsgesetz hat nur sehr bedingt Abhilfe geschaffen. Der für die Abschaffung der Kettenduldungen vorgesehene § 25 Abs. 5 AufenthG wird in der Praxis weitgehend sehr eng ausgelegt. Die Möglichkeit einer freiwilligen Ausreise wird im Ergebnis sehr häufig angenommen, ein Aufenthaltstitel kann dann nicht erteilt werden. Aber auch im seltenen Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 5 AufenthG endet im Falle der Arbeitslosigkeit der Leistungsbezug nach dem Asylbewerberleistungsgesetz nicht (vgl. § 1 Abs. Nr. 3 AsylbLG). Leistungen nach dem SGB II können auf Grund § 7 Abs. 1 SGB II damit nicht gewährt werden. Spätestens nach vier Jahren Aufenthalt kann hingegen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG nach § 9 BeschVerfV die Zustimmung zur Ausübung einer Beschäftigung ohne Prüfung nach § 39 Abs. 2 AufenthG erfolgen, d.h. ohne Nachrangprüfung und gemäß Nr. 3.9.111 der Durchführungsanweisung zur Beschäftigungsverfahrensverordnung (DA BeschVerfV) – Stand Dezember 2005 – auch ohne vorherige Prüfung der Arbeitsbedingungen eines konkreten Arbeitsplatzes, wenn die regionale Agentur für Arbeit insoweit ihre generelle Zustimmung erteilt hat. Dies stärkt die Position der Betroffenen bei der Arbeitsplatzsuche ganz erheblich. Der Vorschlag von Bundesinnenminister Schäuble vom Oktober 2006 zielte auf eine grundsätzliche beschäftigungsverfahrensrechtliche Änderung für geduldete AusländerInnen, AsylbewerberInnen und Bürgerkriegsflüchtlinge nach drei Jahren Aufenthalt.4 Dieser Personengruppe sollte ein gleichrangiger Zugang zum Arbeitsmarkt eingeräumt werden, was wohl am einfachsten über eine Einfügung in § 9 BeschVerfV möglich wäre.5 Hintergrund des Vorstoßes war die politische Einigung der

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Vgl. den 6. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer, August 2005 (im Folgenden 6. Lagebericht der Beauftragten), S. 399ff. Der Begriff „Bürgerkriegsflüchtlinge“ bleibt unklar, es werden wohl temporär zu schützende Ausländer mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG gemeint sein, obwohl auch – oder nur – Personen mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG gemeint sein könnten. Jenseits des Beschäftigungsverfahrensrechts beinhaltete der Vorschlag des Bundesinnenministers auch die Streichung von § 2 AsylbLG. Diese wäre jedenfalls für Kinder, Kranke und Alte, also für Erwerbsunfähige, sowie für erwerbsfähige Personen, die sich trotz erheblicher Bemühungen im Ergebnis erfolglos um Arbeit bemühen, mit erheblichen verfassungsrechtlichen Risiken behaftet. Vgl. z.B. Der Spiegel 43/2006, S. 20, Rheinischer Merkur vom 2.11.2006, apd vom 5.11.2006, 13.22 Uhr.

Mehrheit der Landesinnenminister und -senatoren im Rahmen der seit langem geforderten Bleiberechtsregelung nach § 23 Abs. 1 AufenthG, keine so genannte befristete Schnupperaufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche erteilen zu wollen.6 Befürchtet wurde, dass im Falle einer erfolglosen Arbeitsplatzsuche der Betroffenen dann erneut eine Ausreiseaufforderung und eine Abschiebungsandrohung erlassen werden müssten, was zu erneuten Rechtsstreitigkeiten und damit zu Verzögerungen bei der Aufenthaltsbeendigung führen könnte. Dieser Aspekt wird von der Mehrheit der Länder stärker gewichtet als die Probleme, die für die Betroffenen durch eine Arbeitsplatzsuche ohne Aufenthaltserlaubnis entstünden. Im Ergebnis lässt sich der Vorstoß des Bundesinnenministers wie folgt zusammenfassen: • Es geht um eine grundsätzliche beschäftigungsverfahrensrechtliche Aufwertung der Aufenthaltsgestattung und der Duldung. Diese steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem Ziel des Zuwanderungsgesetzes, die Zahl der Kettenduldungen zu reduzieren. Die beschäftigungsverfahrensrechtliche Aufwertung der Aufenthaltsgestattung und der Duldung müsste nicht zuletzt auch gegenüber der Arbeitgeberseite noch vermittelt werden. • Die beschäftigungsverfahrensrechtliche Änderung würde auch der Gruppe von AusländerInnen helfen, die im Rahmen einer großzügigen Bleiberechtsregelung nach § 23 Abs. 1 AufenthG erst noch einen Arbeitsplatz finden müssen, wenn die Regelung entsprechend § 9 BeschVerfV gefasst würde. • Jenseits der Bleiberechtsregelung sind aufenthaltsrechtliche Konsequenzen im Sinne einer Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Sicherheit durch den Vorschlag hingegen nur in engen Grenzen zu erwarten, da die übrigen Regelungen zur Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen unverändert bleiben sollen und Erteilungen über die Härtefallregelung nach § 23a AufenthG oder weitere Bleiberechtsreglungen nach § 23 Abs. 1 AufenthG selten bleiben werden. Eine Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis würde nach geltendem Recht nur da ermöglicht, wo ein Arbeitsplatz gefunden wird, die Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG erfüllt sind und die Erteilung des Aufenthaltstitels bisher allein an der fehlenden Sicherung des Lebensunterhalts gescheitert war. • Etwaige Auswirkungen des verbesserten Arbeitsmarktzugangs von AsylbewerberInnen und Geduldeten auf den Niedriglohnsektor insgesamt und auf die allgemeine Arbeitsbedingungen sind schwer abzuschätzen, lassen sich aber auch nicht ohne Weiteres von der Hand weisen. b) § 8 Beschäftigungsverfahrensverordnung (BeschVerfV) Die Folgen der oben dargestellten nur unzureichend erfolgten Überwindung des Kettenduldungsphänomens wird im Falle von geduldeten jungen Flüchtlingen und AsylbewerberInnen deutlich, die erfolgreich eine Schulausbildung absolviert haben. Bei der gegenwärtigen angespannten Ausbildungsmarktlage haben sie auf Grund des für die betriebliche Ausbildung gleichermaßen geltenden beschäftigungsverfahrensrechtlichen Nachrangs in vielen Regionen in Deutschland 6

Vgl. die Presseerklärung der Beauftragten vom 23.9.2006.

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weniger Chancen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen, als ihre deutschen oder ausländischen Klassenkameraden. Auch der Zugang zu ungelernter Beschäftigung ist wegen der Arbeitsmarktprüfung in der Regel versperrt. Somit bleiben als denkbare Alternativen nur eine – arbeitserlaubnisfreie – schulische Berufsausbildung oder weiterführende schulische Ausbildungen und ggf. ein Studium. Der die Integration Jugendlicher in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt erleichternde § 8 BeschVerfV läuft für geduldete AusländerInnen und AsylbewerberInnen leer, da die Regelung eine Aufenthaltserlaubnis voraussetzt und somit für Asylsuchende und Geduldete nicht gilt.7 Fazit zum Arbeitsmarktzugang von Geduldeten und AsylbewerberInnen: • Der Vorschlag von Bundesinnenminister Schäuble lässt neue Rechte für den in Rede stehenden Personenkreis gerade nicht dem Aufenthaltsgesetz folgen. • § 8 BeschVerfV hingegen koppelt die Gewährung eines gleichrangigen Arbeitsmarktzugangs an eine erfolgreiche Bildungsbiografie und an einen erteilten Aufenthaltstitel. 2. Ausbildungsförderung nach BAföG und SGB III Der Aufnahme einer schulischen Berufsausbildung oder eines Studiums für AsylbewerberInnen und geduldete Flüchtlinge aber auch für Jugendliche mit Aufenthaltserlaubnis stehen ebenfalls Hindernisse entgegen. Die gilt in manchen Fällen bereits für weiterführende Schulausbildungen. Wenn die Finanzierung der Ausbildung weder über Unterhaltsleistungen der Eltern noch über eine (bedarfsdeckende) Ausbildungsvergütung möglich ist, werden bei Aufnahme einer Ausbildung häufig überhaupt keine Leistungen zur Deckung des Lebensunterhalts mehr gewährt. Nach Aufnahme einer Ausbildung können manche ausländische Jugendliche einerseits keine Ausbildungsförderung nach dem BAföG oder dem SGB III, andererseits aber auch nicht mehr die Sozialleistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII bzw. AsylblG beanspruchen. Die geltenden BAföG- (§ 8) und SGB III-Regelungen (§ 63) für AusländerInnen knüpfen in vielen Teilen an Konstellationen aus der Zeit der Gastarbeiteranwerbung an und insbesondere an die Vorstellung, dass Ausbildungsförderung nur erhalten soll, wer selbst fünf Jahre oder dessen Eltern drei Jahre in Deutschland in ausreichender Weise erwerbstätig waren und damit zum Steueraufkommen beigetragen haben (vgl. § 8 Abs. 2 BAföG). Eine weitgehend gleichlautende Regelung enthält § 63 Abs. 2 SGB III, das den Zugang zu Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe (BAB) zur Sicherung des Lebensunterhaltes während einer betrieblichen oder überbetrieblichen Berufsausbildung oder einer berufsvorbereitenden Maßnahme regelt. BAB als „BAföG für Azubis“ wird auch ergänzend zu einer – vor allem bei allein stehenden jugendlichen – für den Lebensunterhalt ggf. nicht ausreichenden Ausbildungsvergütung gewährt. Von der Voraussetzung einer vorherigen Erwerbstätigkeit der Eltern oder des Auszubildenden wird bei einigen privilegierten AusländerInnen 7

62

Vgl. 6. Lagebericht der Beauftragten, S. 416ff (418).

abgesehen: Bei Asylberechtigten, Flüchtlingen nach Genfer Flüchtlingskonvention, jüdischen Zugewanderten, EhegattInnen von Deutschen, Auszubildenden mit einem deutschen Elternteil sowie in manchen Fällen bei UnionsbürgerInnen, die bereits unabhängig von der Ausbildung ein Aufenthaltsrecht haben (vgl. § 8 Abs. 1 BAföG bzw. § 63 Abs. 1 SGB III). Diese Konzeption, die vorrangig an Konstellationen aus der Zeit der Gastarbeiteranwerbung anknüpft, führt im Ergebnis zu einem Ausschluss vieler ausländischer Personen von der Ausbildungsförderung, wenn deren Eltern in den letzten sechs Jahren vor Beginn des förderungsfähigen Teils der Ausbildung der Kinder in Deutschland nicht mindestens drei Jahre gearbeitet haben.8 Die Bedürftigkeit, die Dauer des Aufenthalts und der nachgewiesene Erfolg in der Bildungsbiografie schlagen für diese Personen bei der Entscheidung über die Gewährung von Ausbildungsförderung in keiner Weise zu Buche. Das BAföG normiert den Kreis der anspruchsberechtigten AusländerInnen also in dreifacher Hinsicht: 1. Förderungsbedürftigkeit (§ 11 BAföG wie bei Deutschen). 2. Aufenthaltsrecht (§ 8 Abs. 1 BAföG schließt grundsätzlich z.B. die Niederlassungserlaubnisse nach §§ 9 oder 35 AufenthG und viele Aufenthaltserlaubnisse (z.B. § 23 Abs. 1, § 23a, § 25 Abs. 3, 4, 5 AufenthG) aus). oder: 3. Anknüpfung an die Erwerbsbiografie des zu Fördernden oder seiner Eltern Förderung für alle AusländerInnen möglich. (§ 8 Abs. 2 BAföG legt grundsätzlich fest: entweder fünf Jahre im Inland aufhältig und selbst erwerbstätig oder ein Elternteil in den letzten sechs Jahren drei Jahre erwerbstätig). Dasselbe gilt – wie oben gesagt – im Wesentlichen für das SGB III: 1. Förderungsbedürftigkeit (§ 59 Abs. 3 SGB III und § 64 SGB III wie bei Deutschen). 2. Aufenthaltsrecht (§ 63 Abs. 1 SGB III schließt grundsätzlich z.B. die Niederlassungserlaubnisse nach §§ 9 oder 35 AufenthG und viele Aufenthaltserlaubnisse (z.B. § 23 Abs. 1, § 23a, § 25 Abs. 3, 4, 5 AufenthG) aus). oder: 3. Anknüpfung an die Erwerbsbiografie des zu Fördernden oder seiner Eltern Förderung möglich. (§ 63 Abs. 2 SGB III legt grundsätzlich fest: entweder fünf Jahre im Inland aufhältig und selbst erwerbstätig oder ein Elternteil in den letzten sechs Jahren drei Jahre erwerbstätig). Besonders augenfällig wird die Reichweite des Problems in Fällen, in denen die Kinder zwar über eine Niederlassungserlaubnis verfügen, die Erwerbsbiografie der Eltern aber gebrochen ist. Auch als unbegleitet eingereiste Flüchtlinge mit einer Aufenthaltserlaubnis z.B. nach § 25 Abs. 5 AufenthG oder einer Niederlassungserlaubnis nach § 35 AufenthG können nach einem erfolgreichen Haupt- bzw. Realschulabschluss oder Abitur in Deutschland nicht die notwendigen Voraus8

Vgl. 6. Lagebericht der Beauftragten, S. 535f.

63

setzungen für eine Ausbildungsförderung des BAföG und des SGB III vorweisen, da sie eben keine Eltern in Deutschland haben, die erwerbstätig hätten sein können und sie selbst noch nicht erwerbstätig waren. Die Wege einer Ausbildungsförderung über andere Gesetze sind ebenfalls grundsätzlich versperrt: Das SGB II (§ 7 Abs. 5) und das Asylbewerberleistungsgesetz bzw. das SGB XII (ggf. § 2 AsylbLG i.V.m. § 22 Abs. 1 SGB XII) legen fest, dass Leistungen nach diesen Gesetzen nicht erhält, wer eine „dem Grunde nach“ nach BAföG bzw. SGB III förderungsfähige Berufsausbildung aufnimmt. Nur wer eine solche Ausbildung nicht beginnt oder abbricht, ist damit wieder nach SGB II bzw. nach AsylbLG/SGB XII leistungsberechtigt.9 Selbstverständlich existieren sowohl im SGB II aber auch im SGB XII Härtefallklauseln, die eine Gewährung der Leistungen als Darlehen (§ 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II) oder sogar als Darlehen oder Zuschuss zulassen (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). Diese werden jedoch eher zurückhaltend angewendet, da eine versteckte Ausbildungsförderung über andere Leistungsgesetze vernünftigerweise nicht erfolgen soll:10 Das SGB II sieht folgende Barrieren gegen eine versteckte Ausbildungsförderung für AusländerInnen vor: 1. Keine Leistungen nach SGB II für AusländerInnen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beziehen (§ 7 Abs. 1 SGB II). 2. Keine Leistungen nach SGB II für Auszubildende, die eine „dem Grunde nach“ nach BAföG oder SGB III „förderungsfähige Ausbildung“ machen (§ 7 Abs. 5 Satz 1 SGB II). 3. In besonderen Härtefällen sind Leistungen als Darlehen möglich (§ 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II). 4. Ferner gibt es Auffangklauseln für bei ihren Eltern lebende Auszubildende, die nach BAföG bzw. SGB III nur eine nicht bedarfsdeckende Förderung erhalten könnten (§ 7 Abs. 6 SGB II). Aufstockende Leistungen nach SGB II sind – ab dem 1.1.2007 – auch in anderen Fällen möglich, jedoch nur sofern der/die Auszubildende bereits BAföG oder BAB erhält (§ 22 Abs. 7 SGB II). § 2 AsylbLG i.V.m. § 22 SGB XII (= „Analogberechtigte“ nach drei Jahren Leistungsbezug nach dem AsylbLG) sehen folgende Barrieren gegen eine versteckte Ausbildungsförderung für AusländerInnen vor: 1. Keine Leistungen nach SGB XII für Auszubildende, die eine „dem Grunde nach“ nach BAföG oder SGB III „förderungsfähige Ausbildung“ machen (§ 22 Abs. 1 Satz 1 SGB XII). 2. In besonderen Härtefällen sind Leistungen als Darlehen oder Zuschuss möglich (§ 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII). 3. Ferner gibt es Auffangklauseln für bei ihren Eltern lebende Auszubildende, die nach BAföG bzw. SGB III nur eine nicht bedarfsdeckende Förderung erhalten könnten (§ 22 Abs. 2 SGB XII). In Anschluss hieran stellen sich damit u.a. folgende Fragen: 1. Sollte der Kreis der anspruchsberechtigten AusländerInnen in

9

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Vgl. Bundesfachverband UMF / BAG Jugendsozialarbeit: Forderungen zur Verbesserungen der Situation minderjähriger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland, S. 7f. 10 Beispielhaft die Argumentation zu drei denkbaren Härtefällkonstellationen etwa in der Entscheidung des LSG Berlin-Brandenburg, Az. L 10 AS 545/06, vom 5.7.2006.

§ 8 Abs. 1 BAföG und in § 63 Abs. 1 SGB III erweitert werden? und / oder 2. Sollten die Auffangmöglichkeiten im § 7 Abs. 5 Satz 2 SGB II bzw. § 22 Abs. 1 Satz 2 SGB XII erweitert werden? Neben der zentralen Frage nach den durch eine Erweiterung des Kreises der Anspruchsberechtigten ggf. entstehenden zusätzlichen Kosten,11 wäre ferner ggf. zu erörtern, • Welcher Personenkreis vordringlich in die Ausbildungsförderung einzubeziehen wäre und • inwieweit nur an den Besitz bestimmter Aufenthaltstitel angeknüpft werden sollte oder ob noch ein weiterer oder gar zusätzlicher Anknüpfungspunkt für eine Leistungsgewährung (z.B. die Erwerbsbiografie des zu Fördernden oder seiner Eltern vgl. § 8 Abs. 2 BAföG und § 63 Abs. 2 SGB III oder die Aufenthaltszeit) beibehalten bzw. eingeführt werden soll. Fazit zu BAföG und SGB III: Das Recht auf Ausbildungsförderung folgt nur teilweise dem Aufenthaltsrecht und nur für kleine Gruppen von AusländerInnen. Die Ausbildungsförderung für AusländerInnen knüpft in erster Linie an eine vorangegangene Erwerbstätigkeit an. Selbst Personen mit einer Niederlassungserlaubnis oder Personen, die hier geboren oder aufgewachsen sind, können damit von der Ausbildungsförderung ausgeschlossen sein, wenn sie oder ihre Eltern in Deutschland nicht oder nicht ausreichend lange gearbeitet haben. Eine Auffanglösung über das § 7 SGB II oder § 2 AsylbLG i.V.m. § 22 SGB XII ist regelmäßig nicht möglich, da eine versteckte Ausbildungsförderung nicht stattfinden soll. 3. Studium für AsylbewerberInnen und geduldete AusländerInnen Eine Ausbildung darf für Jugendliche, gerade wenn sie sich unter nicht einfachen Bedingungen in einer fremden Umgebung erfolgreich integriert und eine Schulausbildung abgeschlossen haben, nicht unnötig hinausgezögert werden. Dies gilt m.E. auch für AsylbewerberInnen und Geduldete. Die Probleme der Praxis können auch am Beispiel der Studienaufnahme deutlich gemacht werden: Die bundesgesetzlichen Regelungen im Aufenthalts- und im Asylverfahrensgesetz verbieten AsylbewerberInnen und geduldeten AusländerInnen die Aufnahme eines Studiums nicht. Von der grundsätzlich geltenden sog. Residenzpflicht für AsylbewerberInnen (§ 56 Abs. 1 AsylVfG), die der Aufnahme eines Studiums in einem Hochschulort außerhalb des zuständigen Bezirks der Ausländerbehörde entgegenstehen könnte, sind Ausnahmen möglich (§ 58 Abs. 1 AsylVfG). Die räumliche Beschränkung für geduldete AusländerInnen ist auf das Land zu beschränken (§ 61 Abs. 1 AufenthG). Da der Zweck eines Aufenthalts zur Durchführung eines Asylverfahrens ist, als Flüchtling anerkannt zu werden, wird jedoch die Aufenthaltsgestattung in einigen Bundesländern mit einer Auflage versehen, 11

Ein nicht unbeträchtlicher Teil bestünde wohl aus reinen Kostenverschiebungen. Ausgaben, die zuvor nach geltender Rechtslage im Bereich des SGB II bzw. des SGB XII anfielen, würden dann im System der Ausbildungsförderung anfallen.

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die die Aufnahme eines Studiums oder einer Berufsausbildung verbietet. Eine solche Auflage kann auf Antrag des Betroffenen von der Ausländerbehörde geändert werden. Manche Bundesländer – etwa die Länder Berlin und Brandenburg12 – haben jedenfalls Weisungen erlassen, die die Aufnahme eines Studiums ausdrücklich erlauben, wenn • während des Studiums kein Bezug von Leistungen nach dem SGB II, SGB XII oder dem Asylbewerberleistungsgesetz erfolgt (Sicherung des Lebensunterhalts) und insoweit ggf. eine Erklärung eines „Sponsors“ bzw. die Zusagen einer Stiftung vorgelegt wird, der/die bereit ist, das Studium zu finanzieren, • eine Zulassungszusage der Hochschule vorliegt und • die Entscheidung des Verwaltungsgerichtes über die Asylklage zeitlich nicht bestimmbar ist, also sich der Abschluss des Asylverfahrens noch hinaus zögern wird bzw. eine Abschiebung nicht absehbar ist. Fazit zur Aufnahme eines Studiums für AsylbewerberInnen und geduldete AusländerInnen: Das Recht, ein Studium aufzunehmen, ist nicht per se von der Erteilung eines Aufenthaltstitels abhängig. Die Bundesländer können AsylbewerberInnen oder geduldeten AusländerInnen die Aufnahme eines Studiums erlauben oder verbieten. Oftmals wird die Aufnahme eines Studiums jedoch verboten. 4. So genannte „Deutschen-Vorbehalte“ bei der Approbation in Heilberufen Integrationschancen von AusländerInnen können aber selbst nach einem erfolgreichen Studium noch verspielt werden. Hierfür sind die Regelungen im Bereich der Heilberufe ein gutes Beispiel.13 Anders als bei der Bundesrechtsanwaltsordnung ist auf die Nationalitätenregelungen in § 3 Abs. 1 Nr. 1 BÄO und in § 2 Abs. 1 Nr. 1 ZHG nicht verzichtet worden. Für die Qualität der ärztlichen oder zahnärztlichen Versorgung der Bevölkerung kommt es jedoch auf die fachliche Qualifikation, nicht aber auf den Pass an.14 Aus integrationspolitischen Gründen sollte in jedem Fall den in Deutschland aufgewachsenen und

12

Vgl. den Aufhebungserlass des LMI Brandenburg vom 24.5.2006 zum Erlass 13/02 vom 16.12.2002 und für das Land Berlin die Vorläufigen Anwendungshinweise der Ausländerbehörde, B.25.4.1. In Baden-Württemberg hingegen ist in § 60 Abs. 5 Nr. 4 Landeshochschulgesetz (LHG: GBl. Nr. 1 vom 5. Januar 2005, S. 37 und 38) geregelt, dass die Immatrikulation einer Person versagt werden muss, die als AusländerInnen keinen Aufenthaltstitel, der zur Ausübung eines Studiums berechtigt oder dieses nicht ausschließt, oder keine Aufenthaltserlaubnis-EU besitzt“. Nach dem Wortlaut des § 4 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz ist die Aufenthaltsgestattung zur Durchführung eines Asylverfahrens kein Aufenthaltstitel im Sinne dieses Gesetzes. Die Immatrikulation von AsylbewerberInnen wäre damit in Baden-Württemberg über das Landesrecht ausgeschlossen. 13 Vgl. 6. Lagebericht der Beauftragten, S. 335 und das Gutachten, das Fritz Franz 1988 im Auftrag der damaligen Berliner Ausländerbeauftragten erstellt hat, Franz, Fritz: Benachteiligung der ausländischen Wohnbevölkerung, in: Barwig, Klaus et al. (Hrsg.).: Vom Ausländer zum Bürger: Problemanzeigen im Ausländer-, Asyl- und Staatsangehörigkeitsrecht, Festschrift für Fritz Franz und Gert Müller, Baden-Baden 1994, S. 615ff (651ff). 14

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Die relevanten Normen im Bereich der Berufszulassung in den Heilberufen sind: - Ärztin / Arzt (§ 3 Bundesärzteordnung), - Apotheker / in (§ 4 Bundes-Apothekerordnung i.d. Fassung von 1989) bzw. Ausüben des Gewerbes des Apothekers / der Apothekerin (§ 2 Apothekengesetz), - Psychotherapeut / in (§ 2 Psychotherapeutengesetz), - Zahnarzt / -ärztin (§ 2 Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde).

ausgebildeten AusländerInnen der uneingeschränkte Zugang zum ärztlichen und zahnärztlichen Beruf ermöglicht werden. Dies ist bisher nicht gegeben. Eine integrationsfreundliche Regelung könnte an den Schul- bzw. Studienabschluss in Deutschland und/oder an eine Mindestaufenthaltsdauer anknüpfen. Es dürfte ausländischen AbiturientInnen kaum vermittelbar sein, warum sie zwar AnwältInnen werden können, ein medizinisches Studium aber besser nicht beginnen. Die gleiche Rechtslage gilt für EhepartnerInnen und eingetragene LebenspartnerInnen von Deutschen sowie für Asylberechtigte, jüdische EmigrantInnen und anerkannte Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Auch bei diesem Personenkreis ist der regelmäßige Ausschluss der Approbationsmöglichkeit kaum zu begründen. Die Möglichkeit der Erteilung einer Berufserlaubnis – die für Flüchtlinge nach Genfer Flüchtlingskonvention nach wie vor nicht besteht – kompensiert dieses Defizit nicht. Auch Auswirkungen auf die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen wären durch ein Zulassung von AusländerInnen wohl nicht zu erwarten, da die Steuerung der (kostenwirksamen) Anzahl der ÄrztInnen durch die Kassenzulassungen seitens der kassenärztliche bzw. -zahnärztlichen Vereinigungen unberührt bleibt. Fazit zur Approbation im Bereich der Heilberufe: Das Recht, sich in Deutschland in einem Heilberuf selbständig niederzulassen, folgt für Drittstaatsangehörige – also für Personen, die nicht Unionsbürger sind – im Grundsatz nicht einer aufenthaltsrechtlichen Entscheidung, sondern erst einer staatsangehörigkeitsrechtlichen Entscheidung. Wer nicht eingebürgert ist, darf sich in einem Heilberuf regelmäßig nicht niederlassen, auch wenn er sein Studium bzw. seine Ausbildung in Deutschland abgeschlossen hat. Schluss Oftmals eröffnet erst die aufenthaltsrechtliche oder staatsangehörigkeitsrechtliche Entscheidung viele der wichtigen Zugänge in unsere Gesellschaft. Diese Zugänge beeinflussen die Chancen für Integration ganz erheblich. Die dahinter stehende grundsätzliche Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltsrecht eine Art „Belohnung“15 für eine bis dahin erfolgreiche Integration sein soll oder ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels auch oder gerade erfolgen soll, um gewisse Integrationsfortschritte noch erreichen zu können bzw. zu befördern, ist jeweils mit Blick auf die jeweiligen Erteilungszwecke und die tatsächliche Situation der Betroffenen zu klären. Strenge Erteilungsverbote und hohe Erteilungsvoraussetzungen im Aufenthaltsgesetz oder im Staatsangehörigkeitsrecht können jedenfalls integrationspolitisch problematische Ergebnisse zeitigen, wenn • sie nicht zielgenau sind, also in ihrer Wirkung streuen oder • nicht mehr zeitgemäß sind, das heißt, sie die Realität nicht mehr ausreichend aufnehmen können. Gleichwohl ist der Grundsatz, „alle Rechte folgen dem Aufenthaltsrecht“, an nicht wenigen Stellen des Rechts bereits durchbrochen. 15

Beispielhaft dafür ist die Rede von der „Einbürgerung als Krone der Integration“, vgl. hierzu Kees Groenendijk (Anm. 2).

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Inwieweit bestimmte Rechte erst nach der Erteilung von Aufenthaltstiteln oder einer Einbürgerung gewährt werden, hängt auch von den die jeweiligen Politikfelder prägenden Ordnungsvorstellungen ab. Diese Ordnungsvorstellungen sind sowohl rechtlichen Entwicklungen aber auch gesamtgesellschaftlichen Diskussionsprozessen unterworfen und verändern sich damit im Laufe der Zeit. Der Gesetzgeber muss diese ggf. berücksichtigen.

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Forum 2

Zusammenfassung der Ergebnisse

Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten

Dietrich Eckeberg

1. Zentrale Forderungen der Jugendlichen mit ungesichertem Aufenthaltsstatus • • •

Aufenthaltserlaubnis und eine Arbeitserlaubnis Zugang zu beruflicher Ausbildung, Arbeitsmarkt incl. Ausbildungsförderung Gleichbehandlung

2. Besprochene Themen • • • • • •

Tendenz zur Schulpflicht für Geduldete Weitgehender Ausschluss „Geduldete/AsylbewerberInnen“ vom Arbeitsmarktzugang und der Ausbildungsförderung nach SGB III und BAFöG Die Frage, ob Bildung an den realen Perspektiven (Rückkehr, Verbleib, Weiterwanderung) ausgerichtet werden soll und kann? Der Grundsatz, dass das Sozialrecht dem Aufenthaltsrecht folgt Die Feststellung, dass es Rechte gibt, die trotz fehlendem Aufenthaltsrecht gewährt werden Verbesserungsmöglichkeiten bei BAFöG und SGB III

3. Zentrale Fragen waren • •

Die drei verschiedenen Ebenen Arbeitserlaubnis, Förderung von Maßnahmen und Lebensunterhaltssicherung sind zu trennen Der aktuelle Streit bei der Diskussion um eine Bleiberechtsregelung: Aufenthaltserlaubnis mit uneingeschränkter Arbeitserlaubnis oder Duldung mit uneingeschränkter Arbeitserlaubnis?

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Weiter anknüpfen an der Erwerbsbiographie der Eltern und der zu Fördernden im SGB III und im BAFöG sinnvoll oder überholt?

4. Forderungen aus der Mitte des Forums • •



• • • • •

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Gleichbehandlung Ausbildung (schulische, beruflich und Studium) für Geduldete statt Alimentierung durch das Asylbewerberleistungsgesetz (eine Kostenanalyse erstellen / fiskalische und volkswirtschaftliche Kosten) Zum Bleiberecht: Die Eigenständigkeit der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge anerkennen und keine Prüfung der Arbeitsbedingungen durch die Bundesagentur für Arbeit, die ja sonst auch nicht prüft (Zustimmungsfreiheit) Durchlässigkeit herstellen zu den Regelinstrumenten des SGB II und III und zur Sprachförderung Gesundheitliche Rehabilitation der bisher vom Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Psychosoziale Folgen der Ausgrenzung junger Flüchtlinge vom Arbeitsmarkt untersuchen Das Asylbewerberleistungsgesetz aufheben Die Residenzpflicht streichen

Aufenthaltsrecht „light“ – Kindgerechte Gestaltung des aufenthaltsrechtlichen Clearing „Das Clearing braucht Zeit und Vertrauen“

Forum 3 Aufenthaltsrecht „light“ – Kindgerechte Gestaltung des aufenthaltsrechtlichen Clearing

Amir Mein Name ist Amir und ich komme aus Togo. Ich bin 17 Jahre alt und lebe seit einem Jahr in Deutschland. Als ich nach Deutschland gekommen bin, wurde ich in einer Gruppe im Städtischen Waisenhaus in München untergebracht. Sofort habe ich einen Vormund gekriegt. Ich war drei Monate in einem Deutschkurs und anschließend besuchte ich eine andere Schule. Dort habe ich meinen Hauptschulabschluss absolviert und versuche nun meinen „Quali“ dieses Jahr zu schaffen. Meinen Asylantrag hat mein Vormund einen Monat nach meiner Ankunft beim Bundesamt in Nürnberg gestellt. Danach war ich wegen eines Interviews drei Monate in München. Anwesend waren außer mir auch noch ein Dolmetscher und mein Vormund. Zuerst habe ich ein Aufenthaltspapier bekommen, welches ich monatlich bei der Ausländerbehörde erneuern lassen musste. Nach vier Monaten habe ich eine Aufenthaltsgestattung erhalten. Einige Zeit, nachdem ich mein Interview geführt habe, erhielt ich einen Bescheid, in welchem stand, dass der Asylantrag abgelehnt worden war und dass eine Abschiebung nach Togo anstehen würde. Mein Vormund hat Anklage erstattet. Nun warte ich auf eine Antwort. Ich wünsche mir, dass ich nicht in ein Lager verlegt werde und dass ich in der Jugendhilfe bleiben kann bis ich meinen „Quali“ geschafft habe und eine Ausbildung gefunden habe. Man sollte allen Jugendlichen, die in die BRD kommen, die Möglichkeit geben, in Deutschland sicher zu leben und nicht abgeschoben zu werden. Ich würde mich freuen, wenn ich in Deutschland bleiben könnte, da mir das Land und deren Kultur sehr ans Herz gewachsen ist.

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Forum 3 Aufenthaltsrecht „light“ – Kindgerechte Gestaltung des aufenthaltsrechtlichen Clearing

Asylverfahren und kindgerechte Gestaltung, Zahlen und Fakten Vorstellung des in Nordbayern praktizierten Clearingverfahrens Bernd Emtmann 1. Zahlen und Fakten 1.1 Antragszahlen und Hauptherkunftsländer 2006 (01.01. – 30.09.) Unbegleitete Minderjährige 2006 (01.01. – 30.09.) nach Herkunft (Top Ten) und Asylgründe

Herkunftsländer

Erstanträge

Vietnam Afghanistan Äthiopien Guinea Pakistan Irak Eritrea Russische Föderation Indien Elfenbeinküste Dem. Rep. Kongo Somalia Syrien Gesamt (einschl. übriger Herkunftsländer)

18 12 11 9 9 8 5 4 4 4 4 4 4 132

ENTSCHEIDUNGEN über Erstanträge unbegl. Minderjähriger insgesamt AnerkenGewährung Abschie- Ablehnun- formelle nungen als von bungs gen VerfahAsylberech- Aschieb.hindernis (unbegr. rens-erletigte schutz gem. § 53 abgelehnt/ digun(Art. 16a u. gem. § 51 AuslG offens. gen Famil.asyl) festgeunbegr. (z.B. stellt abgelehnt) Rücknahmen) 11 4 7 7 1 2 3 1 16 16 4 4 7 7 5 4 1 8 1 7 2 2 4 4 5 5 3 3 5 1 1 2 1 4 4 117

-

3

7

92

15

Aus folgender Statistik wird das Verhältnis der Schutzquote von unbegleiteten Minderjährigen zu derjenigen aller ErstantragstellerInnen deutlich. Deutlich erkennbar liegt die Schutzquote für UMF in den Jahren 2003, 2004 und 2006 (bis zum 3. Quartal) erheblich höher als die aller ErstantragstellerInnen. 2001

2003

2004

2005

71.127

50.563

35.607

28.914

15.802

873 1,2 %

977 1,9 %

636 1,8 %

331 1,1 %

132 0,8 %

Schutzquote aller 24,4 % ErstantragstellerInnen

6,2 %

5,0 %

4,9 %

6,5 %

5,8 %

Schutzquote für Erstanträge von UMF

3,5 %

9,9 %

11,3 %

5,65 %

8,55 %

ErstantragstellerInnen 88.287 insgesamt 1.075 davon UMF 1,2 %

72

2006 (bis 30.09.)

2002

30,4 %

1.2 Asylvorbringen Minderjähriger ● ●



Flucht im Gefolge der Eltern, weil diese flüchten müssen Fluchtgründe, von denen sowohl Kinder und Jugendliche als auch deren Eltern gleichermaßen betroffen sind, wie z.B. (Bürger-) Krieg in der Heimat, Armut, Verfolgungsgefahr für bestimmte ethnische oder religiöse Gruppen, ökologische Katastrophen wie Überschwemmungen, Erdbeben oder Dürre Kinder- und jugendspezifische Gründe, z.B. - Zwangsrekrutierung als Kindersoldat - Verfolgung wegen Wehrdienstverweigerung - Sexueller Missbrauch; Zwangsprostitution - Fehlende oder unzureichende Möglichkeiten der Schul- oder Ausbildung - Kinderhandel - Sklaverei; Kinderarbeit - Angst vor verletzenden traditionellen Praktiken (z.B. drohende Genitalverstümmelung von Mädchen und jungen Frauen) Sippenhaft - Verlust der Eltern z.B. durch Verschleppung, Tod durch Kriegshandlungen oder Krankheiten (z.B. AIDS) - Zwangsheirat von Mädchen und jungen Frauen

Die Erfahrung zeigt, dass ein großer Teil der Jugendlichen keine Fluchtgründe vorbringen kann, die den asylrechtlichen Kriterien von politischer Verfolgung entsprechen. 2. Asylverfahren und kindgerechte Gestaltung 2.1 Handlungsfähigkeit ● ● ●

Volljährigkeit mit Vollendung des 18. Lebensjahres (KRK) Handlungsfähigkeit bereits vor vollendetem 18. Lebensjahr (§ 12 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG in Verbindung mit den entsprechenden Gesetzen) Handlungsfähigkeit im Asyl- und Ausländerrecht bereits mit Vollendung des 16. Lebensjahres (§§ 12 Abs. 1 AsylVfG, 80 Abs. 1 AufenthG)

2.2 Durchführung eines kindgerechten Altersbestimmungsverfahrens ● ● ● ● ● ●

Zuständig sind grundsätzlich die Landesbehörden nur zur Feststellung der Handlungsfähigkeit Alterseinschätzung durch Inaugenscheinnahme beim Bundesamt durch SB-Asyl unter Hinzuziehung des Sonderbeauftragten nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung mittels Inaugenscheinnahme und Beurteilung des Reifegrades nach persönlichem Gespräch zur Vermeidung der schwebenden Unwirksamkeit heilbar, wenn Vormund nachträglich anerkennt

2.3 Kindgerechtes Asylverfahren im Bundesamt ●

Benennung von sonderbeauftragten AsylsachbearbeiterInnen für die Zielgruppen Unbegleitete Minderjährige, Geschlechtsspezifisch Verfolgte (i.d.R. Frauen), Folteropfer und traumatisierte AsylbewerberInnen.

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Diese SB-Asyl verfügen über spezielle rechtliche, kulturelle und psychologische Kenntnisse, um einfühlsam die Verfahren durchzuführen. Ist aus dem Sachvortrag einer/s AsylbewerberIn ersichtlich, dass er/ sie zu einer dieser Gruppen gehört, muss der anhörende SB-Asyl den/ die Sonderbeauftragte/n hinzuziehen. Beide besprechen die weitere Vorgehensweise und entscheiden aktenkundig, wer den Fall weiter bearbeitet. Dieselbe Vorgehensweise ist auch anzuwenden, wenn sich im Asylverfahren einer/s unbegleiteten Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren (der nicht mehr UMF im Sinne des AsylVfG ist) Anhaltspunkte zeigen, dass er/sie auf Grund seiner/ihrer persönlichen Reife und seines/ihres Wissensstandes im Rahmen der Anhörung seine/ihre persönliche Situation im HKL nur eingeschränkt darstellen kann. Aufgaben der Sonderbeauftragten: ● Information der KollegInnen und der Vorgesetzten in der Außenstelle ● Beratung der KollegInnen in der Außenstelle in schwierigen Einzelfällen ● Kontaktpersonen zu den psychosozialen Zentren oder ähnlichen Institutionen ● Kordination der Gutachteraufträge und Beratung der SB-Asyl bezüglich deren Würdigung ● Anhören und Entscheiden von Fällen in eigener oder übertragener Zuständigkeit ● Anhörung weniger formal als bei Volljährigen; besondere Sensibilität hinsichtlich der Bedürfnisse Minderjähriger. Schulungen: Bisheriges Schulungskonzept: ● Grundschulung für alle SB-Asyl zum Thema „Traumatisierte AntragstellerInnen in der Anhörung beim Bundesamt“ ● Aufbauschulung für die Sonderbeauftragten, getrennt nach der jeweiligen Spezialisierung ● Moderierter Erfahrungsaustausch für die Sonderbeauftragten jeweils für ihre Fachrichtung. Dieser dreistufige Schulungsaufbau hat sich bewährt und soll beibehalten werden. Die Schulungsinhalte werden allerdings laufend aktualisiert und an neue gesetzliche Regelungen oder Änderungen in der Asylrechtsprechung angepasst. Erkannte Defizite im Verfahren führen ebenfalls zu einer Variierung der Schulungsinhalte. 2.4 Prüfung von Asylgründen und Abschiebungsverboten Umfassende Prüfung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG bei unbegleiteten minderjährigen AsylbewerberInnen, z.B. ● wenn sie im Heimatland keine Angehörigen haben, die sich um sie kümmern. ● wenn sie im Falle einer Rückkehr mangels geeigneter Schutzeinrichtungen (Waisenhäuser, caritative Einrichtungen usw.) dem baldigen Hungertod oder als Straßenkinder zumindest dem Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums und damit einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt sein würden.

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2.5 Dublinverfahren (VO Dublin II) ● ● ● ● ● ● ●

reine Zuständigkeitsregelung Garantie der Durchführung eines Asylverfahrens in einem der Mitgliedstaaten Vermeidung mehrerer Asylverfahren für eine/n AsylbewerberIn im Dublingebiet Klärung, ob Kriterien für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats vorliegen (Art. 6 bis 14 der VO Dublin II) an erster Stelle Prüfung, ob es sich um einen UMF handelt zuständig für die Prüfung des Asylantrags ist der Mitgliedstaat, in dem sich ein Familienangehöriger (Vater, Mutter oder Vormund) rechtmäßig aufhält (Interesse des/r Jugendlichen beachten!) oder Mitgliedstaat, in dem der Asylantrag gestellt wurde (wenn kein/e Angehörige/r aufhältig).

3. Vorstellung des vorgeschalteten Clearingverfahrens („Runder Tisch“) 3.1 Isolierter Antrag nach § 60 Abs. 2 – 7 AufenthG ● ● ●

Zuständigkeit für die Prüfung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG bei der Ausländerbehörde, wenn kein Asylantrag gestellt (isolierter Antrag nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG) Entscheidung der ABH über zielstaatsbezogenes Abschiebehindernis nach § 60 Abs. 7 AufenthG nur nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes (§ 72 Abs. 2 AufenthG) Besondere Sachkunde des Bundesamtes über die Verhältnisse in den Herkunftsländern soll in die Entscheidung einfließen.

3.2 Vorschaltung eines Clearingverfahrens ● ● ●

UMF tragen erfahrungsgemäß nur selten asylrelevante Gründe beim Bundesamt vor Abklärung der Sinnhaftigkeit eines Asylverfahrens in einem vorgeschalteten Clearingverfahren dadurch Vermeidung chancenloser Asylverfahren.

4. Start eines Pilotprojekts für den Bereich Nordbayern (Februar 2005) ● ● ● ● ●

beteiligt: Clearingstelle Nordbayern, Ausländerbehörde und Jugendamt der Stadt Nürnberg alle zwei Monate gemeinsame Besprechung aller UMF-Fälle des voran gegangenen Zeitraums auf Grundlage eines durch die Clearingstelle Nordbayern erstellten Vorabprotokolls nach Diskussion Bestimmung des weiteren Verfahrensweges durch Votum der TeilnehmerInnen Votum stellt nur Empfehlung für Vormund dar, aber durch Beteiligung des Jugendamtes (i.d.R. zum Amtsvormund bestellt) grundsätzliche Beachtung des Votums gewährleistet Erfahrungsaustausch (September 2005): - Alle Beteiligten sprechen sich für Fortführung des Projekts aus - Ausweitung auf den gesamten Bereich des Bundesamtes soll versucht werden.

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● ● ●

Erarbeiten und Inkraftsetzen einer entsprechenden Dienstanweisung (Januar 2006) Durchführung des neuen Verfahrens zunächst nur an Außenstellen des Bundesamtes mit einem regelmäßigen und entsprechend hohen Aufkommen an UMF Abfrage der Erfahrungen mit dem neuen Verfahren im Juli 2006

Ergebnis: • •

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Einführung des vorgeschalteten Clearingverfahrens wegen mangelnder Bereitschaft der Ausländerbehörden zur Mitarbeit an keiner anderen Außenstelle möglich Außenstelle Zirndorf bleibt einzige Außenstelle des Bundesamtes, an der dieses Verfahren zurzeit betrieben wird – nach Meinung aller Beteiligter mit großem Erfolg.

Forum 3

Vorstellung des Internationalen Sozialdienstes (ISD) und seiner Einzelfallarbeit

Dagmar Rhese

Aufenthaltsrecht „light“ – Kindgerechte Gestaltung des aufenthaltsrechtlichen Clearing

1. Der Internationale Sozialdienst (ISD) Die wachsende Zahl binationaler Ehen und Partnerschaften, mit ihren rechtlichen, sozialen und kulturellen Besonderheiten, bereitet Jugendämtern und Familiengerichten zunehmend erhebliche Probleme. Der ISD leistet länderübergreifende Sozialarbeit in Familienkonflikten mit Auslandsbezug, indem er mit Fachstellen in zwei oder mehr Ländern zusammenarbeitet. Er überwindet Ländergrenzen, die sich gerade im familiären und sozialen Zusammenhang häufig als Hindernis für die Lösung von Konflikten oder für sozialpädagogische Hilfen erweisen. Der ISD ist die deutsche Zweigstelle des International Social Service (ISS), einer internationalen Nichtregierungsorganisation, zugleich bildet er das Arbeitsfeld VII des Deutschen Vereins. Der ISS hat Zweigstellen in 19 Ländern und weltweit mehr als 100 Korrespondenten. Innerhalb dieses Netzwerk arbeitet der ISD als Verbindungsstelle zwischen deutschen und ausländischen Jugendbehörden, sozialen Fachstellen, Gerichten und freien Trägern der Sozialarbeit. Mit Hilfe des ISD können Sachverhalte im Ausland ermittelt, Kontakte hergestellt, Konflikte gelöst, Entscheidungen vorbereitet und Hilfen in Gang gesetzt werden. Die Arbeit des ISD gewährleistet, dass in internationalen Sachverhalten das Kindeswohl berücksichtigt wird. Weitere Informationen unter: www.issger.de Die Mitarbeitsmöglichkeiten und die Arbeitsweise des ISD im Bereich des Clearings wurde anhand eines Fallbeispieles dargestellt. 2. Einzelfallarbeit am Beispiel Türkei Eine Ausländerbehörde fragt im September 2004 beim ISD folgendes an: Ein türkischer Junge, 12 Jahre ist im Oktober 2002 ohne seine Eltern nach Deutschland eingereist und lebt bei seinem Bruder, der zum Vormund bestellt wurde. Der Asylantrag des Jungen wurde abgelehnt. Der Junge sei zur Ausreise verpflichtet. Der ISD möge den Aufenthaltsort der Eltern in der Türkei ermitteln, damit bei der Abschiebung der Junge den Eltern übergeben werden kann. Was macht der ISD mit solchen Anfragen? Der ISD schildert der Ausländerbehörde seine Arbeitsweise und seine Möglichkeiten der Mitarbeit:

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Der Internationale Sozialdienst, Deutscher Zweig e.V., (ISD) ist Teil eines Internationalen Gesamtverbandes mit einem Generalsekretariat in Genf, dem Zweigstellen und Korrespondenten in zahlreichen Ländern der Erde angeschlossen sind. Er ist ein freier Wohlfahrtsverband, der die Aufgabe hat, im Bereich der Sozialarbeit Grenzen zu überbrücken, indem er in der Einzelfallhilfe als Verbindungsstelle zwischen deutschen und ausländischen Trägern der Sozialarbeit fungiert, sowie durch Grundsatzarbeit neue Entwicklungen in der Sozialarbeit fördert. Der ISD hat den Schwerpunkt seiner Tätigkeit in internationalen Fällen, die die Fürsorge für Kinder und Jugendliche betreffen und er bemüht sich, in allen Fällen am Wohl des Minderjährigen orientierte Lösungen zu finden. Im Rahmen der oben beschriebenen Arbeit arbeitet der ISD in der Türkei mit der Generaldirektion für Soziale Angelegenheiten und Kinderschutz zusammen. Dies bedeutet, dass diese Stelle und der Internationale Sozialdienst sich gegenseitig bei der Bearbeitung von Problemen im Bereich der internationalen Sozialarbeit um Mithilfe bitten können. Die Generaldirektion verfügt in der gesamten Türkei über Zweigstellen auf Bezirksebene, die zum Teil auch mit geschultem Fachpersonal besetzt sind. Ihre Zuständigkeit erstreckt sich unter anderem von der allgemeinen Betreuung schutzbedürftiger Kinder und Waisen in der Türkei bis zu den türkischen Kindern im Ausland, insbesondere hier in der Bundesrepublik Deutschland. Der ISD arbeitet mit diesem Partner auch in Fällen zusammen, in denen es darum geht, ob die Übersiedlung bzw. Rückführung eines Minderjährigen ins Herkunftsland im Einzelfall sinnvoll, möglich oder ratsam ist. Eine Einschränkung besteht hier jedoch insoweit, als es sich um AsylbewerberInnen bzw. abgelehnte AsylbewerberInnen, insbesondere aus Kurdengebieten handelt. Da es sich bei dem türkischen Korrespondenten um eine staatliche Stelle handelt und für uns nur schwer absehbar ist, welche Auswirkungen die von uns im Einzelfall gegebenen Informationen für die Beteiligten und ihre Familie haben, prüfen wir bei diesem Personenkreis in jedem Einzelfall, ob eine Einschaltung der türkischen Stelle opportun erscheint. Was der ISD benötigt, um die türkische Korrespondenzstelle um Mitarbeit zu bitten: Aus den speziellen Gegebenheiten in der Türkei sowie aus den Modalitäten unserer internationalen Zusammenarbeit hat es sich als zweckmäßig herausgestellt, bereits in Deutschland bestimmte Vorinformationen zu erfassen, die uns und den türkischen Kollegen die sachgerechte Einschätzung der Situation und Bearbeitung der Angelegenheit erlauben sollen: Zum einen ist das Bereitstellen möglichst vollständiger Personaldaten und Adressen der beteiligten Personen notwendig. Dies ist für die Türkei um so mehr der Fall, da dort kein dem unseren vergleichbares Meldesystem existiert und die türkischen Kollegen nicht zur Adressermittlung in der Lage sind. Benötig werden aber weiterhin auch Informationen über die Vorgeschichte des Minderjährigen, die es unseren Kooperationspartnern ermöglichen,

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auf der sozialpädagogischen Ebene, die Basis unserer Kooperation ist, vernünftig zusammenzuarbeiten. Weiterhin kommt hinzu, dass in diesen Fällen ein Entscheidungskriterium für die Rückführung Minderjähriger das Kindeswohl ist. Um entscheiden zu könne, welche Maßnahme dem Kindeswohl am ehesten entspricht, ist es aber erforderlich, die – voraussichtlichen – Lebensverhältnisse in beiden beteiligten Ländern festzustellen. Diese Informationen, die im weitesten Sinne das gesamte soziale Umfeld des betreffenden Minderjährigen erfassen, sollten u.E. bei Ersuchen mit ausländerrechtlichem Bezug, bei denen es entscheidend auch auf das Kindeswohl ankommt, von einer sozialen Fachstelle (Jugendamt) gegeben werden. Unserer Auffassung nach ist es deshalb am sinnvollsten, zur Erstellung eines solchen Sozialberichts, der die Umstände für den Minderjährigen hier in der Bundesrepublik unseren türkischen Kollegen verdeutlichen könnte, das zuständige Jugendamt einzuschalten. Als zuständige kompetente Fachstelle ist das Jugendamt am ehesten geeignet, einen entsprechenden Bericht zu fertigen und damit zu einem umfassenden Ersuchen ins Ausland beizutragen. Wir gehen davon aus, dass wir von unseren türkischen Kollegen einen auch für die Entscheidungsfindung der Ausländerbehörde dienlichen Bericht erhalten werden, soweit unsererseits eine ausführliche Darstellung der vergangenen und gegenwärtigen Situation vermittelt werden kann, der eine richtige Beurteilung, sinnvolle und umfassende Ermittlung vor Ort ermöglicht. Unter diesen Umständen überprüft die soziale Fachstelle in der Türkei die vorgebrachten Sachverhalte, insbesondere auch die ausländerrechtlich-relevante Fragestellung, ob der im Ausland verbliebene Vormund nachweislich tatsächlich nicht mehr zur Ausübung der Personensorge in der Lage ist. Wir würden uns freuen, wenn Sie sich unserer Auffassung anschließen und für die weitere Vorgehensweise die notwendigen Informationen über das Jugendamt einholen würden. Anzumerken ist hierbei noch, dass zu der Bearbeitungsdauer von ca. 3-6 Monaten Bearbeitungszeiten bei uns, insbesondere auch Verzögerungen für Übersetzungen, eingerechnet werden müssen. Der Zeitfaktor sollte deshalb bei Verfahren mit Auslandsberührung von vornherein großzügig mit berücksichtigt werden. Diese Informationen erhält die Ausländerbehörde. Daraufhin wendet sich diese an das türkische Generalkonsulat bzw. an die deutsche Botschaft in der Türkei und verzichtet auf unsere Mitarbeit. Diese Informationen erhalten wir auf Rückfragen nach ca. 10 Monaten. Wir bieten weiter unsere Mitarbeit an. Weitere 2 Monate später bittet die Ausländerbehörde doch wieder um unsere Mitarbeit, da sie nach wie vor die Abschiebung beabsichtigt und bei den anderen Stellen auch nicht weitergekommen ist. Wir wenden uns an unsere türkischen Korrespondenten die Generaldirektion für soziale Angelegenheiten und Kinderschutz und fragen an, ob die Eltern in der Lage sind ihr Kind bei sich aufzunehmen. Unsere Korrespondenzstelle leitet die Anfrage an den lokal zuständigen So-

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zialarbeiter weiter, der einen Hausbesuch macht und mit den Eltern spricht, weiter. Im August 2005 erhalten wir einen ersten Bericht aus der Türkei, der sehr widersprüchlich ist. Im Februar 2006 erhalten wir einen zweiten Bericht, der bestätigt, dass der Vater über 100 Jahre alt und krank ist. Auch die jüngere Mutter ist krank und niemand kann sich um die Versorgung des Jungen kümmern, da 25 von 27 Geschwistern von dem Jungen in Deutschland leben. Die Schule ist 10 km entfernt und eine Unterstützung bei Schulaufgaben oder eine sonstige Förderung kann nicht gegeben werden. Der türkische Sozialdienst spricht sich für den Verbleib des Jungen in Deutschland aus. Schlussfolgerung und Beurteilung: Fast alle Geschwister von .... leben in Deutschland und unterstützen ihn in jeder Hinsicht. In der Türkei hat er niemanden, der sich um ihn kümmert. Im Interesse des Kindeswohls braucht er jemanden, der für ihn die Verantwortung übernimmt. Aber seine Mutter und sein Vater sind sehr alt; deshalb wäre es für .... am besten, in Deutschland zu bleiben und dort die Schule zu besuchen.“

Des Weiteren habe ich mich in dem Vortrag auf folgende Artikel bezogen: UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 1989 Artikel 3 [Wohl des Kindes] (1) Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. (2) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind unter Berücksichtigung der Rechte und Pflichten seiner Eltern, seines Vormunds oder anderer für das Kind gesetzlich verantwortlicher Personen den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind; zu diesem Zweck treffen sie alle geeigneten Gesetzgebungs- und Verwaltungsmaßnahmen. (3) Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass die für die Fürsorge für das Kind oder dessen Schutz verantwortlichen Institutionen, Dienste und Einrichtungen den von den zuständigen Behörden festgelegten Normen entsprechen, insbesondere im Bereich der Sicherheit und der Gesundheit sowie hinsichtlich der Zahl und der fachlichen Eignung des Personals und des Bestehens einer ausreichenden Aufsicht. und folgende EU-Richtlinien: EU-Richtlinie Qualifikation vom 29.04.2004 Kapitel VII. Inhalt des internationalen Schutzes

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Artikel 20 Allgemeine Bestimmungen (1) Die Bestimmungen dieses Kapitels berühren nicht die in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerten Rechte. (2) Sofern nichts anderes bestimmt wird, gilt dieses Kapitel sowohl für Flüchtlinge als auch für Personen mit Anspruch auf subsidiären Schutz. (3) Die Mitgliedstaaten berücksichtigen bei der Umsetzung dieses Kapitels die spezielle Situation von besonders schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben. (4) Absatz 3 gilt nur für Personen, die nach einer Einzelprüfung ihrer Situation als besonders hilfebedürftig anerkannt werden. (5) Bei der Anwendung der Minderjährige berührenden Bestimmungen dieses Kapitels stellt das Wohl des Kindes eine besonders wichtige Überlegung für die Mitgliedstaaten dar. (6) Die Mitgliedstaaten können die einem Flüchtling aufgrund dieses Kapitels zugestandenen Rechte innerhalb der durch die Genfer Flüchtlingskonvention vorgegebenen Grenzen einschränken, wenn ihm die Flüchtlingseigenschaft aufgrund von Aktivitäten zuerkannt wurde, die einzig oder hauptsächlich deshalb aufgenommen wurden, um die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen. (7) Die Mitgliedstaaten können die einer Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz aufgrund dieses Kapitels zugestandenen Rechte innerhalb der durch die internationalen Verpflichtungen vorgegebenen Grenzen einschränken, wenn ihr der subsidiäre Schutzstatus aufgrund von Aktivitäten zuerkannt wurde, die einzig oder hauptsächlich deshalb aufgenommen wurden, um die für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen. EU-Richtlinie vom 27.1.2003 (Aufnahmerichtlinie) Unbegleitete Minderjährige (1) Die Mitgliedstaaten sorgen so bald wie möglich für die erforderliche Vertretung von unbegleiteten Minderjährigen; die Vertretung übernimmt ein gesetzlicher Vormund oder erforderlichenfalls eine Organisation, die für die Betreuung und das Wohlergehen von Minderjährigen verantwortlich ist, oder eine andere geeignete Instanz. Die zuständigen Behörden nehmen regelmäßige Bewertungen vor. 6.2.2003 DE Amtsblatt der Europäischen Union L 31/23 (2) Asyl beantragende unbegleitete Minderjährige werden ab dem Zeitpunkt der Zulassung in das Hoheitsgebiet bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie den Aufnahmemitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt worden ist oder geprüft wird, verlassen müssen, nach folgender Rangordnung aufgenommen: a) bei erwachsenen Verwandten; b) in einer Pflegefamilie; c) in Aufnahmezentren mit speziellen Einrichtungen für Minderjährige; d) in anderen für Minderjährige geeigneten Unterkünften.

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Die Mitgliedstaaten können unbegleitete Minderjährige ab 16 Jahren in Aufnahmezentren für erwachsene Asylbewerber unterbringen. Geschwister sollen möglichst zusammen bleiben, wobei das Wohl des betreffenden Minderjährigen, insbesondere sein Alter und sein Reifegrad, zu berücksichtigen ist. Wechsel des Aufenthaltsorts sind bei unbegleiteten Minderjährigen auf ein Mindestmaß zu beschränken. (3) Die Mitgliedstaaten bemühen sich im Interesse des Wohls des unbegleiteten Minderjährigen, dessen Familienangehörigen so bald wie möglich ausfindig zu machen. In Fällen, in denen das Leben oder die Unversehrtheit des Minderjährigen oder seiner nahen Verwandten bedroht sein könnte, insbesondere wenn diese im Herkunftsland geblieben sind, ist darauf zu achten, dass die Erfassung, Verarbeitung und Weitergabe von Informationen über diese Personen vertraulich erfolgt, um ihre Sicherheit nicht zu gefährden. (4) Das Betreuungspersonal für unbegleitete Minderjährige muss im Hinblick auf die Bedürfnisse des Minderjährigen adäquat ausgebildet sein oder werden und unterliegt in Bezug auf die Informationen, die es durch seine Arbeit erhält, der Schweigepflicht, wie sie im nationalen Recht definiert ist. Die EU-Richtlinien sind in der Bundesrepublik gültig und aufgrund des Fristablaufes unmittelbar anzuwenden.

3. Auswertung der Fallbeispiele (Folie Angola) Anfrage des Vormund / Jugendamt Fachdienst unbegleitete Minderjährige beim Internationalen Sozialdienst im Juli 2005: Angolanische Jugendliche, 17 Jahre und ihr Kind, 1 Jahr. Sie reiste unbegleitet schwanger im Oktober 2003 ein, wurde in Obhut genommen und lebte in einer Mutter-Kind-Einrichtung. Die Jugendliche hat keine Verwandten mehr in Angola. Auftrag des Vormundes an den Internationalen Sozialdienst: Klärung, ob die Familie des Vaters des Kindes bereit ist Mutter und Kind in Angola aufzunehmen. Die Jugendliche möchte nach Angola zu ihrem Freund zurück, mit dem sie seit kurzer Zeit in telefonischem Kontakt steht. Der Internationale Sozialdienst schildert dem Vormund seine Mitwirkungsmöglichkeiten und stellt Rückfragen: • • •

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abklären, ob der Korrespondent des ISD in Angola, das internationale Komitee des Roten Kreuz, einen Sozialbericht erstellen kann. wir benötigen umfangreiche Informationen zur Vorgeschichte, damit abgewogen werden kann, wo Mutter und Kind im Interesse des Kindeswohls besser aufgehoben sind. ist aus medizinischer Sicht die Übersiedlung des Babys nach Angola in ein Malaria- und Gelbfieber Gebiet möglich?

Der Vormund teilt mit, dass aus datenschutzrechtlichen Gründen keine Dokumente übermittelt werden dürfen. Das Rote Kreuz kann keine Hausbesuche machen und in diesem Fall nicht tätig werden. Der ISD und das Genfer Generalsekretariat des ISD bemühen sich eine Organisation zu finden, die die Familie des Vaters besuchen kann und einen Sozialbericht erstellt (Oktober / November 2005). Ende November 2005 erhält der ISD die Nachricht, dass die Situation sich geändert habe. Der Vater wolle, dass das Kind nach Angola komme, aber nicht die Mutter, da er eine neue Frau habe. Die Jugendliche will mit ihrem Kind in Deutschland bleiben. Der Vormund spricht sich dafür aus.

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Forum 3 Aufenthaltsrecht „light“ – Kindgerechte Gestaltung des aufenthaltsrechtlichen Clearing

Zusammenfassung der Ergebnisse Katharina Vogt / Susanne Bourgeois

Die Jugendlichen schilderten zunächst ihre Einreise und die – mit dem mehr oder weniger vorhandenen Clearing – gemachten, sehr unterschiedlichen Erfahrungen. Sie veranschaulichten systematisch die Situation eines UMF zwischen den unterschiedlichen Akteuren (Grenz- und Ausländerbehörde, Bundesamt, Jugendamt, Vormünder, Amtsgericht, etc.). Sie waren teilweise bis über ein Jahr lang völlig orientierungslos. Als Forderungen wurden daher durch die Jugendlichen aufgestellt: • Das Clearing braucht Zeit und Vertrauen • Die betroffenen Jugendlichen wollen in erster Linie als Jugendliche behandelt werden. • Weitere Möglichkeiten neben dem Asylverfahren müssen in Ruhe geprüft werden können: Weiterreise in ein anderes Land, Rückkehr in das Herkunftsland, Aufenthaltserlaubnis durch die Ausländerbehörde. Nach den Inputs von Herrn Emtmann, Frau Rehse und Herrn Wunderlich und nach längerer Diskussion der TeilnehmerInnen zu rechtlichen und tatsächlichen Bedingungen der Aufnahme von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen kamen die TeilnehmerInnen zu dem Schluss, dass ein gerechtes angemessenes Clearingverfahren in Anlehnung an das Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe entsprechend der Erziehungshilfeplanung (§36 SGB VIII) möglich und sinnvoll wäre. Es werden folgende essentielle Forderungen vereinbart:

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1. Für die Jugendlichen ist Zeit und Vertrauen notwendig, d.h. 6 Monate Klärungsphase mit Aufenthaltserlaubnis sowie mit Schulbesuch ab dem Zeitpunkt der Einreise. Dabei müssen neben einem möglichen Asylantrag auch weitere Möglichkeiten geprüft

werden wie die Möglichkeit einer festen Aufenthaltserlaubnis, Weiterreise in ein anderes land oder die Rückkehr in das Herkunftsland. Bei allen Entscheidungen sind die Jugendlichen mit ein zu beziehen. 2. Auf lokaler Ebene sinnvoll: Runder Tisch zur Klärung, ob ein Asylverfahren eingeleitet werden soll (vgl. Modellprojekt in Zirndorf). 3. Die Betroffenen sollen in erster Linie als Jugendliche angesehen werden, das Wohl des Kindes muss oberste Maxime im Verfahren sein. In diesem Zusammenhang wird noch einmal die Rücknahme der Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention gefordert (Jugendhilferecht bricht Ausländerrecht) sowie die Streichung der 16-Jahres-Grenze. Die Zuständigkeiten der Jugendämter muss klarer umgesetzt werden. Außerdem müssen den Jugendlichen erfahrene Privatvormünder sowie BetreuerInnen als Vertrauenspersonen zur Seite gestellt werden. 4. Falls ein Asylverfahren eingeleitet wird, müssen folgende Punkte beachtet werden: Das Asylverfahren muss den Jugendlichen verständlich erklärt werden. Im Verfahren selbst muss es eine kindgerechte Anhörung geben, d.h., dass z.B. besonders geschulte EinzelentscheiderInnen die Anhörung durchführen und später auch entscheiden müssen. Weitere Forderungen in diesem Zusammenhang waren: Streichung der Residenzpflicht, Schulbesuch muss während des Verfahrens möglich sein und es darf keine Haftunterbringung für Jugendliche geben.

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Forum 4 Erstversorgung von jungen Flüchtlingen gemäß SGB VIII

Erstversorgung von jungen Flüchtlingen gemäß SGB VIII „Eine gute Betreuung und Erstversorgung“

Xenia, Raymond, Jude Was für uns wichtig ist: ● Ernst nehmen ● BetreuerInnen ● Vormund ● Jugendunterkunft ● Schule Xenia Ernst nehmen Als ich nach Deutschland kam, wurde ich nicht ernst genommen und mir wurde nicht geglaubt. Ich finde, das soll nicht sein. Und schließlich kann niemand, der das nicht erlebt hat, beurteilen, ob das stimmt. Vielleicht klingt es ja unglaublich, aber es ist wahr. Was ist heute denn überhaupt noch glaubwürdig, wenn man sich in der heutigen Welt umschaut. Jeder Mensch hat seine Geschichte. Wenn es uns Flüchtlingen in unseren Ländern gut gehen würde, würden wir auch nicht kommen und um Hilfe bitten.

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BetreuerInnen Die BetreuerInnen sind die ersten Ansprechpersonen, die sich in den Jugendunterkünften um uns kümmern. Es ist wichtig, dass sie uns helfen und mit uns über unsere Probleme sprechen. Überhaupt, was uns halt so beschäftigt und uns in unserem Vorhaben unterstützen. Das ist aber leider nicht selbstverständlich und das ist schade. Ich finde, es wäre schön, wenn in diesem Beruf die BetreuerInnen aus verschiedenen Ländern kommen würden, weil wir jungen Flüchtlinge ja auch aus

verschiedenen Ländern kommen. Es wäre besser, da die BetreuerInnen dann mit uns in unserer Heimatsprache sprechen und uns damit besser helfen könnten. Dann würden sich die jungen Flüchtlinge vielleicht wohler fühlen. Ich habe auch sehr gute Erfahrungen mit den BetreuerInnen gemacht, obwohl sie meine Sprache nicht gesprochen haben. Sie haben mir nämlich sofort ein Wörterbuch in meiner Sprache gegeben. So konnte ich schnell die deutsche Sprache lernen und mich damit auch besser verständigen. Vormund Es ist sehr wichtig, dass bei der Ankunft in Deutschland sofort das Jugendamt eingeschaltet wird. So war es bei mir. Man fühlt sich dann viel sicherer, weil man weiß, dass jemand hinter einem steht, der sich für einen engagiert. Man fühlt sich in guten Händen und weiß, es kann nichts passieren. Das Jugendamt kümmert sich darum, dass es einem gut geht. Bei mir war es so. Ich hatte sehr großes Glück mit dem zuständigen Jugendamt, das sich sehr gut um mich gekümmert hat und es immer noch tut. Es wäre schön, wenn jeder junge Flüchtling dieses Glück haben könnte. Alle jungen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen! Jugendunterkunft Ich finde, dass die Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren in Jugendheimen untergebracht werden sollten. Sie sollen sich unter Gleichaltrigen befinden und nicht, wie es oft passiert, mit Erwachsenen und bis bis zu sechs Menschen in einem Zimmer. Es wäre schön, wenn die Flüchtlinge mit deutschen Jugendlichen zusammen in einem Heim untergebracht werden würden, wie es bei mir der Fall war. Durch den Kontakt mit Deutschen lernen wir die Sprache schneller und können uns besser integrieren. Das kann ich aus eigener Erfahrung berichten. Schule Wenn die jungen Flüchtlinge nach Deutschland kommen, sollen sie sofort eine Schule und einen Sprachkurs besuchen dürfen. Es ist sehr wichtig, dass wir die deutsche Sprache schnell beherrschen, weil wir uns dann besser verständigen können, mehr Kontakt zu Deutschen haben und uns damit schneller integrieren können. Die Schule ist unsere Zukunft. Die Zukunft, die wir nur mit der Hilfe der Regierung aufbauen können. Es gibt viele Jugendliche, die nicht die Schule besuchen dürfen und sich deswegen auf der Straße herum treiben, falsche Freunde kennen lernen und auf schlechte Gedanken kommen. Diese Erfahrung habe ich zum Glück nicht gemacht, weil ich sofort die Schule und einen Deutschkurs besuchen konnte. Es wäre wirklich schön, wenn mehr junge Flüchtlinge diese Erfahrung erleben und solches Glück wie ich haben würden. Es sollte doch eigentlich selbstverständlich sein, die Schule zu besuchen. Leider ist es nicht immer so. Und vor allem nicht für alle! Raymond Mein Name ist Raymond. Ich bin 15 Jahre alt und komme aus Sierra Leone. Wegen des Krieges und dem Tod meiner Eltern bin ich alleine aus meinem Heimatland geflüchtet. Ich kann hier nicht zu allen Punkten etwas sagen, weil ich erst seit vier Monaten in Deutschland

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bin. Ein Punkt ist mir allerdings wichtig, weil ich damit eine wichtige Erfahrung gemacht habe und das ist die Vormundschaft. Dazu möchte ich Euch mein Erlebnis erzählen: Während der Durchreise von Frankreich nach Österreich geriet ich in eine Polizeikontrolle in Deggendorf. Weil ich keinen Ausweis hatte, haben sie mich auf die Wache mitgenommen. Dort wurde ich befragt und anschließend für eine Nacht in eine Zelle gesperrt. Am nächsten Tag sollte ich ein Schreiben unterzeichnen. Weil ich nicht wusste, was es war, habe ich mich geweigert. Dann haben sie mich zum Gericht nach Straubing gefahren. Dort wurde mir gesagt, dass ich nach Regensburg ins Gefängnis muss. Ich verstand nicht, warum ich jetzt im Gefängnis war, weil ich doch nichts verbrochen hatte. Außerdem hatte ich Angst vor der Abschiebung, weil sie mir jeden Tag angedroht wurde. Für mich war das wie ein zweiter Krieg. Nach zwei Monaten habe ich dann die Nachricht erhalten, dass ich einen Vormund bekomme. Mein Vormund hat mich dann nach insgesamt drei Monaten Haft aus dem Gefängnis geholt. Jetzt bin ich seit einem Monat in einem Heim für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Nähe von München. Dort gefällt es mir sehr gut und ich habe alles, was ich brauche. Es ist gut, wenn jeder junge Flüchtling sofort einen Vormund hat, damit so etwas wie Abschiebungshaft nicht passiert! Jude Als ich mit fünfzehn Jahren nach Deutschland gekommen bin, bin ich in Köln gelandet. Dann bin ich ins Ausländeramt gegangen. Dort habe ich eine Frau getroffen, der ich meine Situation erklärt habe. Ich habe ihr gesagt, dass ich Asyl beantragen möchte. Sie hat daraufhin zu mir gemeint, dass ich nach Düsseldorf gehen muss. Ich war ja gerade erst nach Deutschland gekommen und wusste nicht, wie ich nach Düsseldorf kommen sollte. Die Frau hat gesagt, dass es keine andere Möglichkeit gebe und entweder ginge ich nach Düsseldorf oder sie rufe die Polizei. Ich habe mir gedacht, dass die Polizei mir vielleicht helfen könne und habe sie die Polizei rufen lassen. Zwei Polizisten sind dann gekommen, haben mich in ein Polizeibüro gebracht und mir Fragen gestellt. Dann sind sie mit mir in ein anderes Büro gefahren und haben von mir Fingerabdrücke genommen. Ich war dort ungefähr zehn Stunden und dann ist ein afrikanischer Mann (Übersetzer) gekommen. Die Polizei hat mir Fragen gestellt und ich habe auch alles beantwortet. Danach haben sie gesagt, dass ich nach Düsseldorf gehen muss. Ich habe gesagt, dass ich den Weg nach Düsseldorf nicht kenne und sie haben mir eine Karte und einen Zugfahrplan gegeben. Ich konnte kein Deutsch lesen und wusste auch nicht, wie es mit der Bahn ging. Sie haben mich trotzdem aufgefordert zu gehen. Ich war auf der Straße und ein Mann hat mir den Weg zum Bahnhof gezeigt, aber es fuhr kein Zug mehr. Ich habe dann zwei junge Männer getroffen, denen ich nochmals meine Situation geschildert habe und sie wollten mir helfen. Ich bin mit ihnen nach Hause gegangen und habe eine schlechte Erfahrung gemacht. Danach bin ich wieder auf die Straße und habe einen afrikanisch deutschen jungen Mann getroffen, bei dem ich die Nacht verbringen konnte. Am nächsten Tag bin ich dann mit dem Zug nach Düsseldorf gefahren. In Düsseldorf war ich dann ein Tag auf einem Schiff und dort haben sie gesagt, dass ich nach Karlsruhe müsse. Ich war dann sechs Wochen in einer Asylunterkunft in Karlsruhe und habe einen Asylan-

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trag gestellt. Sie haben mich mündlich befragt und dann erhielt ich einen Brief mit der Ablehnung des Asylantrags und der Aufforderung nach Achern zu gehen. Nach zwei Tagen bin ich nach Achern in die Asylunterkunft gegangen. Ich war dort, bis ich krank (Depressionen) geworden bin. Für sieben Wochen war ich im Krankenhaus. Danach hatte ich ein Gespräch mit dem Jugendamt. Sie haben gesagt, dass ich die Schule besuchen soll. In Achern hatte ich die Möglichkeit nicht gehabt. Nach dem Sprachkurs bin ich auf die Realschule gegangen. Ich habe keine Perspektive in meinem Leben, weil ich nicht das Recht habe in Deutschland zu bleiben. Ich mache jetzt die Mittlere Reife im Juli 2007. Eine Ausbildung bekomme ich aber keine, weil ich keine Arbeitserlaubnis wegen des fehlenden Bleiberechts habe. Eine Erstversorgung hat mir komplett gefehlt. Ich wurde nicht ernst genommen und war in einer sehr schwierigen Situation, bis ich krank geworden bin. Trotzdem bin ich dankbar, dass Deutschland mich gerettet hat und ich noch lebe. Ein Leben ohne Perspektive aber lohnt sich nicht. Ich habe sehr viele schlechte Erfahrungen gemacht. Ich war in einer Asylunterkunft mit Älteren. Ich habe keinen Vormund bekommen. Ich habe in Achern gefragt, ob ich eine Schule besuchen darf, aber sie haben es verneint, weil ich kein Bleiberecht hätte. Als ich in Deutschland angekommen bin, haben sie mich von Köln nach Düsseldorf, von Düsseldorf nach Karlsruhe, von Karlsruhe nach Achern geschickt und nun bin ich in Offenburg. Was für eine Reise! Meine Situation war nicht einfach und auch nicht gesund, aber jetzt kann ich darüber reden. Ich freue mich echt. Ich bin immer noch dankbar, dass ich jetzt die Schule besuchen kann, dass ich Deutsch sprechen kann, dass ich mich in Deutschland zu Hause fühle und hier überall Frieden ist.

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Forum 4 Erstversorgung von jungen Flüchtlingen gemäß SGB VIII

Umgang mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen Änderungen durch § 42 SGB VIII oder bleibt alles beim Alten? – Bericht über einen mühevollen Prozess

Gila Schindler Ausgangssituation Das Verfahren zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wird durch die Länder geregelt und ist entsprechend unterschiedlich. Generell gilt: # bis einschließlich 15jährige unbegleitete Flüchtlinge werden in einer Jugendhilfeeinrichtung in Obhut genommen, # ihnen wird ein Vormund bestellt, # eine Verteilung im EASY-Verfahren ist in der Regel ausgeschlossen. Verfahren für 16 und 17-jährige unbegleitete Flüchtlinge # #

# #

Teilweise werden weibliche Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren durch die Jugendhilfe in Obhut genommen. Männliche Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren werden in allen Bundesländern grundsätzlich nach AufenthG und AsylVfG behandelt und untergebracht. Eine Inobhutnahme durch die Jugendhilfe findet nur ausnahmsweise aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalls statt. Grundlage: § 12 Abs. 1 AsylVfG

Absichtserklärung der Bundesregierung im Nationalen Aktionsplan 2005-2010

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Die Bundesregierung bekräftigt ihren Willen, Flüchtlingskindern und Kindern im Asylverfahren einen angemessenen Schutz in Deutschland und humanitäre Hilfe bei der Wahrung ihrer Rechte zu gewähren. Die-

se Verpflichtung leitet sich aus dem Artikel 22 der UN-Kinderrechtskonvention ab. Wir achten und respektieren dieses Recht der Kinder, und zwar unabhängig davon, ob sich in Begleitung ihrer Eltern oder anderer Personen, die für sie sorgen, befinden oder nicht. Das muss sich in den konkreten Entscheidungen von Ämtern und Behörden und in der Rechtsprechung widerspiegeln. Immer wieder gilt es zu prüfen, ob in Deutschland den speziellen Schutzbedürfnissen von Kindern bis 18 Jahren ausreichend Rechnung getragen wird. Anerkannte Flüchtlingskinder und andere ausländische Kinder mit einem Aufenthaltsrecht in Deutschland haben Anspruch auf die gleichen Chancen wie deutsche Kinder. § 42 SGB VIII (1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn ... 3. ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Die Inobhutnahme umfasst die Befugnis, ein Kind oder einen Jugendlichen bei einer geeigneten Person, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform vorläufig unterzubringen, ... . (2) Das Jugendamt hat während der Inobhutnahme die Situation, die zur Inobhutnahme geführt hat, zusammen mit dem Kind oder dem Jugendlichen zu klären und Möglichkeiten der Hilfe und Unterstützung aufzuzeigen. ... (3) ... Im Fall des Absatz 1 Satz 1 Nr. 3 ist unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen. ... (4) Die Inobhutnahme endet mit 1. der Übergabe des Kindes oder Jugendlichen an die Personensorge- oder Erziehungsberechtigten, 2. der Entscheidung über die Gewährung von Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch. Umsetzung des § 42 SGB VIII n.F. # # # #

Wer wäre denn gerne zuständig? - Reaktionen auf die Gesetzesänderung Vorrang/Nachrang Problematik Möglichkeiten zur Vorgabe einer einheitlichen Umsetzung auf Bundesebene Ausblick.

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Forum 4 Erstversorgung von jungen Flüchtlingen gemäß SGB VIII

Neue Rechtsentwicklungen bei der Erstversorgung von jungen Flüchtlingen gemäß SGB VIII

Dr. Erich Peter 1. Einleitung In das Bundesgebiet eingereiste Kinder und Jugendliche, die um einen Flüchtlingsschutz wegen politischer Verfolgung oder um einen sonstigen Aufenthaltsschutz aus humanitären Gründen nachsuchen, sind insbesondere in der ersten zeitlichen Phase ihres Aufenthalts in Deutschland von der Teilhabe an Leistungen der Jugendhilfe ausgeschlossen. Die Beschränkung einer Gewährung von Jugendhilfeleistungen ist im SGB VIII selbst geregelt. Nach § 6 Abs. 2 SGB setzt eine Leistungsgewährung einen rechtmäßigen oder geduldeten Aufenthalt voraus, der als solcher ein gewöhnlicher Aufenthalt sein muss. Der Regelung liegt die fiskalpolitisch motivierte Intention des Gesetzgebers zugrunde, dass Leistungen der Jugendhilfe nur jenen ausländischen Personen gewährt werden soll, deren Aufenthalt integrationsgerichtet ist. Diese Beschränkung der Leistungsgewährung wird auch im Regelfall nicht durch das Haager Minderjährigenschutzabkommen (MSA) überwunden. Auf der Grundlage dieses Abkommens kann eine Jugendhilfeleistung nach dem SGB VIII grundsätzlich als Schutzmaßnahme im Sinne des Abkommens beansprucht werden. Jedoch setzt die Anwendung des MSA in räumlich-persönlicher Hinsicht einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Vertragsstaat voraus (Art. 13 Abs. 1 MSA).1 Es hat sich diesbezüglich eine Faustregel in der Rechtsprechung herausgebildet, 1

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Es sei darauf hingewiesen, dass das Haager Minderjährigenschutzabkommen langfristig durch das Haager Kindesschutzübereinkommen von 1996 („Haager Übereinkommen vom 19.10.1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern“ - KSÜ) ersetzt werden soll. Deutschland hat dieses Abkommen am 1. April 2003 gezeichnet, jedoch noch nicht ratifiziert. Beachtlich ist, dass dieses Abkommen in seinem Art. 6 eine Sonderbestimmung für „Flüchtlingskinder und Kinder, die infolge von Unruhen in ihrem Land in ein anderes Land gelangt

nach der ein Aufenthalt eines/r Minderjährigen, wenn er/sie nicht von Anfang an auf Dauer angelegt ist, jedenfalls nach sechs Monaten zu einem gewöhnlichen Aufenthalt ungeachtet der langfristigen Aufenthaltsprognose erstarkt.2 Die Erstversorgung junger Flüchtlinge etwa im Rahmen von Hilfen zur Erziehung (§§ 27 ff. SGB VIII) ist somit für den Zeitraum der ersten sechs Monate ihres Aufenthalts aufgrund unmittelbar jugendhilferechtlicher Restriktionen gesperrt. Davon erfasst sind sowohl begleitete (also mit einer personensorgeberechtigten Person eingereiste) Minderjährige als auch unbegleitete Minderjährige. Die sozialrechtliche Stellung dieser Minderjährigen ist soweit zunächst geprägt von den Materien des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG). Die (Erst-)Versorgungssituation der begleiteten Flüchtlingskinder wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit seit Jahren als nicht kindgerecht beurteilt. Die Unterbringung der Flüchtlingsfamilien in Asyl- und Gemeinschaftsunterkünften und deren materielle Versorgung mit den reduzierten Leistungen nach dem AsylbLG beeinträchtigten das Kindeswohl. Hingewiesen wird auf materielle Armut, beengte Lebensverhältnisse der Familien, Arbeitsverbote für Eltern und Jugendliche, isolierte Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften, fehlende Rückzugs- und Spielmöglichkeiten und ungeeignete Lernumgebungen.3 Der Leistungsumfang des AsylbLG würde dem Kindeswohl nicht gerecht. Diese an ausländer- und asylrechtliche Zielvorgaben ausgerichtete und als defizitär kritisierte Erstversorgung erfahren auch unbegleitete Minderjährige, die – wegen fehlender Identitätspapiere in der Regel fiktiv – das 16. Lebensjahr vollendet haben. Dies ist mit Blick auf das Kindeswohl deshalb prekär, weil die spezifische Situation dieser Minderjährigen dadurch geprägt ist, dass sie aus ihrem familiären Bezugsfeld herausgelöst sind und sich in einem fremden Kulturkreis ohne eine soziale Kontrolle orientieren müssen. Die Erstversorgung dieser darum gesteigert gefährdeten Kindesgruppe haben die Jugendbehörden unterdessen im Rahmen der Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII jugendhilfegerecht zu gewährleisten. Die Inobhutnahme, die gem. § 2 Abs. 3 Nr. 1 SGB VIII als andere Aufgabe der Jugendhilfe qualifiziert ist und darum keinen gewöhnlichen Aufenthalt des betroffenen Kindes oder Jugendlichen voraussetzt, erweist sich bei unbegleiteten Minderjährigen konzeptionell als geeignete Maßnahme zur vorläufigen Krisenintervention während der ersten Zeit ihres Aufenthalts im Bundesgebiet. Vor der Novellierung des § 42 SGB VIII im Oktober 2005 wurde zum Teil bezweifelt, ob die Regelung auf die Fallgestaltung der unbegleiteten Einreise ausländischer Minderjähriger überhaupt anwendbar ist, da bei dem Phänomen der unbegleiteten Einreise der dem gesetzlichen Modellfall des § 42 SGB VIII zugrunde liegende Konflikt zwischen dem Kind/Jugendlichen und den Eltern nicht bestehe. Mit der Neuregelung des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII hat der Gesetzgeber jedoch nun ausdrücklich klargestellt, dass die unbe-

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sind“, normiert. Nach Art. 6 Abs. 2 KSÜ haben diese Kinder in personell-räumlicher Hinsicht eine Sonderstellung: Für Schutzmaßnahmen i.S.d. Art. 3 KSÜ ist ein Vertragsstaat des Aufenthalts eine solchen Kindes auch dann zuständig, wenn dessen gewöhnlicher Aufenthalt nicht festgestellt werden kann. Die Heimunterbringung nach Jugendhilfestandards auf der Grundlage des SGB VIII ist eine Schutzmaßnahme i.S.d. Art. 3 Bst. e. KSÜ. BVerwG, ZfJ 2000, 31, 35. Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit, Isoliert und am Rande der Gesellschaft – Perspektiven ungewiss!, Bonn 2001

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gleitete Einreise zwingend die Inobhutnahmepflicht des Jugendamtes auslöst. Die Anwendung und Umsetzung der Neuregelung in der behördlichen Praxis gibt unterdessen Anlass zur Kritik. Im Folgenden werden Umsetzungsdefizite erörtert und Vorschläge für deren Beseitigung benannt. Dies macht es zunächst erforderlich, den Sinn und den Zweck der Regelung zu erhellen, der sich maßgeblich aus dem Nationalen Aktionsplan der deutschen Bundesregierung ergibt. 2. Die Neuregelung der Erstversorgung unbegleiteter Flüchtlingskinder in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII im Lichte des Nationalen Aktionsplans Kritik an der Erstversorgung unbegleiteter Flüchtlingskinder erfährt die Bundesrepublik Deutschland nicht nur innerstaatlich von den Wohlfahrtsorganisationen, sondern auch auf völkerrechtlicher Ebene. Der UN-Kinderrechteausschuss hat in den Berichtsverfahren zur UNKinderrechtskonvention wiederholt eine Verbesserung der Erstversorgungssituation unbegleiteter Flüchtlingskinder angemahnt.4 Zudem wurde die Bundesregierung ausgehend von der Zweiten Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen zu Kindern (Weltkindergipfel) in New York im Jahre 2002 aufgefordert, einen Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der auf dem Gipfel beschlossen Maßnahmen zu erstellen. Der Maßnahmekatalog des Gipfels sieht u.a. vor, dass die TeilnehmerInnen der Schutzbedürftigkeit minderjähriger Flüchtlinge innerstaatlich Rechnung tragen.5 Der sonach erstellte Nationale Aktionsplan6 der deutschen Bundesregierung sieht demgemäß unter Punkt 2.6.2 Maßnahmen zur Verbesserung der bislang defizitären Erstversorgung unbegleiteter Minderjähriger in Deutschland vor. Darin kündigte die Bundesregierung zugleich eine gesetzliche Regelung zur Umsetzung dieser Maßnahmen vor. Diese gesetzliche Regelung hat das Gesetzgebungsverfahren passiert und ist sodann am 1. Oktober 2005 in Kraft getreten. Für die jugendbehördliche Praxis, die mit dem Phänomen der unbegleiteten Einreise ausländischer Minderjähriger konfrontiert ist, begründet nun § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII in seiner neuen Fassung eine umfassende Zuständigkeit und Verpflichtung: „(1) Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn 1. .... 2. .... 3. ein ausländisches Kind oder ein ausländischer Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten.“ Des Weiteren hat der Gesetzgeber mit § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII eine auf die sorgerechtliche Situation dieser Minderjährigen gerichtete Handlungspflicht des Jugendamtes statuiert: 4

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Siehe Concluding observations of the Comittee on the Right of the Child – Germany – Dokument CRC/C/15/Add.43 vom 27.11.1995 sowie Germany – Dokument CRC/C/15Add.226 vom 26.02.2004. Dok. A/S-27/19/Rev.1, Absätze 16 und 44 Nr. 17, 27 und 29. „Nationaler Aktionsplan. Für ein kindgerechtes Deutschland 2005–2010.“ Unter Federführung des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend waren an der Erstellung des Aktionsplans u.a. auch Vertreter aus Bund, Ländern und Gemeinden beteiligt. Download unter: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Abteilung5/Pdf-Anlagen/nap,property=pdf.pdf, 5. Nov. 2006.

„Im Falle des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 ist unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen.“ Die Wortbeiträge in dem Diskussionsforum 4 der heutigen fachpolitischen Veranstaltung haben allesamt deutlich gemacht, dass die behördliche Praxis diese nach ihrem Wortlaut eindeutige Neuregelung bis heute nicht umsetzt. Die Erstversorgung der unbegleiteten Flüchtlingskinder, die das 16. Lebensjahr vollendet haben, findet verbreitet weiterhin auf der Grundlage des AsylVfG und des AsylbLG statt. Ursächlich dafür ist, dass die das Gesetz ausführenden Bundesländer die mit der (Erst-)Versorgung unbegleiteter Minderjähriger verbundenen erhöhten finanziellen Belastungen nicht tragen wollen und ausländer- und asylrechtliche Zielvorgaben nicht aufgeweicht wissen wollen. In der Diskussion steht derzeit ein Handlungsleitfaden, nach dessen Vorgaben die Neuregelung bundesweit einheitlich umgesetzt werden soll. Er wird erarbeitet in einer Arbeitsgruppe unter Federführung des Bundesfamilienministeriums unter Beteiligung der obersten Landesjugendbehörden, der Landesarbeitsgemeinschaft für Integration und Flüchtlingsfragen (Argeflü), des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, des Bundesministeriums des Innern, der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung und der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände. Ein solcher, die bundesweite Behördenpraxis konturierender Leitfaden, der selbst keinen verbindlichen Regelungscharakter hat, muss sich an den Vorgaben des Nationalen Aktionsplans orientieren, wenn mit ihm eine gesetzeskonforme Umsetzungspraxis in Gang gesetzt werden soll. Denn mit diesen Vorgaben wird zugleich der Gesetzeszweck umrissen (siehe nachfolgend), der bei der Auslegung des Gesetzes neben dem Wortlaut von besonderer Bedeutung ist. In seinem Abschnitt 2.6.2 stellt der Nationale Aktionsplan differenzierte Maßnahmen zu den Standards der Erstversorgung im Rahmen der Inobhutnahme unbegleiteter Flüchtlingskinder auf. Im Folgenden werden diese grundlegenden Standards, an denen sich die Behördenpraxis messen lassen muss, zitiert und deren inhaltliche Bedeutung erläutert. Dieser Abgleich zwischen dem Nationalen Aktionsplan und der behördlichen Praxis, also zwischen Anspruch und Wirklichkeit, ist auch mit Blick auf die vom Bundesfamilienministerium initiierte Evaluierung des Nationalen Aktionsplans von Bedeutung. a. Clearingverfahren Der Nationale Aktionsplan sieht die Etablierung eines Clearingverfahrens vor: „Die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass für alle betroffenen unbegleiteten schutzsuchenden Kinder und Jugendlichen ein so genanntes Clearingverfahren eingerichtet wird. Zu diesem Zweck sieht bereits der Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinderund Jugendhilfe die Erstversorgung eines unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings im Rahmen der Inobhutnahme durch das Jugendamt vor.“ Während der zeitlich begrenzten Inobhutnahme ist also nach der gesetzgeberischen Absicht ein Clearingverfahren durchzuführen, in dem geklärt werden soll, „ob eine Rückkehr in das Heimatland ohne erhebliche Gefahren möglich ist, ob eine Familienzusammenführung in einem Drittland in Frage kommt, ob ein Asylantrag gestellt oder ein Bleiberecht aus humanitären Gründen angestrebt werden soll.“ Diese Formulierung des Nationalen Aktionsplans stellt klar, dass aufenthaltsrechtlich relevante Anträge abschließend erst im Anschluss an

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die Inobhutnahme gestellt werden sollen. Das deutsche Ausländerrecht ermöglicht durchaus, vom Jugendamt in Obhut genommenen Minderjährigen für die Dauer der Inobhutnahme eine vorläufige Duldung zu erteilen. Nach Klärung der spezifischen Situation des Minderjährigen können sodann aus der Inobhutnahme heraus ohne weiteres adäquate aufenthaltsrechtliche Anträge gestellt werden. Dies hat zur Folge, dass Minderjährige grundsätzlich zunächst einmal nicht (unreflektiert) einen Asylantrag stellen, den sie häufig nicht mit einem Begründungsinhalt füllen können. Somit wäre das AsylVfG vorerst überhaupt nicht anwendbar und eine länderübergreifende Verteilung der Minderjährigen auf der Grundlage des §§ 44 ff. AsylVfG käme vorerst nicht in Betracht. Eine länderübergreifende Verteilung nach § 15a AufenthG, der die Minderjährigen als Geduldete unterlägen, könnte ohne weiteres behördlich ausgesetzt werden. Bis heute wird dieses Ziel in vielen Fällen konterkariert. Dies ist etwa dann der Fall, wenn ein/e Minderjährige/r im Anschluss an seine/ihre Einreise einen behördlichen Erstkontakt mit einer Ausländerbehörde hat und ihm – wenn er nach ausländerbehördlicher Altersschätzung fiktiv das 16. Lebensjahr bereits vollendet hatte – das Stellen eines Asylantrags angesonnen wird. Im Anschluss an eine (unreflektierte) vorläufige Tatsachen schaffende Asylantragstellung wurde er/sie einer Asylerstaufnahmeeinrichtung zugewiesen.7 Bei gesetzeskonformer Anwendung des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII ist die Erstunterbringung in einer Asylaufnahmeeinrichtung – wie sich insbesondere aus dem Folgenden ergibt, nun ausgeschlossen. b. Unterbringung Die in der Vergangenheit defizitären Standards der Unterbringung insbesondere der 16- und 17-jährigen unbegleiteten Minderjährigen sind nach dem Nationalen Aktionsplan zu verbessern: „Die Bundesregierung wird sich für eine altergerechte Unterbringung einsetzen, einschließlich der Gruppe der 16-17jährigen unbegleiteten Minderjährigen. …“ Da 16- und 17-jährige unbegleitete Minderjährige nach dem Wortlaut der Neuregelung („Kinder und Jugendliche“) in Obhut zu nehmen sind, ohne dass es der Feststellung einer individuellen Kindeswohlgefährdung bedarf, sind die Jugendhilfestandards der Unterbringung der Altersgruppe bei der Inobhutnahme zu beachten. Hinsichtlich der Unterbringung hat das Jugendamt gemäß § 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sodann die Wahl zwischen drei gleichwertigen Alternativen: Unterbringung bei einer geeigneten Einzelperson, in einer geeigneten Einrichtung oder in einer sonstigen Wohnform. Zu den geeigneten Einrichtungen zählen solche, in denen auch Hilfe nach § 34 SGB VIII gewährt wird, sowie Kinder- und Jugendnotdienste, Kinderschutzzentren und Mädchenhäuser. In verschiedenen Bundesländern sind inzwischen auch sog. „Clearinghäuser“ eingerichtet, in denen speziell unbegleitete Minderjährige untergebracht werden. Während § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII a.F. eine sonstige „betreute“ Wohnform verlangte, kann zwar nach dem neuen Gesetzeswortlaut des

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Zum Teil sehen die zuständigen Ausländerbehörden ein Asylgesuch darin, dass der Minderjährige den Aufnahmebogen der örtlichen zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAST) ausgefüllt und unterschrieben hat. Fortan ergreift die Behörde weitere Unterbringungsmaßnahmen auf der Grundlage des Asylverfahrensgesetzes.

§ 42 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII künftig durchaus eine sonstige Wohnform ohne Betreuung ausgewählt werden. Mit dieser Gesetzesänderung soll jedoch lediglich die Unterbringung von schwer misstrauischen Kindern und Jugendlichen etwa in Hotelzimmern (o.Ä.) legalisiert werden. Gedacht ist beispielsweise an Kinder und Jugendliche, die sich prostituieren oder die sonst ohne eigene Wohnung sind („Straßenkinder“) und die eine betreute Unterbringung ablehnen würden.8 Mit der Unterbringung in einer sonstigen Wohnform ohne Betreuung wird die Möglichkeit eröffnet, überhaupt Kontakt zu diesen Kindern herzustellen. Die auf diese Fallgestaltungen insoweit bezogene Ausnahmeregelung darf indes nicht dazu missbraucht werden, die regelhafte Unterbringung unbegleitet eingereister Minderjähriger in einer Asylerstaufnahmeeinrichtung zu rechtfertigen. Mit der ausdrücklichen Regelung der Inobhutnahme dieser Kindesgruppe ist - wie ausgeführt - beabsichtigt, im Rahmen einer altersgerechten (vorläufigen) Unterbringung ein Clearingverfahren zu etablieren, in dem die Möglichkeit einer Rückkehr in das Herkunftsland und/oder einer Familienzusammenführung, eine Anschlussversorgung (Hilfen nach dem SGB) und die aufenthaltsrechtliche Perspektive geprüft werden. Dies erfordert eine adäquate Betreuung. c. Sorgerechtliche Handlungspflicht des Jugendamtes Obgleich die Voraussetzungen für eine Vormundschaftsanordnung in Fällen unbegleiteter Minderjähriger nach den sorgerechtlichen Bestimmung des Bürgerlichen Gesetzbuches (§ 1674 BGB) in der Regel gegeben sind (faktischer Sorgerechtsausfall), haben es die für die Erstversorgung unbegleiteter Minderjähriger zuständigen Ausländer-, Asyl- und auch Jugendbehörden in der Vergangenheit regelmäßig dann unterlassen, die zuständigen Familiengerichte einzuschalten, wenn die unbegleiteten Minderjährigen (regelmäßig nach Behördenschätzung) das 16. Lebensjahr bereits vollendet haben. Dieses Defizit soll nach dem Nationalen Aktionsplan beseitigt werden: Die Bundesregierung „wird darauf hinwirken, dass entsprechend der Gesetzeslage auch auf sich alleine gestellten 16-17jährigen ausländischen Kindern so schnell wie möglich nach der Einreise ein Vormund zur Seite gestellt wird. Im […] Gesetzentwurf wird […] für den Fall der Inobhutnahme durch das Jugendamt ausdrücklich die Verpflichtung geregelt, die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers für eingereiste unbegleitete Kinder und Jugendliche zu veranlassen.“ Mit der Regelung § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII wird dieses Ansinnen des Nationalen Aktionsplans umgesetzt: „Im Falle des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 3 ist unverzüglich die Bestellung eines Vormunds oder Pflegers zu veranlassen.“ Bereits unter Geltung des alten Rechts war in Fällen der Inobhutnahme unbegleiteter Minderjähriger unverzüglich bei Gericht eine Sorgerechtsregelung zu veranlassen (vgl. § 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII a.F.). Das Bundesverwaltungsgericht hatte bereits im Jahre 1999 in einem Grundsatzurteil klargestellt, dass der Kostenerstattungsanspruch nach § 89 d SGB VIII eine unverzügliche (drei Werktage) Unterrichtung des Familiengerichts voraussetzt.9 Ungeklärt blieb allerdings die Frage, ob dies auch dann gilt, wenn erst im Laufe der Inobhutnahme nach Verstreichen eines längeren Zeitraums das Alter des Minderjährigen (fiktiv) auf 8 9

Meysen/Schindler, JAmt 2004, 449, 460. BVerwG, ZfJ 2000, 31.

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16 Jahre festgesetzt wurde. Das VG Stuttgart hat dazu in einem Streit über die Erstattung der für die Inobhutnahme aufgewendeten Kosten im Jahre 2001 entschieden, dass das Jugendamt ausnahmslos nach wenigen Tagen seit Beginn der Inobhutnahme das Vormundschaftsgericht einzuschalten hat, also unabhängig davon, ob ein Alter von über 16 Jahren anzunehmen ist oder auch die Altersangabe des Minderjährigen nur angezweifelt wird.10 Wenn das Jugendamt erst nach einem längeren Zeitraum – im konkreten Fall ließ es neun Tage verstreichen – das Familiengericht unterrichtet, hat dies für den örtlichen Träger zur Folge, dass er eine Erstattung der über die ersten drei Tage der Inobhutnahme hinaus entstandenen Kosten nicht beanspruchen kann. Aufgrund der Neuregelung des § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII ist nun gesetzlich klargestellt, dass die Einschaltung des Familiengerichts auch in Fällen 16- und 17-jähriger unbegleiteter Minderjähriger zu erfolgen hat. Die Drei-Tages-Faustregel des Bundesverwaltungsgerichts wird weiterhin Geltung haben. Mit Blick auf die vorstehend dargelegte Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des VG Stuttgart sollte zudem aus Kostenerstattungsgründen auch dann das Familiengericht innerhalb dieses Zeitraums eingeschaltet werden, wenn nach einer Inobhutnahme vorerst weiterhin Zweifel darüber bestehen, ob der vermeintlich Minderjährige das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat. In meiner anwaltlichen Praxis habe ich Kenntnis von mehreren Fällen erlangt, in denen die zuständige Ausländer- und Sozialbehörde im Anschluss an eine Schätzung des Lebensalters von 16 Jahren es unterlassen haben, beim Familien-/Vormundschaftsgericht eine Vormundschaftsanordnung anzuregen. Da im Übrigen während der Inobhutnahme eine länderübergreifende Verteilung der Altersgruppe der 16- und 17-jährigen nach dem AsylVfG bzw. nach § 15a Aufenthalt auch nach dem Inkrafttreten der Neuregelung des § 42 SGB VIII an der Tagesordnung ist, wird eine Vormundschaftsregelung bisweilen erst am Zielort der Verteilung und damit häufig verspätet veranlasst. Diese Praxis widerspricht dem Sinn und Zweck des § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII. Mit Blick auf die vorstehend dargelegten Grundsätze der Kostenerstattung ist zu erwarten, dass die Gerichte bei einer Einschaltung des Familiengerichts erst nach einer Umverteilung die Inobhutnahme als verspätet und damit nicht rechtmäßig erachten werden. 3. Fazit: Ausländer- und asylbehördliche Zielvorgaben versus Nationaler Aktionsplan Der Gesetzgeber hat mit der Neuregelung des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII die unbegleitete Einreise ausländischer Minderjähriger als eigenständigen Inobhutnahmetatbestand festgeschrieben. Im Schutzbereich der Neuregelung stehen ausdrücklich sowohl Kinder als auch Jugendliche im Sinne des SGB VIII. Es sind also unbegleitete Minderjährige bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres in Obhut zu nehmen. Eine gesetzkonforme Umsetzung dieser Bestimmung muss sich am Nationalen Aktionsplan der Bundesregierung ausrichten. Die Durchführung eines Clearingverfahrens, die Unterbringung sowie auch die Herbeiführung einer sorgerechtlichen Regelung im Rahmen der Inobhutnahme haben danach Priorität vor ausländer- und asylrechtlichen Zielvorgaben. Die Neuregelung der Inobhutnahme steht keineswegs zwingend im Widerspruch zu ausländer- und asylrechtlichen Regelungen über 10

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VG Stuttgart, Urt. v. 19.12.2001 - 8 K 4567/99 -.

die Unterbringung und Verteilung (§§ 44 ff. AsylVfG; § 15 a AufenthG) unbegleiteter Minderjähriger, die – wie regelmäßig – ein Asylgesuch gestellt oder lediglich einen Duldungsantrag gestellt haben. Rechtlich ist das Konkurrenzverhältnis zwischen der Erstversorgung nach dem des SGB VIII und dem AsylVfG/AufenthG unproblematisch lösbar: In Asylfällen scheidet bei einer Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung im Rahmen der Inobhutnahme eine Wohnpflicht nach dem AsylVfG von vornherein aus. Dies ergibt sich eindeutig aus der Regelung des § 47 Abs. 1 i.V.m. § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 5 AsylVfG. Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung bewusst der Jugendhilfeunterbringung den Vorrang eingeräumt. Mangels einer Wohnpflicht nach dem AsylVfG scheidet auch eine Umverteilung nach den §§ 46 ff. AsylVfG aus. In den Fällen, in denen unbegleitete Minderjährige keinen Asylantrag gestellt haben und ihnen eine Duldung erteilt wird, stellt sich allein die Frage, ob deren Umverteilung zwingend nach § 15a AufenthG zu erfolgen hat. Diese Bestimmung trifft keine Regelung über die Art der Unterbringung und schließt eine Unterbringung nach den Standards der Jugendhilfe auf der Grundlage des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII keineswegs aus. Eine Herausnahme der unbegleiteten Minderjährigen aus dem Kreis der zu verteilenden Personen wäre zudem ohne weiteres möglich, ohne dass es einer Gesetzesänderung bedürfte. Es wird nicht übersehen, dass mit einer darauf gerichteten Forderung das Problem der Kostenbelastung einiger Bundesländer bei überproportionaler zahlenmäßiger Erstversorgung unbegleiteter Minderjähriger einer Lösung bedürfte. Es handelt sich hierbei aber nicht um ein gesetzessystematisches, sondern um ein politisch zu lösendes Problem, das über einen Modus von Ausgleichszahlungen unter den Ländern bewältigt werden könnte.

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Forum 4 Erstversorgung von jungen Flüchtlingen gemäß SGB VIII

Zusammenfassung der Ergebnisse Harald Löhlein Mit der Neufassung des § 42 SGB VIII im Oktober 2005 wurde eindeutig geregelt, dass bei der Einreise von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen eine Inobhutnahme durch das Jugendamt zwingend vorgesehen ist. Die Arbeitsgruppe beschäftigte sich mit der Frage, inwieweit diese gesetzliche Neuregelung in der Praxis tatsächlich zur Anwendung kommt, welche unterschiedlichen Erfahrungen diesbezüglich aus den Bundesländern vorliegen, in welchen Anwendungsbereichen ggf. noch Defizite bestehen und welche Forderungen sich daraus für die Zukunft ergeben. Ausgangspunkt der Diskussion im Forum 4 waren zunächst die Erfahrungsberichte einiger anwesender jugendlicher Flüchtlinge. Aus ihren Schilderungen ergab sich: # dass von einer einheitlichen Anwendungspraxis des § 42 KJHG in den Bundesländern keine Rede sein kann, # dass die unmittelbare Inobhutnahme der UMF durch die Jugendämter eher die Ausnahme als die Regel ist. Die anwesenden Jugendlichen waren zunächst von Polizei, Sozialämter etc. jeweils an Ausländerbehörden weitergeleitet worden und dann teilweise innerhalb der Bundesrepublik verteilt worden, bevor es dann später zu einer Inobhutnahme durch ein Jugendamt kam. Um zukünftig zu einer einheitlicheren Praxis in den Bundesländern zu gelangen, versuchen die zuständigen Bundes- und Landesbehörden seit langem, sich auf einen gemeinsamem Handlungsleitfaden für den Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (Asylsuchende) und unerlaubt eingereisten minderjährigen unbegleiteten Jugendlichen (§14a AufenthG ) im Altern von 16 und 17 Jahren zu verständigen. In dem Bericht von Gila Schindler (Referentin für Kinder und Jungendhilferecht beim DIJuF/ BMFSFJ) über den bisherigen Diskussionsstand wurde deutlich: # dass vor allem der Umgang mit unbegleiteten minderjährigen männlichen Flüchtlingen im Alter von 16 bis 18 Jahren problematisch ist, d.h. dass bei diesen häufig keine Inobhutnahme erfolgt, # dass Uneinigkeit darüber besteht, welche Anforderungen an die besonderen Aufnahmeeinrichtungen für Einrichtungen zu stellen sind. Konkret geht es dabei um die Frage, ob diese Einrichtungen der Erlaubnispflicht nach § 45 KJHG unterliegen oder nicht # dass es unterschiedliche Haltungen gibt hinsichtlich der Frage, inwieweit die Pflicht zur Inobhutnahme vorrangig zu ausländerrechtlichen Regelungen (Zurückweisung/Zurückschiebung/ Umverteilung) anzusehen ist oder nicht.

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Frau Schindler machte deutlich, dass bei der Interpretation und Umsetzung des § 42 KJHG auch die Absichtserklärung der Bundesregierung im „Nationalen Integrationsplan – Für ein kindgerechtes Deutschland 2005-2010“ zu berücksichtigen ist.

Auf die oben genannten strittigen Fragen ging auch RA Erich Peter in seinem anschließenden Referat ein. Er machte u. a. deutlich, dass sich sowohl aus dem neuformulierte § 42 KJHG wie auch aus dem Nationalen Aktionsplan ein Vorrang der jugendhilferechtlichen vor den ausländerrechtlichen Bestimmungen ergebe. So dürften auch ausländerrechtliche Anträge erst nach der Inobhutnahme gestellt werden. Ebenso ergebe sich aus dem § 42 Abs. 1 Nr. 3 SGB VIII eindeutig, dass eine Unterbringung von 16 bis 18-jährigen unbegleiteten Flüchtlingen in allgemeinen Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber unzureichend sei. Es bestehe hier vielmehr ein Anspruch auf Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung. Von Herrn Peters wie auch von anderen DiskussionsteilnehmerInnen wurde zudem angemahnt, dass bisher in vielen Fällen bei unbegleiteten Minderjährigen nicht das Familiengericht zur Bestellung eines Vormundes eingeschaltet werde. Die Verpflichtung hierzu ergebe sich aber eindeutig aus dem § 42 Abs. 3 Satz 4 SGB VIII. In der weiteren Diskussion im Forum, an der Fachleute aus verschiedenen Bundesländern teilnahmen, ergaben sich insbesondere folgende Anforderungen für eine zukünftig angemessene Umsetzung des § 42 SGB VIII: #

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Es muss auch für die 16-18 jährigen unbegleiteten Minderjährigen eine jugendgerechte Unterbringung und Betreuung gewährleistet sein, d.h. eine Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung. Es sollte auf Bundes- und Landesebene in naher Zukunft evaluiert werden, inwieweit dies der Fall sei, denn es gäbe in einigen Bundesländern erkennbar die Tendenz, die Jugendlichen aus Kostengründen in Einrichtungen mit geringeren Standards unterzubringen. Es müssten zukünftig mehr Einzel- bzw. Vereinsvormünder für die Unbegleiteten Minderjährigen zur Verfügung stehen. Amtsvormünder seien häufig aufgrund der großen Zahl der zu Betreuenden überlastet oder stünden möglicherweise in einem Interessenkonflikt mit ihrem Amt. Andererseits hätten diese aber – bei entsprechendem Engagement – auch besondere Einflussmöglichkeiten. Beim Umgang der Behörden mit unbegleiteten Minderjährigen ist die vorrangige Zuständigkeit des Jugendamtes zu beachten. Andere Behörden (etwa Grenzbehörde, Ausländerbehörde, Polizei) müssen unmittelbar das Jugendamt einschalten, wenn sie mit neu eingereisten minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen in Kontakt kommen. Die Minderjährigen sind vorrangig als Kinder – und nicht als AusländerInnen – anzusehen.

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Podium

Einführungsstatement Kindeswohl im Aufenthaltsrecht Anforderungen an gesetzliche Anpassungen

Lothar Krappmann Einführung Zunächst werde ich einige Sätze zur besonderen Bedeutung der Kinderrechtskonvention für Flüchtlingskinder sagen, mich dann mit dem Vorbehalt der Bundesrepublik gegen die volle Übernahme der Konvention beschäftigen und im dritten Teil auf eine dem Kindeswohl entsprechende Behandlung der Flüchtlingskinder eingehen, insbesondere auf ihr Recht auf Bildung, das eng mit dem langfristigen Wohl dieser Kinder verbunden ist. I. Für die Behandlung von Flüchtlingskindern in aller Welt ist das Übereinkommen über die Rechte des Kindes, meist kurz Kinderrechtskonvention (KRK) genannt, neben der Genfer Flüchtlingskonvention die wichtigste Rechtsquelle. Das liegt darin begründet, dass die Kinderrechtskonvention fordert, Flüchtlingskinder wie alle anderen Kinder des Landes zu behandeln. Ich verweise auf den zweiten Artikel der Konvention, der als Verpflichtung der beigetretenen Staaten festhält: [KRK, Art. 2, Abs. 1:] Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, ... der nationalen ... Herkunft ... des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds. Besonders wichtig ist, dass die Konvention die Behandlung der Kinder nicht daran knüpft, dass ihnen ein Aufenthaltsstatus zuerkannt wurde. Die Konvention bestreitet den Staaten keineswegs das Recht, darüber zu entscheiden, wen sie in ihr Land aufnehmen wollen. Kinder, die ihr Land auf irgendeinem Wege erreichen, müssen jedoch keine anerkann-

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ten Flüchtlinge sein, damit ihnen die Rechte aus der Konvention garantiert sind. Es reicht, dass sie sich auf dem Boden des Landes befinden, um die Regierung dieses Landes in die Pflicht zu bringen, die Rechte zu gewährleisten, die den Kindern in der Konvention zuerkannt werden. Regierungen können keinen Raum schaffen, für den die Bestimmungen der Konvention nicht gelten. In Fortführung dieser Feststellung ist der Artikel 3 der Konvention von höchster Bedeutung, denn er statuiert ein Prinzip, das über die einzelnen dem Kind zustehenden Rechte hinaus anzeigt, wie dieses Kind zu behandeln ist. Er stellt das Kindeswohl ins Zentrum, dem die Vertragsstaaten in der Konvention besonderen Rang gegeben haben. Das Kindeswohl ist das übergreifende Ziel. Die Vertragsstaaten legen nämlich als ihre Pflicht fest: [KRK, Art. 3, Abs. 1 und 2:] Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, dem Kind ... den Schutz und die Fürsorge zu gewährleisten, die zu seinem Wohlergehen notwendig sind. Der deutsche Begriff „Kindeswohl“ entspricht dem englischen Terminus „best interests of the child“, der sich im offiziellen englischen Vertragstext findet. Mir gefällt der englische Ausdruck, weil er klarer zum Ausdruck bringt, dass es um die Herstellung eines Zustands geht, der im wohlüberlegten Interesse des Kindes liegt. Die Interpreten des Begriffs sind sich auch einig, dass damit nicht nur momentan befriedigende Lösungen gemeint sind, sondern auch die langfristigen Überlebens-, Entwicklungs-, Bildungs- und Teilhabeinteressen des Kindes. Folglich ist bei allen zu treffenden Entscheidungen und Regelungen zu prüfen, was nicht nur jetzt, sondern auch auf lange Sicht das Beste für das Kind ist. Diese Frage zu beantworten und danach zu handeln, erlegt die Konvention allen auf, die etwas tun oder lassen, was das Leben von Kindern und eben auch von Flüchtlingskindern berührt. Um einem Einwand zuvor zu kommen, füge ich hinzu, dass in der Konvention eine realistische Einschätzung solcher Abwägungen steckt, denn in ihr steht nicht, die Interessen der Kinder hätten den Ausschlag zu geben. Vielmehr erlegt sie den Verantwortlichen auf, den Interessen der Kinder hohen Rang („a primary consideration“) zu geben. Diese Formulierung wird so verstanden, dass Kinderinteressen denselben Rang einnehmen wie etwa ökonomische, soziale oder außenpolitische Interessen. Entscheidend ist, dass die Interessen des Kindes mit derselben Sachkompetenz, Sorgfalt und Transparenz bei der Abwägung verschiedener Aspekte analysiert, gewichtet und berücksichtigt werden. Der von den Vertragsstaaten eingesetzte Ausschuss, der die Implementierung der Konvention überwacht, beanstandete in der Vergangenheit oft, dass die Vorgehensweisen, mit denen den Interessen der Kinder, ihrem Kindeswohl in den Abwägungsprozessen Gewicht gegeben wird, nicht festgelegt und nicht in den Staatenberichten dargestellt werden. Er drängte immer wieder darauf, dass Verbindlichkeit und Kontrolle geschaffen wird.

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Die oft zu hörende Aussage „wir achten ständig auf das Wohl des Kindes“ ist keine angemessene Umsetzung dessen, was sich die Vertragsstaaten mit dem Artikel über das mit Vorrang zu berücksichtigende Kindeswohl als Maßstab auferlegt haben. Auch im Asyl- und Aufenthaltsrecht der Bundesrepublik fehlt der Verweis auf das Kindeswohl, und erst recht ist kein Hinweis darauf zu finden, wie dieses Prinzip der Konvention in den Verfahrensregeln zu operationalisieren ist. II. Die gesamte Behandlung der Flüchtlingskinder, die mit oder ohne Eltern in die Bundesrepublik Deutschland kommen, leidet unter dem Vorbehalt, den die damalige Regierung beim Beitritt zur Konvention formell eingelegt hat. Sie hat festgestellt, dass nach ihrer Auslegung durch dieses Übereinkommen weder eine widerrechtliche Einreise, noch ein widerrechtlicher Aufenthalt erlaubt sei. Wenngleich die Konvention den Staaten nach allgemeiner Auffassung keineswegs das Recht bestreitet, über Einreise und Aufenthalt in ihrem Land zu bestimmen, steht es einer Regierung zweifellos frei, ihre Auffassung explizit deutlich zu machen. Eine derartige Äußerung ist jedoch im eigentlichen Sinne kein Vorbehalt (eine „reservation“), sondern eine interpretative Erklärung („interpretive declaration“). Sie erläutert, wie ein Staat eine Bestimmung versteht, schränkt aber die rechtliche Geltung der Konvention nicht ein. Nun erschöpft sich jedoch der Einspruch der Bundesrepublik nicht in diesem Satz über Einreise und Aufenthalt, denn die damalige Regierung setzte hinzu, dass sie ihr Recht durch die Konvention nicht beschnitten sähe, Unterschiede zwischen InländerInnen und AusländerInnen zu machen. Eine solche Aussage ist keine interpretierende Erläuterung, sondern ein Vorbehalt („reservation“) mit erheblichen rechtlichen Konsequenzen, die auch Flüchtlingskinder betreffen. Dieser Vorbehalt ist ein schwerwiegender Vorbehalt, weil er keine Einschränkung spezifiziert. Jegliches Recht, das die Konvention zuerkennt, kann AusländerInnen verweigert werden. Somit hebelt dieser Vorbehalt seiner Anlage nach das gesamte Vertragswerk aus. Ein solcher Vorbehalt steht im Widerspruch zu den Vorstellungen der Wiener Weltkonferenz über Menschenrechte von 1993, in der die Staaten ausdrücklich vereinbarten, dass Vorbehalte nicht dem Inhalt eines Menschenrechtsvertrags widersprechen und eng und präzise formuliert werden sollen. Dieser Vorbehalt der Bundesrepublik – trotz endloser Bemühungen nicht zurückgenommen – wirkt sich sehr nachteilig auf alle Bemühungen um die Kinderrechte aus, weil für Kinder wichtige Personen, bis hin zu Juristen, dazu verleitet werden anzunehmen, die Kinderrechtskonvention gelte eigentlich gar nicht im vollen Umfange. Es scheint mir wichtig zu sein, dass wir alle, die wir uns für die Rechte der Flüchtlingskinder einsetzen, uns nicht von dieser deprimierenden Lage lähmen lassen. Da gegen die beiden Grundprinzipien der Konvention in Artikel 2, keine Diskriminierung von Teilgruppen von Kindern, und Artikel 3, Vorrang des Kindeswohls, kein Vorbehalt eingelegt wurde, wird die Bundesrepublik auch die Flüchtlingskindern zustehenden unveräußerlichen Rechte sichern müssen.

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Gelegentlich hört man auch das Argument, dass die Bestimmungen der Konvention angesichts des Beitritts aller Staaten (bis auf Somalia und die USA) und der sich durchsetzenden kinderrechtlichen Praxis inzwischen zum menschenrechtlichen Gewohnheitsrecht gehören, an dem das Verhalten jeden Staats gemessen werde. Dies ist eine schwierige Herleitung, weil tatsächlich viele Staaten sich an die Verpflichtungen, die sie mit dem Beitritt zur Konvention eingegangen sind, nicht halten und die Flüchtlingskinder in vielen Staaten eine vernachlässigte Randgruppe darstellen. Dennoch sind diese Kinder eine Randgruppe, die angesichts der Millionenzahl von Flüchtlings- und Migrantenkindern und des Elends, in dem viele von ihnen leben, als weltweites Problem mehr und mehr wahrgenommen wird. Auf der Suche nach Lösungen werden die Staaten mit den von ihnen beschlossenen Kinderrechten immer wieder konfrontiert. Interessanterweise widersprechen die Regierungen in diesen Auseinandersetzungen nicht den rechtlichen Forderungen, sondern verweisen auf praktische Probleme: die übergroße Zahl der ihnen zuströmenden Kinder, mangelnde Kontrolle über die Zuwanderung, ihre begrenzte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, kulturelles Eigenleben dieser Flüchtlingsgruppen oder entstehende ethnische Spannungen. Folglich werden die Rechte nicht in Frage gestellt, sondern werden zu anerkannten Bezugspunkten des Handelns. III. Um welche Punkte es bei der Behandlung der Kinder vor allem geht, hat der Ausschuss für die Rechte des Kindes in einem Dokument zusammengestellt, das General Comment genannt wird. Diese Kommentare sind ein wichtiges Arbeitsmittel des Ausschusses, denn in ihnen stellt der Ausschuss seine Erfahrungen mit der Implementierung eines Artikels der Konvention oder eines gesamten Problemfeldes dar. Er reagiert damit auf das gewachsene Rechtsverständnis und trägt mit seiner Ausarbeitung auch zur weiteren Rechtsentwicklung bei. Der Ausschuss kann mit seinen Kommentaren kein neues Recht und keine veränderte Verpflichtung schaffen. Aber er kann den Blick fokussieren, das Bewusstsein schärfen und eine dem weiterentwickelten Verständnis angemessene Umsetzung von Kinderrechten Orientierung geben. Seit langem hielt der Ausschuss für dringend, einen Kommentar zur Behandlung von Flüchtlingskindern zu schreiben, insbesondere von Kindern, die sich ohne ihre Eltern auf die Flucht begeben. Im September 2005 verabschiedete er den diesem Thema gewidmeten General Comment Nr. 6: Treatment of unaccompanied and separated children outside their country of origin, zu Deutsch: Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder außerhalb ihres Herkunftslandes. Der Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge hat für die Übersetzung gesorgt und verbreitet den Text, von dem ich hoffe, dass er in viele Hände gelangt. Das Kindeswohl, die best interests of the child, ist einer der Schlüsselbegriffe des Kommentars (neben den drei anderen Prinzipien der Nicht-Diskriminierung in Artikel 2, der Sicherung von Überleben und Entwicklung in Artikel 6 und dem Gehör für Kinder in Art. 12). Das

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wesentliche Anliegen dieses Kommentars ist es zu erläutern, wie dieses Wohl des Kindes sichergestellt, wie das Interesse der Kinder an Überleben, Entwicklung, Bildung und Teilhabe verwirklicht werden kann. Um dies in seiner ganzen Breite zu verdeutlichen, führt der Kommentar mit Blick auf alle relevanten Artikel aus, was bei der Aufnahme, Versorgung und Unterstützung der unbegleiteten Flüchtlingskinder zu beachten und geboten ist. Der Kommentar bezieht auch ein, in welcher Weise dies im Sinne der Konvention zu geschehen hat, nämlich mit Gehör für die Kinder und Aufmerksamkeit für ihre Geschichte. Der Kommentar betont, dass keine Ad-hoc-Entscheidungen getroffen werden sollen, wenn ein Kind ohne Eltern an einer Grenze erscheint oder sich im Land meldet oder gefunden wird und um Aufenthalt nachsucht. Dem Kind ist Zugang zu einer Einrichtung zu gewähren, in der getan wird, was im Falle eines Kindes ohne Eltern und ohne gesetzlichen Vertreter erforderlich ist, um Herkunft, Vorgeschichte und Absichten zu klären. Das sind zunächst Gespräche in freundlicher Atmosphäre, in denen das Kind sagen kann, wer er oder sie ist und worin das Anliegen besteht. Es sei daran erinnert, dass die Staaten auch das Zurückweisungsverbot („non-refoulement“) zu beachten haben, das im humanitären Völkerrecht verankert ist. Immer hat der Staat die Pflicht, mit Sorgfalt zu prüfen, ob dem Kind in dem Land, in das es ausgewiesen werden soll, kein Schaden droht. Auch aus diesem Grund kann nicht ad hoc entschieden werden. Im Hinblick auf die Schutz- und Unterstützungsmaßnahmen muss die Altersgrenze der Konvention eingehalten werden, nach der ein Kind ein junger Mensch bis zum Alter von 18 Jahren ist. Der Ausschuss hat die von der deutschen Regierung dem Ausschuss vorgetragenen Argumente nicht akzeptieren können, dass Sechzehnjährige in der Lage seien, ihr Anliegen ohne Hilfe in einem derartigen Verfahren zu vertreten. Der Kommentar verlangt, dass Kindern bis 18 ein Vormund und nötigenfalls ein eigener Rechtsbeistand zur Seite gestellt wird, damit die Perspektive des Kindes im Verfahren kompetent dargestellt werden kann. Der Kommentar dringt ferner darauf, dass das Verfahren von Personen durchgeführt wird, die qualifiziert wurden, mit Kindern zu kommunizieren und sich in die Lage von Kindern zu versetzen. Diese Personen müssen auch in der Lage sein, die Problemsituationen einzuschätzen, aus denen die Kinder stammen und die ihren Weg nach Deutschland bestimmt haben. Kindspezifische Gründe, ein Land sowie Eltern und Freunde zu verlassen, werden nach wie vor nicht ausreichend anerkannt. Solche Gründe begegnen nicht nur dem Misstrauen einzelner Beamter, sondern werden systematisch abgetan, als ob Kinder nicht zum Ziel von Misshandlung und Verfolgung (ethnische Säuberung, Rekrutierung als Kindersoldaten, sexuelle Verstümmelung usw.) oder in die Verfolgung ihrer Eltern oder sozialen Gruppe einbezogen werden könnten. Auch in der Zeit vor der endgültigen Entscheidung ist dafür zu sorgen, dass ein Kind seinem Alter und Geschlecht gemäß untergebracht wird, und zwar in einer die soziale Einbindung des Kindes fördernden Wei-

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se. Diese Kinder brauchen vertrauensvolle, unterstützende Beziehungen zu Erwachsenen, sollten so bald wie möglich in familienähnlichen Verhältnissen leben und benötigen einen altersgleichen Freundeskreis. Im allgemeinen sind besondere Hilfen erforderlich, damit sie sich in einem ungewohnten Lebensumfeld zurechtfinden sowie emotionale Verletzungen und traumatisierende Erlebnisse überwinden können. Wenn die Aussicht besteht, dass das Kind Familienangehörige finden könnte, muss diese Suche intensiv betrieben werden. Der Ausschuss stellt fest, dass diese Nachforschungen oft verzögert und ohne Nachdruck verfolgt werden. Ein zentraler Punkt ist nach den Erfahrungen des Ausschusses die fortzusetzende schulische und anschließend auch berufliche Bildung dieser Kinder. Schule und Unterricht sollten nicht erst nach Monaten wieder beginnen und nicht von der Entscheidung abhängig sein, ob das Kind und mit welchem Status es im Lande bleiben kann. Jugendlichen nach der Schule keine Möglichkeit einer beruflichen Qualifizierung zu geben, sondern sie ohne Perspektive sich selbst zu überlassen, ist gegenüber jungen Menschen und der Gesellschaft unverantwortlich. Auch wenn Kinder nicht auf längere Dauer im Land bleiben sollten, ist die Zeit ihres Aufenthalts wertvoll und nicht zu ersetzen, denn sie bietet durch neue Erfahrungen und ungewohnte Herausforderungen besondere Chancen für die Entwicklung und Bildung dieser jungen Menschen. Gerade Bildung trägt dazu bei, dass Kinder und später Erwachsene ihre Interessen, ihr Wohl aufgeklärt und sozial verantwortlich verfolgen können. Nach den vorliegenden Beobachtungen ist es wichtig, dass die Flüchtlingskinder wie alle anderen der Schulpflicht unterliegen und ihnen nicht nur das Recht auf Schulbesuch zugestanden wird. Nur die Schulpflicht führt die volle Verantwortung des Staates für die Förderung dieser Kinder herbei. Es soll nicht abgestritten werden, dass diese Flüchtlingskinder besonderer Unterstützung bedürfen, um die Schule mit Gewinn zu besuchen. Sie brauchen Sprachunterricht und oft weitere Lernhilfen, um in der deutschen Schulkultur erfolgreich zu lernen. Die Konvention erlegt auch die Pflicht auf, den Kindern den Zugang zu der Kultur zu erhalten, aus der sie kommen und mit der sie in Verbindung bleiben oder in die sie sogar zurückkehren werden. Das alles sind besondere finanzielle und personelle Lasten, die aus dem Beitritt zur Konvention resultieren. Niemand sollte den Aufwand für diese Hilfen unterschätzen. Er ist jedoch, falls er überlegt und gezielt geschieht, keine Zahlung à fond perdue, sondern schafft ein Potential von Menschen, die Kompetenz entwickelt und Menschenrechtspraxis erfahren haben. Der Beitritt zur Konvention lässt aber nicht nur Belastungen entstehen. Vielmehr ist die Konvention zugleich ein herausragendes Mittel, diese Belastungen zu senken. Würden die Vertragsstaaten der Konvention einander helfen, die Lebenssituation der Kinder in Übereinstimmung mit den Rechten zu gestalten, die den Kindern zustehen, dann würden viele heute verständliche und anzuerkennende Gründe wegfallen, die Kinder zur Zeit dazu bewegen, ihr Wohl in einem anderen Land ohne Eltern und Freunde unter hohem Risiko zu suchen.

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Einige Literaturhinweise: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ)(Hrsg.)(72000). Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Zu beziehen über das Ministerium. Englische Originalfassung der Convention on the Rights of the Child: www.ohchr.org/english/law/crc.htm Committee on the Rights of the Child (CRC)(2005). General Comment No. 6: Treatment of unaccompanied and separated children outside their country of origin. www.unhchr.ch/tbs/doc.nsf/(symbol)/CRC.GC.2005.6.En?OpenDocument Auf Deutsch: Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder außerhalb ihres Herkunftslandes (zu beziehen über den Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlings (BUMF), Nürnberg. Cremer, Hendrik (2005). Der Anspruch des unbegleiteten Kindes auf Betreuung und Unterbringung nach Art. 20 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (o.J.). Flüchtlingskinder. Richtlinien zu ihrem Schutz und ihrer Betreuung. Zu beziehen über UNHCR Rheinallee 6, 53173 Bonn (Übersetzung der englischen Originalfassung Refugee Children. Guidelines on Protection and Care, originally 1994). Peter, Erich (2002). Das Recht der Flüchtlingskinder“. Stellungnahme zur Rücknahme des deutschen Ausländervorbehalts zur UN-Kinderrechtskonvention im Spannungsfeld verfassungsrechtlicher Kompetenzzuweisung. Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag. Schorlemer, S. v. (Hrsg.)(2004). Die Vereinten Nationen und die Entwicklung der Rechte des Kindes. Aachen: Shaker. Separated Children in Europe Programme (SCEP)(2004). Statement of good practice (third edition). Im Internet: www.separated-children-europe-programme.org Auf Deutsch: Separated Children in Europe Programme/ Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge e.V. (Hrsg.)(2006). «Statement of Good Practice» Standards für den Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen. Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag. Terres des Hommes (Hrsg.)(2005). «Wir bleiben draußen». Schulpflicht und Schulrecht von Flüchtlingskindern in Deutschland (Juristische Expertise von Björn Harmeling). Zu beziehen über die Geschäftsstelle von Terre des Hommes: [email protected]

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Podiumsdiskussion

Podium

Ergebnisse und Forderungen

TeilnehmerInnen: Markus Schnapka, Bonn Mark Holzberger, Bündnis 90/DIE GRÜNEN-Fraktion, Berlin Albert Riedelsheimer, Bundesfachverband UMF, München Brigitte Mies-van Engelshoven, BAG Jugendsozialarbeit, Bonn

Moderation: Isabel Schayani, WDR Köln Die Forderungen, die in den vier Foren erarbeitet wurden, wurden von den PodiumsteilnehmerInnen erläutert und kommentiert. Dabei stand nicht nur im Mittelpunkt, welche konkreten Aktivitäten und Anstrengungen notwendig sind, um die Lebenssituation geduldeter junger Flüchtlinge zu verbessern, sondern welche gesellschaftlichen Gruppen hierbei in die Verantwortung genommen werden sollten. An die Adresse der politischen Entscheidungsträger richteten die PodiumsteilnehmerInnen die Forderung nach einer Bleiberechtsregelung auf hohem Niveau. Danach sollen Kettenduldungen endlich abgebaut und ein Bleiberecht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bereits

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nach zwei, für begleitete junge Flüchtlinge nach drei Jahren ausgesprochen werden. Zudem müssten – entgegen den bisherigen Vorschlägen – die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und Familien als besonders schutzbedürftige Gruppen ausdrücklich berücksichtigt werden. Als vordringlich wurde angemerkt, dass junge Flüchtlinge eine Arbeitserlaubnis und einen gleichrangigen Zugang zu Ausbildung, Qualifizierung und Arbeitsmarkt erhalten. Der Zugang zu Fördermöglichkeiten wie das BAföG und die Instrumente des SGB III soll ebenfalls geprüft werden. Die weiteren Forderungen bezogen sich auf die kindgerechte Ausgestaltung des aufenthaltsrechtlichen Clearing für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Vorgeschlagen wurde u. a. ein sicherer Aufenthaltsstatus während der Klärungsphase. Zudem wurde der Anspruch auf Handlungsfähigkeit ab Volljährigkeit formuliert. Darüber hinaus soll überprüft werden, ob die verpflichtende jugendgerechte Unterbringung und Betreuung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz auch umgesetzt wird. Grundsätzlich wurde die Jugendpolitik aufgefordert, sich im Interesse der jungen Flüchtlinge stärker als bisher in die Innenpolitik einzumischen. Die Träger der Kinder- und Jugendhilfe sowie die Wohlfahrtsverbände und die kommunalen Spitzenverbände wurden aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass das gesamte Clearingverfahren und die Zuständigkeit für junge Flüchtlinge insgesamt in die Hände der Jugendhilfe geht, damit junge Flüchtlinge eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Betreuung erhalten. An die Wirtschaft und die Gewerkschaften wurde appelliert, sich ebenfalls für einen gleichberechtigten Zugang von jungen Flüchtlingen zu Ausbildung und Arbeitsmarkt einzusetzen. Zusammenfassung der wesentlichen Forderungen aus den vier Foren: 1. Bleiberecht •

Nach 2 Jahren Aufenthalt Bleiberecht für Kinder und Jugendliche, die integriert sind



Bleiberechtsregelung muss die besondere Situation von schutzbedürftigen Gruppen berücksichtigen (Traumatisierte, Chronisch Kranke, Minderjährige, UMF, Familien)



Bleiberechtsregelung muss einen unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Ausbildungsmöglichkeiten eröffnen.

2. Ausbildung

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schulische, berufliche Ausbildung und Studium statt Alimentierung nach Asylbewerberleistungsgesetz



Vorschlag: Kostenanalyse



eine Durchlässigkeit herstellen zu den Regelinstrumenten des SGB, des BAFöG, der Sprachförderung



Strategie: SGB III und BAFöG-Ausschluss stärker aufgreifen



psychosoziale Folgen und fiskalische Kosten der Ausgrenzung junger Flüchtlinge von Ausbildung und Arbeit untersuchen.

3. Clearingverfahren •

Zeit und Vertrauen, d.h. 6 Monate Klärungsphase mit Aufenthaltserlaubnis



Auf lokaler Ebene: Runder Tisch zur Klärung, ob Asylverfahren eingeleitet werden soll



Handlungsfähigkeit im Asylverfahren auf 18 Jahre heraufsetzen.

4. Erstversorgung •

§ 42 KJHG bedeutet vor allem: jugendgerechte Unterbringung und Betreuung sicherstellen; Umsetzung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene überprüfen



mehr – qualifizierte – Einzel/Vormünder bzw. Vereinsvormünder



ernst nehmen: unmittelbare Zuständigkeit des Jugendamtes – Minderjährige als Kinder wahrnehmen.

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Schlusswort

Schlusswort

Hermann Laubach

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jugendliche, Ziel des fachpolitischen Forums war es, den Unterstützungsbedarf junger Flüchtlinge zu analysieren, die Notwendigkeit bedarfsgerechter Hilfen nach dem KJHG für junge Flüchtlinge ohne sicheren Aufenthaltsstatus zu belegen und Anforderungen an die jugend- und ausländerrechtliche Praxis und die Gesetzgebung zu benennen. Ja, diese Ziele sind erreicht – auch wenn damit die Situation junger Flüchtlinge noch nicht verbessert wurde. Mein Dank geht in diesem Zusammenhang auch an die beteiligten Jugendlichen, die in eindrucksvoller Weise ihre Lebenssituation verdeutlicht und die gemeinsamen Forderungen der BAG Jugendsozialarbeit und des Bundesfachverbandes UMF greifbar und lebendig gemacht haben. Zusammenschlüsse der Jugendsozialarbeit auf Länder- und Bundesebene wurden nach dem Zweiten Weltkrieg auf Initiative von führenden Persönlichkeiten der Wohlfahrtsverbände und der verbandlichen Jugendarbeit gegründet. Es entstand ein eigenständiges Handlungsfeld zwischen Jugendarbeit und Jugendverbandsarbeit einerseits und der Jugendfürsorge andererseits. Jugendsozialarbeit ist dabei gemäß § 13 SGB VIII auf Kooperation mit allen relevanten sozialen Diensten hin angelegt. Sie stellt innerhalb der Kinderund Jugendhilfe das „Bindeglied“ zwischen professioneller Hilfe und sozialpädagogischer Begleitung und den unterschiedlichen

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Ansätzen der Jugendarbeit dar. Anlass für die Gründung dieser Zusammenschlüsse war die Jugendnot vertriebener, heimatloser und geflüchteter junger Menschen. Junge Flüchtlinge sind also von Anfang an Zielgruppe der Jugendsozialarbeit und zwar in zweierlei Hinsicht: Hilfen zur Verbesserung ihrer Situation und anwaltschaftliche Vertretung ihrer Interessen zu gewährleisten. Wenn auch junge Flüchtlinge in den klassischen Aufgabenfeldern der Jugendsozialarbeit (Jugendberufshilfe, Jugendwohnen, schulbezogene Arbeit usw.) heute nicht mehr die Hauptzielgruppe bilden, bleibt dennoch unsere Verantwortung für sie einzustehen und ihnen adäquate Hilfen anzubieten. Ausgangspunkt unserer Betrachtungen müssen die Lebenslagen und Bedürfnisse aller jungen Flüchtlinge sein, insbesondere derjenigen, die keinen gesicherten Aufenthaltsstatus haben. Schon der zehnte Kinderund Jugendbericht fordert für diese jungen Menschen, dass „Flüchtlings- und Asylbewerberkinder ... von keinen Leistungen ausgeschlossen werden dürfen. Das Kinder- und Jugendhilferecht muss Vorrang vor dem Ausländerrecht haben“. Der sechste Familienbericht der Bundesregierung stellt deutlich klar, dass „Unterbrechungen in der Ausbildung von Kindern und Jugendlichen ... unter allen Umständen zu vermeiden“ sind (Kap. VIII, Nr. 11). Begleitete junge Flüchtlinge sind unzureichend geschützt. Die Schutzfunktion der Familie muss ergänzt werden durch Leistungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG). Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bedürfen unmittelbar nach ihrer Einreise von der Vormundschaft bis hin zur Unterbringung eines umfassenden Schutzes durch das KJHG (SGB VIII). Die Lebenssituation, in der sich junge Flüchtlinge befinden, ist von gesetzlicher und administrativer Ausgrenzung gekennzeichnet, die Gefährdungen produziert. Junge Flüchtlinge sind entwurzelt, ihre Lebensentwürfe zerstört, ihre Familien zerrissen, ihre soziale Teilhabe behindert und ihre Perspektiven ungewiss. Die oft traumatisierenden Fluchterlebnisse belasten junge Flüchtlinge körperlich und seelisch. Ausgrenzende materielle Rahmenbedingungen sowie Unterbringungs- und Betreuungsverhältnisse erschweren zusätzlich die soziale Teilhabe ebenso wie die Identitätsfindung und Persönlichkeitsstabilisierung. Ebenfalls behindert wird die Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse sowie der Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen und Erwachsenen. Besonders problematisch ist die Lage der über 16-jährigen, weil sie weitgehend vom System der beruflichen Bildung ausgeschlossen sind. Bei in Illegalität lebenden Kindern und Jugendlichen potenzieren sich die Probleme um ein vielfaches. Allgemein verbindliche kind- und jugendgerechte Richtlinien fehlen. Zum Teil widersprechen sich rechtliche Normen und Handlungsweisen. Die „gesamtgesellschaftliche“ Haltung, die häufig von Ablehnung, Misstrauen bis hin zu juristischem Ausschluss geprägt ist, trägt maßgeblich mit dazu bei, dass Orientierungs- und Perspektivlosigkeit die Lebenssituation von jungen Flüchtlingen in Deutschland bestimmen.

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Das entgegen der rechtlichen Lage praktizierte Vorrangprinzip des Ausländer- und Asylbewerberleistungsgesetzes vor dem Kinder- und Jugendhilfegesetz führte bisher zu einem nahezu vollständigen Ausschluss der jungen Flüchtlinge von Angeboten der Jugendhilfe, insbesondere der Jugendsozialarbeit. Entsprechend existiert für die Arbeit mit jungen Flüchtlingen innerhalb der Jugendsozialarbeit aufgrund fehlender Förderinstrumentarien nahezu keine eigenständige Struktur. Um junge Flüchtlinge in den Angeboten der Jugendsozialarbeit angemessen berücksichtigen zu können, setzt dies voraus, dass die einschränkenden aufenthaltsrechtlichen Regelungen und damit auch die förderrechtlichen Rahmenbedingungen angepasst bzw. verändert werden. Dabei ist u.a. erforderlich, dass: •

• •

• • •



Politik anerkennt, dass jugendliche Flüchtlinge einen wichtigen Teil ihres Lebens hier in Deutschland verbringen und daher Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe an allen gesellschaftlichen Bereichen haben, der Vorrang des Kindeswohls und die Bestimmungen des BGB auch für Flüchtlingskinder unter 18 Jahren volle Gültigkeit erhalten, die internationalen Standards (UN-Kinderrechtskonvention (KRK), Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), Haager Minderjährigen Schutzabkommen (MSA) eingehalten und die deutsche Vorbehaltserklärung zur UN-Kinderrechtskonvention gestrichen wird, das Ausländer- und Asylrecht unter dem Gesichtspunkt des Kindeswohl novelliert und Widersprüche zum KJHG aufgehoben werden, die juristische Handlungsfähigkeit minderjähriger Flüchtlinge auf 18 Jahre angehoben wird, jugendliche Flüchtlinge einen eigenen Aufenthaltsstatus erhalten, d.h.: asylunabhängiges Aufenthaltsrecht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach 2 Jahren und Niederlassungserlaubnis nach 5 Jahren Aufenthalt, die Aufnahme und Erstunterbringung von Flüchtlingskindern in Clearingstellen erfolgt – vor der Einleitung eines asylrechtlichen Verfahrens bzw. Zurückweisung/Abschiebung an der Grenze.

Generelle Voraussetzung ist der politische Wille, dieser Zielgruppe die Chance zur Persönlichkeitsstabilisierung und -entwicklung zu geben. Diese Förderung muss unabhängig von einer möglichen Rückkehroder Bleibeperspektive erfolgen. Dies hat auch zur Konsequenz, dass entsprechende juristische und finanzielle Rahmenbedingungen zur Verfügung gestellt werden. So empfiehlt auch schon der sechste Familienbericht der Bundesregierung in Kapitel VIII (Nr. 18), dass mit Blick auf die gemeinsame Migrationserfahrung Fördermaßnahmen „sich deshalb mehr an diesen gemeinsamen familienpolitischen Belangen und nicht an Statuszuweisungen orientieren“ sollten. Im Bereich der sozialen Versorgung heißt dies v.a., dass •

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bezogen auf die Unterbringung begleiteter junger Flüchtlinge Mindeststandards eingeführt werden sollten, welche die Intimsphäre, die Gesundheit und das Wohl der Kinder schützen. Für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge einschließlich der

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16- bis 18-Jährigen muss eine altersgemäße und jugendgerechte Unterbringung gewährleistet sein, die auf die Beziehung von Vormund und Flüchtling Rücksicht nimmt allen jungen Flüchtlingen wohnortnah der kostenfreie und uneingeschränkte Zugang zu medizinischen und psychotherapeutischen Hilfen gewährt werden muss, junge Flüchtlinge ergänzende gemeinwesenorientierte, sozialpädagogische Beratungs- und Begleitungsangebote erhalten, Deutschsprachkurse grundsätzlich für alle jungen Flüchtlinge – unabhängig vom Aufenthaltsstatus – zu öffnen sind d.h.: Zugang zu Integrationshilfen nach dem Zuwanderungsgesetz, eine einheitliche Regelung der Schulpflicht in allen Bundesländern geschaffen wird, das Arbeitsverbot für jugendliche Flüchtlinge abgeschafft und eine angemessene Ausbildung ermöglicht wird.

Aufgrund der besonderen Lebenslagen und Problematik der jugendlichen Flüchtlinge ist die Jugendsozialarbeit gemäß ihrem Auftrag und Selbstverständnis aufgefordert tätig zu werden bzw. tätig zu bleiben, unabhängig von ihrer Organisationsform als BAG Jugendsozialarbeit oder Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit. Sie muss dazu beitragen, Restriktionen abzubauen und am Kindes- und Jugendwohl orientierte Lebensbedingungen zu schaffen. Mein besonderer Dank gilt zum Schluss den Veranstaltern dieses Forums. Stellvertretend für die vielen engagierten Mitarbeiter/-innen in der Vorbereitung und Durchführung lassen Sie mich hier Brigitte Mies- van Engelshoven von der BAG Jugendsozialarbeit und Albert Riedelsheimer vom Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nennen. Es ist Ihnen gelungen, uns erneut den Spiegel vorzuhalten und die gemeinsamen Forderungen zur Verbesserung der Situation junger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland mit Leben zu füllen. In diesem Sinne danke ich für Ihre Aufmerksamkeit, wünsche guten Appetit und eine gute Heimreise.

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Anhang

Presseinformation 09.11.2006 Vorrang von Kindeswohl bei der Bleiberechtsregelung Fachpolitisches Forum von BAG Jugendsozialarbeit und Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge diskutiert die Situation junger Flüchtlinge in Deutschland

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Am 16. und 17. November 2006 werden die Innenminister der Länder und der Bundesinnenminister auf ihrer halbjährlichen Konferenz unter anderem über ein Bleiberecht für geduldete Flüchtlinge entscheiden. Eine Woche zuvor befasst sich das diesjährige fachpolitische Forum von Bundesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit und Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (B-UMF) in BerlinSchmöckwitz mit der Situation junger Flüchtlinge in Deutschland. Die Diskussion um das Bleiberecht wird hier einen großen Raum einnehmen. Bereits in den „Forderungen zur Verbesserung der Situation minderjähriger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland“, die beide Verbände in 2005 veröffentlichten, forderten BAG Jugendsozialarbeit und B-UMF, unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen bereits nach einem zweijährigen Aufenthalt ein Bleiberecht einzuräumen. Kinder und Jugendliche, die gemeinsam mit ihren Familien nach Deutschland eingereist waren, sollen nach Auffassung beider Verbände nach einem dreijährigen Aufenthalt ein Bleiberecht erhalten. Viele Flüchtlingskinder und –jugendliche sind in Deutschland aufgewachsen. Sie und ihre Familie leben hier seit fünf, zehn oder mehr Jahren und sind sozial integriert, obwohl sie weitgehend vom Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. Die bereits vorliegenden Entwürfe der Innenminister für eine neue Bleiberechtsregelung sehen jedoch wesentlich schärfere Voraussetzungen vor. In der Diskussion sind der Zeitraum von sechs Jahren für Familien mit schulpflichtigen Kindern und acht Jahren für Alleinstehende. Zusätzlich soll das Bleiberecht nur denen ausgesprochen werden, die ihren Lebensunterhalt eigenständig sichern können. Aus Sicht von BAG Jugendsozialarbeit und B-UMF Forderungen, die die Mehrheit der geduldeten Flüchtlinge nicht erfüllen kann und die zudem nicht dazu führen, den unhaltbaren Zustand der Kettenduldungen vieler Flüchtlinge zu beenden.

BAG Jugendsozialarbeit und Bundesfachverband UMF fordern daher Lösungen, die die spezifischen Lebenslagen der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien berücksichtigen, denn Kindeswohl und Schutz der Familie haben in Deutschland einen hohen verfassungsrechtlichen Rang. Das Fachpolitische Forum von BAG Jugendsozialarbeit und B-UMF wird sich deshalb auch mit den rechtlichen Förder- und Rahmenbedingungen beschäftigen, die jungen Flüchtlingen einen gleichrangigen Zugang zu einer Erstausbildung und zu Qualifizierungsmöglichkeiten eröffnen. Darüber hinaus werden in den Diskussionsforen die fachlichen Standards für eine kindgerechte Ausgestaltung des aufenthaltrechtlichen Clearings und Erstversorgung junger Flüchtlinge behandelt. In der abschließenden Podiumsrunde werden die Anforderungen an gesetzliche Anpassungen diskutiert, die das Kindeswohl im Aufenthaltsrecht gewährleisten sollen. Ziel der Veranstaltung ist es, deutlich zu machen, welcher Unterstützungsbedarf für junge Flüchtlinge besteht und dass spezifische Hilfen, die sich am Kinder- und Jugendhilfegesetz orientieren, für diese jungen Menschen unerlässlich sind. Die BAG Jugendsozialarbeit vertritt als Fachorganisation der Jugendhilfe die Interessen benachteiligter und individuell beeinträchtigter junger Menschen im Alter von 12 bis 27 Jahren. Ein wichtiges Handlungsfeld sind hierbei die Integrationshilfen für Jugendliche mit Migrationshintergrund, insbesondere die Jugendmigrationsdienste, die bundesweit tätig sind. Der Bundesfachverband UMF fördert den fachlichen Austausch von Fachkräften, er formuliert fachliche Standards für die Arbeit mit jungen Flüchtlingen und fordert die Umsetzung dieser Standards von Politik und Verwaltung ein. Ein besonderes Anliegen ist, das Kindeswohl auch für diese Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund zu rücken.

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Presseinformation 15.11.2006 Kindeswohl und Menschenrechte für junge Flüchtlinge konsequent umsetzen Fachpolitisches Forum von BAG Jugendsozialarbeit und Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge fordert Bleiberechtsregelung auf hohem Niveau Eine Woche vor der halbjährlich stattfindenden Innenministerkonferenz und parallel zu der Debatte im Deutschen Bundestag über eine neue Bleiberechtsregelung diskutierten rund 80 Fachkräfte aus der Jugendsozialarbeit, der Jugendhilfe und der Flüchtlingssozialarbeit, Vertreterinnen und Vertreter von Jugendbehörden, Länder- und Bundesministerien über die Situation junger Flüchtlinge in Deutschland. Auf Einladung von BAG Jugendsozialarbeit und Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (B-UMF) hatten sie sich zu einem zweitägigen fachpolitischen Forum zusammengefunden. Junge Flüchtlinge, die bereits mit einer langjährigen Duldung in Deutschland leben, hatten dieses Forum mit vorbereitet und trugen ihre Forderungen vor. An die Adresse der politischen Entscheidungsträger richteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Forderung nach einer Bleiberechtsregelung auf hohem Niveau. Danach sollen Kettenduldungen endlich abgebaut und ein Bleiberecht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bereits nach zwei, für begleitete junge Flüchtlinge nach drei Jahren ausgesprochen werden. Zudem müssten – entgegen den bisherigen Vorschlägen – die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und Familien als besonders schutzbedürftige Gruppen ausdrücklich berücksichtigt werden. Vordringlich ist zudem, dass junge Flüchtlinge eine Arbeitserlaubnis und einen gleichrangigen Zugang zu Ausbildung, Qualifizierung und Arbeitsmarkt erhalten. Der Zugang zu Fördermöglichkeiten wie das BAföG und die Instrumente des SGB III soll ebenfalls geprüft werden. Die Veranstaltungsteilnehmer forderten weiter, dass das aufenthaltsrechtliche Clearing für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge kindgerecht ausgestaltet werden muss. Vorgeschlagen wurde u. a. ein sicherer Aufenthaltsstatus während der Klärungsphase.

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Zudem wurde der Anspruch auf Handlungsfähigkeit ab Volljährigkeit formuliert. Darüber hinaus soll überprüft werden, ob die verpflichtende jugendgerechte Unterbringung und Betreuung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz auch umgesetzt wird. Grundsätzlich wurde die Jugendpolitik aufgefordert, sich im Interesse der jungen Flüchtlinge stärker als bisher in die Innenpolitik einzumischen. Die Träger der Kinder- und Jugendhilfe sowie die Wohlfahrtsverbände und die kommunalen Spitzenverbände wurden aufgefordert, sich dafür einzusetzen, dass das gesamte Clearingverfahren und die Zuständigkeit für junge Flüchtlinge insgesamt in die Hände der Jugendhilfe geht. Nur eine solche Regelung garantiert, dass junge Flüchtlinge eine auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Betreuung erhalten. An die Wirtschaft und die Gewerkschaften wurde appelliert, sich ebenfalls für einen gleichberechtigten Zugang von jungen Flüchtlingen zu Ausbildung und Arbeitsmarkt einzusetzen. Die Forderungen wurden von den beteiligten Referenten bestätigt und unterstützt. So wies beispielsweise die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Professor Dr. Maria Böhmer, in ihrem Grußschreiben darauf hin, dass eine tragfähige Bleiberechtsregelung mit einem gleichrangigen Zugang zu Ausbildung und Arbeitsmarkt dringend verabschiedet werden muss. Die Veranstalter sahen sich in ihren bereits 2005 veröffentlichten „Forderungen zur Verbesserung der Situation minderjähriger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland“ bestätigt, die auch Grundlage für die weitere Lobbyarbeit sind. Die Dokumentation des fachpolitischen Forums sowie des mit den jungen Flüchtlingen im Vorfeld durchgeführten Workshops zur Vorbereitung des Forums wird Anfang 2007 veröffentlicht. Die BAG Jugendsozialarbeit vertritt als Fachorganisation der Jugendhilfe die Interessen benachteiligter und individuell beeinträchtigter junger Menschen im Alter von 12 bis 27 Jahren. Ein wichtiges Handlungsfeld sind hierbei die Integrationshilfen für Jugendliche mit Migrationshintergrund, insbesondere die Jugendmigrationsdienste, die bundesweit tätig sind. Der Bundesfachverband UMF fördert den fachlichen Austausch von Fachkräften, er formuliert fachliche Standards für die Arbeit mit jungen Flüchtlingen und fordert die Umsetzung dieser Standards von Politik und Verwaltung ein. Ein besonderes Anliegen ist, das Kindeswohl auch für diese Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund zu rücken.

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Die Kooperationsveranstaltung orientiert sich an den gemeinsam in 2005 veröffentlichen „Forderungen zur Verbesserung der Situation minderjähriger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland“ (s. www.bagjugendsozialarbeit.de unter Aktuelles im Archiv).

Die Veranstaltung ist für ca. 60 TeilnehmerInnen ausgerichtet und wendet sich insbesondere an Fachkräfte der Jugendsozialarbeit/Jugendhilfe und Flüchtlingsarbeit, NGO’s, Abgeordnete und BT-Ausschüsse sowie an die zuständigen Ministerien und Behörden auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene.

Anmeldung und Auskunft: Ihre Anmeldung senden Sie bitte mit der beigefügten Anmeldekarte (per Mail, Fax oder Post) bis zum 13. Oktober 2006 an die: BAG Jugendsozialarbeit Hohe Str. 73, 53119 Bonn Tel. 0228/95968-0, Fax 0228/95968-30 E-Mail: [email protected] oder [email protected]

Bitte kreuzen Sie an: ● an welchem Forum Sie teilnehmen möchten, ● an welchen Mahlzeiten Sie teilnehmen und ● ob und für wann Sie eine Übernachtung benötigen. Es wird ein Teilnahmebeitrag in Höhe von 100,00 € erhoben (Tagesgäste 50,00 €). Die TeilnehmerInnenzahl ist begrenzt. Diejenigen Personen, die an der Veranstaltung teilnehmen können, werden schriftlich benachrichtigt und erhalten u.a. Informationen zur Tagungsstätte und zum Teilnahmebeitrag.

Die Veranstaltung wird gefördert aus Mitteln des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).

Programm 10.45 Uhr Podiumsdiskussion: Kindeswohl im Aufenthaltsrecht – Anforderungen an gesetzliche Anpassungen Einführungsstatement: Prof. Dr. Lothar Krappmann, UN Ausschuss für die Rechte des Kindes, Berlin

Donnerstag, 09. November 2006 12.00 Uhr Anreise und Anmeldung, Stehimbiss 13.00 Uhr Begrüßung und Eröffnung Wilhelm Schürmann, stellv. Vorsitzender der BAG Jugendsozialarbeit Stefan Kurzke-Maasmeier, Vorstand Bundesfachverband UMF

Heiko Kauffmann, National Coalition, Berlin Brigitte Mies-van Engelshoven, BAG Jugendsozialarbeit, Bonn Albert Riedelsheimer, Bundesfachverband UMF, München, Rüdiger Veit, SPD MdB, Mitglied im Innenausschuss des Bundestages * Mark Holzberger Bündnis 90 / DIE GRÜNEN Fraktion, Berlin Markus Schnapka, Bonn

Diana von Webel für Sabine Christiansen, Sabine Christiansen Kinderstiftung, UNICEFBotschafterin, Berlin Prof. Maria Böhmer, Staatsministerin für Integration, Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Berlin

Moderation: Isabel Schayani, WDR Köln

13.45 Uhr Einführungsreferate:

Problemaufriss – politische Einschätzung – Handlungsbedarf und Forderungen

Freitag, 10. November 2006

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09.00 Uhr Präsentation der Kernforderungen der Diskussionsforen (rotierendes Verfahren) 10.20 Uhr Kaffeepause

Zugang zur beruflichen Erstausbildung und zu Qualifizierungsangeboten ReferentInnen: Prof. Dr. Joachim Schroeder, FB Erziehungswissenschaft, Universität Frankfurt a. M. Dr. Michael Maier-Borst, Arbeitsstab der Integrationsbeauftragten des Bundes für Migration, Flüchtlinge und Integration, Berlin Reinhard Grindel, CDU/CSU MdB, Innenausschuss des Bundestages* VertreterInnen der Jugendlichen

Moderation: Dietrich Eckeberg, Diakonisches Werk Westfalen, Münster

Aufenthaltsrecht „light“ – Kindgerechte Gestaltung des aufenthaltsrechtlichen Clearing ReferentInnen: Bernd Emtmann, BAMF Nürnberg Dagmar Rehse, Internationaler Sozialdienst (ISD) im Deutschen Verein, Berlin Jörn Wunderlich, DIE LINKE MdB, Mitglied im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin VertreterInnen der Jugendlichen

Hermann Laubach, Leiter des FA Migration der BAG Jugendsozialarbeit

13.00 Uhr Ende der Tagung (anschl. Mittagessen)

Moderation: Susanne Bourgeois, AWO Bundesverband Bonn

Forum 1

15.30 Uhr Diskussionsforen: bis Verbesserung der Situation junger 18.30 Uhr Flüchtlinge in Deutschland

Eine Veranstaltung der BAG Jugendsozialarbeit in Kooperation mit dem Bundesfachverband UMF vom 9. bis 10. November 2006 in Schmöckwitz bei Berlin

12.45 Uhr Schlusswort

Diskussionsforen

15.00 Uhr Pause

Verbesserung der Situation junger Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland

11.00 Uhr Podiumsrunde mit:

13.15 Uhr Grußworte

Kindeswohl bei jungen Flüchtlingen mit unsicherem Aufenthaltsstatus – mit Nachfragen und Diskussion ● Rechte von jungen Flüchtlingen aus der Sicht der Jugendhilfe, Markus Schnapka, Bonn ● Rechte von jungen Flüchtlingen im Aufenthaltsrecht Hubert Heinhold, Rechtsanwalt, München Moderation: Thomas Gittrich, Kath. Jugendsozialwerk München

Fachpolitisches Forum

Veranstaltungsort: Akademie Berlin-Schmöckwitz Wernsdorfer Str. 43, 12527 Berlin www.akademie-schmoeckwitz.de Tel. 030/67503-0, Fax 030/6758026 E-Mail: [email protected]

Forum 2

Das Einführungsreferat widmet sich dem Thema „Kindeswohl bei jungen Flüchtlingen mit unsicherem Aufenthaltsstatus“ aus Sicht des Aufenthaltsrechts und aus Sicht der Jugendhilfe. In den Diskussionsforen sollen die Themen Bleiberecht, Zugang zur beruflichen Ausbildung, aufenthaltsrechtliches Clearing und Erstversorgung von jungen Flüchtlingen behandelt werden. In der Podiumsrunde soll diskutiert werden, welche Anforderungen an gesetzliche Anpassungen bestehen, um das Kindeswohl im Aufenthaltsrecht zu gewährleisten.

Veranstalter: BAG Jugendsozialarbeit e.V., Bonn und Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF), München

Forum 3

Ziel der Veranstaltung ist es aufzuzeigen, welcher Unterstützungsbedarf besteht und welche lebenslagenorientierten Hilfen gemäß dem Kinder- und Jugendhilfegesetz für junge Flüchtlinge ohne sicheren Aufenthaltsstatus notwendig sind, und welche Anforderungen sich hiermit für die jugend- und ausländerrechtliche Praxis und Gesetzgebung ergeben. Dabei sollen politisch aktuelle Themen mit VertreterInnen von Jugendhilfe und Politik, insbesondere aus dem ausländer- und asylrechtlichen Bereich, diskutiert werden.

Organisatorische Hinweise

Bleiberecht für junge Flüchtlinge mit langjährig ungesichertem Aufenthalt

Forum 4

Das fachpolitische Forum ist eine Kooperationsveranstaltung von BAG Jugendsozialarbeit und Bundesfachverband UMF.

ReferentInnen: Josef Philip Winkler, Bündnis90 /DIE GRÜNEN MdB, Mitglied im Innenausschuss d Bundestages, Berlin* Sabine Haversiek-Vogelsang, Behandlungszentrum für Folteropfer e.V., Berlin VertreterInnen der Jugendlichen

Erstversorgung von jungen Flüchtlingen gemäß SGB VIII ReferentInnen: Gila Schindler, Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. / BMFSFJ, Berlin Dr. Erich Peter, Rechtsanwalt, Bremen Irmela Wiesinger, Landeskoordinatorin für das Land Hessen für den B-UMF, Hofheim Min.Rat Bruno Lischke, Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen, München VertreterInnen der Jugendlichen

Moderation: Nele Allenberg, Büro des Bevollmächtigten des Rates der EKD, Berlin

* Die Abgeordneten mussten wegen kurzfristig angesetzter Termine im Bundestag absagen.

Moderation: Harald Löhlein, DPWV, Berlin

AutorInnenverzeichnis Nele Allenberg Büro des Bevollmächtigten des Rates der EKD Charlottenstraße 53/54 10117 Berlin Prof. Dr. Maria Böhmer Staatsministerin für Integration Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Bundeskanzleramt Willy-Brandt-Straße 1 10557 Berlin

Dr. Michael Maier-Borst Bundeskanzleramt Arbeitsstab der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Willy-Brandt-Straße 1 10557 Berlin Dr. Erich Peter Rechtsanwalt Schwachhauser Heerstraße 103 28211 Bremen

Susanne Bourgeois Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. Oppelner Straße 130 53119 Bonn

Dagmar Rhese Internationaler Sozialdienst im Deutschen Verein Michaelkirchstr. 17/18 10179 Berlin

Dietrich Eckeberg Diakonisches Werk der Evang. Kirche in Westfalen Friesenring 32-34 48147 Münster

Gila Schindler Deutsches Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. im BMFSFJ Alexanderplatz 6 10178 Berlin

Bernd Emtmann Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Referat 420, Steuerung des Asylverfahrens Frankenstraße 210 90461 Nürnberg

Markus Schnapka Lärchenstraße 6 53117 Bonn

Sabine Haversiek-Vogelsang Behandlungszentrum für Folteropfer Berlin Kinder- und Jugendlichenabteilung Turmstraße 21 10559 Berlin Hubert Heinhold RAe Wächtler und Kollegen Rottmannstraße 11a 80333 München

Prof. Dr. Joachim Schroeder Universität Frankfurt/M. Fachbereich Erziehungswissenschaft Senckenberganlage 15 60325 Frankfurt/Main Wilhelm Schürmann CJD Zentrale Migration/Integration, Internationale Arbeit Teckstraße 23 73061 Ebersbach

Stefan Kurzke-Maasmeier Berliner Institut für christliche Ethik und Politik Köpenicker Allee 39-57 10318 Berlin

Katharina Vogt Arbeiterwohlfahrt Landesverband Berlin e.V. Ref. Jugend Migration Beratungsdienste Goltzstraße 19 10781 Berlin

Prof. Dr. Lothar Krappmann UNCRC Lützelsteiner Weg 43 14195 Berlin

Diana von Webel Sabine Christiansen-Kinderstiftung Lennestraße 1 10785 Berlin

Hermann Laubach BAG Katholische Jugendsozialarbeit e.V. Carl-Mosterts-Platz 1 40477 Düsseldorf

Josef Winkler, MdB Deutscher Bundestag Platz der Republik 1 11011 Berlin

Harald Löhlein Der Paritätische Wohlfahrtsverband Gesamtverband e.V. Oranienburger Straße 13/14 10178 Berlin

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