Expressionistische Begegnung

KIRCHNER JAN WIEGERS

ERNST LUDWIG

Michael iMhof Verlag

IMPRESSUM

INHALT

Die vorliegende Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung EXPRESSIONISTISCHE BEGEGNUNG. ERNST LUDWIG KIRCHNER – JAN WIEGERS Staatliches Museum Schwerin/Ludwigslust/Güstrow Galerie Alte & Neue Meister 5. Juli bis 28. September 2014

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Dirk Blübaum/Andreas Blühm/Roland Mönig

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Titelabbildungen: Ernst Ludwig Kirchner, Holländer Maler – Jan Wiegers (Detail), 1925, Öl auf Leinwand, 51 x 70 cm © Kirchner Museum Davos Jan Wiegers, Kirchner in atelier (Detail), 1925, Wachs/Öl auf Leinwand, 69 x 89 cm © Groninger Museum, erworben mit Unterstützung der Vereniging Rembrandt und der Stichting De GrootBrugmans, Foto: John Stoel S. 2: Jan Wiegers, Music Hall (Detail), o. J., Wachs/Öl auf Leinwand, 100 x 82,5 cm, © Groninger Museum, Foto: Marten de Leeuw Kataloggestaltung und Reproduktion: Margarita Licht, Michael Imhof Verlag Kataloglektorat: Karin Kreuzpaintner, Michael Imhof Verlag Druck: Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe

EINE VERZÖGERTE BEGEGNUNG – EXPRESSIONISMUS IN DEN NIEDERLANDEN Dirk Blübaum

19 | Herausgeber: Dirk Blübaum, Adina Christine Rösch Konzeption, Katalog und Ausstellung: Dirk Blübaum, Adina Christine Rösch Konservatorische Begleitung: Jutta Allmann, Ulrike Schneider, Satiness Schwindt Registrar: Sabine Schiewer Öffentlichkeits- und Pressearbeit: Heidemarie Otto, Magdalena Burkhardt, Juliet Heck, Charlotte Teske Museumspädagogik und Lektorat: Birgit Baumgart Ausstellungsgestaltung: Eva Nagl, n d/k Berlin Ausstellungsaufbau: Volker Grießing, Ralf Jaitner, Jürgen Meyer, Peter Jankowsky Ausstellungstechnik: Günther Pries, Steffen Bork

VORWORT

Gefördert durch

ATELIER DAVOS. JAN WIEGERS TRIFFT ERNST LUDWIG KIRCHNER Adina Christine Rösch

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„ICH HABE NACH DER ‚BRÜCKE’ NOCH 2MAL LEUTE AUSGEBILDET“. VON ERNST LUDWIG KIRCHNERS SEHNSUCHT, ALS LEHRER ZU WIRKEN Lucius Grisebach

Mobilitätspartner

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JAN WIEGERS ZWISCHEN KIRCHNER, DE PLOEG UND MODERNER KUNST DER NIEDERLANDE Han Steenbruggen

Kooperationspartner

© 2014 Staatliches Museum Schwerin, Autoren und Fotografen Michael Imhof Verlag GmbH & Co. KG Stettiner Straße 25 36100 Petersberg Tel. 0661/291916 60; Fax 0661/291916 69 www.imhof-verlag.com Printed in EU

ISBN: 978-3-7319-0058-0

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KATALOG

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ANHANG

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ZEITTAFEL ERNST LUDWIG KIRCHNER 1880–1938 ZEITTAFEL JAN WIEGERS 1893–1959 BILDNACHWEIS

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Abb. 1 Henri Victor Gabriel Le Fauconnier Dorf in den Bergen, 1911–1912 Öl auf Leinwand 100 x 80,5 cm Museum of Art, Rhode Island School of Design, Providence

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kommen von den künstlerischen Entwicklungen und ästhetischen Diskursen im übrigen Europa ausgeschlossen. Für die Künstler hatte dies aber auf der anderen Seite zur Folge, dass sie ab 1914 einen eigenen Weg in der Kunst entwickeln konnten – sei es in der gegenständlichen Kunst oder in der abstrakten. Selbst die Kontakte in den flämischen Teil Belgiens gestalteten sich in diesen Jahren schwierig. Deshalb war es für Wiegers wahrscheinlich von besonderer Bedeutung, dass er in den Jahren 1912 bis 1914 seine Ausbildung unterbrechen konnte, um in Deutschland zu arbeiten und bei dieser Gelegenheit auch die große Sonderbundausstellung in Köln zu besuchen. Seine künstlerische Ausbildung hatte Wiegers hauptsächlich in Groningen, in der noch heute existierenden Academie Minerva, erhalten. Ab 1911 war er dort eingeschrieben, zuerst in der Bildhauerklasse, später musste er aber aufgrund gesundheitlicher Probleme in die Malklasse wechseln. Seine Ausbildung unterbrach er für den erwähnten Auslandsaufenthalt, setzte sie aber ab 1914, während seiner Militärdienstzeit, in Groningen, Den Haag und Rotterdam fort.1 Das Ende des Ersten Weltkrieges und damit auch das Ende der Isolation der Niederlande fielen zusammen mit dem Ende von Wiegers’ Lehrzeit. Er suchte nun zusammen mit anderen jungen Künstlern nach Ausstellungsmöglichkeiten für junge Kunst. Vor diesem Hintergrund erscheint die Gründung von De Ploeg als Versuch oder als Streben einer neuen Künstlergeneration, die Isolation durch- und zu neuen künstlerischen Ufern aufbrechen zu wollen. Denn auch die wenigen erhaltenen Werke von Jan Wiegers aus diesen ersten Jahren lassen klar erkennen, dass er ganz ohne Zweifel aufgewachsen und ausgebildet worden war in der traditionellen niederländischen Landschaftsmalerei der Haager Schule bzw., wie zahlreiche junge niederländische Künstler dieser Zeit, unter den Einfluss der Kunst von Henri Le Fauconnier (Abb. 1) gekommen war. Den Franzosen Le Fauconnier hatte der Ausbruch des Ersten Weltkrieges in den Niederlanden überrascht, und weil er

nicht für Frankreich in den Krieg ziehen wollte, war er gezwungen, in den Niederlanden zu bleiben. Hier fand sein in weiten Zügen gemäßigter Kubismus, der nur in Ausnahmefällen die dargestellten Gegenstände radikal aufsprengte, eine recht rege Rezeption. Das Gemälde Mevrouw H. B. JordensLuchsinger von Jan Wiegers zeigt diesen zurückgenommenen Kubismus in hervorragender Weise, woraus ersichtlich ist, wie sehr die genannten künstlerischen Traditionen, die der niederländischen Landschaftsmalerei der Haager Schule (Abb. 2) und des gemäßigten französischen Kubismus Le Fauconniers, ihn beeinflusst hatten. Von diesen Traditionen wollte sich Wiegers lösen, und so ist auch der Name der neuen Künstlergemeinschaft verständlich: De Ploeg, was auf Deutsch Pflug oder Mannschaft bedeutet; beide möglichen Übersetzungen ergeben Sinn. Denn zum einen ging es darum, vor dem Hintergrund einer sehr homogenen und dadurch auch unbeweglichen und in der Tradition verhafteten Kunstlandschaft, eine Gruppe Gleichgesinnter zu finden, die den Aufbruch wagen wollten. Einen Aufbruch, der in dem Umfeld fast gezwungenermaßen die Künstler in eine schwierige wirtschaftliche Situation brachte, weil sie mit ihrer Kunst nur auf eine beschränkte Akzeptanz durch die damaligen Sammler hoffen konnten. Zum anderen soll der Pflug natürlich auf die Art und Weise hindeuten, mit der sie die Kunst aufbrechen wollen. Sie wollen die traditionelle Kunst durchpflügen, wollen das Unterste zuoberst kehren, damit dieser alte fruchtbare Boden wieder neue Kunst hervorbringen kann. Demgegenüber nimmt sich der Lebenslauf des 13 Jahre älteren Ernst Ludwig Kirchner auf den ersten Blick viel weltläufiger aus – bei näherer Betrachtung aber lassen sich auch Gemeinsamkeiten entdecken, die vielleicht begründen können, weshalb Kirchner, auf den jungen Niederländer angesprochen, immer wieder darauf hinwies, dass dieser nicht sein Schüler, sondern sein Freund sei. Wie Wiegers näherte sich Kirchner der Kunst zuerst auf einem anderen Gebiet; war es bei Wiegers die Bildhauerei, so wandte sich Kirchner zuerst – ge-

Abb. 2 Willem Maris Weiden an einem Graben mit Enten, ca. 1890 Öl auf Leinwand 81 x 66,1 cm Collection of the Gemeentemuseum Den Haag

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zwungenermaßen – der Architektur zu. Allerdings führte er sein Studium zu Ende, übte den Architektenberuf aber nie aus. Die entscheidende Wende war sein Studienaufenthalt in München 1903/04. Eingeschrieben war er auch hier offiziell an der Technischen Hochschule München, inoffiziell besuchte er die private Kunstschule von Wilhelm von Debschitz und tauchte ein in die Münchner Künstlerszene. Hier und bei seinen zahlreichen Museumsbesuchen scheint er die meisten Anregungen bekommen zu haben, die dann wohl letzten Endes zu dem Ergebnis führten, dass der Diplomingenieur Kirchner sich nicht der Architektur, sondern der Malerei zuwandte. Dabei war es nicht nur die aktuelle Kunst, mit der sich Kirchner in diesen beiden Jahren befasste, sondern in den Münchner Museen und dem Germanischen Nationalmuseum Nürnberg beschäftigte er sich auch eingehend mit den Zeichnungen und Grafiken Rembrandts und gerade auch den Holzschnitten Dürers.2 1905 gründete Kirchner zusammen mit Erich Heckel, Fritz Bleyl und Karl Schmidt-Rottluff die Künstlergemeinschaft Brücke. Diesen Schritt vollzog Kirchner nicht nur im gleichen Alter – Kirchner und Wiegers sind bei den jeweiligen Gruppengründungen 25 Jahre alt –, sondern die Künstlervereinigungen geben sich auch bewusst kein bzw. nur ein eher unspezifisches Programm. In beiden Gruppen steht das gemeinsame Machen – das Machen von Kunst und das Machen/Organisieren von Ausstellungen – im Vordergrund. In zwei anderen Punkten aber unterscheiden sich die beiden Vereinigungen sehr deutlich: Während erstens in der Brücke mit Blick auf die bildende Kunst nur Autodidakten zusammengekommen waren, handelte es sich bei den Mitgliedern von De Ploeg um ausgebildete Künstler. Und zweitens war der Vereinigung De Ploeg ein wesentlich längeres Leben beschieden. Im Gegensatz zur Brücke,

Abb. 3 Jan Toorop Die Dünen und das Meer in Zoutelande, 1907 Öl auf Karton 62,6 x 76,4 cm Collection of the Gemeentemuseum Den Haag

die sich bereits im Mai 1913 wieder auflöste, besteht De Ploeg bis heute fort, auch wenn natürlich der heutige Einfluss dieser Gruppe nicht mehr mit der Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg zu vergleichen ist. Mit einer großen Ausstellung im Jahr 1906 in den Räumen der Dresdener Lampenfabrik von Karl-Max Seifert, schaffte die Brücke schon ein Jahr darauf den Sprung in den offiziellen Kunstkontext. Im Jahr 1907 stellten die Brücke-Künstler bereits im Kunstsalon Richter in Dresden aus, ihre erste Ausstellung in einer professionellen Galerie, wie die teils äußerst positiven Rezensionen dieser Ausstellung belegen.3 Dieser schnelle Aufstieg lässt sich wohl am ehesten durch die grundsätzlich positive Aufnahme der französischen Moderne in Deutschland erklären. Gerade im Vergleich zu den Niederlanden oder auch Belgien wurde die aktuelle französische Kunst in Deutschland sowohl von den Künstlern als auch von der kunstinteressierten Öffentlichkeit offener aufgenommen. In Belgien entwickelte sich seit etwa der Mitte der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts durch die Auseinandersetzungen der französischsprachigen und der niederländisch-sprachigen Volksgruppen auf politischem Gebiet auch eine Konfrontation auf dem Kunstsektor. Die damals industriell dominierende, französischsprachige Wallonie war bestrebt, die französische Kunst des 19. Jahrhunderts als die führende nationale Kunst in Belgien zu implementieren, indessen die Flamen die Kunst des Mittelalters dagegenstellten. Während des Ersten Weltkrieges und bis Ende der 1920er-Jahre wurden dann die dem germanischen Sprachraum zuzurechnenden Flamen und damit auch ihre Kunst fast unter kollektiven Kollaborationsverdacht gestellt.4 Dieser Kontext, die Rezeption der französischen Kunst und somit auch die Aktionsmöglichkeiten von De Ploeg, stellt sich für die Niederlande im ersten Dezennium des 20. Jahrhunderts anders, wenn auch nicht vollkommen konträr, dar. Die bestimmende Künstlerpersönlichkeit in den Jahren um 1900 war in den Niederlanden Jan Toorop (Abb. 3). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam Toorop nicht nur durch seine engen Beziehungen zu der Künstlervereinigung Les Vingt (Les XX) in Kontakt mit den französischen Neo-Impressionis-

Abb. 4 Jan Sluijters Sägemühlen bei Amsterdam, 1907–1908 Öl auf Holz 58,5 x 41,5 cm Amsterdam Museum

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■ 22 Jan Wiegers Kirchner in atelier (dt.: Kirchner im Atelier), 1925 Wachs/Öl auf Leinwand 69 x 89 cm Groninger Museum, erworben mit Unterstützung der Vereniging Rembrandt und der Stichting De Groot-Brugmans

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Siehe auch S. 33

■ 23 Ernst Ludwig Kirchner Holländer Maler – Jan Wiegers, 1925 Öl auf Leinwand 51 x 70 cm Kirchner Museum Davos

Siehe auch S. 32

86 | PORTRÄTS

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■ 24 Jan Wiegers Anton Constandse, ca. 1924 Öl auf Leinwand 70,5 x 57 cm Groninger Museum

Anton Constandse (1899–1985) war ein niederländischer Autor, Redakteur, Zeitschriftenherausgeber und Anarchist. Wiegers nahm sich vermutlich Anfang 1914 eine Lesung des Freidenkers mit dem Titel Revolutie in de Kunst, zu der De Ploeg eingeladen hatte, zum Anlass, ihn zu porträtieren. Siehe auch S. 30

■ 25 Jan Wiegers Werkman en Johan van Zweden (dt.: Werkman und Johan van Zweden), 1925 Kaltnadelradierung 21,4 x 26,1 cm Groninger Museum

Hendrik Nicolaas Werkman (1882–1945) und Johan van Zweden (1896– 1975) waren Freunde und Künstlerkollegen Wiegers‘. Mit dem Maler und Bildhauer Van Zweden reiste Kirchner 1936 nach Davos, wo sie Kirchner trafen. Werkman, der Maler und Grafiker, war wie Wiegers ein Gründungsmitglied von De Ploeg. Er gehört zu den herausragenden Groninger Avantgardisten. Durch seine vermeintlich aufrührerischen Drucksachen gelangte er während des Zweiten Weltkriegs ins Visier der Nationalsozialisten und wurde erschossen.