Existenzielle Fragen in der Psychotherapie
Fachtagung Bad Neuenahr Prof. Dr. Alexander Noyon 15. März 2017
Hochschule Mannheim University of Applied Sciences
Überblick •
Existenzielle Fragen: Übersicht
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Vertiefung nach Wahl der TeilnehmerInnen
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Therapeutische Praxis: Demonstration, Rollenspiel, Diskussion
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Yaloms Existentialien
• Sinnlosigkeit • Tod • Freiheit • Isolation
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Umgang mit Sinnlosigkeit
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Praktische Übung •
Mit dem Nachbarn austauschen: „Was erlebst Du als sinnvoll?“ → 5min
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Sammlung in der Großgruppe
Fragen zum eigenen Arbeiten: • Welche meiner Sinnerfahrungen kann ich verstärken, fördern? • Was möchte ich neu tun, versuchen?
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Einleitung: was ist Sinn? Antwort auf die „Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest“:
Nach 7,5Mio. Jahren Rechenzeit genannt von „Deep Thought“, dem zweitgrößten Computer aller Zeiten, speziell für diesen Zweck gebaut Douglas Adams: The Hitchhiker´s Guide to the Galaxy. Hochschule Mannheim University of Applied Sciences | Prof. Dr. Alexander Noyon
Die Erde („noch größerer Computer“) 5 Minuten vor dem Finden der „Ultimativen Frage“
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Die ultimative Frage für den Menschen: Was ist der Sinn des Lebens?
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Therapeutischer Umgang mit Sinnkrisen: Grundplan •
Therapeut muss auf alle Varianten des Umganges vorbereitet sein
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Setzt Selbsterfahrung und eigene Auseinandersetzung mit der Thematik voraus
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Arbeit mit Patient ist ein Suchprozess völlig ungewissen Ausganges
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Therapeut hat keine „Weisheiten“ mit Beweischarakter zu bieten, sondern nur einen „Untersuchungsraum“ (Sonderfall Depression: Sinnkrise als Krankheitssymptom)
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Arbeit mit Sinnkrisen ist am Anfang häufig sehr prinzipiell (weltanschaulich; existenzielle Therapie), dann zunehmend konkreter (alltagsnah; Verhaltenstherapie)
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Prinzipielle Positionen: Sinnkonstruktivismus (Yalom)
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Grundlage des Sinnkonstruktivismus: das Absurde •
Zusammenhang von „Sinn“ und „Dauerhaftigkeit“
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aber: alles vergeht, somit keine Rettung im Überdauernden
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Der Sinn einzelner Handlungen: kontextabhängig (Erklärungen, Rechtfertigungen)
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Grundproblem: Sinn des individuellen Lebens als Ganzes (Außenperspektive)
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Einfachste Antwort auf das Dilemma: „na und?“ •
Option: es ist egal, dass das Leben von außen betrachtet keinen Sinn hat
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Akzeptabel, wenn darauf verzichtet werden kann, die „wozu“-Frage zu stellen
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Menschlicher Verstand als „Störfaktor“
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„Ignorance is bliss“ → wer die entsprechenden Fragen nicht hat, dem werden sie in der Therapie auch nicht aufgedrängt
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Das Leben betrachtet vom größeren Kontext aus •
Betrachtung des Lebens von außen: Frage der Wichtigkeit
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Meine Handlungen sind wichtig für mich und meine Familie, aber wofür wiederum sind die wichtig?
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Ist der höhere Kontext an sich bedeutsam?
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→ die meisten Sinnprobleme sind Probleme mit dem Sinn eines höheren Kontextes
→ einzelne Handlung – meine Leute – mein Leben – der Planet - ???? < höher
< höher
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< höher
< höher
Das Leben betrachtet vom größeren Kontext aus •
Grundproblem: lediglich Verschiebung der Frage, keine Lösung („Was ist der Sinn des höheren Kontextes?“)
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Optionen: 1. Der höhere Kontext erhält seinen Sinn in Relation zu etwas noch Höherem. 2. Der höhere Kontext hat einen Sinn in sich selbst, der nicht mehr hinterfragt werden muss. 3. Der höhere Kontext hat keinen Sinn.
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Das Leben betrachtet vom größeren Kontext aus •
Position 1: unaufhörlicher Prozess → unlösbar bzw. in Pos. 3 einmündend
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Position 2: „Gläubigkeit“ → siehe „Sinnobjektivismus“
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Position 3: der Kontext an sich (z. B. Kunst, Parteizugehörigkeit, Fortbestand des Homo sapiens) gibt unserem Leben Sinn, ist aber seinerseits nicht ohne weiteres begründbar
→ Untersuchung von Position 3 ist für die meisten essentiell!
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Können wir „Sinn“ von einem „highest-level“-Kontext bekommmen? •
Am häufigsten: „Gott“ als höchste Instanz
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Für manche akzeptabel (Position 2), aber andere verstehen nicht das Konzept eines höchsten nicht hinterfragbaren Kontexts
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Sie fragen weiter nach Sinn und Erklärung von „Gott“
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Weiteres Problem: • „Gott“ gibt Sinn → Handlungsvorschrift → Freiheitseinschränkung • Plan muss entweder bekannt sein (aber dann: noch höherer Kontext?), oder „Gott“ gibt einen Sinn, der nicht verstehbar ist • Ergo: Unterschied zwischen „sinnlosem Leben“ und „Leben mit unverständlichem Sinn“?
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Schlussfolgerungen aus Sicht der existenziellen Psychotherapie •
„Absolutes“ ist mit dem menschlichen Verstand nicht zu erfassen bzw. zu finden
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„Gott“ wird nicht geleugnet (Atheismus), sondern schlicht die Erkenntnisgrenze betont (Agnostizismus; härtere Position demgegenüber: Sartres atheistischer Existenzialismus): „ich weiß nicht, ob da etwas Absolutes ist, aber damit hat es für mich auch keine Bedeutung“
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Somit: „höherer Kontext“ kann nicht „bewiesen“ werden, ist somit prinzipiell unbefriedigend und nicht immer hilfreich
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Mögliche Antwort: der Sinn des Lebens kommt aus diesem selbst •
Innerhalb eines laufenden Lebens fügen sich Handlungen ineinander, haben Bedeutung im interpersonellen Bereich („Ich bin wichtig für andere und sie für mich“)
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Der „Trick“: dabei stehen bleiben, nicht weiter nach dem nächsthöheren „Wozu“ fragen
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Akzeptanz der Sinnlosigkeit bzw. Unklarheit „von außen betrachtet“
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Reaktionen der Menschen auf diese Position: • Gelassene Akzeptanz • Verzweiflung („Haltung ist depressogen und inakzeptabel“) • Resignation („Haltung ist depressogen, aber unvermeidbar“)
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Möglichkeiten zur Adoption einer Haltung gelassener Akzeptanz •
Gelassene Haltung ist inakzeptabel für jene, die unbedingt einen äußeren Sinn brauchen („Ich will WIRKLICH wichtig sein!“)
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Oscar Wilde: Life is far too important a thing ever to talk seriously about. (Lady Windermere´s Fan: A Play About a Good Woman)
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Möglicherweise ist es „lächerlich“ und nicht hilfreich, uns selbst zu wichtig zu nehmen
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Kern der Menschlichkeit: Dinge als sinnvoll zu erleben und durch die Kraft des Verstandes eine („höhere“) Position einzunehmen, von der aus sie das nicht sind
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Fazit: die Sinnfrage aus der Sicht der Existenziellen Psychotherapie •
wenn letztlich nichts wirklich bedeutsam ist, dann auch nicht der Gedanke der Sinnlosigkeit selbst → Adoption einer ironischen Position zum Leben, statt Verzweiflung und Resignation
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Frei geworden hiervon: kraftvolles Entwerfen des eigenen Lebens, Schaffen eigener Werte, Ausleben personaler Freiheit, Aufstellen eigener Regeln etc.
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„tapferes Tragen der Existenz“, kein Selbstbetrug, Authentizität
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Prinzipielle Positionen: Sinnobjektivismus (Frankl)
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Ideengeschichtlicher Hintergrund (→ siehe mein Vortrag) Zeit des psychologistischen Reduktionismus: Freuds „Libidomechanik“, Meister der Entlarvungstechnik (Schopenhauer, Nietzsche) im Sinne von: • Zärtlichkeit = zielgehemmte Sexualität • Freundschaft = sublimierte Homoerotik
usw. → Frankl: von der „Tiefen- zur Höhenpsychologie“
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Frankls Logotherapie • „logos“ (griech.) = Sinn • Mensch zentral vom Willen zum Sinn motiviert • Sinnverlust als zentrale Quelle der Psychopathologie • „Existenzanalye“ → Analyse auf Sinn hin • „Logotherapie“→ Therapie vom Sinn her
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Frankls Sinnbegriff •
Sinn ist a priori gegeben
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Sinn vermittelt sich im Aufforderungscharakter einer Situation und kann von der Person gefunden werden
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Sinnbereiche des Menschen: Arbeit (Kreativität und Leistung), Erleben (Genuss, Ästhetik, Liebe), Leiden (menschenwürdige Einstellung zu unabwendbarem Leiden)
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Sinn realisiert sich über Wertverwirklichung
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„Über-Sinn“: Gott
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Frankls Wertbegriff • schöpferische Werte („Homo faber“): aktiver Zugriff auf die Welt • Erlebniswerte („Homo amans“): wertvolle äußere Realität wird in das Innere der Person überführt • Einstellungswerte („Homo patiens“): sinnorientierte Einstellung zu unabänderlichem Schicksal
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Pyramidale Wertordnung
Leitwert
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Parallel-gesicherte Wertordnung
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Epiphänomenalität der Lust
primäre Intention
Sinn
Begleiterscheinung
Mensch Hochschule Mannheim University of Applied Sciences | Prof. Dr. Alexander Noyon
Lust
Frankls „kopernikanische Wende“ Grundhaltung des „neurotischen“ Menschen: „Das Leben hat mich zu bedienen. Ich bin es, der dem Leben die Fragen (im Sinne von Forderungen) stellt, und das Leben hat gefälligst zu antworten.“
kopernikanische
Wende
Anfrage MENSCH
LEBEN Antwort
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Fazit: die Sinnfrage aus der Sicht der Logotherapie •
Sinn gibt es „wirklich“, da draußen
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Sinnerleben folgt der Werteverwirklichung
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Die „Wozu“-Frage führt zu Gott
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Als Gesamtkonzept somit nur tragfähig bei eigener sowie Patientengläubigkeit
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Praxis •
Demonstration der Gesprächsführung mit einem Patienten, der an Sinnlosigkeit leidet
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Kleingruppenübungen: • Depressive Patienten mit Sinnabriss („… ist doch sowieso alles hoffnungslos…“) • „Erfolgreiche“ Patienten mit Sinnverlust („… eigentlich sollte ich total glücklich sein…“)
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Umgang mit Tod und Sterben
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Praktische Übungen • Zeichne eine gerade Linie auf ein Blatt Papier. Ein Ende dieser Linie stellt deine Geburt dar. Das andere Ende deinen Tod. Zeichne ein Kreuz da, wo du jetzt stehst. Meditiere fünf Minuten lang darüber. Irvin D. Yalom, „Existentielle Psychotherapie“ (S. 208)
• Zukunftsprojektion
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Tod • Tod als ursprüngliche Quelle der Angst und somit der Psychopathologie • Todesgedanke kann zum Aufbau hochwirksamer Abwehrmechanismen führen • ehrliche Auseinandersetzung mit Sterblichkeit fördert Authentizität des Lebens Leben und Tod sind interdependent; sie existieren gleichzeitig, nicht in Folge; der Tod surrt ständig unterhalb der Membran des Lebens und übt einen großen Einfluss auf die Erfahrungen und das Verhalten aus. (Yalom, 1989, S. 43). „Gut zu leben heißt zu lernen, gut zu sterben.“ (Yalom, S. 44) Hochschule Mannheim University of Applied Sciences | Prof. Dr. Alexander Noyon
3 Typen der Todesfurcht nach Charon
• was kommt nach dem Tod? • Angst vor dem Sterbeprozess • Angst vor dem Nicht-Sein
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Die Verdrängung des Todes •
Heidegger: „alltägliches Sein zum Tode, das als verfallendes eine ständige Flucht vor ihm ist“ (Heidegger, 1972, S. 254)
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Tod – betrifft die anderen, nicht mich → Verdrängung des Todes kann zu unauthentischem Leben führen („Das kann ich ja alles später noch machen“)
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Tod als Tabuthema → Therapie ist tabufreier Raum!
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Therapeutische Grundhaltung für den Umgang mit Tod und Sterben •
Problem der „therapeutischen Rolle“: häufig das Gegenteil von hilfreichem Handeln (Yalom: „ Wenn ich meinen Blick auf die existenziellen Tatsachen des Lebens fixiere, nehme ich keine klare Grenze zwischen meinen Patienten, den Leidenden, und mir selbst, dem Heilenden, wahr.“; Yalom, 2008, S. 197)
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Professionelles Therapeutentum = Gefahr der Abwehrstrategie
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Echtes und ehrliches in-Beziehung-sein als therapeutische Grundhaltung
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Somit: Selbstöffnung kann sehr wichtig sein!
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Betroffenheit, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit etc. sind angemessen, aber zu dosieren!
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Ausgangspunkte der Therapie •
Glaubenssätze und Werte des Patienten: Therapie muss innerhalb der Weltanschauung des Patienten stattfinden (vgl. Sinn: Konstruktivismus vs. Objektivismus)
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Kritische Selbstprüfung des Therapeuten: • Eigene Angst vor Tod und Sterben? • Eigene Glaubenssysteme? • Kompatibilität mit Patient?
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Ideen zum Umgang mit Endlichkeit •
Untersuchung der Qualität eines ewigen Lebens: was wäre wirklich, wenn wir unsterblich wären? (Stichworte: Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft“; Film: „Und täglich grüßt das Murmeltier“) • Untersuchung der Frage: ist ein langes Leben wertvoller als ein kurzes? • Selbsterfahrungen hierzu: „5-Jahres-Zeitschleife“; „48-Stunden-Tag“
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Untersuchung der Frage: „Was bleibt von mir?“
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Untersuchung der Frage: „Wie kann ich nach meinem Tod noch an diesem leiden?“
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Fazit •
Auseinandersetzung mit dem Tod kann essentiell für das Leben sein
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Extrem anspruchsvolle Thematik für die Therapie!
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Zentral für Therapeuten: es gibt keine „gute Lösung“, sondern nur den Versuch der „Versöhnung“
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Praxis • Demonstration mit einem Patienten, der aktuell von einer terminalen Diagnose erfahren hat • Rollenspiele: • Patient, der einen wichtigen Menschen an den Tod verloren hat • gesunder Patient mit trotzdem lähmender Todesangst
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Umgang mit Verantwortung, Freiheit/Schicksal und Schuld
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Praktische Übung „Verantwortung“ Entscheidung für die Teilnahme an der Fachtagung heute Die fünf wichtigsten Konsequenzen, die ich damit zu verantworten habe: 1. 2. 3. 4. 5.
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Schicksal – Freiheit auf den Punkt gebracht:
We cannot change the cards we are dealt, just how we play our hand. Randy Pausch
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Freiheit und Schicksal • menschliche Existenz aufgespannt zwischen Schicksal und Freiheit: beides ist Wirklichkeit, Negierung ist Reduktionismus • Kernbegriff: Verantwortung (sowohl für das Unternommene als auch das Unterlassene!) • Mensch als entscheidendes Sein: „Nicht die Dinge an sich beunruhigen den Menschen, sondern seine Sicht der Dinge“ (Epiktet)
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Verantwortung •
Verantwortung ist ohne Freiheit nicht möglich: nicht alles ist Zufall, Schicksal etc.→ kein „Pandeterminismus“ (Frankl)
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Aber genauso: wir sind nicht „an allem Schuld“→ „shit happens“
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Verantwortung haben wir sowohl in bewussten als auch in unbewussten Anteilen: Gewähltes ist zumeist transparent, Ungewähltes nicht vollständig
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Entscheidungsaufschub als wichtiges Symptom einer Verantwortungsvermeidungshaltung
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Therapie vor dem Hintergrund von Schicksal und Freiheit •
Beide Anteile als bedeutsam für die Existenz markieren
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Bei Verantwortungsvermeidung: - Angst vor Konsequenzen transparent machen - „schonungslos“ sein: „Der richtige Moment wird nie kommen“ - bedeutsam für die Verhaltensanalyse: der kurzfristige Gewinn ist die Illusion, zumindest noch nichts falsch gemacht zu haben - Unterschied zu „klassischen“ Angststörungen: Angst wird nicht schnell nachlassen - hilfreich ist ein explikativer sokratischer Dialog zum Begriff „Sicherheit“ - Entscheidungssituationen mit steigender Schwierigkeit üben
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Schuld •
Leiden unter Schuldgefühlen bei einem sehr großen Teil der Patienten
•
Schuld als Existenzial (Frankl: „tragische Trias“ aus Leid, Schuld und Tod)
•
Völlige Schuldvermeidung unmöglich (Stichwort Jaina-Mönche)
•
Wichtig: Klärung der Begriffe „Schuld“ (Stichwort Absicht) und „Verantwortung“
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Therapie bei Schuldgefühlen •
Nach der Klärung der Begrifflichkeiten Schuld und Verantwortung: saubere Trennung der unterschiedlichen Anteile
•
Meist eintretender Effekt: „Schuld“ wird deutlich reduziert, nämlich um verkannte „Verantwortlichkeits“-Anteile
•
Stichwort „Restrisiko“
•
Veränderung von Einschätzungen durch Lebensereignisse (Stichwort Fukushima)
•
Verbleibender Schuldanteil: Wiedergutmachung, Buße, tapferes Tragen
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Fazit •
Freiheit und Verantwortung als Dimensionsendpunkte, zwischen denen sich das Leben aufspannt
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Abseits akademischer Debatten: akzeptierende, nicht-reduktionistische Perspektive entspricht am ehesten dem Alltags(er)leben
•
Angst als zentrales Motivationskriterium bei Vermeidungsorientierung
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Bedeutsam, zwischen Schuld und Verantwortung so sauber wie möglich zu trennen
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Praxis • Demonstration mit einem Patienten, der alle Entscheidungen vermeidet (GAD-typisch) • Rollenspiele: • Patient, der von Schuldgefühlen niedergedrückt wird • Patient, der sich vom Leben gelebt und hilflos fühlt („Ich kann doch eh nichts ausrichten, es kommt wie es kommt“)
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Umgang mit Isolation
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Praktische Übung „interpersonelle Beziehungen“ •
Fünf Menschen in meinem Leben, ich in der Mitte
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„Unterstützungs“-Pfeile einzeichnen: einfach, doppelt, dreifach, je nach Intensität und in beide Richtungen
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Untersuchungsfragen: - Vergleichbare Stärke in beide Richtungen?
•
- Welche Art Beziehungen hast du? - Wirst du genügend unterstützt in deinem Leben? Und umgekehrt? - Wünschst du dir Veränderung? - Welche Hindernisse stehen der Veränderung im Wege?
Angelehnt an van Deurzen (2011), S. 109
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Isolation • Isolation: interpersonell, intrapersonell, existentiell • zwischenmenschliche Beziehung als „Hauptbollwerk“ gegen Isolation
„Das Schlimmste am Alleinsein, der Gedanke, der mich in den Wahnsinn treibt, ist, dass niemand auf der Welt in diesem Moment an mich denken könnte“. (Patientin in einer Gruppentherapie Yaloms)
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Interpersonale Isolation • Isolation gegenüber anderen Menschen • gewöhnlich als „Einsamkeit“ erlebt • Gründe: geographische Isolation, Fehlen angemessener sozialer Verhaltensweisen, widersprüchliche Nähe-Distanz-Wünsche, spezifischer Persönlichkeitsstil • kulturelle / gesellschaftliche Dimension: Verfall bestimmter Institutionen (z. B. Großfamilie, Kirche, Kleinhändler...) • Therapie: klassisch (VT, interpersonelle Therapie, Aufbau sozialer Kompetenzen, Rollenspiele, Aktivitätenaufbau etc.)
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Intrapersonale Isolation • Abspaltung eigener Anteile = „Auseinanderfallen des Selbst“ • Haupterscheinungsformen: Unterdrückung eigener Gefühle oder Wünsche bzw. Akzeptieren der Wünsche anderer als die eigenen; Untergrabung des eigenen Potentials; Selbstmisstrauen • Binswanger über Ellen West: „Während sie als Kind völlig abhängig von der Meinung anderer war, ist sie jetzt völlig abhängig von dem, was andere denken. Sie hat keine Möglichkeit mehr zu wissen, was sie fühlt oder was ihre Meinung ist. Dies ist der einsamste Zustand von allen, eine fast vollständige Trennung vom autonomen Organismus“. • Therapieziel: Entdecken und Akzeptieren unbekannter oder unangenehmer Teile seiner selbst • Therapeutische Vorgehensweise: weitgehend „Rogerianisch“ (validieren, wohlwollenden Raum zur Selbstöffnung und –untersuchung schaffen, Einladung zu Experimenten mit eigenen Verhaltensweisen etc.) Hochschule Mannheim University of Applied Sciences | Prof. Dr. Alexander Noyon
Existenzielle Isolation • grundlegendste und zur Existenz gehörige Isolation • trotz befriedigender Bindungen an Menschen und trotz vollständiger Selbsterkenntnis und Integration vorhanden • bezeichnet unüberbrückbaren Abgrund zwischen sich selbst und anderen Lebewesen = Trennung zwischen dem Menschen und der Welt • Erich Fromm: Isolation ist die ursprüngliche Quelle der Angst
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Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel
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Existenzielle Isolation • „Existieren“ = ex sistere = heraustreten, aus dem allgemeinen Sein herausragen • Was ist Reifung und Wachstum? • Beginn: Verschmelzung von Ei und Samenzelle • dann vollständige physische Abhängigkeit von Mutter • dann physische und emotionale Abhängigkeit der umgebenden Erwachsenen • dann allmähliches Errichten von Grenzen • ergo: sich nicht-trennen bedeutet nicht-wachsen • Preis des Wachstum: Isolation
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Existenzielle Isolation Erich Fromm: „Je mehr das Kind aus dieser Welt herauswächst, desto mehr merkt es, dass es allein und eine von allen anderen getrennte Größe ist. Diese Lostrennung von einer Welt, die im Vergleich zur eigenen individuellen Existenz überwältigend stark und mächtig, oft auch bedrohlich und gefährlich ist, erzeugt ein Gefühl der Ohnmacht und Angst. Solange man ein integrierter Teil jener Welt war und sich der Möglichkeiten und der Verantwortlichkeit individuellen Tuns noch nicht bewußt war, brauchte man auch keine Angst davor zu haben. Ist man erst zu einem Individuum geworden, so ist man allein und steht der Welt mit allen ihren gefährlichen und überwältigenden Aspekten gegenüber.“ Erich Fromm: Escape from Freedom.
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Existenzielle Isolation • dichter Zusammenhang zur interpersonellen Isolation: Heraustreten aus der zwischenmenschlichen Verschmelzung wirft den Menschen in die existenzielle Isolation • wichtige Lernaufgabe: sich aufeinander ehrlich beziehen können, ohne Individualität aufzugeben • häufiges (problematisches) Motiv bei der Beziehungssuche: Flucht vor existenzieller Isolation, indem man Teil eines anderen wird Yalom: „Jeder von uns ist in seiner Existenz allein. Aber das Alleinsein kann auf eine Weise geteilt werden, dass die Liebe den Schmerz der Isolation aufwiegt“. (S. 430)
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Existenzielle Isolation • zentrale Aufgabe des Therapeuten: Beziehungsmotive klären. Was machst du mit anderen Menschen? Welches sind deine Beziehungsmuster? • Konfrontation mit der Realität existenzieller Isolation: „Unser Gefühl der Isolation macht dem Mitgefühl für die anderen den Weg frei, und wir sind nicht mehr so verängstigt. [...] Aber Mitgefühl und ihre Zwillingsschwester, die Empathie, erfordern ein gewisses Maß an Balance; sie können nicht aus Panik heraus entstehen.“ (Yalom, S. 471).
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Liebe und Isolation •
Liebesbeziehungen als stärkstes Bollwerk gegen Isolation
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Gleichzeitig: härtestes Erfahren der unüberbrückbaren Grenze
• entschlossenes Tragen der Isolation als Basis für Beziehungsfähigkeit • Yalom: „Wenn wir [...] von der Furcht vor dem Abgrund der Einsamkeit überwältigt werden, werden wir unsere Hände nicht nach den anderen ausstrecken, sondern statt dessen nach ihnen hangeln, um nicht im Meer der Existenz zu ertrinken. In diesem Fall sind unsere Beziehungen keineswegs wahre Beziehungen, sondern sie sind aus den Angeln gehoben, Fehlgeburten, Verzerrungen dessen, was hätte sein können.“ (S. 431)
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May – wider die Banalisierung der Sexualität Wenn wir unsere Empfindungen abtöten, um besser funktionieren zu können, wenn wir Sex als ein Werkzeug benutzen, um unsere Vitalität und Identität zu beweisen, wenn wir unsere Sinnlichkeit einsetzen, um unsere Sensibilität zu verbergen, dann haben wir der Sexualität den Lebensnerv gezogen und sie schal und leer gemacht. Die Banalisierung der Sexualität wird von unseren Massenmedien wacker unterstützt. Denn die Unmenge von Büchern über Sex und Liebe, die den Markt überschwemmen, haben eines miteinander gemein – sie wälzen Liebe und Sex platt, indem sie uns beides beibringen wollen, so wie man Tennisspielen lernt oder eine Lebensversicherung abschließt. Im Verlauf dieses Prozesses haben wir den Sex seiner Macht beraubt, indem wir die Erotik umgangen haben; und letztendlich haben wir beides dehumanisiert. Rollo May, Liebe und Wille (S. 63)
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Liebe und Tod – die größte Paradoxie • sich verlieben ist „erschütternd“, Wahrnehmung aber meist auf den positiven Pol fixiert • Liebe ist die Erfahrung größter Verwundbarkeit • Maslow: „Ich frage mich, ob wir leidenschaftlich lieben könnten, ob Ekstase überhaupt möglich wäre, wenn wir wüßten, daß wir niemals sterben werden.“ • italienisch: amore = Liebe, morte = Tod • Sexbesessenheit als verdrängte Todesfurcht
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Therapeutische Hinweise zu „In-Beziehung-Flüchtern“ •
Typisches Muster: Beziehung nach Beziehung, ohne Pause, häufig nach vergleichbaren Mustern
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Motiv: Alleinsein um jeden Preis vermeiden
•
Therapie: Motive klären, mit Realitäten konfrontieren, Einladung zum Umlernen
•
Wichtige Methode: Einsamkeitsexposition
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Fazit •
Bedürfnis nach Zwischenmenschlichkeit als absolut zentrales Grundbedürfnis des Menschen
•
Bei aller Beziehungssehnsucht jedoch Unmöglichkeit der Verschmelzung
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Tapferes Tragen der und akzeptante Perspektive zur Isolation als Basis für reife zwischenmenschliche Beziehungen
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Praxis • Demonstration der Gesprächsführung mit einem Patienten mit Isolationssymptomen • Kleingruppenübungen: • Sexsüchtiger Patient („… finde nur in der Verschmelzung mit einem anderen kurze Zeit zur Ruhe…“) • Abhängiger Patient („… bin alleine nicht lebensfähig und deshalb stetig darum bemüht, bloß nie alleine zu sein…“) • Hadernder Patient („… ist mir klar geworden, dass wir letztlich immer alleine bleiben, egal wie nahe wir uns kommen, das kann ich nicht aushalten…“)
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