Examensreport, Termin 2016-II Bayern

Zivilrecht Examensreport Examensreport, Termin 2016-II Bayern Hinweis: Die nachfolgenden Übersichten sind keine Musterlösungen. Insbesondere dient d...
Author: Heini Hummel
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Zivilrecht

Examensreport

Examensreport, Termin 2016-II Bayern Hinweis: Die nachfolgenden Übersichten sind keine Musterlösungen. Insbesondere dient der hier teilweise verwendete Urteilsstil allein der knapperen Darstellung in der Life&Law. Die Lösungshinweise sollen zur besseren Orientierung in Ihrer Examensvorbereitung dienen. Nur wer die Anforderungen des Examens kennt, lernt richtig. Die Examensklausuren in allen Bundesländern weisen inzwischen die gleiche Struktur und den gleichen Schwierigkeitsgrad auf. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von examenstypischen Fallkonstellationen. So werden Klausuren aus anderen Bundesländern im sog. Ringtausch („Klausurenpool“) wiederverwendet. Alle Studenten und Referendare sollten sich daher mit den besprochenen Klausuren beschäftigen.

A) Zivilrecht Allgemeines/Auffälligkeiten/Trends:

 zwei Mal Schuldrecht „satt“  Sachenrecht und Erbrecht  wenig ZPO

Klausur Nr. 1 Sachverhalt: Der alleinerziehende M wohnt gemeinsam mit seinem zwölfjährigen Sohn K zur Miete in der Erdgeschosswohnung eines Zweifamilienhauses. Eigentümer ist V, der die Wohnung im Obergeschoss bewohnt. Partei des Mietvertrags ist ausschließlich M. Zu dem Haus gehört eine auf demselben Grundstück stehende Doppelgarage, welche jeweils mit Hilfe einer eigenen Flügeltüre geöffnet werden kann und durch eine Holzlattenwand in zwei separate Teile geteilt ist. Während der eine Teil von V genutzt wird, hat M den anderen Teil zusammen mit der Wohnung angemietet. M lässt, anders als V, das Garagentor stets unverschlossen. Einen Tag vor Sylvester kauft M ein großes Bündel „Super-Böller“ und verwahrt diese über große Sprengkraft verfügende Feuerwerkskörper auf der Werkbank in seinem Teil der Garage auf. Dabei verschließt er das Garagentor nicht. Da M weiß, dass K fasziniert von Böllern ist und eine Neigung zum Zündeln hat, ermahnt er ihn eindringlich, die Garage nicht zu betreten und die Böller nicht zu berühren. K begibt sich trotz der Untersagung heimlich in die Garage, wird aber von M erwischt, der ihm den Zugang erneut eindringlich untersagt. Trotz dieses Vorfalls verschließt M die Garage nicht. Am selben Tag schleicht sich K, während er unbeaufsichtigt spielt, erneut in die unverschlossene Garage. K weiß um die Gefährlichkeit der Feuerwerkskörper und um das Verbot. Daraufhin entzündet K mit einem auf der Werkbank liegenden Feuerzeug einen Böller, wodurch es zu einer Kettenreaktion kommt, bei der die übrigen Böller explodieren. K kann sich zwar retten, die Doppelgarage brennt aber mit Ausnahme der Grundmauern und einiger Wandteile nahezu vollständig ab. Es entsteht ein Schaden i.H.v. 40.000,- €. V verlangt Ersatz des Schadens von M. V und M verhandeln über die Schadensersatzverpflichtung und beschließen zunächst, den Mietvertrag einverständlich aufzuheben. M und K ziehen aus und übergeben das Mietobjekt an V. Vier Monate nach dem Auszug des M werden die Verhandlungen ergebnislos abgebrochen. Sieben Monate nach dem Auszug nimmt V den M auf Schadensersatz in Anspruch. Daneben verlangt er nunmehr auch von K Ersatz des entstanden Schadens. Frage 1:

Kann V von M Schadensersatz i.H.v. 40.000,- € verlangen?

Frage 2:

Kann V von K Schadensersatz i.H.v. 40.000,- € verlangen?

Hinweis: Das StGB, das Sprengstoffgesetz sowie versicherungsrechtliche Aspekte bleiben bei der Bearbeitung außer Betracht!

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Skizzierung der inhaltlichen Probleme: Frage 1: Kann V von M Schadensersatz i.H.v. 40.000,- € verlangen? A) Anspruch des V gegen M aus §§ 280 I, 241 II, 535 BGB In Betracht kommt zunächst ein Anspruch auf Schadensersatz wegen einer Schutzpflichtverletzung aus dem Mietverhältnis, §§ 280 I, 241 II, 535 BGB. I. Schuldverhältnis Zwischen V und M ist ein wirksamer Mietvertrag (§ 535 BGB) zustande gekommen. Ein Schuldverhältnis liegt damit vor. II. Pflichtverletzung Fraglich ist, welche Pflicht aus dem Mietverhältnis von M verletzt wurde. 1. Hinsichtlich der von M nicht angemieteten Doppelgaragenhälfte kommt nur die Verletzung der Pflicht nach § 241 II BGB zur Rücksichtnahme auf das Rechtsgut Eigentum des V in Betracht. Die Pflichtverletzung ist nicht darin zu sehen, dass M die Feuerwerkskörper in der Garage gelagert hat. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit bestand hier in dem Unterlassen des Absperrens der Garage. Ein Unterlassen ist aber nur dann eine Pflichtverletzung, wenn eine Pflicht zum Handeln besteht. M wusste, dass K gerne „zündelt“ und dass dieser das Verbot, die Garage zu betreten, schon einmal missachtet hat. Daher bestand wegen der offenen Lagerung der Feuerwerkskörper auf der Werkbank in der Garage im Hinblick auf den Rechtsgüterschutz des V eine Verkehrssicherungspflicht des M zum Handeln, also zum Absperren der Garage. 2. Hinsichtlich der von M angemieteten Doppelgaragenhälfte könnte stattdessen ein Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung vorliegen. a) Dem M wurde die infolge der vergleichsweisen Aufhebung des Mietvertrags nach § 546 I BGB geschuldete Rückgabe der Garage nicht unmöglich (§ 275 I BGB), da die Rückgabe des Grundstücks mit den Grundmauern noch möglich ist. Damit scheidet ein Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung gem. §§ 280 I, III, 283 BGB aus. b) Fraglich ist aber, ob §§ 280 III, 281 I BGB einschlägig sind. Dies ist abzulehnen, da es sich nicht um die Verletzung der leistungsbezogenen Rückgabepflicht aus § 546 I BGB handelt, sondern um eine nicht leistungsbezogene Pflichtverletzung gem. § 241 II BGB während des Bestehens des Mietvertrags (Sorgfaltspflicht des Mieters gegenüber dem Vermieter). (Anmerkung: Es war sicher vertretbar, die Verletzung der Rückgabepflicht anzunehmen. In diesem Fall wäre wegen der ernsthaften und endgültigen Erfüllungsverweigerung, die im Abbruch der Vergleichsverhandlungen zu sehen ist, die Fristsetzung gem. § 281 II BGB entbehrlich). III. Keine Widerlegung des vermuteten Vertretenmüssens, § 280 I S. 2 BGB 1. Eine Widerlegung des gem. § 280 I S. 2 BGB vermuteten Vertretenmüssens gelingt M nicht, da er die Gefahr des „Zündelns“ erkannt hat und damit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat, § 276 II BGB. 2. Außerdem kann dem M das Verschulden seines Sohnes zugerechnet werden. a) § 540 II BGB ist nicht einschlägig, da M als Familienangehöriger nicht Dritter i.S.d. § 540 BGB ist. b) Allerdings ist K gem. § 278 S. 1 Alt. 2 BGB eine Person, derer sich M bei der Erfüllung seiner Schutzpflichten bedient hat (sog. Erfüllungsgehilfe). Auf das Vorliegen eines Schuldverhältnisses zwischen M und K kommt es nicht an; es genügt, dass K tatsächlich für M tätig wurde. Dies ist schon deshalb der Fall, da K zusammen mit M in der angemieteten Wohnung wohnt. Dabei reicht es nach Rechtsprechung aus, dass K nur bei der Erfüllung von Schutzpflichten (§ 241 II BGB) tätig wurde. Nach überwiegender Ansicht muss der Erfüllungsgehilfe aber selbst verschuldensfähig (vgl. §§ 276 I S. 2, 828 BGB) sein. Dies ist vorliegend zu bejahen, da die Einsichtsfähigkeit des K gem. § 828 III BGB vermutet wird und hier nicht widerlegt werden kann, da K das Gefährdungspotential der Superböller laut Sachverhalt erkannt hat. (Anmerkung: Es war vertretbar, bereits bei der Pflichtverletzung die Zurechnungsnorm des § 278 S. 1 BGB anzusprechen und damit neben der eigenen auch die Pflichtverletzung des Sohnes zuzurechnen.)

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IV. Als kausalen Schaden kann V von M die Zahlung von 40.000,- € verlangen, § 249 I, II BGB. Eine etwaige in diesem Betrag enthaltene Umsatzsteuer für die Reparatur kann V aber nur verlangen, wenn er tatsächlich die Garage reparieren lässt, § 249 II S. 2 BGB. V. Einrede der Verjährung, § 214 I BGB? Fraglich ist aber, ob sich M auf die Einrede der Verjährung gem. § 214 I BGB berufen kann. 1. Die Verjährung richtet sich vorliegend nicht nach §§ 195, 199 BGB, die allenfalls bei einer vollständigen Zerstörung des Mietobjekts anwendbar sind. Einschlägig ist vielmehr die sechsmonatige Verjährung des § 548 I S. 1 BGB (Anmerkung: Probleme schaffen, nicht wegschaffen! Klausurtaktisch ist eine andere Entscheidung nicht möglich, da ansonsten die Hemmungsproblematik überflüssig wird.). Auch hinsichtlich des nicht vermieteten Teils der Garage gilt nach h.M. § 548 BGB, da dieser Teil untrennbar mit der angemieteten Doppelgaragenhälfte verbunden war. 2. Die Verjährung begann mit der Rückgabe zu laufen (§ 548 I S. 2 BGB). Vorliegend sind seit dem Auszug sieben Monate verstrichen, sodass Verjährung eingetreten sein könnte. 3. Allerdings haben V und M über die Schadensersatzverpflichtung des M verhandelt, sodass die Verjährung gem. § 203 S. 1 BGB gehemmt war. Da die Verhandlungen vier Monate nach dem Auszug endeten, könnte drei Monate später, also sieben Monate nach dem Auszug, gem. § 203 S. 2 BGB Verjährung eingetreten sein. Da aber beim Abbruch der Verhandlungen noch die volle sechsmonatige Verjährungsfrist des § 548 I S. 1 BGB offen war und die Ablaufhemmung des § 203 S. 2 BGB frühestens drei Monate nach dem Ende der Verhandlungen eintritt, tritt Verjährung im vorliegenden Fall also erst zehn Monate nach dem Auszug ein. M kann sich daher nicht auf Verjährung berufen. Ergebnis: V hat gegen M einen durchsetzbaren Anspruch aus §§ 280 I, 241 II BGB. B) Anspruch des V gegen M aus § 832 I S. 1 BGB In Betracht kommt außerdem eine Haftung des M wegen vermuteter schuldhafter Aufsichtspflichtverletzung gem. § 832 I S. 1 BGB. (Anmerkung: Eine Prüfung vor § 823 I BGB ist praxisnäher, da bei dieser Anspruchsgrundlage das Verschulden vermutet wird.) I. M war als alleinerziehender Vater im Rahmen seiner Personensorge (§ 1626 I S. 1 S. 2 Alt. 1 BGB) dem K gegenüber gem. § 1631 I Var. 3 BGB zur Aufsicht i.S.d. § 832 I S. 1 BGB verpflichtet. II. K hat durch das Anzünden der Superböller eine äquivalent und adäquat kausale - vom Schutzzweck der Norm erfasste - Kettenreaktion ausgelöst, wodurch haftungsbegründend kausal die Garage des V bis auf die Grundmauern abbrannte und dadurch dessen Eigentumsrecht verletzt wurde. III. Das vermutete Verschulden des M könnte nur widerlegt werden, wenn M beweist, dass er seiner Aufsichtspflicht genügt hat (sog. Exkulpation), § 832 I S. 2 Alt. 1 BGB. 1. Für eine Exkulpation könnte sprechen, dass K bereits 12 Jahre alt und einsichtsfähig war, weil er das Gefährdungspotential der Superböller erkannt hat (s.o.). 2. Dabei würde aber übersehen, dass M wusste, dass K zum Zündeln neigt. Außerdem hat M den K dabei erwischt, als er das Verbot, die Garage zu betreten, missachtet hat. Die Exkulpation gelingt M daher nicht. IV. M gelingt auch nicht der Entlastungsbeweis, dass seine Aufsichtspflichtverletzung nicht kausal für den Schadenseintritt war (§ 832 I S. 2 Alt. 2 BGB als gesetzlicher Fall des rechtmäßigen Alternativverhaltens). Die Aufsichtspflichtverletzung des M bestand gerade in dem Unterlassen des Verschließens der Garage. Hätte M dies getan, wäre der K mangels anderweitiger Angaben im Sachverhalt auch nicht in die Garage zu den Feuerwerkskörpern gelangt. V. Dem M steht auch nicht die Einrede der Verjährung nach § 214 I BGB zu. Zwar gilt nach nahezu allg. Meinung § 548 I BGB analog für einen konkurrierenden deliktischen Anspruch, um ein Leerlaufen des § 548 I BGB zu verhindern. Der Vermieter ist nämlich regelmäßig Eigentümer oder zumindest berechtigter Besitzer der Mietsache, sodass bei einer Verschlechterung der Mietsache nahezu immer auch der Tatbestand des § 823 I BGB (bzw. hier des § 832 I BGB) erfüllt ist. Allerdings wurde durch die Verhandlungen der Lauf der Verjährung gem. § 203 S. 1 BGB gehemmt (s.o.), sodass sich M nicht auf Verjährung berufen kann. Ergebnis: V hat gegen M einen durchsetzbaren Anspruch aus § 832 I BGB.

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C) Anspruch des V gegen M aus § 823 I BGB In Betracht kommt ferner eine Schadensersatzverpflichtung des M gem. § 823 I BGB. I. Die deliktische Handlung des M lag im Unterlassen des Absperrens der Garage, obwohl M hierzu verpflichtet war (s.o.). II. Durch das Abbrennen der Garage bis auf die Grundmauern wurde das Eigentum des V verletzt. III. Das Unterlassen des M war äquivalent und adäquat haftungsbegründend kausal für die Rechtsgutverletzung. Die Kausalität wurde nicht durch das Dazwischentreten des K unterbrochen. Zwar wurde die Rechtsgutverletzung unmittelbar von K herbeigeführt. Das „Zündeln“ des K wurde aber durch das Unterlassen des M geradezu herausgefordert, sodass nach der Lehre vom Schutzzweck der Norm das Dazwischentreten des K dem M zugerechnet werden kann (sog. „psychisch vermittelte“ Kausalität). IV. Rechtswidrigkeit, Verschulden und ein haftungsausfüllend kausaler Schaden liegen vor (s.o.). V. Dem M steht auch nicht die Einrede der Verjährung zu (s.o.). Ergebnis: V hat gegen M einen durchsetzbaren Anspruch aus § 823 I BGB. Frage 2: Kann V von K Schadensersatz i.H.v. 40.000,- € verlangen? A) Kein Anspruch des V gegen K aus §§ 280 I, 241 II BGB Zwischen V und K lag kein Schuldverhältnis vor, weil laut Sachverhalt allein M Mietvertragspartei war. (Anmerkung: Die Frage, ob der Mietvertrag Schutzwirkung für K entfaltet, spielt an dieser Stelle keine Rolle, da nach diesen Grundsätzen nur ein Anspruch zugunsten des K begründet werden kann.) B) Anspruch des V gegen K aus § 823 I BGB I. K hat haftungsbegründend kausal durch sein „Zündeln“ das Eigentum des V rechtswidrig und schuldhaft (vgl. § 828 III BGB) verletzt, wodurch V ein haftungsausfüllend kausaler Schaden entstanden ist (s.o.). II. Fraglich ist lediglich, ob sich K auf die Einrede der Verjährung nach § 214 I BGB berufen kann. 1. Zunächst ist die Frage zu klären, ob für K die dreijährige Regelverjährung der §§ 195, 199 BGB oder die sechsmonatige Verjährungsregelung des § 548 I BGB zur Anwendung kommt. a) Die analoge Anwendung des § 548 I BGB für einen konkurrierenden deliktischen Anspruch wurde bereits bei den Ansprüchen gegen M erläutert. b) Da allerdings nur der M Mietvertragspartei war, könnte § 548 I BGB zugunsten des K nur nach den Grundsätzen des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte zur Anwendung kommen. Nach allgemeiner Ansicht gelten die Grundsätze des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte nicht nur für Anspruchsbegründung. Sie dienen vielmehr auch dazu, den Dritten in den Genuss der Haftungsbeschränkungen kommen zu lassen, die sich aus dem Vertragsverhältnis ergeben, in welches der Dritte einbezogen ist (sog. „Verjährungsprivilegierung mit Schutzwirkung für Dritte“). Voraussetzung für die analoge Anwendung des § 548 I BGB wäre daher, dass K in den Schutzbereich des Mietvertrages zwischen M und V einbezogen ist. (Anmerkung: Die meisten Bearbeiter der Klausur werden beim Lesen des Sachverhalts den Vertrag mit Schutzwirkung gesehen und sich dabei gefragt haben, wo die Problematik einzubauen ist. Dieser Kniff mit der Verjährungsprivilegierung zugunsten Dritter lag aber nahe, wenn man die Anwendbarkeit des § 548 I BGB auf den deliktischen Anspruch erkannt hat). aa) Da K mit der Hauptleistung des V, der Überlassung der Mietsache, ebenso wie M in Berührung kommt, ist die Leistungsnähe zu bejahen. Die Frage, ob der Dritte zumindest auch mit der synallagmatischen Hauptleistung in Berührung kommen muss (so der BGH), bedurfte daher keiner Entscheidung. bb) Aufgrund des personenrechtlichen Einschlages (§ 1626 BGB) hatte M ein gesteigertes Interesse am Schutz des K, sodass auch die Gläubigernähe zu bejahen war. cc) Leistungs- und Gläubigernähe waren für V als Vermieter erkennbar. dd) K ist auch schutzbedürftig, da er ansonsten einer strengeren, da längeren Haftung als der eigentliche Vertragspartner unterliegen würde.

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2. Fraglich ist, ob die infolge der Verhandlungen gem. § 203 S. 1 BGB eingetretene Verjährungshemmung auch zu Lasten des K Wirkung entfaltet. a) M hätte zwar als gesetzlicher Vertreter des M (§§ 1629 I, 1626 BGB) die Verhandlungen auch für K führen können. Laut Sachverhalt hat M bei den Verhandlungen aber nur in eigenem Namen gehandelt. Ansprüche gegen K wurden zu dieser Zeit von V gar nicht erhoben. b) Die Grundsätze der Verjährungsprivilegierung mit Schutzwirkung für Dritte können für die Verjährungshemmung nicht angewendet werden, da diese Grundsätze nur zugunsten des K, aber nicht zu dessen Nachteil herangezogen werden können. c) Kraft Gesetzes hat die Verjährungshemmung auch keine Gesamtwirkung. Zwar sind K und M gem. § 840 I BGB Gesamtschuldner. Gem. § 425 I, II BGB hat aber selbst bei Gesamtschuldnern die Verjährungshemmung nur Einzelwirkung. Ergebnis: V hat gegen K einen Anspruch auf Schadensersatz aus § 823 I BGB. Diesem kann K die Einrede der Verjährung gem. § 214 I BGB entgegenhalten. hemmer-Trainingsplan-Info: Ein Volltreffer gleich zu Beginn und somit ein sehr guter Einstieg in den Examenstermin. Die Klausur war vom Umfang und den zu bewältigenden Problemen überschaubar. Die Abgrenzung von §§ 280 I, 241 II BGB zu §§ 280 I, III, 281 BGB bei der Beschädigung der Mietsache ist Gegenstand von Fall 9, SchuldR-BT. Außerdem wurde das Problem besprochen in BGH, Life&Law 02/2014, 85 ff. Das Problem der Verjährung und die analoge Anwendung auf den deliktischen Anspruch zu erkennen wird ebenfalls in Fall 9, SchuldR-BT behandelt und wurde außerdem im Crashkurs BGB unmittelbar vor dem Examen am ersten Tag nochmals ausführlich besprochen. Auch das Verjährungsprivileg mit Schutzwirkung für Dritte ist Gegenstand von Fall 9, SchuldR-BT. Die Voraussetzungen des Vertrags mit Schutzwirkung werden außerdem in vielen weiteren Fällen und Konstellationen (z.B. Fälle 2, 5, 6, 18 SchuldR-AT) behandelt. Die Gesamt- und Einzelwirkung bestimmter Rechtsfolgen bei der Gesamtschuld (§§ 422 bis 424 BGB einerseits und § 425 I, II BGB andererseits) wird in Fall 22, SchuldR-AT und Fall 15, SchuldR-BT behandelt.

Klausur Nr. 2 Sachverhalt Teil I: D ist Eigentümer eines zwölf Schallplatten umfassenden Satzes Schallplatten der BBand aus den 70´er Jahren („70´er Satz“). D verleiht diesen an die V. Die V tauscht den 70´er Satz gegen einen ebenfalls zwölf Schallplatten umfassenden Schallplattensatz, der alle Aufnahmen der B-Band aus den 50´er Jahren enthält („50´er Satz“), mit K. Einen Tag nach dem Vollzug des Tauschgeschäfts stellt K fest, dass eine Schallplatte des 70´er Satzes fehlt. M, die Mutter der K, besorgt die fehlende Schallplatte für K und schenkt sie ihr zum Geburtstag. Einige Monate später meldet sich D bei K und teilt ihr mit, dass der 70´er Satz in Wahrheit ihm gehöre und er diese nur an V verliehen habe. K verlangt unter Berufung darauf, dass V ihr möglicherweise nie Eigentum an dem 70´er Satz hätte verschaffen können und wegen der fehlenden Schallplatte Rückgewähr des 50´er Satzes Zug-um-Zug gegen Rückgewähr des (unvollständigen) 70´er Satzes. V macht geltend, dass sie nichts von der fehlenden Schallplatte wusste. Außerdem hätte sie selbst für den Ersatz der fehlenden Schallplatte gesorgt, wenn K ihr das früher gesagt hätte. Mit der Erfüllung ihrer Verpflichtungen durch die M sei sie jedenfalls nicht einverstanden. Sachverhalt Teil II: K hat Klage gegen V auf Rückgewähr des „50´er Satzes“ erhoben. Die Klage wurde rechtskräftig abgewiesen. W, der mit V in einer Wohngemeinschaft lebt, berichtet der K wahrheitsgemäß, dass die V am Abend vor dem Tauschgeschäft zwischen K und V das Fehlen der Schallplatte bemerkt und die V der K das Fehlen der Schallplatte damit wissentlich verschwiegen hätte. K teilt V daraufhin unverzüglich mit, dass sie nun endgültig nichts mehr vom Tauschgeschäft wissen wolle. Da V weiterhin nicht bereit ist, den 50´er Satz zurück zu gewähren, möchte K nun erneut Klage gegen V auf Rückgewähr erheben. Fragen zu Teil I: 1. Hat K gegen V einen Anspruch auf Rückgewähr des „50´er Satzes“?

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2. Angenommen, D erhebt Klage gegen K auf Herausgabe des „70´er Satzes“: Wie und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen kann sich K, die ihrerseits eine Klage gegen V auf Rückgewähr des 50´er Satzes vom Ausgang des Prozesses mit D abhängig machen möchte, dagegen schützen, dass die Frage des Eigentums des D am „70´er Satz“ im aktuellen Prozess mit D anders beurteilt wird als im Rahmen einer etwaigen späteren Klage der K gegen V. Wie würde sich ein solches Vorgehen der K in einem etwaigen späteren Prozess der K gegen V auswirken? Fragen zu Teil II: 1. Hat K gegen V jetzt einen Anspruch auf Rückgewähr des „50´er Satzes“? 2. Wäre eine erneute Klage der G gegen V auf Rückgewähr des 50´er Satzes zulässig? Hinweis für den Bearbeiter: Schadens- und Nutzungsersatzansprüche sowie deliktische Ansprüche sind nicht zu prüfen. Die §§ 578 ff. ZPO bleiben bei der Bearbeitung außer Betracht. Skizzierung der inhaltlichen Probleme: Teil I, Frage 1: Hat K gegen V einen Anspruch auf Rückgewähr des 50´er Satzes? A) Anspruch auf Rückgewähr gem. § 346 I BGB nach erklärtem Rücktritt gem. § 326 V BGB wegen (totaler) Unmöglichkeit? In Betracht kommt ein Rückgewähranspruch gem. § 346 BGB, wenn K gem. § 326 V BGB wirksam vom Tauschvertrag (§ 480 BGB) zurückgetreten wäre. I. Eine Rücktrittserklärung gem. § 349 BGB liegt konkludent in dem Rückgewährverlangen der K. II. Fraglich ist aber, ob K gem. § 326 V BGB zum Rücktritt berechtigt war. Dies wäre denn der Fall, wenn der V die gem. §§ 480, 433 I S. 1 BGB geschuldete Eigentumsverschaffung gem. § 275 I BGB infolge der Eigentümerstellung des D unmöglich gewesen wäre. Teilweise wird vertreten, dass das Eigentum eines Dritten als Rechtsmangel i.S.d. § 435 BGB (hier i.V.m. § 480 BGB) anzusehen ist, sodass §§ 480, 437 Nr. 3, 323 BGB einschlägig wären. Begründet wird dies damit, dass nur so gem. §§ 480, 438 I Nr. 1a BGB die 30-jährige Verjährung, die beim Rücktritt als Erklärungsfrist anzusehen ist (§§ 480, 438 IV S. 1, 218 I S. 2 BGB), zur Anwendung kommt und damit ein Gleichlauf zur 30-jährigen Verjährung des (möglichen) Anspruchs des D gegen K gem. § 985 BGB erzielt wird (vgl. § 197 Nr. 2 BGB). Dies ist im Hinblick auf die Differenzierung in §§ 480, 433 I S. 1 BGB (totale Nichterfüllung) und §§ 480, 433 I S. 2 BGB (mangelhafte Erfüllung) wenig überzeugend. (Anmerkung: Im Übrigen besteht verjährungsrechtlich grds. kein Bedürfnis für die Bejahung der §§ 480, 438 I Nr. 1a BGB. Selbst wenn ein Anspruch aus § 985 BGB bestehen sollte (z.B. weil ein gutgläubiger Erwerb an § 935 BGB scheitern sollte), ist der Anspruch nach zehn Jahren erloschen, wenn der Erwerber gutgläubig war, weil er dann durch Ersitzung das Eigentum erworben hat, § 937 I, II BGB. Für diesen Fall besteht auch ein Gleichlauf aufgrund der max. zehnjährigen Verjährung gem. §§ 195, 199 I, III Nr. 1 BGB.) 1. Ein wirksamer Tauschvertrag gem. § 480 BGB liegt vor. Daran würde wegen § 311a I BGB auch das Vorliegen anfänglicher Unmöglichkeit nichts ändern. 2. Fraglich ist aber, ob der V die Eigentumsverschaffung wegen des Eigentums des D unmöglich war, § 275 I BGB. Unmöglichkeit würde aber ausscheiden, wenn V ihre Verpflichtung bereits erfüllt hätte, § 362 I BGB. Dies wäre der Fall, wenn K das Eigentum an den Schallplatten des 70´er Satzes gutgläubig gem. §§ 929, 932 I S. 1, II BGB erworben hätte. K und V haben sich über den Eigentumsübergang gem. § 929 S. 1 BGB geeinigt. Die Schallplatten wurden der K - bis auf die eine fehlende Platte - auch übergeben. Die fehlende Berechtigung des V war unschädlich, weil K gutgläubig i.S.d. § 932 I S. 1, II BGB war und dem Eigentümer D der unmittelbare Besitz an den von ihm verliehenen Platten (§ 598 BGB) nicht abhandengekommen ist, § 935 I S. 1 BGB. Damit hat K die Platten gutgläubig erworben, so dass kein Fall der (totalen) Unmöglichkeit der Eigentumsverschaffung vorlag. Ein Rücktrittsrecht gem. § 326 V BGB bestand daher nicht. Ergebnis: Ein Anspruch aus § 346 I BGB i.V.m. § 326 V BGB scheidet somit aus.

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B) Auch ein Anspruch auf Rückgewähr gem. §§ 346 I, 326 IV BGB scheidet im vorliegenden Fall aus. Die Gegenleistungspflicht der K (Übereignung des 50´er Satzes) war mangels Unmöglichkeit nicht entfallen. Bezüglich der fehlenden Platte könnte damit allenfalls ein behebbarer Sachmangel vorliegen, der aber nicht zum Entfallen der Gegenleistungspflicht führen würde, vgl. § 326 I S. 2 BGB. C) Anspruch auf Rückgewähr gem. § 346 I BGB nach erklärtem Rücktritt gem. §§ 437 Nr. 2 Alt. 1, 323, 326 V BGB wegen des Vorliegens eines Sachmangels (fehlende Schallplatte)? I. Eine Rücktrittserklärung gem. § 349 BGB liegt vor (s.o.). II. Vorliegen eines Sachmangels, §§ 480, 434 I BGB, bei Gefahrübergang (§§ 480, 446 S. 1 BGB) 1. V und K haben einen Tauschvertrag über die Plattensätze der B-Band aus den 50´er- und 70´er-Jahren geschlossen. Dabei wurde vereinbart, dass die Sammlung „sämtliche“ Aufnahmen („umfassender Satz sämtlicher Aufnahmen“) enthalten solle. Daher wurde als Sollbeschaffenheit die Vollständigkeit des Plattensatzes vereinbart, sodass beim Fehlen einer Schallplatte gem. § 434 I S. 1 BGB die Istbeschaffenheit nachteilig von der Sollbeschaffenheit abweicht. Die Mangelhaftigkeit folgt auch aus § 434 III Alt. 2 BGB, da der K „zu wenig“ Platten geliefert wurden. In Abgrenzung zur Teilleistung wird von der nahezu allgemeinen Meinung verlangt, dass K die Lieferung des V als ordnungsgemäße Erfüllung verstehen musste, es sich also um eine „verdeckte“ Zu-wenig-Lieferung handeln muss. Diese Voraussetzung lag allerdings vor, da K erst später das Fehlen der Schallplatte bemerkt hat. Ein Sachmangel i.S.d. §§ 480, 434 I S. 1 BGB bzw. §§ 480, 434 III Alt. 2 BGB bei der Übergabe und damit bei Gefahrübergang (vgl. §§ 480, 446 S. 1 BGB) lag daher vor. (Anmerkung: Wer die - auch konkludente - Vereinbarung der Vollständigkeit der Plattensammlung verneint hat, musste konsequenter Weise dann jedenfalls § 434 I S. 2 Nr. 2 BGB bejahen.) 2. Ein Recht zum Rücktritt würde aber entfallen, wenn der Sachmangel nach Gefahrübergang im Wege der Nacherfüllung (§§ 480, 437 Nr. 1, 439 I BGB) beseitigt worden wäre. a) Eine Nacherfüllung durch V selbst ist nicht erfolgt. b) Da die Nacherfüllung aber keine höchstpersönliche Leistungspflicht begründet, wäre eine Erfüllung durch die M als Dritte gem. § 267 I BGB möglich. Daran ändert auch der Widerspruch der V nichts, weil K die Platte von ihrer Mutter angenommen hat, vgl. § 267 II BGB. Zu berücksichtigen ist aber, dass eine Erfüllungswirkung durch einen Dritten voraussetzt, dass die M mit dem Willen gehandelt hat, die V von ihrer Nacherfüllungspflicht zu befreien. Zwar ist nach der heute herrschenden Theorie der realen Leistungsbewirkung für die Erfüllung keine Tilgungsbestimmung des Schuldners erforderlich. Eine Tilgungsbestimmung ist aber nach allg. Meinung erforderlich, wenn ein Dritter nach § 267 BGB leistet. M hatte aber nicht die Absicht, auf die fremde Schuld der V zu leisten. Im Gegenteil: M wollte der K die Schallplatte schenken und damit ihre eigene Verbindlichkeit aus § 516 BGB erfüllen. III. Unschädlichkeit der fehlenden Fristsetzung wegen Entbehrlichkeit der Fristsetzung? Der Rücktritt könnte aber daran scheitern, dass die K der V keine Frist zur Nacherfüllung gesetzt hat, §§ 480, 437 Nr. 2, 323 I BGB. Die fehlende Fristsetzung wäre jedoch unschädlich, wenn diese entbehrlich gewesen wäre. 1. Ein Fall der Entbehrlichkeit der Fristsetzung gem. §§ 323 II, 480, 440 BGB ist nicht ersichtlich. 2. Die Fristsetzung könnte aber gem. § 326 V BGB entbehrlich sein, wenn dem V die Nacherfüllung gem. § 275 I BGB unmöglich war, also ein unbehebbarer Mangel vorlag (sog. „qualitative“ Unmöglichkeit). a) Unmöglichkeit wegen des Stücktauschs? Die Unmöglichkeit könnte hier daraus folgen, dass ein Stücktausch vorlag. aa) Beim Stückkauf ist umstritten, ob es eine Nacherfüllung in Form der Nachlieferung gibt. Dies wird von einer Mindermeinung teilweise mit dem Argument verneint, dass § 439 I BGB die Lieferung einer mangelfreien Sache verlange. Beim Stückkauf würde aber stets eine andere als die gekaufte Sache geliefert, wobei es sich aber im Hinblick auf § 434 III Alt. 1 BGB wiederum um eine mangelhafte Sache handelt. (rechtliche Unmöglichkeit).

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Im vorliegenden Fall der Zu-wenig-Lieferung geht es aber nicht um eine Nachlieferung (Lieferung eines komplett neuen Schallplattensatzes), sondern um eine Nachbesserung (Lieferung der fehlenden Platte). Eine Unmöglichkeit der Nachbesserung aus Rechtsgründen liegt daher unabhängig von der Frage, ob der zuvor genannten Mindermeinung zu folgen ist, auf keinen Fall vor. bb) Bei der Zu-wenig-Lieferung besteht die Nachbesserung aber nicht in einer klassischen „Reparatur“, sondern – ähnlich wie bei der Nachlieferung – in der Beschaffung eines anderen Gegenstandes. Daher muss der Gegenstand zumindest tatsächlich und nach dem erkennbaren Parteiwillen austauschbar bzw. ersatzfähig sein. Die fehlende Schallplatte war am Markt beschaffbar. Außerdem wurde im vorliegenden Fall – anders als etwa beim Kauf eines gebrauchten Pkw – der Tausch der Platten nicht vom jeweiligen Abnutzungsgrad der Schallplatten abhängig gemacht. Damit war die fehlende Platte auch nach dem Parteiwillen „x-beliebig“ austauschbar, da es der K sicher nicht auf diese konkrete Platte ankam. Daher lag trotz des Stückschuldcharakters auch kein Fall der tatsächlichen Unmöglichkeit vor. b) Unmöglichkeit durch Zweckerreichung? Es könnte aber Unmöglichkeit dadurch eingetreten sein, dass die fehlende Platte von M beschafft wurde und damit ein Fall der Selbstvornahme der Mängelbeseitigung (durch einen Dritten) vorlag. aa) Tritt der Leistungserfolg ein, ohne dass dies auf einer Leistungshandlung des Schuldners beruht, liegt ein Fall der Zweckerreichung und damit Unmöglichkeit i.S.d. § 275 I BGB vor. Dies wird von der überwiegenden Meinung jedenfalls dann bejaht, wenn es sich bei der geschuldeten Nacherfüllung um eine individuelle Reparaturleistung handelt. Beseitigt ein Drittunternehmer z.B. Kratzer oder Beulen aus einem Auto, so kann der Verkäufer diese Mängel nicht mehr beseitigen. bb) Besteht die Nacherfüllung hingegen nur im Austausch eines schadhaften Ersatzteils, soll - ähnlich wie beim Deckungskauf - keine Unmöglichkeit vorliegen. Der Schuldner sei in diesem Fall keineswegs daran gehindert, ein weiteres Ersatzteil zu liefern. Was der Gläubiger dann mit dem zusätzlich angeschafften Ersatzteil macht, sei dessen Angelegenheit. Unmöglichkeit in Form der sog. Zweckerreichung läge dann jedenfalls nicht vor (so BVerfG, ZGS 2006, 470). Eine Entscheidung zu dieser Frage kann aber im Ergebnis dahinstehen, da das Recht zum Rücktritt im vorliegenden Fall aus einem anderen Grund ausgeschlossen ist: IV. Ausschluss des Rücktrittsrechts jedenfalls wegen §§ 480, 437 Nr. 2, 326 V, 323 VI BGB! 1. Lehnt man Unmöglichkeit infolge Zweckerreichung ab, scheitert der Rücktritt daran, dass K der V keine Frist zur Nacherfüllung gesetzt hat und diese nicht entbehrlich war, §§ 480, 437 Nr. 2, 323 I BGB (s.o.). 2. Bejaht man die Unmöglichkeit der Nacherfüllung wegen der Selbstvornahme der Mängelbeseitigung, so ist K für diesen Umstand allein bzw. weit überwiegend verantwortlich, was zum Ausschluss des Rücktritts nach §§ 480, 437 Nr. 2, 326 V BGB i.V.m. § 323 VI Alt. 1 BGB führt. K hat sich die Schallplatte zwar nicht selbst beschafft. Jedoch hat sie das Geschenk von M angenommen und damit kein Interesse mehr an einer Leistung durch K. Wenn man diesen Interessenfortfall einer Zweckerreichung gleichstellt, so liegt das Risiko hierfür und damit die Verantwortlichkeit i.S.d § 323 VI Alt. 1 BGB alleine bei K. Ergebnis zu Teil I, Frage 1: K kann von V nicht die Rückgewähr des 50´er-Jahre Plattensatzes verlangen. Teil I, Frage 2: Welche Möglichkeit hat die von D verklagte K, um eine widersprüchliche Entscheidung über die Eigentumsfrage im Folgeprozess gegen V zu vermeiden? 1. In Betracht kommen könnte die Erhebung einer Zwischenfeststellungswiderklage gem. § 256 II ZPO, mit der K die präjudizielle Frage der Eigentumsverhältnisse feststellen lassen könnte. Da die Rechtskraft eines Urteils aber nur zwischen den Parteien D und K („inter partes“) wirkt, würde die Tenorierung der Eigentumsverhältnisse der K in einem Folgeprozess gegen die bislang unbeteiligte V nichts bringen. Eine Zwischenfeststellungsklage nach § 256 II ZPO wäre daher nur im Falle eines Folgeprozesses zwischen denselben Parteien zielführend. 2. K könnte aber der V den Streit verkünden, § 72 ZPO. a) In diesem Fall würde gem. § 74 I, III ZPO unabhängig davon, ob die V dem Streit als Nebenintervenientin beitritt, die Wirkung des § 68 ZPO eintreten. Damit wäre V an alle tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen im Ausgangsverfahren gebunden.

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Diese Bindungswirkung beschränkt sich – anders als die Rechtskraftwirkung – nicht nur auf die Urteilsformel bzw. den Tenor (vgl. § 313 I Nr. 4 ZPO), sondern auch auf die Feststellungen in den Entscheidungsgründen. Damit wäre die V auch an die Feststellung der Eigentumsverhältnisse gebunden. b) Diese Wirkung tritt aber nur dann ein, wenn ein Streitverkündungsgrund i.S.d. § 72 I ZPO vorliegt. Dies wäre der Fall, wenn der K für den Fall des ihr ungünstigen Ausgangs des Rechtsstreits ein Anspruch auf „Gewährleistung oder Schadloshaltung“ gegen V zustehen könnte. Würde das Gericht zum Ergebnis gelangen, dass der Herausgabeanspruch des D gegen K begründet ist, weil D Eigentümer der Schallplattensammlung geblieben ist, so wäre damit auch festgestellt worden, dass der V die geschuldete Eigentumsverschaffung unmöglich war, §§ 74, 68 ZPO. In diesem Fall könnte K von V gem. § 346 BGB i.V.m. § 326 V BGB nach erklärtem Rücktritt bzw. gem. § 326 IV BGB Rückgewähr des 50´er-Jahre Plattensatzes verlangen (siehe Frage 1). Dieser mögliche Anspruch, der auf dem Unterliegen gegen V beruht, reicht als Streitverkündungsgrund i.S.d. § 72 I ZPO aus. Ergebnis: Wenn K der V mittels Streitverkündungsschrift (vgl. § 73 ZPO) den Streit verkündet, ist das Gericht in einem etwaigen Folgeprozess gem. §§ 74, 68 ZPO an die Feststellung der Eigentumsverhältnisse gebunden und kann diese Frage zum Nachteil der K nicht mehr anders beurteilen. Teil II, Frage 1: Hat K gegen V einen Anspruch auf Rückgewähr des 50´er Satzes? A) Anspruch auf Rückgewähr gem. § 346 I BGB nach erklärtem Rücktritt gem. § 326 V BGB wegen (totaler) Unmöglichkeit bzw. i.V.m. § 326 IV BGB? Da kein Fall der Unmöglichkeit der Eigentumsverschaffung vorliegt (vgl. dazu bereits Teil I, Frage 1) und damit ein Rücktritt nach § 326 V BGB ausscheidet, kommt ein Rückgewähranspruch gem. § 346 BGB i.V.m. § 326 BGB nicht in Betracht. §§ 346 I, 326 IV BGB scheiden ebenfalls aus. B) Anspruch auf Rückgewähr gem. § 346 I BGB nach erklärtem Rücktritt gem. §§ 437 Nr. 2 Alt. 1, 323 I, II Nr. 3, 440 S. 1 Var. 3 BGB wegen arglistigen Verschweigens des Fehlens einer Platte I. Das grundsätzliche Vorliegen der Voraussetzungen für ein Rücktrittsrecht gem. §§ 480, 437 Nr. 3, 323 BGB wurde - mit Ausnahme der Fristsetzung - bereits in Teil I, Frage 1 bejaht. II. Fraglich ist, ob in der Abwandlung wegen des arglistigen Verschweigens des Sachmangels die gem. § 323 I BGB erforderliche Fristsetzung entbehrlich war. 1. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des BGH ist im Falle einer arglistigen Täuschung des Schuldners dem Gläubiger die Fristsetzung gem. § 323 II Nr. 3 BGB – bzw. hier als lex specialis gem. §§ 480, 440 S. 1 Var. 3 BGB – unzumutbar. Hat der Verkäufer (bzw. hier der „Tauscher“) beim Abschluss des Vertrags eine Täuschungshandlung begangen, so ist in der Regel davon auszugehen, dass die für eine Nacherfüllung erforderliche Vertrauensgrundlage beschädigt ist. In einem solchen Fall hat der Gläubiger ein berechtigtes Interesse daran, sofort vom Vertrag Abstand zu nehmen, um sich vor eventuellen neuerlichen Täuschungsversuchen zu schützen („Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er dann die Wahrheit spricht“). 2. Dem stehen regelmäßig keine maßgebenden Interessen des arglistig Täuschenden gegenüber. Eine „zweite Chance“, den mit der Rückabwicklung verbundenen Nachteil abzuwenden, verdient die V nur dann, wenn ihr der Mangel bei Abschluss des Tauschvertrags nicht bekannt gewesen wäre. Da V das Fehlen der Schallplatte aber kannte, hätte es an ihr gelegen, diesen Mangel vor Abschluss des Vertrags entweder zu beseitigen oder die K hierauf hinzuweisen. Die Chance, eine spätere Rückabwicklung des Vertrages zu vermeiden, steht der V daher nicht mehr zu. Ergebnis: Die Fristsetzung war demnach gem. § 323 II Nr. 3 BGB bzw. §§ 480, 440 S. 1 Var. 3 BGB entbehrlich. III. Das Recht zum Rücktritt könnte aber gem. § 323 V BGB ausgeschlossen sein. 1. Stellt man im vorliegenden Fall auf eine „nicht vertragsgemäße Leistung“ der V ab, wäre das Recht zum Rücktritt bei einer unerheblichen Pflichtverletzung ausgeschlossen, § 323 V S. 2 BGB. a) Da von 12 Schallplatten nur eine gefehlt hat, lag die Abweichung der Ist- von der Sollbeschaffenheit unter der 10 %-Grenze, die vom BGH schon häufiger für die Frage der objektiven Erheblichkeit der Pflichtverletzung herangezogen wurde.

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Diese rein schablonenhafte Betrachtung übersieht aber, dass es bei einem Plattensatz entscheidend auf dessen Vollständigkeit ankommt. Dies spricht für die objektive Erheblichkeit der Pflichtverletzung. b) Letztlich kann die Frage der objektiven Erheblichkeit aber dahinstehen, wenn die Pflichtverletzung der V subjektiv erheblich war. Nach Ansicht des BGH kann auch bei einer objektiv geringfügigen Pflichtverletzung die Erheblichkeit i.d.R. bejaht werden, wenn der Verkäufer einen Mangel arglistig verschwiegen hat (BGH, Life&Law 07/2006, 439 ff.). Die Erheblichkeit der Pflichtverletzung lässt auch Raum für die Berücksichtigung arglistigen Verhaltens. Dass der Käufer bei unerheblichen Pflichtverletzungen nicht zurücktreten können soll, hängt mit der besonderen Schutzwürdigkeit des Schuldners zusammen, da die Rückabwicklung des gesamten Vertrags mit erheblichen Nachteilen für den Schuldner verbunden sein kann. Täuscht er aber arglistig, so ist er nicht schutzwürdig im Vertrauen darauf, dass der Vertrag Bestand haben wird. An § 323 V S. 2 BGB scheitert das Recht zum Rücktritt daher nicht. 2. Etwas anderes könnte sich aber dann ergeben, wenn man im vorliegenden Fall auf eine „Teilleistung“ der V abstellen würde. Dann müsste die K nämlich beweisen, dass sie an den erhaltenen 11 Schallplatten kein Interesse mehr hat, § 323 V S. 1 BGB. Diesbezüglich hat K aber nichts vorgetragen, sodass das Rücktrittsrecht ausgeschlossen sein könnte. 3. Es kommt daher darauf an, ob man die Zu-wenig-Lieferung im Tauschvertragsrecht als „Teilleistung“ oder als „nicht vertragsgemäße Leistung“ einstuft. a) Damit die Lösung solcher Fälle sowohl vor als auch nach Gefahrübergang übereinstimmt, könnte man vertreten, dass man die Zu-wenig-Lieferung-Lieferung im Mängelrecht gem. § 434 III BGB als Mangel, im Allgemeinen Schuldrecht aber nach wie vor als „Teilleistung“ zu behandeln hat. b) Für die Behandlung einer Zu-wenig-Lieferung als „nicht vertragsgemäße Leistung“ spricht allerdings, dass der Gläubiger bei der Teilleistung diese wegen § 266 BGB ja nicht entgegennehmen müsste. Der Gläubiger ist daher weniger schutzwürdig, wenn er diese zunächst annimmt. Zur Vermeidung des Vorwurfs widersprüchlichen Verhaltens muss der Gläubiger daher beweisen, dass er an der ursprünglich angenommenen Teilleistung wegen des Ausbleibens des Restes nun kein Interesse mehr hat. Bei einer Zu-wenig-Lieferung, bei der nicht offengelegt wird, dass nicht alles geliefert wird (verdeckte Zu-wenigLieferung), hat der Gläubiger nicht die Möglichkeit, von § 266 BGB Gebrauch zu machen. Nur diese verdeckte Zu-wenig-Lieferung fällt aber unter § 434 III BGB (s.o.). Im Fall einer verdeckten Zu-wenig-Lieferung ist der Käufer daher schutzwürdiger. Daher ist es überzeugend, die Zu-wenig-Lieferung als „nicht vertragsgemäße Leistung“ i.S.d. § 323 V S. 2 BGB zu verstehen. Wegen der Erheblichkeit der Pflichtverletzung der V ist das Rücktrittsrecht der K nicht ausgeschlossen. IV. Ergebnis: K kann von V gem. § 346 I BGB die Rückgewähr des 50´er Jahre Schallplattensatzes Zugum-Zug gegen Rückübereignung des 70´er-Jahre Satzes (vgl. §§ 348, 320, 322 BGB) verlangen. C) Anspruch auf Rückgewähr gem. § 812 I S. 1 Alt. 1 BGB nach erklärter Anfechtung, § 142 I BGB I. V hat durch die Leistung der K Eigentum und Besitz an den Platten des 50´er Jahre Satzes erlangt. Rechtsgrund hierfür war der Anspruch der V auf Übereignung aus dem Tauschvertrag, §§ 480, 433 I S. 1 BGB. II. Der Rechtsgrund könnte aber im Wege der Arglistanfechtung gem. § 123 I Alt. 1 BGB rückwirkend (§ 142 I BGB) beseitigt worden sein. Ein Anfechtungsrecht gem. § 119 II BGB wegen des Irrtums über die verkehrswesentliche Eigenschaft der Mangelfreiheit kommt wegen des insoweit vorrangigen Mängelrechts nicht in Betracht. 1. Eine arglistige Täuschung der V durch Unterlassen der Aufklärung über das Fehlen einer Schallplatte lag vor (s.o.). Diese Täuschung war auch kausal dafür, dass sich K mit V über den Eintausch ihrer 50´er Jahre Plattensammlung geeinigt hat. K könnte daher binnen der Jahresfrist des § 124 I, II BGB gem. § 143 I, II BGB gegenüber der V die Anfechtung erklären. Dadurch wäre der Rechtsgrund ex-tunc entfallen, sodass § 812 I S. 1 Alt. 1 BGB zur Anwendung käme (nach a.A. ist § 812 I S. 2 Alt. 1 BGB einschlägig, da erst mit der Anfechtungserklärung die Willenserklärung wegfällt). 2. Fraglich ist allerdings, ob K ihre Vertragserklärung angefochten hat. Dies ist nach laiengünstiger Auslegung gem. §§ 133, 157 BGB analog (analog deshalb, weil die Anfechtung ein einseitiges Rechtsgeschäft ist) abzulehnen. Durch die Anfechtung entfällt rückwirkend der Vertrag, der Grundlage für einen evtl. Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung ist.

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Durch die Anfechtung bekommt K nichts, was sie nicht ohnehin schon über den Rücktritt bekommt. Im Falle des Rücktritts bleibt aber ein etwaiger Anspruch auf Schadensersatz bestehen (§ 325 BGB). Damit besteht überhaupt kein Grund für K, den Tauschvertrag anzufechten. Ein Anspruch aus § 812 I S. 1 Alt. 1 BGB kommt daher (derzeit) mangels Anfechtungserklärung nicht in Betracht. (Anmerkung: Ein Anspruch auf Vertragsaufhebung mit anschließender Rückabwicklung analog § 346 BGB kommt unter dem Gesichtspunkt des Schadensersatzes aus c.i.c. (§§ 280 I, 311 II BGB) sowie aus § 823 II BGB, § 263 StGB in Betracht. Ansprüche auf Schadensersatz waren aber laut Bearbeitervermerk nicht zu prüfen, sodass diesbezügliche Ausführungen zu unterbleiben hatten.) Teil II, Frage 2: Wäre eine erneute Klage der K gegen V auf Rückgewähr des 50´er Satzes zulässig? Da das klageabweisende Urteil formal rechtskräftig wurde, also durch Rechtsmittel nicht mehr abgreifbar ist (§ 705 ZPO), könnte aufgrund der materiellen Wirkung der Rechtskraft eine erneute Klage unzulässig sein. Dieser Unzulässigkeitsgrund der entgegenstehenden Rechtskraft ist gesetzlich nicht normiert. Dennoch wird hierfür regelmäßig § 322 I ZPO zitiert, der diese Rechtsfolge aber nicht ausdrücklich ausspricht. In diesem Fall fehlt für das spätere Verfahren die negative Prozessvoraussetzung einer fehlenden, rechtskräftigen Entscheidung in derselben Sache, die vom Gericht analog § 56 I ZPO von Amts wegen zu berücksichtigen ist. Eine trotzdem erhobene Klage ist also durch Prozessurteil als unzulässig abzuweisen. (Anmerkung: Das fehlende Zitat des § 322 I ZPO dürfte sich nicht negativ auswirken.) Die materielle Rechtskraft wirkt aber nur dann prozesshindernd, wenn die Streitgegenstände des früheren und des späteren Verfahrens identisch sind. Zur Bestimmung des Streitgegenstandes werden verschiedene Meinungen vertreten. Absolut herrschend ist der zweigliedrige Streitgegenstandsbegriffs. Für dessen Bestimmung sind maßgebend (1) der vom Kläger in der Klageschrift gestellte Antrag und (2) der hierzu vorgetragene Lebenssachverhalt. Ändert sich eines von beiden, liegt nicht mehr derselbe Streitgegenstand vor. Im vorliegenden Fall wäre der Klageantrag der K identisch, sodass nur dann ein neuer Streitgegenstand vorliegen und eine erneute Klage zulässig sein würde, wenn diese auf einem anderen Lebenssachverhalt beruht. Unter Lebenssachverhalt ist dabei der Klagegrund zu verstehen (vgl. auch § 264 HS 1 ZPO). Lebenssachverhalt bzw. Klagegrund ist daher der einheitliche Sachverhalt, auf den sich die Begründung der Klage stützt. Ein identischer Lebenssachverhalt liegt dann vor, wenn die einzelnen Tatsachen, die einen Antrag rechtfertigen sollen, einen einheitlichen Lebensvorgang darstellen, was unter Zugrundelegung der Verkehrsauffassung und der natürlichen Betrachtungsweise zu beurteilen ist. Lebenssachverhalt war im vorliegenden Fall der Rücktritt vom Tauschvertrag wegen der fehlenden Schallplatte. An diesem Sachverhalt hat sich objektiv nichts geändert. Der K ist lediglich nachträglich eine Tatsache bekannt geworden, die im Rahmen des Klagegrundes die Fristsetzung entbehrlich gemacht hätte bzw. zur Anfechtung berechtigen würde. Auch der Umstand, dass K erst nach Rechtskraft des Urteils von der arglistigen Täuschung Kenntnis erlangt hat, ändert nichts daran, dass sich eine erneute Klage auch auf denselben Lebenssachverhalt bzw. Klagegrund stützen würde. Würde die Kenntnis neuer Tatsachen im Rahmen eines einheitlichen Geschehensablaufs zu einem neuen „Lebenssachverhalt“ im Sinne des Streitgegenstandsbegriffes führen, so würde durch die Rechtskraft eines Urteils keine Rechtssicherheit einkehren. Selbst wenn K jetzt den Tauschvertrag anfechten würde, wäre der Lebenssachverhalt, welcher der Klage zugrunde liegt, immer noch die fehlende Schallplatte. Die Ausübung eines Gestaltungsrechts begründet damit keinen neuen Lebenssachverhalt. Dass die Anspruchsgrundlage dann nicht § 346 BGB, sondern § 812 I BGB lautet, ändert nichts an der Einheitlichkeit des Lebenssachverhalts. Ergebnis: Eine erneute Klage der K wäre demnach unzulässig. (Anmerkung: Eine andere Ansicht ist natürlich vertretbar. Teilweise wird auch im Rahmen einer Vollstreckungsabwehrklage gem. § 767 I ZPO von einer Mindermeinung vertreten, dass eine Anfechtung nach Rechtskraft des Urteils nicht zu einer Präklusion nach § 767 II ZPO führt, wenn der Anfechtungsgrund erst nachträglich bekannt wurde.) hemmer-Trainingsplan-Info: Auch hier wieder einmal ein Volltreffer! Diese Klausur war sehr umfangreich, aber mit dem richtigen Lernmaterial gut zu bewältigen. Wer alle Probleme erkannte, hatte gegen „die Uhr zu kämpfen“. In unserem Kurs werden alle Problemkreise behandelt.

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Die Abgrenzung zwischen Unmöglichkeit und einem unbehebbaren Rechtsmangel beim Eigentum eines Dritten wird sehr ausführlich in Fall 22, SchuldR-BT besprochen. Die Zu-wenig-Lieferung als Mangel und das Problem der „Nachbesserung“ ist Gegenstand von Fall 5, HGB. Die Frage, ob bei einem Stückkauf eine Nacherfüllung durch Ersatzbeschaffung möglich ist, behandeln die Fälle 11 und 20, SchuldR-AT sehr ausführlich. Die Problematik wurde außerdem als examensrelevantes Thema unmittelbar vor dem Examen in unserem Crashkurs BGB besprochen. Die Selbstvornahme der Mängelbeseitigung als Fall der Unmöglichkeit durch Zweckerreichung ist Gegenstand von Fall 4a, SchuldR-BT. Auch dieses Problem war ein Fall in unserem Crashkursprogramm unmittelbar vor dem Examen. Die Entbehrlichkeit der Fristsetzung bei arglistiger Täuschung ist Inhalt von Fall 10, SchuldR-AT und von Fall 1, SchuldR-BT. Die Erheblichkeit der Pflichtverletzung aus subjektiven Gründen (Garantie bzw. Arglist) ist Thema von Fall 4, SchuldR-BT. Die Vermeidung widersprüchlicher Entscheidungen im Drei-Personen-Verhältnis durch Streitverkündung und Nebenintervention wird erstmals in Fall 11, SchuldR-BT und im ZPO-Programm dann ausführlich in Fall 6, ZPO I besprochen. Die Unzulässigkeit einer Klage wegen entgegenstehender Rechtskraft wird in Fall 10, ZPO I und Fall 10, HGB besprochen. Die dabei zu bewältigende Streitgegenstandsproblematik wird im Fall 4, ZPO I erklärt.

Klausur Nr. 3 Sachverhalt Teil I: L ist Eigentümer eines landwirtschaftlich genutzten Grundstücks samt Scheune und Wohnhaus. Dieses ist mit einer Hypothek zugunsten der B-Bank belastet. L lebt vor allem von seinen 50 Milchkühen und möchte seine Herde erweitern. Daher schließen der gutgläubige L und V im Dezember 2015 einen Kaufvertrag über 20 weitere Milchkühe, einigen sich über den Eigentumsübergang und vereinbaren, dass die Kühe dem L in den nächsten Tagen geliefert werden. In Wahrheit gehören die Kühe aber dem G, welcher die Kühe bis August 2016 wegen Sanierungsarbeiten an seinen Stallungen vorübergehend bei V untergebracht hat. V teilt dem G mit, dass er bei L eine ideale Unterkunft für dessen Kühe gefunden habe. Daher solle G die 20 Kühe zu L bringen. G, der keinen Verdacht schöpft, bringt die Kühe zu L, der diese entgegennimmt und in seine Stallungen auf seinem Grundstück einstellt. Kurz darauf gerät L in Zahlungsschwierigkeiten, woraufhin die B-Bank im März 2016 ordnungsgemäß wegen der Zahlungsrückstände des L aus der Hypothek die Zwangsvollstreckung in das Grundstück betreibt. Der Beschluss über die Anordnung der Zwangsversteigerung wird dem L am 23. März 2016 zugestellt. Da die Stallsanierung früher als erwartet abgeschlossen werden konnte, fährt G, der von der Anordnung der Zwangsversteigerung nichts weiß, noch vor Beginn der Zwangsversteigerung zu L, um die 20 Kühe abzuholen. Da L nicht vor Ort ist, nimmt G die 20 Kühe ohne Rücksprache mit L mit und bringt sie wieder in seinen Stallungen unter. Z erhält bei der ordnungsgemäß stattfindenden Versteigerung des Grundstücks des L den Zuschlag. Z verlangt daraufhin von G die 20 Kühe heraus. Er sei mit dem Zuschlag Eigentümer der Kühe geworden, da die Kühe genauso wie das Grundstück für die Hypothek haften. Sachverhalt Teil II: L hat von seinem alleinstehenden Nachbarn N, der am 01. Mai 2001 verstorben ist und den er in schwerer Krankheit unterstützt hat, kurz vor dessen Tod einen Pappkarton überreicht bekommen. Der Pappkarton beinhaltete neben Briefmarken eine Geburtstagskarte mit folgenden von N handschriftlich ge- und unterschriebenen Zeilen: „19. April 2001 Mein lieber Freund und Nachbar, zu Deinem heutigen 40. Geburtstag möchte ich Dir, weil Du mir als Einziger in dieser schweren Zeit geholfen und beigestanden hast, ein ganz besonderes Geschenk machen. Nach meinem Tod sollst Du mein gesamtes Vermögen bekommen. Dein Norbert“ L verlangt im August 2016 von S, dem einzigen Sohn des N, Herausgabe des im Wesentlichen aus dem Hausgrundstück bestehenden Nachlasses (Wert: 500.000,- €). S hatte damals im Glauben, gesetzlicher Alleinerbe zu sein, den Nachlass an sich genommen und das Haus seitdem bewohnt.

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S meint, den Nachlass behalten zu dürfen, da eine Geburtstagskarte, die nicht einmal den L beim Namen nenne, doch kein wirksames Testament sein könne. Jedenfalls könne sich L nach so langer Zeit nicht mehr auf ein solches Testament berufen. Außerdem habe S die dringende Reparatur des kaputten Daches aus eigenen Mitteln vorgenommen (Kosten: 15.000,- €). S fordert die 15.000,- € von L und macht klar, dass er als Sohn doch auf jeden Fall etwas bekommen müsse, und das wolle er erst einmal haben. L hält entgegen, S schulde ihm als Ersatz für die langjährige Nutzung des Hausgrundstücks 150.000,- €, da sich S - was zutrifft - Mietzinsen in dieser Höhe erspart hätte. Zudem sei L ohne die Erbschaft aufgrund seiner Spielschulden zu keiner Zahlung in der Lage. Frage zu Teil 1:

Hat Z einen Herausgabeanspruch gegen G? Hinweis: Auf die §§ 20, 55 und 90 des ZVG wird hingewiesen.

Frage zu Teil 2:

Kann L von S die Herausgabe des Hausgrundstücks verlangen? Hinweis: Der Nutzungsersatz wurde mit 150.000,- € zutreffend berechnet. Es ist die geltende Rechtslage zugrunde zu legen. Vorschriften des EGBGB bleiben bei der Bearbeitung außer Betracht. Skizzierung der inhaltlichen Probleme:

Frage zu Teil I: Hat Z einen Herausgabeanspruch gegen G? A) Anspruch auf Herausgabe gem. § 985 BGB Ein Anspruch auf Herausgabe der sich im Besitz des G befindlichen Kühe würde voraussetzen, dass Z Eigentümer der Kühe geworden ist. Außerdem dürfte G kein Recht zum Besitz zustehen, § 986 BGB. I. Eigentumserwerb kraft Hoheitsaktes gem. § 90 II ZVG i.V.m. §§ 55 I, 20 II ZVG, §§ 1120, 97, 98 Nr. 2 BGB Da Z bei der Versteigerung des dem L gehörenden Grundstücks den Zuschlag erhalten hat, könnte er gem. § 90 II ZVG auch das Eigentum an den Kühen erworben haben, wenn sich hierauf die Versteigerung erstreckt hätte. Gem. §§ 55 I, 20 II ZVG erstreckt sich die Versteigerung auch auf die Gegenstände, die in den Haftungsverband der Hypothek fallen. Die Kühe könnten nach § 1120 HS 2 BGB zum Haftungsverband der Hypothek gehört haben, wenn es sich dabei um Zubehör des Grundstückseigentümers L gehandelt hätte. 1. Kühe als Zubehör, §§ 97, 98 Nr. 2 BGB Zubehör sind bewegliche Sachen, die, ohne Bestandteile der Hauptsache zu sein, dem wirtschaftlichen Zwecke der Hauptsache – nicht nur vorübergehend (vgl. § 97 II BGB) – zu dienen bestimmt sind und zu ihr in einem dieser Bestimmung entsprechenden räumlichen Verhältnis stehen, § 97 I S. 1 BGB. Die Kühe sollten aus der maßgeblichen Sicht des L dauerhaft dem landwirtschaftlichem Betrieb des L dienen, vgl. § 98 Nr. 2 BGB. Da die Kühe in den Stallungen auf dem Grundstück des L untergebracht waren, bestand auch das räumliche Näheverhältnis. Damit handelte es sich bei den Kühen um Zubehör i.S.d. §§ 97 I, 98 Nr. 2 BGB. 2. Eigentum des L an den Kühen? Der Haftungsverband der Hypothek würde sich aber nur dann auf die Kühe erstrecken, wenn sie in das Eigentum des Grundstückseigentümers L gelangt wären. Da die Kühe ursprünglich dem G gehörten, wäre L nur dann Eigentümer geworden, wenn er die Kühe gem. §§ 929 S. 1, 932 I S. 1, II BGB von V gutgläubig erworben hätte. a) V und L haben sich über den Eigentumsübergang an den Kühen gem. § 929 S. 1 BGB wirksam dinglich geeinigt. b) Fraglich ist, ob bzw. wie es zur Übergabe gekommen ist. Eine Übergabe setzt voraus, dass der Erwerber L auf Veranlassung des Veräußerers V, der keinerlei Besitz zurückbehalten darf, zumindest den mittelbaren Besitz an den Kühen erlangt hat. Da V selbst keinerlei Besitz an den Kühen hatte, könnte eine Übergabe nur über die „Hilfsperson“ G stattgefunden haben.

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aa) G war mangels Weisungsabhängigkeit von L offensichtlich nicht dessen Besitzdiener (vgl. § 855 BGB), sodass L nicht unmittelbarer Besitz wurde, solange sich die Kühe noch bei G befanden. bb) Da G auch nicht den Willen hatte, die Kühe für L zu besitzen, wurde L auch nicht mittelbarer Besitzer i.S.d. § 868 BGB. cc) Nach ganz h.M. erfordert die Übergabe als Disposition des Veräußerers nicht dessen mittelbaren, unmittelbaren oder durch Besitzdiener ermöglichten fiktiven Besitz, sondern nur die tatsächliche Möglichkeit zur Disposition über einen Dritten (sog. „Besitzverschaffungsmacht“). Eine Übergabe i.S.d. § 929 S. 1 BGB liegt also auch dann vor, wenn der Veräußerer die Sache nicht selbst übergibt, er jedoch den Besitzer als Geheißperson veranlasst, dies zu tun. Indem G auf Weisung des V dem L die Kühe aushändigte, erfolgte die Übergabe auf Veranlassung des V. Das Besondere im vorliegenden Fall ist aber, dass G tatsächlich keine Geheißperson des V war, da er sich nicht der Weisung des V unterworfen hat, sondern „seine“ Kühe im eigenen wirtschaftlichen Interesse zwecks vorübergehender Unterstellung bei L zu diesem gebracht hat. Gegenüber L erweckte G aber den Eindruck, dass er auf Geheiß des V als dessen Hilfsperson die Kühe bei L anlieferte. G war damit nur eine sog. „Scheingeheißperson“. Nach h.M. liegt aber eine wirksame Übergabe auch bei Einschaltung einer Scheingeheißperson vor. Aus der maßgeblichen objektiven Sicht des L handelt G als Geheißperson für V. Bei äußerer Betrachtung liegt daher eine Besitzverschaffungsmacht des V vor. c) Da V aber Nichtberechtigter war, kommt nur ein gutgläubiger Erwerb gem. § 932 I S. 1, II BGB in Betracht. L war hinsichtlich der Eigentümerstellung des V in gutem Glauben, § 932 II BGB. aa) Fraglich ist, ob V auch als Eigentümer legitimiert ist, § 1006 I BGB. Eine in der Literatur vertretene Ansicht verneint den gutgläubigen Scheingeheißerwerb, da es an der Legitimation des V als Eigentümer fehle. § 1006 I BGB stellt die Vermutung auf, dass der Besitzer einer Sache auch Eigentümer sei. V ist aber gerade weder Besitzer, noch Eigentümer. Damit kann er keinen Rechtsscheintatbestand schaffen, auf den L vertrauen darf. Dies ist auch nicht mit § 932 BGB überwindbar. Der gute Glaube sei nur auf Grundlage eines tatsächlich bestehenden Rechtsscheintatbestandes geschützt, nicht aber der gute Glaube an das Bestehen des Rechtsscheintatbestandes. bb) Anders sieht dies der BGH. Zwar fehlt es an der Legitimation des § 1006 I BGB. Allerdings werden das fehlende Besitzrecht und damit die fehlende Legitimation des V gerade durch die Konstruktion des Geheißerwerbs ersetzt. Objektiv betrachtet liegt nämlich ein Geheißerwerb vor. Ob sich die Legitimation des Veräußerers auf § 1006 I BGB stützt oder auf eine (vermeintliche) Weisungsbefugnis und Besitzverschaffungsmacht, kann im Ergebnis keinen Unterschied machen. cc) Für die Ansicht des BGH spricht, dass aus Gründen des Verkehrsschutzes auf die Sichtweise des objektiv verständigen Empfängers abzustellen ist. L konnte vorliegend überhaupt nicht wissen, dass seitens des G ein Irrtum vorlag. Es entspricht den Grundprinzipien der Rechtsgeschäftslehre, dass nicht der subjektive Wille des Erklärenden, sondern die objektive Verständnismöglichkeit des Erklärungsempfängers maßgeblich ist. Es würde den Grundsätzen der Rechtsscheinhaftung widersprechen, wenn die Frage, ob ein Rechtsschein vorliegt, allein von Umständen abhinge, die überhaupt nicht nach außen dringen. Zudem ist auch beim Anwartschaftsrecht ein gutgläubiger Zweiterwerb anerkannt, obwohl keine Legitimation nach § 1006 I BGB vorliegt. Da L im vorliegenden Fall darauf vertraut hat, dass G auf Weisung des V handelt, ist ein gutgläubiger Erwerb von der Scheingeheißperson möglich (a.A. vertretbar). d) Ein Abhandenkommen gem. § 935 I S. 1 BGB ist zu verneinen, da G den Besitz freiwillig aufgegeben hat. Er irrte sich zwar aufgrund der Täuschung des V über die tatsächlichen Umstände, die der Besitzaufgabe zugrunde lagen. Dies ist aber für die Freiwilligkeit der Besitzaufgabe des G irrelevant. Ergebnis: L hat das Eigentum an den Kühen gem. §§ 929 S. 1, 932 I S. 1, II BGB gutgläubig erworben, sodass sich der Haftungsverband der Hypothek gem. § 1120 HS 2 BGB auf die Kühe erstreckte. 3. Mangels Veräußerung der Kühe durch L und mangels einer der ordnungsgemäßen Wirtschaft entsprechenden Entfernung ist auch keine Enthaftung nach §§ 1121, 1122 BGB eingetreten. Damit ist Z mit dem Zuschlag Eigentümer der Kühe geworden, §§ 90 II, 55 I, 20 II ZVG. II. Da G gegenüber Z kein Recht zum Besitz i.S.d. § 986 BGB einwenden kann, ist der Anspruch auf Herausgabe der Kühe nach § 985 BGB zu bejahen. B) Kein Anspruch auf Herausgabe gem. § 1007 I, II BGB bzw. aus § 861 BGB Da Z weder unmittelbarer noch mittelbarer Besitzer der Kühe war (die Beschlagnahme als solche begründet kein antizipiertes Besitzmittlungsverhältnis zwischen L und dem künftigen Ersteigerer Z), bestehen keine Herausgabeansprüche aus § 1007 I, II BGB bzw. aus § 861 I BGB.

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C) Kein Anspruch auf Herausgabe gem. § 812 I S. 1 Alt. 2 BGB Durch die Abholung der Kühe hat G im Verhältnis zu Z rechtsgrundlos durch einen Eingriff Besitz an den Kühen erlangt. Dies geschah aber nicht auf Kosten des Z, da dieser zur Zeit des Eingriffs noch nicht Eigentümer war (eine a.A. ist vertretbar, wenn man für den Eingriff auf das Nichtherausgeben der Kühe trotz des Herausgabeverlangens des Z abstellt). D) Kein Anspruch auf Schadensersatz in Form der Naturalrestitution, §§ 823 I, 249 I BGB Ein deliktischer Anspruch auf Schadensersatz kann im Wege der Naturalrestitution faktisch auf Herausgabe gerichtet sein. Die Wegnahme der Kühe stellt aber keine Eigentumsverletzung durch G dar, weil Z zu diesem Zeitpunkt noch nicht Eigentümer war (eine a.A. ist vertretbar, wenn man für die Rechtsgutverletzung auf das Nichtherausgeben der Kühe trotz des Herausgabeverlangens des Z abstellt; s.o.). Jedenfalls trifft G aber kein Verschulden, weil er sich für den Eigentümer halten durfte. Frage zu Teil II: Kann L von S die Herausgabe des Hausgrundstücks verlangen? A) Anspruch auf Herausgabe gem. § 2018 BGB Ein Anspruch auf Herausgabe der Erbschaft – und damit des Hausgrundstücks – könnte sich aus § 2018 BGB ergeben, wenn L Erbe geworden und S Erbschaftsbesitzer wäre. I. Erbenstellung des L Nach der subsidiären (vgl. § 1937 BGB) gesetzlichen Erbfolge wäre S gem. § 1924 I BGB Erbe nach N geworden. L wäre somit nur dann Erbe, wenn das eigenhändige Testament, das auch auf einer Geburtstagskarte errichtet werden konnte, gem. §§ 2231 Nr. 2, 2247 BGB wirksam gewesen wäre. Die Bedenken des S hinsichtlich des fehlenden Nachnamens sind im Hinblick darauf, dass es sich hierbei – genau wie bei der fehlenden Ortsangabe – nur um eine Sollvorschrift handelt (vgl. § 2247 III BGB), unbegründet, da sich aus dem Freundschafts- und Nachbarschaftsverhältnis die Urheberschaft eindeutig bestimmen lässt, § 2247 III S. 2 BGB. L ist somit testamentarisch als Erbe eingesetzt worden, da er das gesamte Vermögen erhalten sollte. II. Erbschaftsbesitz des S S hat das Hausgrundstück als vermeintlicher gesetzlicher Erbe in Besitz genommen und ist damit Erbschaftsbesitzer. III. Zurückbehaltungsrecht gem. §§ 2022 I, 1000 BGB wegen der Dachreparatur Dem gutgläubigen S könnte ein Verwendungsersatzanspruch für die Reparaturkosten gem. § 2022 BGB zustehen. Die Reparatur des Daches war ein freiwilliges Vermögensopfer des S (= Aufwendung), die dem Nachlass zugutekam (vgl. §§ 946, 93, 94 II BGB), und damit eine Verwendung. Dieser Verwendungsersatzanspruch ist aber gem. § 2022 I S. 1 HS 2 BGB auf den bereicherungsrechtlichen Nutzungsersatzanspruch wegen des Gebrauchsvorteils bzgl. der Immobilie in Höhe von 150.000,- € gem. §§ 2021, 818 II Alt. 1 BGB anzurechnen, sodass nach dem internen Ausgleich dem L ein Überschuss von 135.000,- € zusteht. S hat daher kein Zurückbehaltungsrecht wegen der Dachreparatur. IV. Zurückbehaltungsrecht gem. § 273 I BGB wegen des Pflichtteilsanspruches 1. S ist als Abkömmling gem. § 2303 I S. 1 BGB pflichtteilsberechtigt, da er von N enterbt wurde (s.o.). Der Pflichtteilsanspruch beläuft sich auf die Hälfte des gesetzlichen Erbteils, vorliegend also auf 250.000,€. 2. L hat dieser Forderung aber seinen Nutzungsersatzanspruch entgegengehalten und damit konkludent die Aufrechnung erklärt, § 388 S. 1 BGB. Da der Nutzungsersatzanspruch infolge Anrechnung auf 135.000,- € reduziert war, steht dem S gegen L nach der Aufrechnung ein Pflichtteilsanspruch i.H.v. 115.000,- € zu. 3. Nach h.M. kann aber gegen den Anspruch aus § 2018 BGB nach Sinn und Zweck des Anspruchs kein Zurückbehaltungsrecht wegen eines Pflichtteilsanspruchs geltend gemacht werden. Nach § 2018 BGB soll zuerst der wahre Erbe die Erbschaft erhalten, um anschließend etwaige Ansprüche erfüllen zu können. Hierzu wäre der L ohne die Erbschaft aufgrund seiner Spielschulden nicht in der Lage. V. Keine Einrede der Verjährung, § 214 I BGB

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S hat sich darauf berufen, dass sich L nach so langer Zeit nicht mehr auf das Testament berufen könne. Damit hat S die Einrede der Verjährung geltend gemacht. Da aber der Anspruch aus § 2018 BGB der 30jährigen Verjährung des § 197 I Nr. 2 BGB unterliegt, ist der Anspruch des L nicht verjährt. Ergebnis: L hat gegen S einen Anspruch auf Herausgabe des Grundstücks gem. § 2018 BGB. B) Anspruch auf Herausgabe gem. § 985 BGB L kann als Eigentümer des Grundstücks (vgl. § 1922 BGB) auch den Herausgabeanspruch nach § 985 BGB geltend machen. Wegen des Anspruchs des gutgläubigen S auf Ersatz der notwendigen Verwendungen für die Dachreparatur (vgl. § 994 I S. 1 BGB) steht dem S kein Recht zum Besitz zu, da ein Verwendungsersatzanspruch richtiger Weise nur ein Zurückbehaltungsrecht gewährt, vgl. § 1000 BGB. Da aber ein solches gegen den Anspruch aus § 2018 BGB nicht geltend gemacht werden kann (s.o.), steht dem S wegen § 2029 BGB auch gegen den Anspruch aus § 985 BGB kein Zurückbehaltungsrecht zu. Gleiches gilt für das Zurückbehaltungsrecht aus § 273 I BGB wegen des Pflichtteilsanspruchs in Höhe von 115.000,- €. Ergebnis: Da auch § 985 BGB der 30-jährigen Verjährung des § 197 I Nr. 2 BGB unterliegt, steht L gegen S auch ein Anspruch auf Herausgabe aus § 985 BGB zu. C) Kein Anspruch auf Herausgabe gem. § 1007 I, II BGB Ein Anspruch aus § 1007 I, II BGB entfällt, weil das Grundstück keine bewegliche Sache ist. D) Kein Anspruch auf Herausgabe gem. § 861 I BGB S besitzt zwar aufgrund der gem. §§ 857, 858 I BGB verbotenen Eigenmacht gegenüber L fehlerhaft (vgl. § 858 II S. 1 BGB). Jedoch ist der Anspruch gem. § 864 I BGB nach Ablauf eines Jahres erloschen. E) Kein Anspruch gem. §§ 823 I, 249 I BGB Ein Anspruch aus §§ 823 I, 249 I BGB entfällt wegen der Gutgläubigkeit des S mangels Verschulden. F) Anspruch auf Herausgabe gem. § 812 I S. 1 Alt. 2 BGB Allerdings besteht ein Anspruch aus Eingriffskondiktion gem. § 812 I S. 1 Alt. 2 BGB. Da S in das Recht zum Besitz des Erben L eingegriffen hat, wird § 812 BGB auch nicht durch § 861 BGB verdrängt. Auf Verjährung kann sich S nicht berufen, da die Regelverjährung mangels Kenntnis oder grob fahrlässiger Unkenntnis des L vom Erbfall nicht zu laufen begonnen hat und die 30-jährige Höchstfrist des § 199 IIIa BGB noch nicht abgelaufen ist. hemmer-Trainingsplan-Info: Auch in dieser Klausur waren Sie mit unserem Kursprogramm auf der sicheren Seite. Dass es sich bei Vieh um Zubehör eines landwirtschaftlichen Grundstücks handelt, ist ein klassisches Examensproblem und Thema von Fall 7, SachenR. Die Erstreckung des Haftungsverbands der Hypothek auf Zubehör wird in den Fällen 1 und 2, ZPO II behandelt. Das Problem des gutgläubigen Erwerbs von der Scheingeheißperson wurde in dem Aufsatz von Tyroller/Wagner, Life&Law 07/2012, 522 ff. besprochen. Darauf wurde aufgrund der Examensrelevanz in der Arbeitsanleitung zu Fall 1, Sachenrecht hingewiesen. Der Eigentumserwerb an Zubehör durch Zuschlag gem. §§ 90 II, 55 I, 20 II ZVG (die berühmte Paragrafenkette!) wird in den Vertiefungsfragen 20 und 21 zu den Fällen 18 bis 20, Sachenrecht behandelt. Sämtliche erbrechtlichen Fragen des Teils II sind Gegenstand von Fall 2 und 4, Erbrecht. Fazit: Besonders in dieser Klausur kam es auf eine saubere Subsumtion des Gesetzes an. Die §§ 90, 55, 20 ZVG, auf die ausdrücklich hingewiesen wurde, waren vielen Kandidaten wohl wenig vertraut. Gerade das ist aber Ihre Chance im Examen, wenn Sie in der Vorbereitung richtig trainiert und damit aktiv gelernt haben. In unseren Kursen weisen wir immer darauf hin, dass das Entscheidende im Examen die Fähigkeit zu methodischem Lernen ist. Im Vordergrund der Leistungsbewertung stehen nach § 16 BayJAPO das juristische Verständnis und die Fähigkeit zu methodischem Arbeiten.

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Examensreport - Termin 2016-II Bayern B) Strafrecht: Allgemeines/Auffälligkeiten/Trends: konkurrenzrechtlich schwierige, anspruchsvolle Klausur 









 kein StPO-Teil; trotzdem sehr umfangreich

Klausur Nr. 4 Teil I: G vereinbart mit U, ihr 3 kg Marihuana, das sich G auf dem Schwarzmarkt besorgt hat, zu einem Preis von 18.000,- € zu liefern. Als U dies ihrem Bekannten H erzählt, mit dem sie gelegentlich Marihuana konsumiert, wittert dieser eine Chance, „günstig an den Stoff zu kommen“. Er bietet U daher an, sie zu dem mit G vereinbarten Treffpunkt zu fahren, sich dann im Hintergrund aufzuhalten und sie anschließend wieder nach Hause zu bringen. U, die von den Plänen des H nichts ahnt, nimmt dieses Angebot gerne an. Am vereinbarten Datum treffen sich U und G gegen 19:00 Uhr auf dem Parkplatz eines Baumarktes. Zunächst lässt G das Marihuana in dem Kofferraum seines Wagens und schlendert mit U durch den Baumarkt, um den Ablauf der Übergabe, die dann ganz rasch und unauffällig erfolgen soll, noch einmal mündlich durchzusprechen. H hat auf eine solche Gelegenheit gewartet, öffnet mit Hilfe eines dünnen Drahtes den verschlossenen Kofferraum von G´s Wagen und entnimmt das Päckchen mit dem Marihuana. Damit der Verdacht nicht auf U (die von all dem nichts weiß) oder ihn fällt, will H nicht mit dem Wagen flüchten, sondern das Marihuana erst zu Fuß in Sicherheit bringen, bevor er dann vermeintlich ahnungslos wieder auf dem Parkplatz auftauchen will. Da H jedoch mit dem Öffnen des Kofferraums zu lange gebraucht hat, sieht G noch, wie H den Kofferraumdeckel schließt und eilenden Schritts davongeht. Da der stark übergewichtige G Zweifel hat, ob er H zu Fuß einholen kann, läuft er zu seinem Auto und fährt in die Richtung, in die H verschwunden ist. Nach kurzer Zeit entdeckt er H circa 100 m vom Parkplatz entfernt auf dem linksseitigen Gehweg in gleicher Richtung gehend. G beschleunigt sein Fahrzeug auf circa 40 km/h und lenkt dieses über die Gegenfahrbahn hinweg auf den linksseitigen Gehweg. Er will H mit dem Pkw anbzw. umfahren, ihn dadurch zu Fall bringen und dann das Marihuana wieder in Besitz nehmen. Dabei nimmt G, der hofft, dass H von dem Angriff überrascht wird und deshalb nicht ausweichen kann, auch ein Überfahren und damit den Tod des H billigend in Kauf. H bemerkt im letzten Moment das auf ihn zukommende Fahrzeug und macht einen Sprung zur Seite. Dabei stürzt er und verletzt sich am Bein. Auch G lenkt ruckartig zur Seite, trifft aber aufgrund dieses Manövers nicht wie geplant H, sondern prallt gegen einen Betonpfeiler. H kann sich aufrappeln und rennt mit dem Marihuana davon. G steigt trotz leichter Verletzungen aus dem Fahrzeug, das infolge des Aufpralls gegen den Betonpfeiler nicht mehr fahrbereit ist, aus und folgt H, um ihn nun mit bloßen Händen fertig zu machen. Dabei ist er sich sicher, dass er ihn nötigenfalls sogar erwürgen kann, um an das Marihuana zu gelangen. Zu Fuß gelingt es G wegen der Beinverletzung des H tatsächlich, diesen einzuholen. Da H trotz einer entsprechenden Aufforderung des G das Marihuana nicht herausgeben will, versucht G, H das Marihuana aus der Hand zu reißen. H wehrt sich dagegen und stößt G mit seinem Ellenbogen in den Bauch, um so im Besitz des Päckchens zu bleiben. Schließlich gelingt es G jedoch, H in den Schwitzkasten zu nehmen und ihm die Luft abzudrücken, wobei er immer noch auch den Tod des H billigend in Kauf nimmt. Am Ende lässt H in Atemnot das Päckchen fallen. G lässt daraufhin von H ab und verlässt mit dem Päckchen den Ort der Auseinandersetzung. Vermerk für die Bearbeiter: In einem Gutachten, das – gegebenenfalls hilfsgutachtlich – auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen eingeht, ist zu prüfen, wie sich die Beteiligten nach dem StGB strafbar gemacht haben.

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Hinweis: Bei der Bearbeitung ist davon auszugehen, dass G gemäß § 134 BGB i.V.m. den Verbotsvorschriften des Betäubungsmittelgesetzes zivilrechtlich kein Eigentum an den 3 kg Marihuana erwerben konnte. Dies war G auch bekannt. Skizzierung der wesentlichen inhaltlichen Probleme: Wichtigste Problemstellungen: versuchter Mord, §§ 212 I, 211 II, 22, 23 I StGB; besonders schwerer Raub, §§ 249 I, 250 II Nr. 1 StGB; gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, § 315b I Nr. 3, III StGB i.V.m. § 315 III Nr. 1b StGB; gefährliche Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I StGB; Diebstahl in einem besonders schweren Fall, §§ 242 I, 243 I S. 2 Nr. 2 StGB; räuberischer Diebstahl, § 252 StGB; Konkurrenzen; Rücktritt; Rechtfertigungsgründe; Sonderproblem: „Besitzkehr“ (§ 859 II BGB) bei Verlust des Besitzes an Betäubungsmitteln Sinnvoll erscheint es, das Geschehen in zeitlicher Hinsicht in zwei Tatkomplexe aufzuteilen. Hierbei ist zu beachten, dass die spätere Verfolgung durch G sich konkurrenzrechtlich als eine Tat darstellt. 1. Tatkomplex: „Mitnahme des Marihuana“ / Strafbarkeit des H hemmer-Methode: Bezüglich U könnte man eine Strafbarkeit gemäß §§ 261 II Nr. 1 Alt. 1, I S. 2 Nr. 2 lit. b Alt. 1, III, 22, 23 I StGB prüfen. U wusste, dass G das Marihuana auf dem Schwarzmarkt erworben hat, mithin von der Herkunft aus einer Straftat nach § 29 I S. 1 Nr. 1 BtMG. Sie wollte auch ein eigenständiges Herrschaftsverhältnis im Einvernehmen mit G darüber begründen, es sich mithin verschaffen. Fraglich ist allerdings das unmittelbare Ansetzen. Dies ist zu verneinen. Es fehlen nähere Hinweise im Sachverhalt dazu, dass U die Schwelle zum „jetzt geht´s los“ überschritten hat. Eine Versuchte Hehlerei gemäß §§ 259 I, 22, 23 I StGB scheidet bereits deshalb aus, weil insoweit keine gegen fremdes Vermögen gerichtete Vortat vorliegt. H könnte sich wegen eines Diebstahls in einem besonders schweren Fall gem. §§ 242 I, 243 I S. 2 StGB strafbar gemacht haben, indem er den Kofferraum von G´s Wagen mit einem dünnen Draht öffnete und das Päckchen Marihuana entnahm. Hierbei handelt es sich um eine bewegliche Sache. Zu diskutieren ist die Fremdheit der Sache. Bei Betäubungsmitteln wird diese teilweise in teleologischer Auslegung mit dem Hinweis darauf verneint, dass gemäß § 134 BGB i.V.m. dem BtMG zivilrechtlich kein wirksamer abgeleiteter Eigentumserwerb möglich ist. Nach Auffassung der bisherigen Rechtsprechung können hingegen auch illegal erworbene Sachen Gegenstand von Eigentumsdelikten sein. Es wird darauf abgestellt, dass jedenfalls der Hersteller des Betäubungsmittels gemäß § 956 BGB originäres Eigentum erwerbe und deshalb die Sache „fremd“ sei (vgl. Fischer, § 242 StGB, Rn. 5, 5a). Dies vermag zu überzeugen, zumal der Diebstahl die Entfernung vom Eigentümer „vertieft“. hemmer-Methode: Bei Verneinung der Fremdheit sind die weiteren Rechtsfragen in einem Hilfsgutachten zu erörtern. Beachten Sie, dass der 2. Senat des BGH mit der bisherigen Rechtsprechung brechen möchte und es nicht für angezeigt erachtet, das formal erworbene Eigentum des Herstellers von Betäubungsmitteln über die Eigentumsdelikte zu schützen, vgl. Anfragebeschluss vom 01.06.2016 – 2 StR 335/15. H hat den (gelockerten) Gewahrsam des G gebrochen und jedenfalls mit der Entfernung des Päckchens vom Wagen des G neuen Gewahrsam begründet, mithin das Marihuana weggenommen. H handelte mit entsprechendem Tatvorsatz und der Absicht, sich das Marihuana rechtswidrig zuzueignen. Rechtswidrigkeit und Schuld liegen ebenfalls vor. Zu diskutieren ist weiter die Annahme eines besonders schweren Falls. Da H vorliegend nicht in den Personenteil des Wagens einbrach, sondern den Kofferraum öffnete, kommt nicht § 243 I S. 2 Nr. 1 StGB, sondern § 243 I S. 2 Nr. 2 StGB in Betracht. Der Kofferraum ist eine Schutzvorrichtung gegen Wegnahme in diesem Sinne (vgl. Fischer, § 243 StGB, Rn. 12). Ein „Aufbrechen“ o.Ä. ist (anders als bei Nr. 1) gerade nicht erforderlich, sodass § 243 I S. 2 Nr. 2 StGB zu bejahen ist (ein Ausschluss gem. § 243 II StGB kommt nicht in Betracht). 2. Tatkomplex: „Kampf um das Marihuana“ hemmer-Methode: Von einer weiteren Differenzierung nach Tatkomplexen wird vorliegend abgesehen. Denn das weitere Geschehen stellt sich bei näherer Betrachtung aus Sicht des G als deliktische Einheit dar. Erklären Sie keinesfalls Ihren Aufbau. Er sollte aber in sich schlüssig sein.

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A) Strafbarkeit des G I. Versuchter Mord, §§ 212 I, 211 II, 22, 23 I StGB Indem G den H verfolgte, um das Marihuana wieder in Besitz zu nehmen, könnte er sich wegen versuchten Mordes gem. §§ 212 I, 211 II, 22, 23 I StGB strafbar gemacht haben. Da H überlebte, ist die Tat nicht vollendet, der Versuch des Mordes als ein Verbrechen ist auch strafbar, §§ 23 I Alt. 1, 12 I StGB. G handelte mit Tatentschluss bezüglich der Verwirklichung von § 212 I StGB, indem er ein Überfahren und damit den Tod des H billigend in Kauf nahm. G wollte sich durch den Angriff „um jeden Preis“ wieder in den Besitz des – für ihn wertvollen, da zu veräußernden – Marihuanas bringen. Hierdurch könnte G das Mordmerkmal „Habgier“ (§ 211 II Gr. 1 Var. 3 StGB) verwirklicht haben. Zu diskutieren ist in teleologisch restriktiver Auslegung der Mordmerkmale, ob auch das „Zurückholen“ von etwas zuvor (rechtswidrig) Entwendetem darunter fällt. Da G vor allem handelte, um das Marihuana im Anschluss weiter veräußern zu können, kann mit guten Gründen ein „Gewinnstreben um jeden Preis“, mithin Habgier bejaht werden. Weiter hoffte G, dass H von dem Angriff überrascht wird. Zu erörtern ist, ob deshalb ein Tatentschluss hinsichtlich einer heimtückischen Begehungsweise im Sinne von § 211 II Gr. 2 Var. 1 StGB in Betracht kommt. Zu diskutieren ist an dieser Stelle eine mögliche normative Einschränkung der Arglosigkeit eines Diebs (hier des H), der kurz zuvor das Marihuana gestohlen hatte (s.o.). Bei entsprechender Argumentation sind hier beide Auffassungen gleich gut vertretbar. Weiter ist zu erörtern, ob G gehandelt hat, um eine andere Straftat zu ermöglichen, § 211 II Gr. 3 Alt. 1 StGB. Zuerst ist darzulegen, ob überhaupt die Umsetzung des Motivs, das Marihuana wieder in Besitz zu nehmen, eine „andere“ Straftat in diesem Sinne darstellen kann. Nach der Rechtsprechung genügt grundsätzlich die erstrebte Verwirklichung eines gegen ein anderes Rechtsgut gerichteten Straftatbestands, auch wenn dieser in natürlicher Handlungseinheit zum Mord/Totschlag steht (str., vgl. Fischer, § 211 StGB, Rn. 65; andere Ansicht mit Verweis auf den Wortlaut sowie die gebotene restriktive Auslegung der Mordmerkmale vertretbar; für diesen Fall ist im Hilfsgutachten weiter zu prüfen). Folgt man der Rechtsprechung, ist inzident weiter zu prüfen, ob bezüglich der intendierten Inbesitznahme des Marihuanas ein besonders schwerer Raub gem. §§ 249 I, 250 II Nr. 1 Alt. 2 StGB (sog. „Raubmord“; bereits das Umfahren kann insoweit die qualifizierte Nötigungshandlung darstellen) vorliegt. Hier ist zu diskutieren, ob G aufgrund des Vorverhaltens des H gegebenenfalls gerechtfertigt handelt. Als besonderer Rechtfertigungsgrund kommt § 859 II BGB in Betracht. H störte den Besitz des G und handelte somit mit verbotener Eigenmacht (§ 858 I BGB). Damit kommt grundsätzlich eine Rechtfertigung des G gemäß § 859 II BGB („Besitzkehr“) in Betracht. Problematisch ist jedoch, ob eine solche Rechtfertigung auch dann möglich ist, wenn der erstrebte Besitz als solcher bei Strafe verboten ist (hier: nach BtMG). Indes wäre es sinnwidrig, wenn eine „Besitzkehr“ zu einer (erneuten) strafrechtswidrigen Besitzlage führt, sodass § 859 II BGB richtigerweise ausscheidet (vgl. BGH, Beschluss vom 21.04.2015 – 4 StR 92/15, Rn. 19; vgl. hierzu die Anmerkung von Kudlich, NJW 2015, 2901). Überdies scheitert eine Rechtfertigung gemäß § 859 II BGB auch daran, dass die Gewaltanwendung des Vorbesitzers nicht die Grenze des Erforderlichen bzw. Gebotenen übersteigen darf, was vorliegend anzunehmen ist. Auch sonstige Rechtfertigungsgründe (wie Notwehr) greifen nicht, da G weder Eigentümer noch schützenswerter Vorbesitzer des Päckchens Marihuana ist. Für Nothilfe zugunsten des Eigentümers des Marihuanas fehlt G jedenfalls das subjektive Rechtfertigungselement, da er nicht zu dessen, sondern zu seinen eigenen Gunsten handelt. Mithin handelte G in der Absicht, eine andere Straftat zu ermöglichen. Da dieses Motiv handlungsleitend war, verbleibt daneben kein Raum für die Annahme eines sonstigen niedrigen Beweggrundes, § 211 II Gr. 1 Var. 4 StGB. G setzte unmittelbar zur Tat an, § 22 StGB. Eine Rechtfertigung scheidet bezüglich der von G billigend in Kauf genommenen Tötung des H aus den dargelegten Gründen aus. G handelte überdies schuldhaft. G könnte gem. § 24 I StGB strafbefreiend zurückgetreten sein, indem er von H, nachdem er das Päckchen Marihuana erlangt hatte, wieder abließ. Ein Rücktritt käme aber nur dann in Betracht, wenn der Versuch nicht fehlgeschlagen wäre. Problematisch ist, auf welchen Zeitpunkt bei einem mehraktigen Geschehensablauf abzustellen ist. Nicht zu überzeugen vermag die sog. Einzelaktstheorie, die für die Bestimmung des Fehlschlags auf jeden einzelnen Ausführungsakt abstellt. Dies würde zu einer unnatürlichen Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhalts führen und das Rücktrittsrecht nahezu vollständig aushöhlen. Zu überzeugen vermag deshalb die sog. Gesamtbetrachtungslehre (h.M.), wonach auf die Vorstellung des Täters im letzten Zeitpunkt des konkreten Tatgeschehens abzustellen ist.

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Der ursprüngliche Tatplan ist hierfür nicht entscheidend. Ein Fehlschlag liegt nicht bereits darin, dass der Täter die Vorstellung hat, er müsse von seinem Tatplan abweichen, um den Erfolg herbeizuführen. Hält der Täter die Vollendung der Tat im unmittelbaren Handlungsvorgang noch für möglich, wenn auch mit anderen Mitteln, so ist der Verzicht auf ein Weiterhandeln als freiwilliger Rücktritt vom unbeendeten Versuch zu bewerten (vgl. BGH, Beschluss vom 22.03.2012 – 4 StR 541/11). Vorliegend ist sich G unmittelbar nach dem Aufprall gegen einen Betonpfeiler sicher, dass er H nötigenfalls sogar erwürgen kann. Zudem gelingt es ihm angesichts der Beinverletzung von H, diesen einzuholen. Aus diesen Gründen sprechen die besseren Argumente dafür, einen fehlgeschlagenen Versuch aufgrund des Aufpralls des Fahrzeugs auf den Betonpfeiler (als „Zäsur“) zu verneinen, mithin insgesamt bei der Verfolgung des H von einem einheitlichen Tatgeschehen auszugehen. hemmer-Methode: Eine andere Auffassung erscheint hier vertretbar. In der dem Fall zugrunde liegenden Entscheidung des BGH ging die Vorinstanz von einem fehlgeschlagenen Versuch aus. Der BGH hob aber insoweit die Entscheidung mit den zugehörigen Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer zurück (vgl. BGH, Beschluss vom 21.04.2015 – 4 StR 92/15). G erkannte nach den Gesamtumständen, dass H noch nicht lebensgefährlich verletzt war, als er von ihm im späteren Verlauf abließ und mit dem Päckchen den Ort der Auseinandersetzung verließ. Demzufolge liegt insoweit ein unbeendeter Versuch gem. § 24 I S. 1 Alt. 1 StGB vor. G ließ auch aus autonomen Motiven von H ab, ohne dass es hierbei auf die Art und Güte der Motivation ankäme; mithin handelte er freiwillig. Gezweifelt werden könnte aber daran, ob von einer „Aufgabe“ die Rede sein kann, da G sein primäres Handlungsziel, nämlich den Besitz an dem Päckchen Marihuana wieder zu erlangen, erreicht hatte. Allerdings spricht das Gesetz insoweit von „Aufgabe der Tat“, sodass nach überzeugender Auffassung außertatbestandliche Handlungsziele außer Betracht bleiben. Vorliegend gab G freiwillig die weitere Verfolgung und somit die Verwirklichung seines Tatentschlusses hinsichtlich des Tatbestands des § 212 I StGB auf. Ein strafbefreiender Rücktritt liegt somit vor, sodass eine Strafbarkeit wegen versuchten Mordes ausscheidet. hemmer-Methode: Angesichts dieser angezeigten Gesamtbetrachtung scheidet auch eine Strafbarkeit wegen versuchten Mordes durch das spätere Würgen aus. II. Gefährliche Körperverletzung, §§ 223 I, 224 I StGB G hat durch sein Handeln mittels der Verfolgung mit dem Wagen die Beinverletzung des H verursacht sowie im späteren Verlauf der Verfolgung H in den Schwitzkasten genommen und ihm die Luft abgedrückt, sodass er H sowohl körperlich misshandelt als auch an der Gesundheit geschädigt hat, § 223 I Alt. 1 und 2 StGB. Die Beinverletzung war die Folge des Sprungs des H zur Seite und nicht unmittelbare Folge eines Umfahrens mit dem Fahrzeug. Damit wurde die Körperverletzung nicht „mittels“ eines Werkzeugs begangen. § 224 I Nr. 2 Alt. 2 StGB scheidet demnach aus (vgl. Fischer, § 224 StGB, Rn. 7a). Angesprochen und verneint werden könnte zudem § 224 I Nr. 3 StGB („hinterlistiger Überfall“). Schließlich fehlen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass aufgrund der Atemnot des H aufgrund des Würgens eine (abstrakt) das Leben gefährdende Behandlung erfolgte (andere Ansicht vertretbar; bei einem Würgegriff sind regelmäßig nähere Feststellungen zu Dauer und Intensität erforderlich, vgl. Fischer, § 224 StGB, Rn. 12c). Eine abstrakte Lebensgefahr i.S.v. § 224 I Nr. 5 StGB kann indes bejaht werden, indem G den H mittels seines Wagens verfolgte und H erst „im letzten Moment“ dies bemerkte und zur Seite sprang. G handelte vorsätzlich. Hinsichtlich der Verletzung am Bein liegt eine nur unwesentliche Abweichung des vorgestellten Kausalverlaufs vom tatsächlichen Kausalverlauf vor, sodass auch dieser Körperverletzungserfolg vom Vorsatz des G erfasst ist. G handelte rechtswidrig. Eine Rechtfertigung gemäß § 859 II BGB („Besitzkehr“) scheidet aus bereits genannten Gründen aus. Für eine Notwehr fehlt es bereits an einer tauglichen Notwehrsituation, da G weder Eigentümer des Marihuana ist noch ein schützenswertes Besitzrecht vorliegt. Zur Nothilfe gilt das oben Gesagte. Auch die Schuld ist zu bejahen, sodass sich G wegen gefährlicher Körperverletzung strafbar gemacht hat.

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III. Besonders schwerer Raub, §§ 249 I, 250 II Nr. 1 StGB G hat den Gewahrsam des H am Päckchen Marihuana, eine fremde bewegliche Sache (s.o.), durch sein Handeln gebrochen und neuen begründet, indem er mit dem Päckchen den Ort der Auseinandersetzung verließ. Eine Wegnahme liegt somit vor. Überdies wendete G Gewalt gegen H an, um die Wegnahme zu ermöglichen, indem er ihn in den Schwitzkasten nahm. Auch der erforderliche Finalzusammenhang ist somit gegeben. Überdies könnte G bei der Tat ein gefährliches Werkzeug verwendet haben, indem er zunächst H mit dem Wagen verfolgte und H erst im letzten Moment dies bemerkte und ihm ein Sprung zur Seite gelang. Ein gefährliches Werkzeug im Sinne von § 250 II Nr. 1 Alt. 2 StGB liegt vor, wenn abstrakt und nach der konkreten Art der Verwendung eine erhebliche Verletzung droht. Da H erst „im letzten Moment“ G bemerkte, ist hiervon bei lebensnaher Betrachtung auszugehen. G nahm jedenfalls billigend in Kauf, H mit dem Fahrzeug zu rammen und durch diese Gewalthandlung den Raub zu ermöglichen, sodass ein „Verwenden“ im Sinne von § 250 II Nr. 1 StGB anzunehmen ist. G handelte vorsätzlich und mit der Absicht, sich das Päckchen Marihuana rechtswidrig zuzueignen. Aus den besagten Gründen handelte G auch rechtswidrig und schuldhaft. IV. Versuch der Erfolgsqualifikation, §§ 251, 249 I, 250 II Nr. 1, 22, 23 I StGB G handelte vorsätzlich, den Tod des H „durch den Raub“ zu verursachen. Ein entsprechender Tatentschluss liegt mithin vor. G setzte zudem unmittelbar zu dieser Tat an. Außerdem handelte er rechtswidrig und schuldhaft. Zu diskutieren ist sodann, ob bezüglich der Todesfolge ein sog. Teilrücktritt (von der Erfolgsqualifikation) gemäß § 24 I StGB in Betracht kommt. Die besseren Argumente sprechen dafür, dies zu bejahen, da sonst kriminalpolitisch das Rücktrittsrecht bezüglich des intendierten Opferschutzes leerzulaufen droht („Gleichlauf mit §§ 212 I, 211 II, 22, 23 I StGB“). Eine Strafbarkeit wegen eines Versuchs der Erfolgsqualifikation scheidet mithin aus. hemmer-Methode: Unterscheiden Sie sprachlich zwischen Versuch der Erfolgsqualifikation und dem erfolgsqualifizierten Versuch. Bei letzterem ist die besondere Folge eingetreten, während der Grundtatbestand im Versuch steckengeblieben ist. V. Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, § 315b I, III StGB i.V.m. § 315 III Nr. 1b StGB Indem G versuchte, H mit seinem Fahrzeug zu rammen, könnte er im Sinne von § 315b I Nr. 3 StGB einen ähnlichen, ebenso wie bei Nr. 1 und 2 gefährlichen Eingriff vorgenommen haben. Hiergegen könnte sprechen, dass G beim Steuern des Fahrzeugs Verkehrsteilnehmer war und dementsprechend § 315b StGB aus systematischen Gründen mangels eines Eingriffs (von außen) „in den Straßenverkehr“ (vgl. amtliche Überschrift) ausscheiden könnte. Indes ist allgemein anerkannt, dass § 315b I Nr. 3 StGB ausnahmsweise auch dann greift, wenn es zu einem bewusst zweckwidrigen Einsatz eines Fahrzeugs kommt. Hinzukommen muss nach der Rechtsprechung des BGH, dass das Fahrzeug mit mindestens bedingtem Schädigungsvorsatz missbraucht wird (vgl. Fischer, § 315b StGB, Rn. 9b). So liegt der Fall hier, da G auch ein Überfahren und damit den Tod des H billigend in Kauf nahm. Durch diese Handlung (Zufahren auf H) kam es auch zu einer (abstrakten) Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs. Es schadet insoweit nicht, dass G sein Fahrzeug auf den linksseitigen Gehweg lenkte, da es sich hierbei räumlich auch um „öffentlichen Straßenverkehr“ handelt. Überdies müsste hierdurch eine konkrete Gefahr für Leib oder Leben eines anderen Menschen bzw. fremde Sachen von bedeutendem Wert (ca. 750,- €) entstanden sein. Bezüglich des von G gerammten Betonpfeilers fehlen nähere Angaben, die eine entsprechende Feststellung stützen könnten. Allerdings könnte Leib oder Leben des H konkret gefährdet gewesen sein. Erforderlich ist hierbei, dass durch die Tathandlung ein so hohes Verletzungs- bzw. Schädigungsrisiko begründet worden ist, dass es nur noch vom Zufall abhängig ist, ob es zu einer Rechtsgutverletzung kommt (sog. „Beinaheunfall“, vgl. BGH, Beschluss vom 26.07.2011 – 4 StR 340/11). Vorliegend bemerkte H erst „im letzten Moment“ das Fahrzeug und konnte zur Seite springen. Dies genügt für eine Überzeugungsbildung dahingehend, dass er „beinahe“ vom Fahrzeug erfasst worden ist (andere Ansicht vertretbar; dann ist eine Versuchsstrafbarkeit zu prüfen und zu bejahen). Der objektive Tatbestand von § 315b I Nr. 3 StGB ist damit verwirklicht. G handelte auch vorsätzlich.

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Zudem handelte G in der Absicht, eine andere Straftat („besonders schwerer Raub“) zu ermöglichen (s.o.), sodass auch das Qualifikationsmerkmal des § 315b III StGB i.V.m. § 315 III Nr. 1b Alt. 1 StGB verwirklicht ist. Da es G nicht primär um das Überfahren des H ging, scheidet hingegen die Bejahung einer Absicht, einen Unglücksfall herbeizuführen, aus. G handelte rechtswidrig und schuldhaft. hemmer-Methode: Geprüft werden könnte noch eine Gefährdung des Straßenverkehrs, § 315c I StGB. Jedoch liegt bereits kein tauglicher Verkehrsverstoß im Sinne von § 315c I Nr. 2 StGB vor. VI. Geiselnahme, § 239b I Alt. 1 StGB G könnte dadurch, dass er H in den Schwitzkasten nahm und ihm die Luft abdrückte, sich eines Menschen bemächtigt haben, um ihn durch die Drohung mit dem Tod zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung zu nötigen, § 239b I Alt. 1 StGB. Jedoch ist anerkannt, dass im Zwei-Personen-Verhältnis die Tathandlung „Sich-Bemächtigen“ telelogisch restriktiv auszulegen ist, damit nicht andere klassische Unrechtstatbestände faktisch in ihrer Bedeutung ausgehöhlt werden. Erforderlich ist deshalb, dass eine stabile Bemächtigungslage vorliegt, welche für die nachfolgende Nötigung eine eigenständige Bedeutung hat (ständige Rspr.). Hierfür genügen die vorliegenden Feststellungen jedoch nicht, sodass eine Strafbarkeit gemäß § 239b I Alt. 1 StGB ausscheidet. VII. Gesamtergebnis / Konkurrenzen G hat sich durch sein Verhalten gemäß §§ 223 I, 249 I, 250 II Nr. 1, 315b I Nr. 3, III StGB i.V.m. §§ 315 III Nr. 1b, 52 StGB strafbar gemacht. Aufgrund der einheitlichen Willensrichtung und des zeiträumlichen Zusammenhangs liegt eine natürliche Handlungseinheit vor. hemmer-Methode: Geprüft werden könnte noch eine Unfallflucht (§ 142 I StGB). Jedoch ist vorliegend schon kein „Unfall“ in diesem Sinne anzunehmen, da das Verhalten des G keine Auswirkung des allgemeinen Verkehrsrisikos darstellt, sondern auf einer deliktischen Planung beruht (vgl. Fischer, § 142 StGB, Rn. 13). In Betracht käme noch eine Geldwäsche gemäß § 261 I, II Nr. 1 StGB, indem sich G das Marihuana verschaffte, welches aus einer BtMG-Tat (vgl. § 261 I S. 2 Nr. 2b StGB) herrührt. Jedoch scheidet eine entsprechende Strafbarkeit des G aufgrund seiner Beteiligung an der Vortat gemäß § 261 IX S. 2 StGB aus. Ansprechen könnte man schließlich noch Hehlerei gemäß § 259 I Alt. 1 StGB, indem G sich das Marihuana, das H gestohlen hat, verschafft. Da G dem H das Marihuana allerdings gegen dessen Willen abnimmt, fehlt es an der für ein „Sich-Verschaffen“ erforderlichen einvernehmlichen Übergabe. Diese Voraussetzung ergibt sich aus dem Zweck des § 259 I StGB, wonach das Schaffen eines Anreizinteresses für die Vortat Strafgrund ist. B) Strafbarkeit des H Indem H dem G seinen Ellenbogen in den Bauch stieß, um im Besitz des Päckchens zu bleiben, könnte er sich gemäß § 252 StGB strafbar gemacht haben. Ein vollendeter Diebstahl liegt vor (s.o., 1. Tatkomplex). H wurde jedenfalls „alsbald“ nach dem Diebstahl und mithin auf frischer Tat betroffen. Zudem verübte er die Gewalt gegenüber G, um sich im Besitz des gestohlenen Gutes zu erhalten. Eine Rechtfertigung wegen „Besitzkehr“ scheidet ebenso aus wie wegen Notwehr (mangels Notwehrlage, da der Gewahrsam des H nicht schützenswert ist, s.o.). Anhaltspunkte für eine hierdurch eingetretene körperliche Misshandlung bzw. Gesundheitsschädigung des G fehlen ebenso wie ein nachweisbarer entsprechender Tatentschluss des H, sodass eine Strafbarkeit gemäß § 223 I StGB ausscheidet (andere Ansicht, nämlich die Annahme einer körperlichen Misshandlung, gut vertretbar). § 252 StGB verdrängt den im Vorfeld verwirklichten Diebstahl in Gesetzeskonkurrenz. hemmer-Trainingsplan-Info: Es handelt sich insgesamt um eine sehr umfangreiche und anspruchsvolle Klausurstellung. Bereits der Aufbau gestaltet sich schwierig, da dieser davon abhängt, ob man bei der späteren Verfolgung seitens des G von einer konkurrenzrechtlichen Tat ausgeht oder aufgrund des Aufpralls gegen den Betonpfeiler eine „Zäsur“ annimmt. Es ist unabdingbar, vor der Niederschrift alle aufbaurelevanten Fragen entschieden zu haben. Die Klausur zeigt damit anschaulich, warum bei „hemmer“ stets am großen Fall (sowohl im Haupt- als auch im Klausurenkurs) trainiert wird. Nur so erlangen Sie die nötige Erfahrung und „Weitsicht“, solch komplexe Fälle einer sachgerechten Lösung zuzuführen..

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Examensreport, Termin 2016-II Bayern C) Öffentliches Recht Allgemeines/Auffälligkeiten/Trends:

 kein bayerisches Verwaltungsrecht  eine reine Staatsrechtsklausur

Klausur Nr. 5 Problemstellung: Die erste öffentlich-rechtliche Klausur hatte ihren Schwerpunkt im Polizeirecht – mit der Besonderheit, dass nicht die bayerische Landespolizei, sondern die Bundespolizei handelte. Sachverhalt: F und H sind zwei befreundete Fußballfans, die ihren Verein, die ruhmreichen Würzburger Kickers, zu jedem Heim- und Auswärtsspiel begleiten. Beide sind in Fußballstadien bereits mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. Auf den Auswärtsfahrten, zu denen sie regelmäßig mit dem Zug fahren, ist der meist stark alkoholisierte H ist ebenfalls mehrfach wegen Beleidigungen und körperlichen Übergriffen auf andere Fahrgäste aufgefallen und entsprechend vorbestraft. Einmal kam es zu einer Verurteilung wegen Landfriedensbruchs, da der Zug außerplanmäßig wegen eines Polizeieinsatzes halten musste. F hingegen blieb bei Zugfahrten stets unauffällig. Für den 20.08.2016 ist das Pokalspiel der Würzburger Kickers gegen den SSV Jahn Regensburg im Regensburger Jahn-Stadion angesetzt. Aufgrund der Bedeutung des Spiels wird eine aufgeheizte Stimmung unter den Fans befürchtet. Aus diesem Grund schickt die örtlich zuständige Bundespolizeidirektion München F und H ein Schreiben, in welchem die Absicht kundgetan wird, ihnen beiden gem. §§ 3 I, 14 II, 38 BPolG von Samstag, 20.08.2016 ab 05:00 Uhr morgens bis Sonntag, 21.08.2016, 02:00 Uhr morgens das Betreten aller Züge auf der Strecke Würzburg-Nürnberg-Regensburg sowie der Hauptbahnhöfe dieser Städte zu verbieten. Beide erhalten Gelegenheit zur Stellungnahme. F und H protestieren schriftlich gegen die geplanten Betretungsverbote; diese seien überzogen und überflüssig. F macht geltend, dass dem Bund die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz fehle, da Polizeirecht Ländersache sei. Evtl. Ausschreitungen im Regensburger Stadion seien allein Sache der Bayer. Landespolizei. H meint, es sei diskriminierend, ihn von der Zugfahrt auszuschließen; schließlich sei dort die Stimmung viel besser als bei Anreise mit Bus oder Pkw. Im Übrigen hält er das geplante Verbot in zeitlicher wie räumlicher Hinsicht für unzulässig, weil zu weitreichend. Mit Schreiben vom 08.08.2016 erlässt die Bundespolizeidirektion München die angekündigten Verbotsverfügungen gegen F und H u.a. mit der Begründung, der Bund sei gem. Art. 73 I Nr. 6a GG für die Gesetzgebung zuständig, Die Verwaltungszuständigkeit lasse sich auf Art. 87 I S. 1 GG, jedenfalls aber auf Art. 87e I S. 1 GG stützen. Die Strecke Würzburg-Nürnberg-Regensburg sowie die Bahnhöfe befinden sich im vollständigen Eigentum der DB Netz AG, einer hundertprozentigen Tochter der bundeseigenen Deutschen Bahn AG. Die Bundeskompetenz umfasse als Annex auch die Gefahrenabwehr durch die Bundespolizei. Am 11.08.2016 legen F und H jeweils ordnungsgemäß Widerspruch ein. Mit ordnungsgemäßem Widerspruchsbescheid vom 17.08.2016, jeweils zugestellt am 19.08.2016, werden beide Widersprüche zurückgewiesen. Zum Pokalspiel am 20.08.2016 fahren F und H mit dem Bus nach Regensburg; es kommt zu keinerlei Zwischenfällen. Da sie befürchten, dass die Bundespolizei auch bei zukünftigen Auswärtsspielen gegen sie Betretungsverbote verhängen wird, suchen sie am 12.09.2016 RAin R auf und erbitten gutachterliche Prüfung der Erfolgsaussichten einer Klage.

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Laut Bearbeitervermerk ist das Gutachten der RAin R zu erstellen, in dem – ggf. hilfsgutachtlich – auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen einzugehen ist. Hingewiesen wird auf § 1 I BPolG, wonach die Bundespolizei in bundeseigener Verwaltung geführt wird und Polizei des Bundes ist. Die Bundespolizei München ist als Unterbehörde sachlich für die Wahrnehmung der der Bundespolizei nach § 1 II BPolG obliegenden Aufgaben zuständig. Auf der Strecke Würzburg-Nürnberg-Regensburg verkehren ausschließlich solche der Deutschen Bahn AG oder ihrer Tochterunternehmen. Hingewiesen wird weiter auf §§ 1, 3 I, 14 I und II, 15 bis 17, 38 BPolG; andere Vorschriften des BPolG bleiben außer Betracht. Skizzierung der inhaltlichen Probleme: I. Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet. Die streitentscheidenden Normen des BPolG sind als subordinationsrechtliche Vorschriften dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Die anderweitige Rechtswegzuweisung des § 23 EGGVG ist nicht einschlägig, da es sich um rein präventive Maßnahmen handelt. Statthaft ist die Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I S. 4 VwGO, da es sich bei den Betretungsverboten um Verwaltungsakte i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG handelt, die sich bereits vor Klageerhebung durch Zeitablauf erledigt haben (nach a.A. ist mangels planwidriger Regelungslücke auf § 43 I VwGO abzustellen). Die Kläger sind als Adressaten einer belastenden Maßnahme zumindest in Art. 2 I GG möglicherweise verletzt und damit analog § 42 II VwGO klagebefugt. Das nach § 113 I S. 4 VwGO erforderliche besondere Feststellungsinteresse ergibt sich aus der hinreichend konkreten Wiederholungsgefahr. Beide Kläger wollen auch in Zukunft zu Fußballspielen mit dem Zug anreisen. Die erneute Verhängung entsprechender Verbote ist hinreichend wahrscheinlich. Nach § 68 I S. 1 VwGO ist grundsätzlich ein Widerspruchsverfahren erforderlich. Dieses entfällt hier nicht nach § 68 I S. 2 Nr. 1 VwGO, da keine oberste Bundesbehörde gehandelt hat. Ob ein Vorverfahren auch dann erforderlich ist, wenn sich der Verwaltungsakt wie hier noch innerhalb der Widerspruchsfrist erledigt, ist strittig, muss hier aber nicht entschieden werden, da das Widerspruchsverfahren ordnungsgemäß, aber erfolglos durchgeführt wurde. Ob im Fall der analogen Anwendung des § 113 I S. 4 VwGO die Klagefrist des § 74 I S. 1 VwGO einzuhalten ist, ist gleichfalls strittig. Dagegen spricht der Charakter der Klage als Feststellungsklage und die Tatsache, dass ein erledigter Verwaltungsakt nicht mehr in Bestandskraft erwachsen kann, Sinn und Zweck der Klagefrist also in Frage gestellt sind. Im Ergebnis kann dies hier offen bleiben, da die Monatsfrist des § 74 I S. 1 VwGO gewahrt wäre. Da die Kläger als natürliche Personen auch beteiligten- und prozessfähig sind, §§ 61 Nr. 1 Alt. 1, 62 I VwGO, wäre eine Klage insoweit zulässig. Zuständig für die Klage wäre nach §§ 45, 52 Nr. 2 VwGO, Art. 1 II Nr. 1 AGVwGO das VG München. II. Da mehrere Kläger auftreten und mehrere Verwaltungsakte Streitgegenstand sind, liegen eigentlich zwei Klagen vor. Diese können aber, da die Voraussetzungen der §§ 44, 64 VwGO i.V.m. §§ 59 f. ZPO vorliegen, in einer Klage gemeinsam angefochten werden. III. Die Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 I S. 4 VwGO ist begründet, soweit sie gegen den richtigen Beklagten gerichtet ist, der Verwaltungsakt rechtswidrig war und der Kläger dadurch jeweils in seinen Rechten verletzt wurde. 1. Richtiger Beklagter ist nach § 78 I Nr. 1 VwGO die Bundesrepublik als Rechtsträger der Bundespolizei, § 1 BPolG. 2. Fraglich ist im Rahmen der Rechtmäßigkeitsprüfung bereits, auf welche Rechtsgrundlage die streitgegenständlichen Betretungsverbote gestützt werden können.

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a) Denkbar wäre insoweit ein Abstellen auf § 38 BPolG. Allerdings werden die Kläger nicht aus dem Zug oder dem Bahnhof verwiesen, nachdem sie dort angetroffen wurden, sondern ihnen wird bereits im Vorfeld das Betreten dieser Räumlichkeiten verboten. Aus diesem Grund ist die Generalklausel des § 14 I BPolG heranzuziehen. Dass die Polizeibehörde in der Begründung ihrer Bescheide auf § 38 BPolG abgestellt hat, ist insoweit unschädlich und führt weder zur formellen Rechtswidrigkeit aufgrund einer Verletzung des § 39 I VwVfG noch zur materiellen Rechtswidrigkeit des Verbots. Das Auffinden der zutreffenden Rechtsgrundlage ist nach Ansicht des BVerwG allein Sache des Gerichts, sodass der Verwaltungsakt auch dann rechtmäßig ist, wenn die Behörde die falsche Norm heranzieht, aber die Voraussetzungen der richtigen Norm (zufällig) gegeben sind. Voraussetzung für die Heranziehung des § 14 I BPolG ist allerdings dessen Wirksamkeit, sprich dessen Verfassungsgemäßheit. Insoweit ist bereits die Gesetzgebungskompetenz des Bundes fraglich, da das Polizeirecht in Art. 73 f. GG nicht genannt ist und somit nach Art. 70 GG grundsätzlich in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fällt. Allerdings sind über den Wortlaut der Art. 70 ff. GG hinaus auch drei Fälle ungeschriebener Bundeskompetenzen grds. anerkannt: die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs, die Annexkompetenz und die Kompetenz kraft Natur der Sache. Eine Kompetenz kraft Sachzusammenhangs wird angenommen, wenn eine Materie dem Bund in Art. 73, 74 GG ausdrücklich zugewiesen ist, diese aber nur vollständig geregelt werden kann, wenn gleichzeitig auch eine andere, aber verwandte bzw. im Sachzusammenhang stehende Materie mitgeregelt wird. Während bei der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs damit Bereiche „von außerhalb des Kompetenztitels“ erfasst werden, sollen von der Annexkompetenz die Stadien der Vorbereitung und Durchführung der Materie „innerhalb des Kompetenztitels“ miterfasst werden. Nach Art. 73 I Nr. 6a GG fällt das Recht der „Bundesbahn“, insbesondere der Verkehr der „Eisenbahnen“ und der Betrieb der Schienenwege, in die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung rund um den Bahnverkehr gehört zur Abrundung dieser Kompetenz dazu, zumal das Landespolizeirecht zur effektiven Gefahrenabwehr schon deshalb ungeeignet ist, weil Züge der Deutschen Bahn permanent Landesgrenzen überschreiten. hemmer-Methode: Da diese Abgrenzung schwierig und nicht immer nachvollziehbar ist, wird die Annexkompetenz oft auch als Unterfall der Kompetenz kraft Sachzusammenhang verstanden. Ob Sie im vorliegenden Fall die eine oder die andere ungeschriebene Kompetenz annehmen, ist sicherlich nicht entscheidend. Es kommt vielmehr darauf an, dass Sie dieses im Sachverhalt angesprochene Problem aufgreifen und über eine ungeschriebene Kompetenz zugunsten des Bundes lösen. Neben der Gesetzgebungskompetenz ist aber auch fraglich, ob der Bundestag auch Bundesbehörden mit dem Vollzug des BPolG betrauen durfte, ob dem Bund also die sog. Verwaltungskompetenz zukommt. Nach Art. 83 f. GG liegt diese auch für den Vollzug der Bundesgesetze grundsätzlich bei den Ländern. hemmer-Methode: Grundsätzlich enthalten Bundesgesetze nur materiell-rechtliche Regelungen. Die Frage des Vollzugs, also die Bestimmung der zuständigen Behörde und des Verfahrens, obliegt nach Art. 83 f. GG den Ländern. Wenn der Bund eigene Behörden mit dem Vollzug eines Gesetzes betrauen will, benötigt er neben der Gesetzgebungskompetenz auch die Verwaltungskompetenz. Nach Art. 87e I GG wird die Bundesbahn in bundeseigener Verwaltung geführt. Auch im Rahmen der Verwaltungskompetenzen der Art. 83 ff. GG sind dabei die oben angesprochenen ungeschriebenen Kompetenzen anerkannt. Insoweit kann auf oben verwiesen werden. Der effektive Vollzug polizeirechtlicher Vorschriften rund um den Bahnbetrieb erfordert es, diese Normen durch Bundespolizisten vollziehen zu lassen, die im ganzen Bundesgebiet zuständig sind. Bei einem Vollzug durch Landesbehörden müsste mit jeder Überschreitung einer Bundeslandgrenze das Sicherheitspersonal ausgetauscht werden. § 14 BPolG stellt damit im Ergebnis eine taugliche Rechtsgrundlage für die streitgegenständlichen Verbote dar.

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b) Die Bundespolizei ist nach §§ 1 II, 3 I BPolG zuständig, soweit es um die Abwehr von Gefahren geht, die den Benutzern der Bahn drohen, Nr. 1, bzw. die „beim Betrieb der Bahn“ entstehen, Nr. 2. Hierunter fallen auch Störungen der Sicherheit durch Benutzer der Bahn sowohl im Bahnhof als auch im Zug selbst. Nicht erfasst ist hingegen die Gefahrenabwehr im Stadion beim Spiel selbst. Hierfür ist allein die Bayerische Landespolizei zuständig. Die Verbote sind auch im Übrigen formell rechtmäßig, insbesondere genügen Begründung und Anhörung den Anforderungen der §§ 28, 39 VwVfG. c) Die materielle Rechtmäßigkeit des Verbots setzt nach §§ 14 I, 3 I BPolG eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit voraus, die gerade dem Adressaten des Verbots als Gefahrverursacher zuzurechnen ist, § 17 I BPolG. Dies lässt sich hinsichtlich H unschwer bejahen. Dieser hat in der Vergangenheit wiederholt gerade im Zug Straftaten nach §§ 185 ff., 223 ff. StGB gegenüber Mitreisenden verübt, sodass die Gefahrprognose gerechtfertigt ist, dass sich dies gerade bei dem anstehenden Pokalspiel mit der erwarteten angeheizten Stimmung wiederholen wird. Deutlich schwieriger stellt sich die Situation bei F dar, der zwar mehrfach beim Spiel, aber niemals im Zug aufgefallen ist. Allein die Straftaten direkt beim Spiel erlauben dabei wohl nicht die Prognose, dass F dieses Mal auch im Zug selbst die öffentliche Sicherheit gefährden wird. hemmer-Methode: Hier erscheint eine andere Ansicht vertretbar. Angesichts der von F rund um das Spiel gezeigten Gewalttätigkeit stellt er auch für Mitreisende im Zug ein Sicherheitsrisiko dar. Ein anderes Ergebnis erscheint hier aufgrund des Gedankens der psychischen Beihilfe denkbar. Fußballtypische Gewalt- bzw. Straftaten werden regelmäßig in der Gruppe begangen. Allerdings kann dem Sachverhalt auch nicht entnommen werden, dass F seinen Freund H zumindest angefeuert oder sonst psychisch unterstützt hätte. Das Verbot erweist sich damit bei F mangels einer ihm zuzurechnenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit als rechtswidrig. Bei H stellt sich die Frage der Verhältnismäßigkeit des Verbots, § 15 BPolG. Insoweit spielt es eine wichtige Rolle, in welche Rechte auf Seiten des H eingegriffen wird. Das Recht der Freiheit der Person, Art. 2 II S. 2 GG, ist dabei nicht betroffen, da dieser nach h.M. nur das Recht erfasst, wegzugehen, nicht aber überall hinzugehen. Dieses Recht wird zwar von der Freizügigkeit, Art. 11 GG, geschützt. Erfasst sind aber nur Ortswechsel von einer gewissen Dauerhaftigkeit. Damit ist „nur“ die allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 I GG, betroffen. Der Eingriff ist dabei nicht als besonders schwer zu gewichten, da H ja zum einen auf andere Art und Weise zu dem Fußballspiel anreisen konnte und er zum anderen die Bahn für Fahrten in andere Richtungen nutzen durfte. Für die Verhältnismäßigkeit spricht weiter, dass H in der Vergangenheit mit seinem Verhalten bereits den Zugverkehr vorübergehend „lahmlegte“. Gegen die Verhältnismäßigkeit könnte eine Verletzung des zeitlichen Übermaßverbots sprechen, da nicht davon auszugehen ist, dass H bereits um 05:00 Uhr am Morgen zu einem Fußballspiel anreist. Andererseits wäre ein Verbot, beschränkt auf wenige Stunden vor oder nach dem Spiel, nicht gleich effektiv. Zudem wäre die Intensität des Eingriffs bei H durch eine zeitliche Reduktion nur wenig gemildert, da nicht davon auszugehen ist, dass dieser an dem Tag noch andere Fahrten mit der Bahn durchführen will. Das Verbot erweist sich damit gegenüber H als rechtmäßig. hemmer-Methode: Auch hier erscheint – wie fast immer – auch ein anderes Ergebnis vertretbar. So könnte man argumentieren, dass H ja durchaus an dem fraglichen Tag Zug fahren darf, nur nicht auf der Strecke Würzburg-Nürnberg-Regensburg. Wie soll er aber bspw. von Würzburg nach Köln fahren, wenn er den Hauptbahnhof in Würzburg nicht betreten darf? Wie soll er von Würzburg nach München fahren, wenn für ihn die Strecke Würzburg-Nürnberg tabu ist? Ergebnis: Die Klage des F erweist sich damit als begründet, die des H hingegen ist unbegründet.

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hemmer-Trainingsplan-Info: Eine für das bayerische Examen klassische Klausur – Probleme des Verfassungsrechts – Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz, Bestimmung des maßgeblichen Grundrechts – eingeflochten in eine verwaltungsrechtliche Klage. Dass das besondere Verwaltungsrecht nicht wie gewohnt das PAG, sondern das BPolG war, sollte einen Examenskandidaten nicht vor größere Probleme gestellt haben, zumal die einschlägigen Vorschriften im Bearbeitervermerk angesprochen wurden. Da auch die Probleme rund um die Art. 70 ff., 83 ff. GG im Sachverhalt mehr als deutlich anklangen, sollte auch die Thematik der ungeschriebenen Bundeskompetenzen von jedem Kandidaten diskutiert worden sein. Mit den hemmerKursunterlagen waren Sie auf diesen Fall jedenfalls bestens vorbereitet. In Fall 7, Polizeirecht wird das Thema eines Betretungsverbots für gewalttätige Fußballanhänger dargestellt. Auch in der Klausur 1667 wurden hemmer-Kursteilnehmer mit dieser Problematik konfrontiert. Dass die Thematik der Fortsetzungsfeststellungsklage sich mehrfach in unseren Kursunterlagen wiederfindet, ist genauso selbstverständlich wie die Erörterung der ungeschriebenen Kompetenzen des Bundes im Verfassungsrechtsprogramm.

Klausur Nr. 6 Problemstellung: Die zweite öffentlich-rechtliche Klausur hatte ihren Schwerpunkt im Staatsorganisationsrecht. Sachverhalt: Die Koalitionsparteien P und Ö der Bundesregierung streiten über die Energiepolitik. Aus diesem Grund beauftragt die Bundesregierung das private Meinungsforschungsinstitut D-GmbH, eine Meinungsumfrage in der Bevölkerung über die Auffassungen zur Energiepolitik durchzuführen. Die Ergebnisse werden dann in Form einer Studie vorgelegt, zu den Regierungsakten genommen und sollen der Vorbereitung künftiger Entscheidungen im Rahmen der Energiepolitik dienen. Die fraktionslose Abgeordnete A hält diese Meinungsumfrage für eine Verschwendung von Haushaltsgeldern und beantragt die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Da das erforderliche Quorum nicht erreicht wurde und sie der Meinung ist, die Öffentlichkeit müsse über die Kosten und Sinnhaftigkeit dieser „überflüssigen und unzulässigen“ Umfrage informiert werden, richtet A folgende schriftliche Anfrage an die Bundesregierung: Ziff. 1.1.: „Welche Kosten sind für den Auftrag an das Meinungsforschungsinstitut D-GmbH zur Erstellung der Meinungsumfrage angefallen?“ Ziff. 1.2.: „Wie ist die D-GmbH bei der Erstellung der Umfrage vorgegangen (Arbeitsmethode) und über welche Qualifikation verfügen die bei der Erstellung der Umfrage eingesetzten namentlich zu benennenden Mitarbeiter?“ In Ziff. 2 fordert A, die Studie selbst einsehen zu dürfen, da nur bei Kenntnis des vollständigen Inhalts ein Nachvollziehen der Auswirkungen dieser auf die Meinungsfindung der Bundesregierung möglich sei. Ziff. 3.: „Welche Haltung haben die einzelnen Mitglieder der Bundesregierung in der Kabinettssitzung der Bundesregierung vom 20.07.2016 zur Förderung der verschiedenen Energieträger vertreten?“ Die Bundesregierung lehnt die inhaltliche Beantwortung sämtlicher Fragen sowie die beantragte Einsichtnahme ab. Die Frage zu den Kosten der Umfrage könne nicht beantwortet werden, weil Gegenstand der Anfrage der Inhalt des privatrechtlichen Vertrags mit D sei. Die Art der Durchführung der Umfrage betreffe die Bundesregierung nicht, da dies vertraglich mit D nicht geregelt wurde. Zudem sei man an der Beantwortung der Fragen wegen des grundrechtlichen Schutzes der Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse der D-GmbH gem. Art. 12 I, 14 I GG bzw. der Rechte der betroffenen Mitarbeiter gem. Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG gehindert. Zudem ist man der Ansicht, man müsse bei Missbrauch des Fragerechts nicht antworten; missbräuchlich sei insbesondere die in Ziff. 2 geforderte Einsicht, nachdem das erforderliche Quorum für die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses nicht erreicht worden sei. Das Recht auf Einsichtnahme stünde nur einem Untersuchungsausschuss zu. Das anerkannte Fragerecht der Abgeordneten umfasse nur das Recht, durch die Regierung informiert zu werden. Da sich die Bundesregierung noch in der Abstimmungsphase befinde und eine abschließende Entscheidung über das künftige Energiekonzept noch nicht gefallen sei, werde mit den Fragen und dem Einsichtsbegehren in den Kernbereich der Exekutive eingegriffen; dies betreffe auch fragliche Studie, da diese Grundlage der zu treffenden Entscheidungen sein solle. Dies betreffe insbes. Ziff. 3., da eine vertrauliche Beratung im Kabinett möglich sein müsse.

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A leitet vor dem BVerfG form- und fristgerecht ein Verfahren gegen die Bundesregierung ein. Sie macht eine Verletzung ihrer Abgeordnetenrechte aus Art. 38 I GG i.V.m. Art. 20 II S. 2 GG geltend. Auch macht sie eine Verletzung der Rechte des Deutschen Bundestages als Gesamtorgan geltend. Die Beantwortung der Fragen sei erforderlich für eine effektive Kontrolle der Regierungstätigkeit; nur bei Kenntnis des vollständigen Inhalts und der Ergebnisse der Umfrage könne sie ihre parlamentarischen Aufgaben wahrnehmen, daher sei ihr die Einsichtnahme zu gewähren. Eine zeitnahe Information sei von Bedeutung, um auf die bevorstehende Entscheidung über die Energiepolitik Einfluss zu nehmen. Nach einer Entscheidung könne sich das Parlament nicht mehr einbringen. Laut Bearbeitervermerk ist in einem Gutachten – ggf. hilfsgutachtlich – auf alle aufgeworfenen Rechtsfragen einzugehen. Nicht zu prüfen sind Maßnahmen des einstweiligen Rechtsschutzes sowie die Rechtmäßigkeit der Beauftragung des Meinungsforschungsinstituts durch die Bundesregierung. Außer Betracht zu bleiben haben zudem Vorschriften des IFG (Informationsfreiheitsgesetz), des VIG (Verbraucherinformationsgesetz), des UIG (Umweltinformationsgesetz), einfachrechtliche Vorschriften des Datenschutzes sowie die Anlagen zur GO BT. Hingewiesen wird auf § 18 I PUAG (Untersuchungsausschussgesetz, Sartorius, Verf.- und Verwaltungsgesetze Nr. 6). Skizzierung der inhaltlichen Probleme: I. Das Bundesverfassungsgericht muss zuständig sein. Gemäß Art. 93 I Nr. 1 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Auslegung des Grundgesetzes aus Anlass von Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten eines obersten Bundesorgans oder anderer Beteiligter, die durch das Grundgesetz oder in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Nach dem Wortlaut des § 63 BVerfGG ist bereits fraglich, ob die Antragstellerin A beteiligtenfähig ist. Denkbar wäre, sie als Teil des Bundestags zu sehen. Hierunter sind aber nur die dauerhaften organisatorisch verfestigten Untergliederungen (namentlich Fraktionen und Gruppen) zu subsumieren. Allerdings ist § 63 BVerfGG insoweit partiell verfassungswidrig, als er hinter dem weiter gefassten Art. 93 I Nr. 1 GG zurückbleibt, der auch „andere Beteiligte“ für organstreitfähig erklärt, soweit sie wie ein einzelner Bundestagsabgeordneter mit eigenen Rechten aus Art. 38 I S. 2 GG ausgestattet sind. hemmer-Methode: Seinen Ursprung und zugleich seine überwiegend vertretene Lösung findet dieses Problem schlicht in der Rangordnung der sich insoweit widersprechenden Normen. Eine ähnliche (wohl geläufigere) Problematik besteht im Verhältnis des Art. 93 I Nr. 2 GG zu § 76 BVerfGG hinsichtlich des Antragsgrundes der abstrakten Normenkontrolle. Hier sieht das BVerfG anders als die Mehrheit der Literatur allerdings keinen Verstoß des (engeren) normenhierarchisch niedrigeren § 76 BVerfGG, sondern eine zulässige Konkretisierung der grundgesetzlichen Bestimmung. Die Bundesregierung ist als Antragsgegner bereits nach dem Wortlaut des § 63 BVerfGG beteiligtenfähig. Streitgegenstand des Organstreitverfahrens ist gem. Art. 93 I Nr. 1 GG, § 64 I BVerfGG jede Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners, die rechtserheblich ist, hier die Nichtbeantwortung der Fragen der A. Es kommt nicht darauf an, ob es sich bei den gerügten Antworten der Antragsgegnerin jeweils um eine Maßnahme in Form der Verweigerung einer hinreichenden Antwort oder um ein Unterlassen in Form einer pflichtwidrigen Nichtbeantwortung oder einer nicht hinreichenden Beantwortung der jeweiligen Anfrage handelt. § 64 BVerfGG verlangt eine Antragsbefugnis in Form einer möglichen Verletzung organschaftlicher Rechte der Antragstellerin, auf ihre Grundrechte kann sich die A im Organstreitverfahren und in ihrer Funktion als Bundestagsabgeordnete selbstverständlich in keiner Weise berufen.

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Daneben lässt § 64 BVerfGG aber zu, dass A als Bundestagsmitglied auch Rechte des Bundestags als verletzt rügt. § 64 BVerfGG beinhaltet insoweit eine gesetzliche Verfahrensstandschaft, da die A demnach ein fremdes Recht im eigenen Namen prozessual geltend machen kann. Die teilweise Verweigerung von Antworten auf Fragen der Antragstellerin bzw. deren völlige Nichtbeantwortung kann die Antragstellerin in ihrem Fragerecht aus Art. 38 I S. 2 GG verletzen. Daneben kommt eine Verletzung des aus dem Demokratieprinzip des Art. 20 II S. 2 GG abzuleitenden Auskunftsrechts des Bundestags in Betracht. Da der Antrag laut Sachverhalt form- und fristgerecht gestellt ist, erweist er sich damit als zulässig. II. Der Organstreitantrag ist nach § 67 BVerfGG begründet, soweit die Nichtbeantwortung der Fragen der A tatsächlich gegen das Grundgesetz verstößt und damit entweder organschaftliche Rechte der A oder des Bundestags verletzt werden. Nach anderer Ansicht kommt es aufgrund des Wortlauts des § 67 BVerfGG nur auf den objektiven Verstoß gegen das Grundgesetz an. hemmer-Methode: Dieser Streit wird regelmäßig nicht von Bedeutung sein. Wenn die Maßnahme des Antragsgegners objektiv-rechtlich gegen das Grundgesetz verstößt, wird regelmäßig auch eine Verletzung organschaftlicher Rechte vorliegen, nämlich genau der Rechte, mit denen die Antragsbefugnis begründet wurde. Zuweilen wird diese Fragestellung auch unter dem Prüfungspunkt der Rechtserheblichkeit des in Frage stehenden Verstoßes inhaltlich deckungsgleich diskutiert. 1. Aus Art. 38 I S. 2 und Art. 20 II S. 2 GG folgt grundsätzlich ein Frage- und Informationsrecht des Deutschen Bundestags gegenüber der Bundesregierung, das auch einzelne Bundestagsabgeordnete für sich in Anspruch nehmen können. Aus dem Frage- und Interpellationsrecht des Parlaments folgt für die Mitglieder der Bundesregierung die verfassungsrechtliche Verpflichtung, auf Fragen Rede und Antwort zu stehen. Die Antworten der Bundesregierung auf schriftliche Anfragen und auf Fragen in der Fragestunde des Deutschen Bundestags sollen dazu dienen, dem Bundestag und den einzelnen Abgeordneten die für ihre Tätigkeit nötigen Informationen auf rasche und zuverlässige Weise zu verschaffen.1 Das parlamentarische Regierungssystem wird auch durch die Kontrollfunktion des Parlaments geprägt. Die parlamentarische Kontrolle von Regierung und Verwaltung verwirklicht den Grundsatz der Gewaltenteilung, der für das Grundgesetz ein tragendes Funktions- und Organisationsprinzip darstellt. Der Gewaltenteilungsgrundsatz zielt dabei nicht auf eine vollständige Trennung der Funktionen der Staatsgewalt, sondern auf die politische Machtverteilung, das Ineinandergreifen der drei Gewalten und die daraus resultierende gegenseitige Kontrolle und Begrenzung mit der Folge der Mäßigung der Staatsgewalt. Er gebietet gerade im Hinblick auf die starke Stellung der Regierung, zumal wegen mangelnder Eingriffsmöglichkeiten des Parlaments in den der Exekutive zukommenden Bereich unmittelbarer Handlungsinitiative und Gesetzesanwendung, eine Auslegung des Grundgesetzes dahingehend, dass parlamentarische Kontrolle auch tatsächlich wirksam werden kann. Ohne Beteiligung am Wissen der Regierung kann das Parlament sein Kontrollrecht gegenüber der Regierung nicht ausüben. Daher kommt dem parlamentarischen Informationsinteresse besonders hohes Gewicht zu, soweit es um die Aufdeckung möglicher Rechtsverstöße und vergleichbarer Missstände innerhalb von Regierung und Verwaltung geht. Die Kontrollfunktion ist zugleich Ausdruck der aus dem Demokratieprinzip folgenden Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament. Art. 20 II S. 2 GG gestaltet den Grundsatz der Volkssouveränität aus . Er legt fest, dass das Volk die Staatsgewalt, deren Träger es ist, außer durch Wahlen und Abstimmungen durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausübt. Das setzt voraus, dass das Volk einen effektiven Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt durch diese Organe hat. Deren Akte müssen sich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden. Dieser Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird außer durch die Wahl des Parlaments, die vom Parlament beschlossenen Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt und die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung gegenüber der Regierung auch durch den parlamentarischen Einfluss auf die Politik der Regierung hergestellt.

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Vgl. m.w.N. BVerfG, Urteil vom 02.06.2015, 2 BvE 7/11 = jurisbyhemmer.

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§ 105 GO-BT bestätigt das Fragerecht der einzelnen Abgeordneten einfachgesetzlich. Für die Begründetheit des Organstreitantrags kommt es aber allein auf Verletzungen des Grundgesetzes an, vgl. § 67 BVerfGG. hemmer-Methode: Die Regelungen der Geschäftsordnung des Bundestages können insoweit immer nur deklaratorischer Natur sein, also immer nur als „Überdies-Argument“ herangezogen werden! Dies hängt - anders als die vorbeschriebene Problematik um Bestimmungen des BVerfGG - nicht etwa mit der Normenhierarchie, sondern ganz wesentlich mit dem Problem der Außenwirkung von Geschäftsordnungen zusammen. 2. Das Fragerecht des Bundestags bzw. seiner einzelnen Abgeordneten besteht aber nicht uneingeschränkt. Grenzen ergeben sich insoweit vor allem aus den Grundrechten sowie sonstigen verfassungsrechtlichen Grundsätzen, insbesondere dem Grundsatz der Gewaltenteilung, und in besonderen Fällen durch das Gemeinwohl, bspw. wegen eines überragenden Geheimhaltungsinteresses aufgrund der nationalen Sicherheit.2 hemmer-Methode: Hier ist - zumindest gedanklich - eine Parallele zur Dogmatik der ausdrücklich schrankenlos garantierten Grundrechte unerlässlich, um über die, den meisten Examenskandidaten wohl präsenteren, Grundsätze der verfassungsimmanenten Schranken in die hier existenziell punkteträchtigen Abwägungsüberlegungen zu gelangen. Ob eine Antwortpflicht im Einzelfall besteht, hängt entscheidend von den Umständen der jeweiligen Konstellation ab und kann daher nicht abstrakt im Voraus beantwortet werden. Aufgrund der zentralen Bedeutung des Fragerechts muss die Ablehnung, eine Frage überhaupt inhaltlich zu beantworten, aber die Ausnahme darstellen und bedarf ferner einer besonderen Rechtfertigung. a) Eine Antwortpflicht der Bundesregierung kann zum einen dann nicht bestehen, wenn sie für die Beantwortung der gestellten Anfragen überhaupt nicht zuständig ist. Eine Kontrolle der Regierung kommt nur in Betracht, soweit die Bundesregierung auch die Verantwortung für den betreffenden Sachverhalt betrifft. Denn über Sachverhalte, für die die Regierung nicht verantwortlich ist, muss sie keine Auskünfte erteilen und unterliegt insoweit auch keiner Kontrolle. b) Zum anderen wird das Auskunftsrecht durch Grundrechte Dritter beschränkt, soweit die Auskunft durch die Bundesregierung mit einem Eingriff in diese Grundrechte verbunden ist. Um festzustellen, ob dem parlamentarischen Fragerecht im Einzelfall schutzwürdige private Interessen entgegenstehen, sind diese Interessen mit dem Informationsinteresse des Auskunft begehrenden Abgeordneten unter Berücksichtigung der Bedeutung der Pflicht zur erschöpfenden Beantwortung parlamentarischer Anfragen für die Funktionsfähigkeit des parlamentarischen Systems gegeneinander abzuwägen. Dabei müssen die unterschiedlichen Belange im Rahmen der praktischen Konkordanz so zugeordnet werden, dass jeder für sich so weit wie möglich seine Wirkung entfaltet. Diese Abwägung ist einzelfallbezogen anhand der jeweiligen konkreten Gesamtumstände vorzunehmen. c) Eine weitere Grenze des Fragerechts ergibt sich aus der sog. Kernbereichsrechtsprechung. Der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung umfasst einen nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich, der die Willensbildung der Regierung begründet. Dieser Kernbereich ist frei von parlamentarischer Kontrolle. Diese Grundsätze wurden als Beschränkung der Rechte eines Untersuchungsausschusses entwickelt und müssen damit natürlich erst Recht für das Fragerecht eines einzelnen Abgeordneten gelten. 3. Wendet man diese Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt an, ergeben sich folgende Ergebnisse: a) Die Frage 1.1. zielt auf die für den Auftrag an das Meinungsforschungsinstitut angefallenen Kosten ab. Diese Frage betrifft damit das Budgetrecht als das „Königsrecht“ des Parlaments. Über die Steuerzahlergelder soll grundsätzlich allein das Parlament als Vertreter des Steuerzahlers entscheiden dürfen, sodass das Frage- und Kontrollrecht des Bundestags hier eine besondere Bedeutung hat. Die aufgezeigten Grenzen des Fragerechts stehen nicht entgegen. Es geht nicht um die laufende Willensbildung der Bundesregierung als solche. Zwar mag im weitesten Sinne das Recht der unternehmerischen Selbstbestimmung des Auftragnehmers aus Art. 12 I GG durch die Auskunft über das vereinbarte Entgelt betroffen sein.

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Vgl. BVerfG, Urteil vom 21.10.2014, 2 BvE 5/11 = jurisbyhemmer.

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Insoweit besteht aber sicher keine Schutzwürdigkeit. Bereits bei Verträgen unter reinen Privatleuten muss ein Vertragspartner damit rechnen, dass der andere das vereinbarte Entgelt Dritten offenbart. Will er dies verhindern, muss er eine entsprechende Geheimhaltungsklausel in den Vertrag mit aufnehmen – was hier offenbar nicht geschehen ist. Soweit ein Unternehmen einen Vertrag mit der öffentlichen Hand abschließt, ist er noch weniger schutzwürdig, da er mit einer Kontrolle im Rahmen des Haushaltsrechts rechnen muss. Dem Fragerecht der A steht auch nicht entgegen, dass sie zuvor erfolglos versucht hat, zu dem Thema einen Untersuchungsausschuss einsetzen zu lassen, aber am Quorum des Art. 44 I GG scheiterte. Das Fragerecht des A steht unabhängig neben der Möglichkeit, einen Untersuchungsausschuss einsetzen zu lassen. Es ist also keineswegs per se als rechtsmissbräuchlich anzusehen, dass die A nach erfolglosem Versuch der Initiative eines Untersuchungsausschusses nun zu gleicher Thematik von ihrem Fragerecht Gebrauch macht. Die Frage 1.2, mit der A Aufklärung über die Arbeitsmethode der D-GmbH und die Qualifikation der namentlich zu benennenden Mitarbeiter der GmbH begehrt, greift hingegen erheblich in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiter, Art. 2 I, 1 I GG, und das unternehmerische Selbstbestimmungsrecht der D-GmbH aus Art. 12 I GG ein.3 Weiter wäre hier fraglich, ob die D-GmbH der Bundesregierung überhaupt zur entsprechenden Auskunft verpflichtet wäre, ob es der Bundesregierung also überhaupt möglich ist, die begehrte Auskunft zu erteilen. In einer Abwägung mit den Interessen der A ist zu deren Nachteil zu berücksichtigen, dass der Mehrwehrt der geforderten Auskünfte für die Kontrolle der Regierungsarbeit nicht wirklich zu erkennen ist. Im Übrigen ist es in erster Linie Sache der Bundesregierung, mit welchen Methoden und Mitteln diese ihren Willen bildet, solange sie den Rahmen der Gesetze dabei nicht überschreitet. Nichts anderes darf gelten, wenn die Bundesregierung einen Dritten, hier die D-GmbH, einschaltet, um für ihre Willensbildung die nötigen Informationen zu erhalten. b) Die mit Ziff. 2 begehrte Einsichtnahme in die Unterlagen geht über ein bloßes Auskunftsersuchen hinaus. Ein entsprechendes Recht steht nach § 18 PUAG einem Untersuchungsausschuss zu, der aber nach Art. 44 GG von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestags getragen sein muss. Ein vergleichbares Recht hat die Antragstellerin als einzelnes Mitglied des Bundestags nicht. Die Einsichtnahme in die Studie ist auch nicht erforderlich, um dem Sinn und Zweck des Fragerechts der Antragstellerin gerecht zu werden. Es genügt für die mit dem Fragerecht verbundene Kontrolle der Bundesregierung, dass diese über den Inhalt der Studie auf Nachfragen Auskunft erteilt. Ein weitergehendes Einsichtnahmerecht mag dann zu begründen sein, wenn begründete Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Aussage der Bundesregierung bestehen. Zunächst ist aber davon auszugehen, dass Verfassungsorgane im Rahmen ihrer Auskunft bei der Wahrheit bleiben. Hier kann die Ausübung des Fragerechts zumindest in der Form eines Einsichtnahmerechts als Reaktion auf das Nichtzustandekommen des angestrebten Untersuchungsausschusses also durchaus - wie von der Bundesregierung laut Sachverhalt vertreten - als insoweit missbräuchlich angesehen werden. Mit Ziff. 3 will die Antragstellerin wissen, welche Haltung die einzelnen Regierungsmitglieder in der Kabinettssitzung vom 20.07.2016 zur Frage der Förderung neuer Energien vertreten haben. Mit dieser Frage greift A in den Kernbereich gubernativer Willensbildung ein. Zum einen trägt die Bundesregierung vor, dass diese Willensbildung noch nicht abgeschlossen sei. Dem Bundestag steht aber nur das Recht zu, abgeschlossene Handlungen und Entscheidungen der Bundesregierung zu überprüfen, nicht aber in laufende Entscheidungen einzugreifen. Durch einen solchen Eingriff würde der Gewaltenteilungsgrundsatz verletzt werden. Der Beantwortung der Frage 3 steht weiter der Grundsatz der Vertraulichkeit von Kabinettssitzungen entgegen, der im Übrigen auch in § 22 III S. 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung zum Ausdruck kommt. Im Interesse einer effektiven und vertrauensvollen Zusammenarbeit der Regierungsmitglieder muss gewährleistet bleiben, dass interne Meinungsäußerungen und Diskussionen auch intern bleiben. Der Bundestag darf hinterfragen, welche Meinung sich die Regierung als Kollegialorgan zu einer bestimmten politischen Frage (abschließend) gebildet hat, wie diese Willensbildung intern zustande kam, ist aber grundsätzlich allein Sache der Bundesregierung.4

3 4

Zu Einzelheiten vgl. BVerfG, Urteil vom 21.10.2014, 2 BvE 5/11 = jurisbyhemmer. Vgl. BVerfG, Urteil vom 21.10.2014, 2 BvE 5/11 = jurisbyhemmer.

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Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass nur mit Ziff. 1.1. ein berechtigtes Begehren der A vorliegt. Der Organstreitantrag ist nur insoweit begründet, da die (Nicht-)Beantwortung dieser Frage das organschaftliche Recht der A aus Art. 38 I S. 2 GG verletzt. Im Übrigen ist der Organstreitantrag unbegründet, da die Anfragen der A nicht von deren Fragerecht gedeckt sind. hemmer-Trainingsplan-Info: Eine typische Staatsorganisationsrechtsklausur wie sie immer wieder im Bayerischen Staatsexamen abgeprüft wird – entgegen einer weitverbreiteten Fehlvorstellung, dass im Examen nur noch Verwaltungsrecht und allenfalls die Verfassungsbeschwerde Klausurgegenstand sind. Dementsprechend findet sich der prozessuale Aufhänger eines Organstreits nicht nur in unserem Hauptkursprogramm, sondern immer wieder auch in Entscheidungsbesprechungen hier in der Life&Law. In der Sache kommt es in dieser Klausur wie meistens im Staatsorganisationsrecht nicht darauf an, Details oder eine bestimmte Entscheidung zu kennen. Entscheidend ist vielmehr, dass Sie mit Grundwissen und -kenntnissen, die fast schon zur Allgemeinbildung gehören – Gewaltenteilung, gegenseitige Kontrolle der Gewalten, Kontrollrechte des Bundestags gegenüber der Bundesregierung – arbeiten und argumentieren. Dies sollte für einen Examenskandidaten machbar sein, zumal noch viele der Argumente den Beteiligten im Sachenverhalt „in den Mund gelegt wurden“. Eifrigen Lesern dieser Zeitung waren freilich selbst die Feinheiten des Fragerechts eines Abgeordneten eine bekannte Materie: In Life&Law 2015, 347 wurde die Entscheidung des BayVerfGH zum Fragerecht eines Landtagsabgeordneten im Rahmen der sog. Verwandtenaffäre ausführlich besprochen.5 Im Mittelpunkt der Entscheidung stehen Umfang und Grenzen des Fragerechts eines Abgeordneten……

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BayVerfGH, Urteil vom 22.05.2014, Vf. 53-IVa-13 sowie BVerfG, Beschluss vom 15.08.2014, 2 BvR 969/14 = jurisbyhemmer

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