European Research Institute. European Research Working Paper Series

European Research Institute European Research Working Paper Series Number 19 Eingaben in der Deutschen Demokratischen Republik Jonathan Grix July 200...
Author: Inge Gerber
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European Research Institute European Research Working Paper Series Number 19 Eingaben in der Deutschen Demokratischen Republik Jonathan Grix

July 2007 The University of Birmingham, Edgbaston, Birmingham, B15 2TT

℡ 0121 414 8017 www.eri.bham.ac.uk

European Research Working Paper Series Number 19

Eingaben in der Deutschen Demokratischen Republik

Jonathan Grix European Research Institute University of Birmingham [email protected]

© Jonathan Grix 2007 The views expressed in this publication are the responsibility of the author.

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English Summary “Citizens’ Communications” in the German Democratic Republic

The following working paper sets out to shed light on the process of “citizens’ communications” (Eingaben) in former East Germany. It does so by first posing the question of the epistemological value of Eingaben for researchers wishing to move beyond simple black and white descriptions of the GDR (for example the totalitarian perspective) and for those seeking to understand what “lived life” was like for citizens in a dictatorship. The working paper describes the role of Eingaben in East German society, ranging from the meaning it had for citizens as the only real legitimate channel of articulation with the state, to the fact that Eingaben were constitutionally enshrined in law, with strict rules governing how they were to be dealt with by the authorities. More importantly, this working paper goes on to show how the process, set off by the receipt of an Eingabe, was carried out, who it involved and the manner in which the authorities and citizens interacted. It is this latter point which is rarely discussed in East German studies: by drawing on letters from the Federal Archive in Berlin, the case study below is able to demonstrate the strategies used by letter writers to achieve their goals and the variety of official answers they receive from the authorities. All Eingaben examples are taken from letters written to “The German Gymnastics and Sport Federation” (the DTSB), the mass organisation charged with running sport in the GDR. The letters were written in the early 1980s, a time at which the East German economy had effectively stuttered to a halt and people were writing letters, complaining about the lack of sports equipment and decaying sports facilities. Ironically, this was at a time of the GDR’s greatest sporting achievements, in part due to the lavishly funded elite sports system and at the expense of mass sport. The examples are from sport, but the conclusions drawn are generic and indicate clearly the room for manoeuvre afforded certain officials in the second German dictatorship.

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Wo suchen wir, wenn wir etwas über die Vergangenheit erfahren wollen? Meistens und dasselbe gilt für die DDR-Vergangenheit - denkt man zuerst an die Quellen, die Licht auf die Vergangenheit werfen könnten. Es gibt eine überwältigende Auswahl von schriftlichen Quellen; es gibt unter anderem Aussagen von Zeitzeugen, von der Literatur, Kunst und von Filmen. Die Frage stellt sich wie man historische Quellen bewertet. Wer beurteilt, ob sie ‚gut’ oder ‚zuverlässig’ sind? Welche Quellen nutzt man am besten? Kann DDR-Literatur in die selbe Kategorie wie ein SED-Dokument eingestuft werden? Welche Rolle spielen Eingaben in einer Gesellschaftsgeschichte der DDR? Oder anders ausgedrückt: Welchen Beitrag zur Rekonstruktion des DDRAlltags leisten Eingaben? Die Antwort auf diese und die obenangeführten Fragen hängt natürlich von der Weltanschauung des Forschers ab, denn, wie wir die Welt sehen und verstehen, beeinflusst den gesamten Forschungsprozess.i Ein Forscher, der die DDR als eine totalitäre Diktatur versteht, würde Eingaben kaum als nützliche Quellen betrachten. Gerade deshalb, weil eine solche Auffassung auf dem Gedanken basiert, dass es in der DDR sowieso keine Gesellschaft gab. Ich, dagegen, bin der Auffassung, dass Eingaben uns einen Blick hinter die Kulissen des DDR-Staates ermöglichen können; wir erfahren nicht nur etwas über die Alltagssorgen des ‚kleinen Mannes’, sondern auch darüber, wie die Bürger und Funktionäre im Alltag miteinander umgegangen sind. Das Ziel des folgenden Beitrages ist es, den Nutz von Eingaben für die Forschung zu zeigen, indem ich einige Beispiele aus dem Bereich Sport vorstellen und kommentieren werde.ii

Eingaben in der DDR Eingaben spielten in der DDR eine besondere Rolle. Da die DDR keine wirklichen demokratischen Kanäle hatte, durch die die Bevölkerung ihre Meinungen und Beschwerden ausdrücken konnten (wie zum Beispiel unabhängige politische Parteien), dienten Eingaben dem Zweck des Dialoges zwischen dem Staat und seiner Bevölkerung. Eingaben wurden sowohl von den Verfassern, als auch vom Staat sehr ernst genommen und waren sogar in der DDR-Verfassung verankert.iii Um zu zeigen, wie uns Eingaben einen Blick in den Alltag der DDR bieten können, werde ich einige Beispiele aus dem Bereich ‘Sport’ vorstellen. Eingaben an den DDR-Staat waren entweder individuelle oder kollektive Kommunikationen; die Herrschenden in der DDR selbst haben das Schreiben von Eingaben unterstützt und werteten sie als: 4

…einen Ausdruck der aktiven Teilnahme unserer Menschen an der Planung, Leitung und Lenkung der politischen und gesellschaftlichen Aufgaben und an der Überwindung der Mängel und Schwächen, die es noch gibt.iv

Das in der Verfassung der DDR verankerte Eingaberecht legte fest, dass Eingaben binnen vier Wochen bearbeitet und abgeschlossen werden mussten. Diese Eingabefrist wurde ernst genommen und vom DDR-Staat meistens eingehalten.v In den Eingaben ging es überwiegend um Beschwerden über den Staat; es gab jedoch verschiedene Gründe, warum man zum Mittel der Eingabe griff. Zum Beispiel schrieb eine Lehrergruppe die Abteilung ‚Propaganda im Zentralkomitee’ an, um Materialien über das Leben der revolutionären Kämpfer der deutschen Arbeiterbewegung zu bekommen.vi Knapp eine Millionen Eingabenvii wurden jedes Jahr an unterschiedliche staatliche Organe, an Vereine, Organisationen, Zeitungen und an verschiedene staatliche Ebenen - Kreis, Bezirk und überregionale Ebene - geschickt. Das Abschicken einer Eingabe leitete eine ganze Reihe von Maßnahmen ein: dem Absender wurde sofort ein Bestätigungsbrief zugeteilt, es wurde Kontakt mit anderen Abteilungen aufgenommen, es wurde ein Zwischenbescheid verteilt, um den Absender mit dem Prozess auf dem Laufenden zu halten, und der ganze Prozess lief bis zur abschließenden Bearbeitung der Eingabe. Der Bereich Sport, der eine besondere Rolle in der DDR wegen der durch ihn gewonnenen aussenpolitischen Legitimität spielte, wurde von vielen sich überlappenden Abteilungen und Individuen des DDR-Apparates gesteuert. Mit sogenannter „deutscher Gründlichkeit“ wurden Eingabenanalysen monatlich, halbjährlich und jährlich erstellt. Die Zahl der an Erich Honecker gerichteten Eingaben, zum Beispiel, erreichte durchschnittlich um die 15000 bis 20000 pro Jahr.viii Honecker wurden halbjährliche Eingabenanalysen in Form eines Berichtes über eingegangene Eingaben im 1. (oder 2.) Halbjahr vorgelegt. Dasselbe galt für die an den Präsidenten des DTSB (Deutscher Turn- und Sportbund), Manfred Ewald, abgeschickten Eingaben.ix

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Eingaben zum Thema Sport Eingaben zum Thema Sport existieren in vielen Akten im Bundesarchiv Berlin und in vielen regionalen Archiven. Die unten angeführten Beispiele beziehen sich zum grössten Teil auf die an den DTSB gerichteten Eingaben. Eingaben an das Büro Egon Krenz (zu der Zeit SED Sekretär für Sicherheitsfragen, Jugend und Sport im Zentralkomitee) wurden auch eingesehen. Ich möchte drei besonderes wichtige Punkte hervorheben:

1. die von dem Absender angewendeten Strategien, um ihre /seine Argumente zu legitimieren; 2. den durch die Eingabe enstehenden Dialog zwischen Bürgern

und

Funktionären; 3. die Verschiedenartigkeit von Antworten auf ähnliche Eingaben.

Die Laufschuhe laufen aus Die folgenden Eingaben müssen im Kontext der damaligen Zeit verstanden werden. Die Eingaben stammen aus den Jahren 1981 bis 1983, also aus der Zeit eines weltweiten Laufbooms. Die DDR war natürlich ziemlich froh über diese Entwicklung, da ‚Jogging’ ein billiges Mittel war, um fit zu bleiben. Ausser vernünftige Schuhe braucht man nicht viel. Im Jahr 1980 nahmen ungefähr 2,3 Millionen Menschen an der vom Staat organisierten Meilenbewegung Teil.x Das Problem war jedoch, dass gerade zu dieser Zeit (Anfang der 80er Jahre) die DDR-Wirtschaft ins Stocken geraten war.xi Es war zu dieser Zeit, dass immer mehr Eingaben zum Thema „Mängel“ in der Sportartikelversorgung, vor allem aber bei Sportschuhen, an den DTSB geschickt wurden.

Eingaben, Strategien und Antworten Eine der Hauptstrategien der Eingabenschreiber ist ziemlich einfach: Das Argument wird aufgebaut, in dem man zuerst die SED- (bzw. DTSB-) Parolen oder einen Absatz einer offiziellen Rede zitiert. Dann muss man deutlich machen, dass man mit den Parolen einverstanden ist. Nun argumentiert man, dass man, um sich fit zu halten und an der Meilenbewegung teilnehmen zu können, ein Paar vernünftige Schuhe bräuchte. Diese Strategie wurde auch in vielen anderen Bereichen angewendet.xii 6

Günter Z., zum Beispiel, bezieht sich in seiner am 20. Januar 1982 geschriebenen Eingabe auf die von Manfred Ewald gehaltene Neujahrsrede: »Ich sehe in Ihrem sehr lobenswerten Ziel einer grösseren Breitenwirksamkeit des Sports und der sehr unzureichenden Sportschuhversorgung einen krassen Widerspruch«.xiii In seiner Eingabe vom 16. August 1982, hebt Wilfried L. die wachsende Teilnehmerzahl bei ‚volkssportlichen Veranstaltungen’ hervor, stellt danach aber fest, dass:

das Angebot an Sportschuhen durch den öffentlichen Handel, auf den ich als normaler DDR-Bürger nun einmal angewiesen bin, mit diesem Trend nicht Schritt gehalten hat. Im Gegenteil, eher finde ich, dass das Angebot schlechter geworden ist und bei mir wie auch sicherlich bei vielen anderen Volkssportlern nur Unzufriedenheit und Verärgerung auslöst. xiv

Zum Schluss rät Wilfried L. dem DTSB »sich Gedanken darüber« zu machen, »um diesen Missstand zu beseitigen«.

Wilfried L. erhält eine Antwort, die sich ein

bisschen von den üblichen Antworten unterscheidet: Der Ton ist insgesamt schärfer, aber der Abteilungsleiter Bräuer (Abteilung Wirtschaft, Bundesvorstand des DTSB) zeigte sich belustigt, indem er den Konjunktiv II mit komischem Effekt anwendet:

Wenn wir erst auf Ihren Brief gewartet hätten und nun erst beginnen würden, etwas zu unternehmen, um die Situation zu verbessern, wäre es bedeutend schlimmer gekommen.xv

Eine zweite Strategie in den an den DTSB gerichteten Eingaben war der Vergleich vom

‚Otto-Normal-Sportler’

mit

der

sportlichen

Ausrüstung

von

Leistungssportlern.xvi In einer an den Genossen Ewald adressierten Eingabe schrieb ein Bürger: „Wo bleibt unsere Sportschuhindustrie für den Volkssport?“.xvii Norbert H. aus Rathenow sprach für viele seiner Zeitgenossen, als er schrieb:

Bei allem Verständnis für die Förderung und den Vorrang des Leistungssports kann ich nicht einsehen, dass lediglich die materielle Sicherung für diesen Bereich vorgenommen wird…xviii

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Während die Bevölkerung unter einem Mangel an Sportartikeln litt, versorgte die westdeutsche Firma ‚Adidas’ die ostdeutsche Fussballmannschaft mit ihrer Sportkleidung. Die offizielle Begründung hinter dieser ideologisch suspekten Entscheidung

wurde

vom

DTSB

ohne

weitere

Erklärung

einfach

als

‚volkswirtschaftlich’ angegeben. xix Ein weiteres Beispiel für die Kluft zwischen Sportartikelversorgung für Spitzensportler auf der einen und für Volkssportler auf der anderen Seite lieferte Dr. Wolfgang J. aus Mühlhausen, der erklärte:

Es ist mir bekannt, dass der Sport in der DDR ein grosses Ansehen genießt. Die Förderung muss jedoch soweit gehen, der Bevölkerung auch materiell die Möglichkeit zu geben, die gewählte Sportart ausüben zu können. Die grossen Erfolge unseres Leistungssportes resultieren ja aus einer breiten Sportarbeit, zu deren Voraussetzung geeignetes Schuhwerk gehört.xx

Dr. J. erhält eine ‚durchschnittliche’ Antwort geschrieben am 11. Dezember, 1981, in der die folgenden Gründe für die Mängel an Sportschuhen aufgelistet wurden:

Bedauerlicherweise hat die Modewelle, dass man zu allen Anlässen und Gelegenheiten – in der Schule, im Beruf, im Wald, im Garten, auf der Bühne u. a. – Laufschuhe, möglichst mit Jeans, trägt, solche Auswirkungen angenommen, dass die gesteigerte Produktion im Handel nicht spürbar wird.xxi

Die Liste der Orte, an denen man Laufschuhe trägt, wird in Antworten auf Eingaben zwischen 1981 und 1983 sehr oft wiederholt und wird mit der Zeit auch länger. Statt diese Liste immer wieder mühselig aufzuschreiben, notierten die Funktionäre ab 1983 einfach »Freizeitbekleidung«.xxii Ab Spätsommer 1983 schrieb jemand das Wort »Laufschuhe« mit der Hand als eine Art Kurzschrift auf die offizielle Antwort, um den Inhalt der Eingaben zusammenzufassen. Es ist ziemlich deutlich, dass die Knappheit an Laufschuhen (und Sportschuhen überhaupt) um diese Zeit eines der Hauptthemen der Eingaben war.xxiii In den Eingaben zum Thema Laufschuhversorgung, die es im Archiv noch gibt, kann man verschiedene offizielle Antworten finden. Erstens, gibt es jene Antworten, die ich als ‚durchschnittliche’ Antworten bezeichnen möchte. So eine 8

Antwort auf eine Eingabe beinhaltet die Gründe – im Fall des Sportschuhmangels, warum es zur Zeit keine Schuhe gibt, einen Absatz über die Bemühungen des Staates mehr zu produzieren, und eine Entschuldigung, dass dem Absender keine Schuhe zugeschickt werden können. Zum Schluss wird um Geduld gebeten, da die Versorgung eventuell besser wird. Man gewinnt den Eindruck, dass die Funktionäre selbst über die damalige schlechte Versorgung auch nicht sehr glücklich waren. Die Abteilung Wirtschaft beim Bundesvorstand des DTSB schrieb:

Ihr Problem ist ebenfalls unseres und so bedauerlich es ist, dass wir Ihnen keine voll befriedigende Antwort geben können, wir danken Ihnen für Ihr Schreiben, weil wir darin doch einen Ausdruck des Vertrauens sehen.xxiv

Gelegentlich enden negative Antworten mit dem Satz: »Wir selbst sind keine Handelsorganisation und können Ihnen deshalb keine Schuhe zusenden«.xxv Es stimmt wohl, dass die Abteilung Wirtschaft des DTSB keine Laufschuhe produzierte, aber, wie wir sehen werden, hat sie die Macht und die Möglichkeiten, jemandem Laufschuhe zukommen zu lassen. Sarkastisch geschriebene Eingaben schienen insgesamt weniger Erfolg gehabt zu haben;xxvi die offiziellen Antworten konnten genauso sarkastisch geschrieben werden. In seiner am 5. Mai geschriebenen Eingabe behauptet Johannes H. zuerst: „Weiss man überhaupt in Berlin beim DTSB wie erschwerlich es ist, in der Republik ein Paar anständige Einlaufschuhe ohne irgendwelche „Beziehungen“ zu erstehen“, bevor er ein Licht auf den miserablen Zustand der Sporteinrichtungen insgesamt wirft. Weiterhin beklagt er den Zustand der lokalen Schwimmhalle und beendet seine Eingabe mit der erstaunlichen Bemerkung, dass „70-80% der Bevölkerung der DDR an Wirbelsäulenschäden leiden“. Die offizielle Antwort von Genossen Bräuer (vom 24. Mai 1982) ist schärfer als sonst, aber auch amüsant:

Ihr Schreiben…., in dem Sie sich “etwas Luft verschaffen”, wurde mir zur Beantwortung

übergeben....Mit

Schwimmhallen

kann

ich

den Sie

Bemerkungen nicht

ernst

zur

Situation

nehmen....Ihre

bei 80%

Wirbelsäulenschäden können Sie für sich halten, weil nicht einmal das Ministerium

für

Gesundheitswesen

eine

derartige

Zahl

von

der

Gesamtbevölkerung ausweist.xxvii 9

Der zweite Antwort-Typus enthält ähnliche Nachrichten wie der erste, aber er geht ein Stück weiter. Nun bekommt man einen Hoffnungsfunken in Form einer Adresse eines (meistens regionalen) Großhandelbetriebes, wo man nach Laufschuhen fragen kann. Der dritte Antwort-Typus ist noch besser: Nun bekommt man nicht nur die Adresse des Großhandelbetriebes, sondern auch den Namen einer Kontaktperson, die die Bestellung erwartet, zum Beispiel:

Wir bitten Sie...., sich mit Ihrer konkreten Bitte an den Sozialistischen Grosshandelsbetrieb für Sportartikel Leipzig, Sporthaus “Am Bruehl” (Koll. Salzwedel) zu wenden, welcher unsererseits über Ihren Wunsch informiert wird.xxviii

Der letzte und beste Antwort-Typus ist ähnlich wie der dritte, aber mit einem Unterschied: Die Laufschuhe werden sogar von der Abteilung Wirtschaft des DTSB bestellt und an den Absender nach Hause geschickt.xxix Die Frage stellt sich natürlich, wieso die eine Eingabe erfolgreich die andere aber, erfolglos abgeschlossen wurde. Wenn man alle noch existierenden Entscheidungen in den Antworten auf Eingaben zum Thema Laufschuhe analysiert, gibt es auf den ersten Blick keine logische Vorgehensweise.

Einige grobe Merkmale sind jedoch zu erkennen: Alle

‚erfolgreichen’ Eingaben (also diejenigen, die es geschafft haben, Laufschuhe zu bekommen) haben, so liesse sich sagen, im weitesten Sinne zur Gesellschaft der DDR positiv beigetragen. Zum Beispiel: -

eine anständige 17-jährige Sozialistin, die das Eingaberecht recht gut kannte, xxx

-

ein kranker Mann, dem weder Medikamente noch eine Operation helfen konnte (auch Sportorganisator einer Gewerkschaftgruppe),xxxi

-

ein guter, junger Sportler, der um die 50 km in der Woche in schlechten Schuhen läuft und deshalb ständig in Verletzungsgefahr steht,xxxii

-

ein lebenslanges Mitglied der Laufbewegung wie Gerwin G. aus Halle.xxxiii

Auf den ersten Blick gibt es keinen Unterschied zwischen den Antworten auf Eingaben (die meisten Antworten auf Eingaben zwischen 1981 und 1983 wurden von 10

zwei Funktionären, Bräuer und Basel geschrieben). Genosse Basel jedoch scheint die meisten Laufschuhe abgeschickt zu haben. Der Unterschied könnte am guten Willen des Funtionärs liegen, denn die von Basel geschriebenen Antworten scheinen ausführlicher, freundlicher und hilfreicher zu sein. In einem Beispiel schickt Basel einem ehemaligen, 70-jährigen Sportler die Adresse eines Großhandelbetriebes. Normalerweise wäre diese Adresse ausreichend; Basel schlägt jedoch weiter vor:

Sollten Sie sich einmal besuchsweise in Berlin aufhalten, bieten wir Ihnen an, sich direkt an uns – Abteilung Wirtschaft, DTSB-Bundesvorstand, 1055 Berlin, Storkower Str. 118 – zu wenden, da wir einem Sportveteranen gern individuell helfen würden.xxxiv

Basel scheint den alten Mann wirklich zu mögen. Seine Großzügigkeit jedoch könnte auch mit der Kommandowirtschaft der DDR zusammenhängen: die ersten Laufschuhe lieferte er erst im Spätsommer 1982, wahrscheinlich als die Laufschuh-Produktion anstieg, obwohl das Thema ‚Versorgung von Sportschuhen’ bis Ende der DDR in Eingabenanalysen zu finden ist.xxxv

Fazit Dieser Artikel hat sich zum Ziel genommen, für den epistemologischen Wert von Eingaben für die DDR-Forschung zu argumentieren. Der Artikel hat zu zeigen versucht, wie es im Umgang zwischen Funktionären und Bürgern im DDR-Alltag einen gewissen Spielraum gab. Durch Eingaben könnten die folgenden für die Forschung wichtigen Punkte beleuchtet werden:

1. die unterschiedlich angewendeten Strategien der Eingabenschreiber, um ‚Erfolge’ zu erzielen; 2. die von den Funktionären geschriebenen Antworten auf Eingaben, die eine Reihe von Gefühlen aufzeigen (Humor, Sarkasmus, Empathie usw.); 3. sogenannte ‚Soft-Informationen’, wie zum Beispiel, die kritischen Stimmen mancher Eingabenschreiber; die Notizen, die Funktionäre aneinander schrieben; die geschriebenen Bemerkungen, die auf den Eingabenantworten zu finden sind; 11

4. objektive

Fakten,

wie

zum

Beispiel

die

genaue

Adresse

von

Grosshandelbetrieben, die Abteilung Wirtschaft des Bundesvorstandes des DTSB usw.

Wie ich eingehend angedeutet habe, hängt die Antwort auf die Frage nach der Nützlichkeit der Eingaben für die Geschichte der DDR von dem Ansatz ab, mit dem der Forscher arbeitet. Für eine Gesellschaftsgeschichte der DDR bieten Eingaben einen Schnappschuss des Lebens der DDR; hier erleben wir echte Stimmen der Vergangenheit und sehen, dass sie aus dem Rahmen einer ‚Schwarz-Weiss’ Erklärung totalitäres Systems zu fallen scheinen. Eingaben bieten eine zusätzliche Quelle, mit der wir versuchen können, eine Gesellschaftsgeschichte der DDR zu rekonstruieren.

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i

Ich habe dieses Argument in ‘Introducing Students to the Generic Terminology of Social Research’, Politics, Volume 22, No.3, (2002), pp. 175-185 diskutiert und noch ausführlicher in J. Grix, The Foundations of Research, (Basingstoke, Palgrave, 2004). ii Alle Eingaben-Beispiele stammen aus dem Bundesarchiv, Berlin und wurden vom Autor im Mai und Juni 2006 gesammelt. Siehe J. Grix, The Role of the Masses in the Collapse of the GDR, (Basingstoke, Macmillan, 2000) für ein Werk, das Eingaben und Leserbriefe zu anderen Themen benutzt. Zum Thema Eingaben und Sport siehe Hans Joachim Teichler, Konfliktlinien des Sportalltags. Eingaben zum Thema Sport in H. T. Teichler (Hrg.), Sport in der?DDR. Eigensinn, Konflikte, Trends, (Köln, 2003). Teichler hat eine Auswahl der noch existierenden Eingaben eingesehen; die Schlussfolgerungen in diesem Aufsatz basieren auf einer Analyse aller der an den DTSB zwischen 1981 und 1983 gerichteten Eingaben, die im Bundesarchiv Berlin aufbewahrt werden. iii Etliche Interviewpartner haben mir gegenüber die Aussage gemacht, dass Eingaben von den Verfassern sehr ernst genommen wurden. Zum Beispiel Anne Drescher, Mitarbeiterin der Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen (BstU) in Schwerin (23.3.98) und Hans-Jürgen Rietzke, Ehemaliger Pfarrer in Schwerin (24.3.98). iv Bericht des Zentralkomitees, 1971, zitiert in: E. Bos, Leserbriefe in Tageszeitungen der DDR, Zur ‘Massenverbundenheit’ der Presse 1949-1989, (Opladen, Westdeutscher Press, 1993), 65. v Für ein interessantes Beispiel, in dem der stellvertretende Vorsitzende des DTSB Bezirkvorstand, Magdeburg eine Eingabefrist überschreitet, siehe SAPMO-BArch, DY 12 3338, 170-181. vi Eingabenanalyse des SED-ZK, Abteilung Propoganda, SAPMO-BArch, DY 30/IVA 2/903/11. vii F. Mühlberg, Eingaben als Instrument informeller Konfliktbewältigung, 2000, 233, zitiert in H. J. Teichler, Konfliktlinien des Sportalltags. Eingaben zum Thema Sport in H. J. Teichler, Sport in der? DDR. Eigensinn, Konflikte, Trends, 535. viii SAPMO-BArch, DY/30 2589, 77, Information über eingegangene Eingaben im 1. Halbjahr 1980. ix Siehe, zum Beispiel, Analyse der Eingaben an den Präsidenten des DTSB, 1988, SAPMO-Barch, DY 12 718, 2.3.89, 326-338. x G. Witt, Mass Participation and Top Performance in One: Physical Culture and Sport in the German Democratic Republic, in The Journal of Popular Culture, 18:3, (1984) Winter, pp. 159-174; here, 162. xi C.S. Maier, Dissolution, The Crisis of Communism and the End of East Germany, (Princeton, Princeton University Press, 1997), 105. xii Für eine gute Auswahl siehe zum Beispiel Mecklenburgisches Landeshauptarchiv (MLHA), BPA SED SN (Schwerin), IV F-2/3/209, Information an den 1. Sekretär. Statistischer Überblick über Eingaben aus dem Bezirk Schwerin im Jahre 1986, pp.69-70; auch MLHA, BPA SED SN, FDGB, 5991, 1989, Informationen, Einschätzungen. II. Halbjahr 1989. Bericht vom 22.8.89, Analyse über die im 1. Halbjahr 1989 an den Bezirksvorstand des FDGB gerichteten Eingaben, Beschwerden und Anfragen der Werktätigen. xiii SAPMO-BArch, DY 12 3336, 20.1.82. xiv SAPMO-BArch, DY 12 3341, 16.08.82, 183.

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xv

SAPMO-BArch, DY 12 3341, 23.08.82. Für den Begriff siehe ‘DTSB’ in So Funktionierte die DDR 1, 237. xvii SAPMO-BArch, DY 12 3358 vonLutz R., 7.3.83. Siehe Teichler, Konfliktlinien des Sportalltags, 537-8 für weitere Beispiele. xviii SAPMO-BArch, DY 12 3357. xix SAPMO-BArch, DY 12 3341, 13.10.82, 300. xx SAPMO-BArch, DY 12 3339, Dr Wolgang J., 24.11.81, 234. xxi SAPMO-BArch, DY 12 3339, 11.12.81, 235. xxii SAPMO-BArch, DY 12 3358, 20.4.83. xxiii Siehe, zum Beispiel, SAPMO-BArch, DY 12 3354, 24.8.83. xxiv SAPMO-BArch, DY 12 3339, 11.12.81. xxv SAPMO-BArch, DY 12 3336, 22.3.1982 xxvi Eine Ausnahme ist in SAPMO-BArch, DY 12 3358, 254, 256, zu finden, in der Genosse Basel drei Paar Schuhe abschickte. Ohne Schuhe jedoch hätte diese Hausund Wohnsportgemeinschaft an dem Wettkampf ,Sportfeststadt Leipzig’ nicht teilnehmen können. xxvii SAPMO-BArch, DY 12 3336 xxviii SAPMO-BArch, DY 12 3358, 14.3.1983, 3-4,meine Hervorhebung. xxix Zum Beispiel Günter H. in SAPMO-BArch, DY 12 3358, 14.6.83. xxx SAPMO-BArch, DY 12 3341, 15.11.82, 409. xxxi SAPMO-BArch, DY 12 3359, 18.7.83. xxxii Kein exaktes Datum, aber Juli 1983; SAPMO-BArch, DY 12 3354. xxxiii DTSB Antwort vom 14.6.83, SAPMO-BArch, DY 12 3354. xxxiv SAPMO-BArch, DY 12 3354, 7.2.83, meine Betonung. xxxv ‘Analyse der Eingaben an den Präsidenten des DTSB, 1988’, SAPMO-Barch, DY 12 718, 2.3.89, 329. Sportschuhe Versorgung ist noch als ‚unzureichend’ aufgelistet, aber die Bemerkung ‚abnehmende Tendenz’ steht daneben. xvi

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