Europa und die Welt 2020

Schriften des Zentrum für Europäische Integrationsforschung Center for European Integration Studies Andreas Marchetti/Louis-Marie Clouet (Hrsg.) Eur...
Author: Eduard Becker
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Schriften des Zentrum für Europäische Integrationsforschung Center for European Integration Studies

Andreas Marchetti/Louis-Marie Clouet (Hrsg.)

Europa und die Welt 2020 Entwicklungen und Tendenzen

in Zusammenarbeit mit

Nomos

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Schriften des Zentrum für Europäische Integrationsforschung Center for European Integration Studies der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Herausgegeben von Prof. Dr. Ludger Kühnhardt Band 74

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Andreas Marchetti/Louis-Marie Clouet (Hrsg.)

Europa und die Welt 2020

Entwicklungen und Tendenzen

Nomos

http://www.nomos-shop.de/Marchetti-Clouet-Europa-Welt-2020/productview.aspx?product=12972 Diese Publikation entstand im Rahmen des seitens der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der französischen Agence Nationale de la Recherche (ANR) finanzierten deutsch-französischen Forschungsprojekts „Deutschland und Frankreich angesichts der europäischen Krisen“, welches vom Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn und dem Comité d’études des relations franco-allemandes (Cerfa) des Institut français des relations internationales (Ifri) in Paris durchgeführt wird. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8329-6017-9

1. Auflage 2011 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2011. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Ludger Kühnhardt und Thierry de Montbrial Einleitung

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Andreas Marchetti und Louis-Marie Clouet Die Europäische Union zwischen Krise und Aufbruch 1. Europa am Beginn einer neuen Dekade 2. Identifikation von Entwicklungstendenzen bis 2020 2.1. Ausgangspunkte 2.2. Zeitlicher Horizont 2.3. Interdisziplinarität 3. Gesamtkonzept 4. Literatur

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Globale Herausforderungen und Weltordnungspolitik

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Françoise Nicolas Die EU im Weltwirtschaftssystem 1. Das Weltwirtschaftssystem heute: Eine Welt auf der Kippe 2. Das Weltwirtschaftssystem 2020 3. Auswirkungen auf die EU 4. Literatur

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Johannes Varwick Die ungewisse Zukunft der Vereinten Nationen 1. Bestandsaufnahme 2010: Vereinte Nationen zwischen Anspruch und Wirklichkeit 2. Perspektiven 2020: plus ça change 3. Auswirkungen auf die EU: VN-Multilateralismus unter Druck 4. Literatur Emma Broughton, Morgane Créach und Meike Fink Die EU in einer fragmentieren Klimapolitik 1. Verhandlungen über eine globale Klimapolitik 1.1. Gegenwärtiger Stand, Debatten, Schlüsselfragen 1.2. Die Klimaverhandlungen bis heute

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Tendenzen einer Dezentralisierung der internationalen Klimapolitik 2.1. Vom Zentrum zur Peripherie – Schwächung des UN-Prozesses 2.2. Von oben nach unten – Übernahme des politischen Prozesses durch die Staaten 2.3. Welche Rolle für den globalen Verhandlungsrahmen? Legitimität, Angemessenheit und Effizienz einer neuen Architektur Die Gefahr eines Führungsverlusts der EU bis 2020 3.1. Interne Unstimmigkeiten und Schwächung der EU-Position 3.2. Strategieänderung der EU Vorschläge zur Vermeidung einer Fragmentierung der Klimapolitik 4.1. Konsolidierung der internen Position durch größere Kohärenz 4.2. Stärkung der Position Europas auf multilateraler Ebene durch Schaffung von Allianzen und Koalitionen Literatur

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Steffen Angenendt Aktuelle Trends und künftige Auswirkungen des globalen Wanderungsgeschehens auf Europa 1. Globale Wanderungstrends und ihre Auswirkungen auf Europa 2. Perspektiven 2020: Migrationspolitische Herausforderungen für die EU-Staaten 2.1. Demografischer Wandel 2.2. Wirtschaft und Arbeitsmärkte 2.3. Integration 3. Handlungsperspektiven für die EU 4. Literatur

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Corentin Brustlein Europa, Proliferation und Abrüstung bis 2020 1. Europa in der Neubestimmung der nuklearen Ordnung 1.1. Fehlender europäischer Konsens über die Bedrohungslage 1.2. Begrenzte Ambitionen und Resultate 2. Proliferation, Abschreckung und nukleare Abrüstung bis 2020 3. Perspektiven für Europa 4. Literatur

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Martin Wedig Rohstoffe 1. Allgemein 2. Rohstoffe in der Europäischen Union 2.1. Energierohstoffe 2.2. Metallrohstoffe 2.3. NE-Metalle 2.4. Platinmetallgruppe

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3. 4. 5.

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Rohstoffsicherheit Kritische Rohstoffe und Zukunftstechnologien EU-Rohstoffinitiative 2020 5.1. Sicherstellung des Zugangs zu Rohstoffen in Drittstaaten 5.2. Stärkung der Versorgung mit rohstoffen aus europäischen (heimischen) Quellen 5.3. Rohstoffeffizienz und Senkung des Rohstoffverbrauchs Literatur

Das geopolitische Umfeld der Europäischen Union

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Stefan Fröhlich Zur künftigen Rolle und Stellung der USA in der Welt 1. Anhaltender Führungs- und Gestaltungswille 2. Amerikas Machtressourcen im Vergleich zu den Herausforderern 3. Ausblick 4. Literatur

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Dominic Fean Russland 1. Probleme in den Beziehungen EU-Russland 1.1. Vertragliche Bindungen 1.2. Die Rolle in der Nachbarschaft 1.3. Energiehandel 2. Perspektive 2020 3. Literatur

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Enrico Fels Indien 2020 – Trends und Herausforderungen für die EU 1. Indien heute 1.1. Geopolitik 1.2. Wirtschaft 1.3. Gesellschaft und Politik 1.4. Umwelt 2. Indien in 2020 2.1. Geopolitik 2.2. Wirtschaft 2.3. Gesellschaft und Politik 2.4. Umwelt 3. Implikationen für die EU 4. Literatur

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Maximilian Mayer China 2020 – Trends und Herausforderungen für die EU 1. China 2010 1.1. Geopolitik 1.2. Wirtschaft 1.3. Gesellschaft und Politik 1.4. Umwelt 2. China 2020 2.1. Geopolitik 2.2. Wirtschaft 2.3. Gesellschaft und Politik 2.4. Umwelt 3. Implikationen für die EU 4. Literatur Sylvain Touati Die Europäische Union und Afrika: Auf dem Weg zu einer neuen Partnerschaft? 1. Ein Kontinent in positiver Dynamik 1.1. Eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung – zerbrechlich und weiterhin ungenügend 1.2. Stärkung der Führung 2. EU-Afrika: Eine Beziehung auf dem Weg der Erneuerung 2.1. Ungleiche und überholte Beziehungen 2.2. Das Ende eines afrikanisch-westlichen Tête-à-Tête 2.3. Die neue EU-Afrika-Strategie 3. Herausforderungen bis zum Jahr 2020 3.1. Die Afrikanisierung der Friedenssicherung 3.2. Angespannte EU-Afrika-Handelsbeziehungen aufgrund der EPAs 3.3. Energieressourcen in Afrika: eine strategische Priorität Europas? 4. Literatur Thomas Demmelhuber Die EU und der Nahe Osten: Kontinuität und Wandel in Europas Nachbarschaft 1. Bestandsaufnahme 2010: ‚eine Region – viele Politikansätze‘ 2. Perspektiven der Region bis 2020: ‚Geographie der Energiepolitik‘ 3. Auswirkungen auf die EU: ‚Kontinuität und Wandel‘ 3.1. Institutionalisierte Zusammenarbeit auf zwei Schienen: Frage normativer Prämissen 3.2. Iran, das Atomprogramm und die regionale Sicherheitsarchitektur 4. Literatur 8

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Interne Herausforderungen der Europäischen Union Daniela Schwarzer Herausforderungen für die wirtschaftliche Entwicklung und wirtschaftspolitische Gestaltung der Europäischen Union 2020 1. Wirtschaftliche Auswirkungen der Krise und Entwicklungsperspektiven 1.1. Die Situation im dritten Jahr der Krise 1.2. Aktuelle Prognosen 1.3. Risikoszenarien im größeren Zeithorizont 2. Wirtschaftspolitische Gestaltungsaufgaben in der Eurozone und der EU-27 2.1. Management der Verschuldungskrise 2.2. Einen permanenten Krisenmanagementmechanismus installieren 2.3. Divergenzen langfristig reduzieren 2.4. Die EU im globalen Wettbewerb stärken 2.5. Die EU-2020-Strategie und die Zukunft des EU-Budgets 2.6. Den Binnenmarkt vorantreiben 3. Politische Auswirkungen der Krise 4. Literatur Sabine von Oppeln Europäische Sozialpolitik in der Langzeitperspektive 1. Entwicklung und Herausforderungen europäischer Sozialpolitik 2. Optionen zur Entwicklung europäischer Sozialpolitik im kommenden Jahrzehnt 3. Konklusion 4. Literatur

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Gérard-François Dumont Die demographische Herausforderung: externe Schwächung, interne Spannungen 197 1. Vier grundlegende Fragen 197 2. Der demographische Befund in der Europäischen Union 198 3. Implizite und explizite Entscheidungen in der Bevölkerungspolitik 205 4. Die bereits beschreibbare demographische Situation 2020 207 4.1. Wahrscheinliche Perspektiven… 207 4.2. … mit unterschiedlichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern 210 5. Äußere und innere Schwächung 213 5.1. Internationaler Gewichtsverlust der EU 213 5.2. Demographische Unterschiede und Risiko innerer Spannungen 214 5.3. Demographische Unterschiede und politische Vertretung 215 216 6. Literatur 9

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Nele Katharina Wissmann Die Herausforderungen der europäischen Bildungspolitik: Eine Balanceakt zwischen „Europe of knowledge“ und „European excellence“ 1. Herausforderungen und grundlegende Fragestellungen: Der Aufbau der europäischen Bildungspolitik als Gleichgewichtsspiel 2. Europäische Bildungsperspektiven 3. „Europe of knowledge“ 4. „European excellence“ 5. Literatur

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Maïté Jauréguy-Naudin Energie 2020: Die Anfänge kohlenstoffarmer Technologien 1. 2010: Eine Bestandsaufnahme 1.1. Verbesserung der Energieeffizienz um 20% 1.2. 20% erneuerbare Energien im Endenergieverbrauch 1.3. Reduzierung der Treibhausgase um 20% 2. Perspektiven für 2020 3. Wege zu mehr Effizienz: Behebung der grundlegenden Inkohärenzen 4. Literatur

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Jared Sonnicksen Zur politischen Landschaft Europas 2020 1. Einleitung 2. Die politischen Konfliktlinien Europas 3. Ausblick auf 2020 4. Literatur

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Susanne Nies Zur Zukunft der Institutionen und der Integration 1. 2010: Jahr I des Vertrags von Lissabon 1.1. Vertiefung: Die wichtigsten Änderungen des Vertrags von Lissabon 1.1.1. Der Präsident des Europäischen Rates 1.1.2. Der Hohe Vertreter und der Auswärtige Dienst 1.1.3. Weitere institutionelle Änderungen 1.1.3.1. Vereinfachte Entscheidungsfindung im Rat 1.1.3.2. Die Verstärkte Zusammenarbeit 1.2. Erweiterung: Die Situation 2010 1.3. Aktuelle Überlegungen zur EU 2020-2030 1.3.1. Der Monti-Bericht 1.3.2. Der González-Bericht 1.3.3. Strategie „Europa 2020“ 2. 2020: Perspektiven für das Jahr X nach dem Vertrag von Lissabon 3. Literatur 10

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Perspektiven der Europäischen Union im Jahr 2020 Andreas Marchetti/Louis-Marie Clouet Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union 1. Die Union unter Anpassungsdruck 1.1. Anfechtung multilateraler Einrichtungen 1.2. Wachsende Konkurrenz im geopolitischen Umfeld 1.3. Druck auf die internen Strukturen der Europäischen Union 2. Die Anpassungsfähigkeit der Europäischen Union 2.1. Stärkung europäischer Einflussnahme 2.2. Verringerung von Spannungen 3. Zusammenführung der Themen 3.1. Potentiale und Gefahren 3.2. Thematische Cluster 3.3. Offene Zuordnungen 4. Teilszenarien der Entwicklung 5. Quo vadis Europa 2020? 5.1. Realistisches Positivszenario: „Zweite Gründung“ der Europäischen Union 5.2. Trendszenario: Europa der (un)begrenzten Möglichkeiten 5.3. Alternativszenario: Zwei Europas 5.4. Realistisches Negativszenario: Flüchtiges Europa 6. Schlussfolgerungen: Gestaltungskraft durch Glaubwürdigkeit 6.1. Die ideelle Dimension: „Eine immer engere Union“ 6.2. Die strukturelle Dimension: Notwendigkeit von Kohärenz 6.3. Die inhaltliche Dimension: Konkrete politische Maßnahmen 6.4. Die Konsequenz: Führungsverantwortung übernehmen 7. Literatur Autorenverzeichnis

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Vorwort Der vorliegende Band hätte auch den Titel „Europa angesichts der Welt 2020“ tragen können, so verbreitet ist für die kommenden Jahrzehnte die Einschätzung eines möglichen Abstiegs, die Befürchtung des Niedergangs oder gar des Verschwindens Europas auf internationaler Ebene. In der Tat hat das 21. Jahrhundert turbulent begonnen: Die Anschläge vom 11. September 2001 und die terroristische Bedrohung, die militärischen Interventionen der Vereinigten Staaten und ihrer Alliierten in Afghanistan und im Irak, die Gefahren der nuklearen Proliferation des Iran und, zum Abschluss des ersten Jahrzehnts, die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise. Dennoch trägt dieser Band völlig zu Recht den Titel „Europa und die Welt 2020“, da er nicht zuletzt auf die Möglichkeiten abhebt, wie Europa sein Verhältnis zu dieser sich wandelnden Welt ausgestalten kann. Trotz der stürmischen Zeiten haben die an diesem Band beteiligten Autoren darauf Wert gelegt, ihre Aussagen auf solide Grundlagen zu stellen, die unerlässlich sind für stichhaltige und zukunftsorientierte Analysen und jeder Art von politischer Reflexion zugrundeliegen sollten. Mit einem der Väter der politischen Zukunftsforschung, Gaston Berger, gilt es zudem daran zu erinnern: „Wenn die Zukunft von all dem abhängt, was bereits in der Gegenwart existiert und wie wir uns in dieser vorfinden – also von dem, was wir jetzt können – dann hängt sie auch davon ab, was wir wollen.“1 Im Falle der EU bedeutet dies, dass es in den bevorstehenden entscheidenden Jahren vor allem darauf ankommen wird, was die Europäer und ihre politischen Führungskräfte trotz aller widrigen Umstände selbst aus ihrer Zukunft machen. Doch inwieweit ist die Europäische Union wirklich in der Lage, ihre eigene Zukunft zu gestalten? Die EU sieht sich mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert: interne und institutionelle Veränderungen, der Wandel der Beziehungen zu ihrem geopolitischen Umfeld und den wesentlichen internationalen Akteuren, sowie globale Herausforderungen, die den gesamten Planeten betreffen. Die Europäische Union wird nicht umhin kommen, sich diesen Herausforderungen zu stellen und ihnen möglichst wirkungsvoll und ehrgeizig zu begegnen. Ausgehend von den gemeinsamen Arbeiten eines deutsch-französischen Forschungsprojekts, welches das Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI) der Universität Bonn und das Comité d’études des relations francoallemandes (Cerfa) des Institut français des relations internationales (Ifri) seit 2008 gemeinsam durchführen, haben Wissenschaftler aus beiden Ländern in den vergangenen Jahren hierfür zunächst die Grundlagen für gemeinsames euro1

Gaston Berger: „L’attitude prospective“, in: Prospective 1 (1958), S. 6.

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päisches Handeln identifiziert und analysiert. Dabei fokussierten sie sich zum Einen auf die institutionelle Neuordnung der Europäischen Union, das heißt insbesondere auf die Vertragsreform von Lissabon, die den juristischen Rahmen aller zukünftigen europäischen Politik bildet. Zum Anderen hinterfragten sie – insbesondere in deutsch-französischer Perspektive – die Vorstellungen und Konzeptionen des heutigen, aber auch künftigen Europas, die in den politischen Eliten vorherrschen. Mit dem nun vorliegenden Band schließt das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Agence Nationale de la Recherche (ANR) finanzierte gemeinsame Projekt ab, indem die beteiligten Forscher darlegen, welchen Herausforderungen sich die Europäische Union in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach gegenüber sieht, um gleichzeitig – ausgehend von den bereits analysierten Grundlagen – Perspektiven für die Europäische Union zu formulieren. Die Autoren arbeiten heraus, wie sich die Union zwar auf ein sie weiter herausforderndes und zunehmend kompetitives Umfeld einstellen muss, es zu großen Teilen aber tatsächlich in der Hand ihrer politischen Entscheidungsträger liegt, die Union sicher durch mögliche Untiefen zu steuern. Dabei kommt den deutsch-französischen Beziehungen aufgrund ihres hohen Institutionlisierungsgrads weiterhin eine herausragende Bedeutung zu. Das 2010 verabschiedete Programm einer „deutsch-französischen Agenda“ ist beredtes Beispiel für den Willen beiderseits des Rheins, Europa weiter federführend mitzugestalten. Unser bilaterales Forschungsprojekt begleitet diesen Prozess im Austausch mit Wissenschaft und Politik, und möchte neben der Identifizierung möglicher Trends vor allem auch Denkanstöße zur weiteren Gestaltung Europas und der europäischen Politik geben. Hauptaufgabe verantwortungsvoller europäischer Politikformulierung wird es sein, einerseits ganz pragmatisch den Mehrwert Europas weiter zu erhöhen und andererseits die europäische Ebene stärker mit der mitgliedstaatlichen – in Politik und Öffentlichkeit – zu verweben, um europäische Prozesse und Errungenschaften sichtbarer und damit nachvollziehbarer zu machen, und um europäische Politikformulierung, wenn sie Fortschritte verspricht, auch künftig zu begünstigen. Gelingt dies, so kann Europa der Zukunft optimistisch ins Auge blicken. Einen Beitrag hierzu zu leisten, ist Antrieb unserer gemeinsamen Forschung. Ludger Kühnhardt Direktor am Zentrum für Europäische Integrationsforschung (ZEI)

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Thierry de Montbrial Generaldirektor des Institut français des relations internationales (Ifri)

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Die Europäische Union zwischen Krise und Aufbruch Andreas Marchetti und Louis-Marie Clouet

1. Europa am Beginn einer neuen Dekade Die Europäische Union musste sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts größeren Herausforderungen stellen und schwerere Krisen meistern als dies zu seinem Beginn zu erwarten gewesen war. Weit entfernt muten inzwischen die Finalitätsdebatten und teils visionären Entwürfe aus dem Jahr 2000 an (Hurrelmann 2008: 3). Vielmehr erscheint die Europäische Union derzeit vor allem von der politischen Tagesordnung bestimmt. Augenscheinlichen Ausdruck findet dies zuvorderst in der konsekutiven Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise seit 2008. Indes hat diese bisherige Probleme oder gar krisenhafte Entwicklungen im Rahmen der Europäischen Union nicht überwunden, sondern allenfalls überlagert. Schließlich konnte bereits vor ihrem Beginn von einer anhaltenden Doppelkrise innerhalb der Europäischen Union gesprochen werden, die sich an den immer wieder diskutierten Begriffen Vertiefung – Erweiterung festmachen lässt. Während die Erweiterungspolitik der Europäischen Union als eine der wirkmächtigsten europäischen Politiken zur Stabilisierung und gleichzeitigen Transformation von Staaten betrachtet werden kann, manifestiert sich ihre Krise in einer anhaltenden öffentlichen Reserviertheit gegenüber künftigen Erweiterungsschritten, die zunehmend auch Eingang in die Politikformulierung findet (Devrim/Schulz 2009; Marchetti 2008). Gleichermaßen krisenhaft entwickelte sich die – insbesondere mit Blick auf die Erweiterung um Staaten Mittel- und Osteuropas anvisierte – Anpassung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union. Auch wenn diese 2004 und schließlich 2007 auf insgesamt 27 Mitglieder anwuchs, zog sich die Debatte um die Reform des europäischen Primärrechts noch über die Realisierung dieser Erweiterungsschritte hinaus: Der Versuch einer europäischen Verfassungsgebung scheiterte und selbst der weniger ambitionierte Vertrag von Lissabon sah sich bis zum Abschluss des Ratifikationsverfahrens zahlreichen Anfechtungen ausgesetzt. Zu diesen beiden an konkreten politischen Vorhaben festzumachenden krisenhaften Entwicklungen gesellt sich als Unterströmung die offensichtlich weitergehende Abnahme dessen, was ursprünglich als permissiver Konsens (Lindberg/Scheingold 1970) gegenüber der europäischen Integration bezeichnet worden ist: Die stillschweigende Zustimmung (Hooghe/Marks 1995) zum europäischen Einigungswerk in 15

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seinen verschiedenen Facetten kann nicht mehr a priori als gegeben angesehen werden, vielmehr sieht sich dies auch zunehmender Kritik ausgesetzt (Hooghe/ Marks 2006; Laumen/Maurer 2006). Immerhin lässt sich mit Blick auf die vergangenen zehn Jahre aber nicht nur ein Fortbestehen und eine Überlagerung bisheriger politischer Sorgen konstatieren, sondern zumindest auch deren teilweise Überwindung feststellen, so dass keineswegs von einer „verlorenen Dekade“ im Integrationsprozess gesprochen werden muss. Die institutionelle – oder vielmehr primärrechtliche – Reform der Europäischen Union fand im Vertrag von Lissabon tatsächlich einen vorläufigen Abschluss, wobei es weiterhin um die Austarierung der neu geschaffenen institutionellen Rahmenbedingungen und um das Bestehen der neuen Mechanismen in der politischen Praxis geht. Während sich somit die institutionelle Reformdebatte durch das gesamte letzte Jahrzehnt zog, aber einer Lösung zugeführt werden konnte, scheint die Frage nach künftigen Erweiterungen politisch weiterhin unentschieden oder gar absichtlich „offen“ gehalten, wie die EU seit 2005 in ihren jeweiligen Verhandlungsrahmendokumenten betont.1 Auch ist eine Trendwende hinsichtlich der Zustimmung zum europäischen Einigungswerk und seinen Politiken nicht absehbar, wobei ebenfalls festzuhalten bleibt, dass trotz der signifikanten ausdrücklichen Ablehnungswerte die Zustimmungswerte diese weiterhin übertreffen (European Commission 2010: 11-14). Wie bereits um 2000 wird somit zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts die Frage nach der raison d‘être der EU aufgeworfen, indes mit anderer Blickrichtung. Es geht weniger um wie auch immer geartete Vorstellungen der Vollendung des europäischen Projekts (finalité) denn um die Frage nach seiner adäquaten Anpassung und Weiterentwicklung angesichts aktueller und künftig zu erwartender Herausforderungen. Dies spiegelt sich in der zwischenzeitlichen Abstufung weit reichender und ambitionierter Vorhaben, angefangen bei der Reform des europäischen Primärrechts, die nicht in eine europäische Verfassung mündete, sondern zum Änderungsvertrag von Lissabon führte; ebenso beispielhaft ist die Lissabon-Strategie zu nennen, welche die EU innerhalb von zehn Jahren zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt“ (Europäischer Rat 2000) machen wollte, inzwischen aber deutlich abgeschwächt worden ist (Europäische Kommission 2010).

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Dies gilt gleichermaßen für Kroatien und die Türkei seit 2005 wie auch für Island seit 2010.

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2. Identifikation von Entwicklungstendenzen bis 2020

2.1. Ausgangspunkte Mit Blick auf die genannten Entwicklungen und fortbestehenden Herausforderungen des europäischen Einigungswerks kann Aufgabe der Wissenschaft nicht nur sein, eine Beschreibung, Analyse und Interpretation dieser Phänomene und ihrer Ursachen vorzunehmen, sondern im Sinne einer verantwortungsvollen Europaforschung auch mögliche Auswege und Lösungsstrategien aufzuzeigen. Hierzu ist neben der Kenntnis der aktuellen Gegebenheiten auch – soweit möglich – die Bestimmung dessen vonnöten, was sich bereits heute als künftig relevant andeutet. Der vorliegende Band versteht sich damit als Resultat einer Reflexion, die einerseits von den Arbeiten der französischen Schule der prospective (Berger/ Bourbon-Busset/Massé 2007; Jouvenel 1999) und andererseits speziell von Studien über die Zukunft der Europäischen Union inspiriert ist.2 Die Aufgabe, Gestaltungsansätze für die Zukunft der Europäischen Union aufzuzeigen, kann sich nicht nur in der Erörterung ihrer theoretischen Grundlagen, ihrer Rechtsgrundlagen oder institutionellen Funktionsweisen erschöpfen: Eine Reflexion über die Zukunft der EU muss sich auf ihr gesamtes Territorium und die darauf lebenden Bürger beziehen und darf zudem nicht isoliert von ihrem – regionalen oder globalen – Umfeld gesehen werden, mit dem sie in Verbindung steht. Eine solche Reflexion darf einerseits nicht voreilig beschränkt werden, indem man sie beispielsweise auf die 27 Mitgliedstaaten limitierte, sollte andererseits aber auch nicht ausufern, um weiterhin handhabbare Resultate zu generieren. Da somit eine Vorauswahl unabdingbar ist, muss nicht nur der zeitliche und räumliche Rahmen der Reflexion umrissen werden, es ist vielmehr auch begründet klarzustellen, was einbezogen und was außen vor gelassen werden soll (Courson 1999). Aufgrund ihrer Bezogenheit auf die Europäische Union können die hier vorgestellten Analysen auf Vorarbeiten aufbauen, welche die heutigen Grundlagen europäischer Politik (Demesmay/Marchetti 2009; Marchetti/Demesmay 2010) und aktuell geführte politische Debatten (Demesmay/Marchetti 2010; auch Demesmay/Glaab 2009)3 zum Thema haben. Auf dieser Basis ist neben der Analyse wichtiger Einzelaspekte auch eine breitere Sichtweise einzunehmen, um unterschiedliche Ebenen in die Reflexion über die Zukunft der Europäischen Union einzubeziehen. Die Gliederung der drei ersten Teile dieses Bandes ver2 3

Siehe zu diesen ausführlicher die Angaben im Abschnitt Gesamtkonzept. Zur Relevanz Deutschlands und Frankreichs in der Weiterentwicklung der EU siehe den Abschnitt Gesamtkonzept.

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sucht entsprechend, sich der Europäischen Union aus verschiedenen Perspektiven und Entfernungen zu nähern: Zunächst werden die globalen Herausforderungen in den Blick genommen, mit denen sich die EU konfrontiert sehen wird („Globale Herausforderungen und Weltordnungspolitik“), anschließend stehen die Beziehungen der EU mit wesentlichen internationalen Akteuren sowie den Gebieten in ihrer Nachbarschaft im Mittelpunkt („Das geopolitische Umfeld der EU“), um schließlich die interne Dynamik zu betrachten („Interne Herausforderungen der EU“).4

2.2. Zeitlicher Horizont Für jede zukunftsorientierte Reflexion ist die Dimension der Zeit von besonderer Bedeutung. Dabei müssen gleichzeitig langfristige Variablen (z.B. der demographische Wandel) und kurzfristigere oder sehr schnelllebige Variablen (wie z.B. technische Innovationen) miteinander in Beziehung gesetzt werden. Der hier zugrundegelegte zeitliche Horizont von zehn Jahren ist jener, welcher auch als Perspektive der Brüche und Änderungen (Jouvenel 1999: 56) bezeichnet werden kann. Von einer Perspektive bis 2020 darf erwartet werden, dass politische Entscheidungen, die im Laufe der nächsten Jahre getroffen werden, bereits die Möglichkeit haben, angewendet zu werden und somit die Realität zu beeinflussen, ohne damit aber bereits zu sehr ins Spekulative auszugreifen. Aufgrund dieser Erwägungen findet sich der hier gewählte Rahmen auch in anderen Arbeiten, die beispielsweise von den europäischen Institutionen angestoßen wurden (Europäische Kommission 2010; Monti 2010)5. Die genannte zeitliche Begrenzung ist aber dennoch nicht absolut zu verstehen. Sie kann durchaus entsprechend der jeweils behandelten Felder auch ausgedehnt werden. Unterschiede der Entwicklungsgeschwindigkeit sind unweigerlich aufgrund der Eigenarten der behandelten Themen dieses Bandes gegeben: So kann Gérard-François Dumont ohne größere Schwierigkeiten aufzeigen, 4

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Die Auswahl der Einzelthemen erfolgte entweder aufgrund jeweils gegebener Eigendynamiken und -potentiale oder aber entsprechend der derzeit politisch zugesprochenen Relevanz. Entsprechend der Wahl der Europäischen Union als Referenzpunkt ergibt sich hieraus eine andere Schwerpunktsetzung als wenn beispielsweise ein globaler oder aber ein nationaler Referenzpunkt gewählt worden wäre. Exemplarisch kann dies anhand der hiesigen Behandlung von Russland, Indien und China verdeutlicht werden. In den Analysen hätte auch Brasilien einen Platz verdient, um die BRIC-Saaten zu komplettieren, doch seine Bedeutung und die Intensität der Beziehungen mit der EU bleiben geringer als die Chinas oder Indiens. Umgekehrt scheint es aber – selbst wenn die Zugehörigkeit zu den BRIC umstritten ist – unabdingbar, Russland aufgrund der Nähe zu und den Verflechtungen mit der EU genauer zu betrachten. Der Bericht von González wählt den zeitlichen Rahmen bis 2030 (González 2010).

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dass die demographische Situation im Jahre 2020 auf Basis der Daten des Jahres 2010 schon heute bekannt ist. Susanne Nies unterstreicht hingegen, dass sich die europäischen Institutionen und ihr Beziehungsgefüge gegenwärtig von Tag zu Tag wandeln und daher bereits ein zehnjähriger Reflexionsrahmen weit vorausgreift.

2.3. Interdisziplinarität Um die Probleme, denen sich die Europäische Union mittelfristig wahrscheinlich gegenüber sieht, ganzheitlich zu erfassen, wurden Experten aus unterschiedlichen Disziplinen eingebunden (Politikwissenschaftler, Ökonomen, Demographen und Ingenieure), auch um einseitige Einschränkungen aus dem Blickwinkel eines bestimmten Faches zu vermeiden. Denn immerhin ist gerade die Zukunft nur durch Einbezug „der Gesamtheit ihrer Aspekte, all ihrer Variablen, welcher Natur auch immer sie sind“ (Jouvenel 1999) annäherungsweise fassbar. Der vorliegende Band stellt sich dieser Aufgabe in einem gestuften Verfahren:  Im Bereich ihrer eigenen Expertise analysieren die Autoren die gegenwärtigen Trends und skizzieren mögliche Entwicklungen in den jeweiligen Feldern, stets auch mit Blick auf die Auswirkungen auf die EU.  Durch die Zusammenschau der Einzelbeiträge wird die Skizzierung eines größeren Bildes mit unterschiedlichen wechselseitigen Bezügen möglich. Hieraus lassen sich einerseits mögliche Zukunftsszenarien entwicklen und andererseits geeignete Maßnahmen für politisches Handeln vorschlagen, um die Zukunft positiv zu beeinflussen – entweder im Sinne eines Hinarbeitens auf eine positive Entwicklung oder aber im Sinne einer Vermeidung negativer Entwicklungen. Ungeachtet dieser Ausgangsüberlegungen einer auf Einzelexpertisen aufbauenden Gesamtschau, sind die einzelnen Themen nicht so isoliert zu betrachten, wie es die lineare Abfolge der Beiträge suggerieren mag. Vielmehr sind bereits auf dieser Ebene enge Verknüpfungen oder gar Überschneidungen gegeben. So nimmt die Migration Einfluss auf die demographische Situation in Europa, auf den Arbeitsmarkt und den inneren Zusammenhalt der europäischen Gesellschaften. Die demographische Entwicklung zeitigt wiederum Effekte in der Sozialstruktur. Auch im auswärtigen Bereich mussten zum Teil Begrenzungen vorgenommen werden, um allzu große Redundanzen zu vermeiden. So beschränkt sich die Analyse Françoise Nicolas’ auf die Weltwirtschaftspolitik, wohingegen sich Daniela Schwarzer auf die internen Herausforderungen in der Euro-Zone konzentriert. Entsprechend können sich die verschiedenen Beiträge ergänzen oder aber, gemäß der fachlichen Perspektive, auch widersprüchlich zueinander verhalten. Da die Zukunft per se ungewiss ist, erlaubt die Vielfalt 19

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von Blickpunkten, die multiplen Herausforderungen, denen die EU zu begegnen hat, besser einzuordnen sowie ihre Komplexität besser zu erkennen. Die Gelegenheit zum Austausch verschiedener Sichtweisen boten zwei gemeinschaftlich von ZEI und Ifri organisierte Seminare im Oktober 2009 in Bonn und im März 2010 in Paris. Die Seminare brachten die Autoren dieses Bandes zusammen, um eine einheitliche Vorgehensweise zur Erstellung der Einzelanalysen sicherzustellen und im Kreise der Autoren die Einzelbeiträge zu diskutieren und Sichtweisen aus unterschiedlichen Disziplinen auszutauschen.

3. Gesamtkonzept Zunächst wenden sich alle Autoren in ihren Analysen den aktuellen Herausforderungen im jeweiligen Themenereich zu. Hiervon ausgehend waren die Autoren aufgefordert – unter dem Vorbehalt unvorhersehbarer Ereignisse – die wahrscheinlichste Entwicklung bis 2020 herauszuarbeiten. Abschließend sollten sie aufzeigen, welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Europäische Union haben könnte, ohne dabei bereits allzu normativ vorzugehen. In diesem Stadium der Betrachtung wurde der Begriff „Szenario“ absichtlich vermieden, um die wissenschaftliche Reflexion nicht in einen Rahmen zu zwängen, der für die benötigten Kurzexpertisen ungeeignet wäre, denn ein veritables Zukunftsszenario wäre in jedem der erörterten Bereiche ein eigenes Werk wert. Diese Grundregeln finden in den ersten drei Teilen des Bandes Anwendung, also sowohl im Bereich der globalen Herausforderungen, des geopolitischen Umfelds der EU und ihrer Beziehungen zu wesentlichen internationalen Akteuren als auch mit Blick auf die Erörterung der internen Herausforderungen der EU. Im vierten Teil des vorliegenden Bandes wird schließlich der Versuch unternommen, die Ergebnisse der Einzelanalysen zusammenzuführen und auf dieser Basis Szenarien möglicher künftiger Entwicklungen der Europäischen Union aufzuzeigen. Dabei wird vor allem auf strukturelle Verbindungslinien abgehoben und in insgesamt vier Szenarien die Bandbreite möglicher Entwicklungen aufgezeigt. Auch wenn dabei die Formulierung eines wahrscheinlichen Trends erfolgt, sind sich die Verfasser grundsätzlich darüber im Klaren, dass sichere Aussagen über die künftige Entwicklung nur bedingt getroffen werden können: Die Expertisen sowie die durch diese alimentierten Szenarien basieren auf gegenwärtig bereits Fassbarem (known knowns) und – u.a. über die Extrapolation von Trends – gegenwärtig Erschließbarem (known unknowns); neben diesen essentiellen und noch relativ sicheren Konzepten, die zwar allgemein „geläufig“ (familiar, Hannah 2010: 404) aber bereits aus erkenntnistheoretischer Sicht und, im Falle der known unknowns, zusätzlich aus zeitlicher Perspektive mit Unsicherheiten behaftet sind, ist die Zukunft aber auch von unknown knowns, die 20

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entweder unspezifisch sind (Hannah 2010: 405) oder aber einem Zugriff absichtlich oder unbewusst vorenthalten bleiben (Daase/Kessler 2007: 428f.), sowie unknown unknowns bestimmt, die bei ihrem Eintritt grundlegende Brüche darstellen und damit grundsätzlich unvorhersehbar bleiben.6 Da die letztgenannten Kategorien kaum oder entsprechend ihrer Natur gar nicht fassbar sind, fußen die hier vorgestellten Einzelexpertisen und Szenarien fast ausschließlich auf den zwei ersten der vier Kategorien. Schaubild 1: Einzelanalysen und Szenarien zugrundeliegende Kategorien

Eigene Darstellung auf Basis der bei Hannah 2010: 404 und Daase/Kessler 2007: 415 gebotenen Grafiken. Grau unterlegt sind hier jene Kategorien, welche maßgeblich den Einzelanalysen und Szenarien zugrunde liegen; die Aufhellung signalisiert größere Unsicherheit. Damit ist verdeutlicht, dass die im Folgenden entworfenen Entwicklungsperspektiven nicht als Voraussagen zu verstehen sind, vielmehr geben sie Möglichkeiten der Entwicklung an. Ausgehend von einem folglich nicht als zwingend aber durchaus als wahrscheinlich eingestuften Entwicklungspfad 6

Siehe zu den Begrifflichkeiten, welche sich in der neueren Literatur von einem Diktum Donald Rumsfelds ableiten, und unterschiedlichen Bedeutungszuweisungen neben den angeführten Verweisen auch Norris 2004.

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sollen schließlich strukturelle aber auch konkret inhaltliche Empfehlungen für die europäische Politik formuliert werden. Damit fußt sie auf älteren Arbeiten (Bertrand/Michalski/Pench 2000; Gablentz u.a. 2000; Jäger/Piepenschneider 1997), schreibt sich aber auch ein in neuere Reflexionen und Analysen zur Zukunft der Europäischen Union und ihres Umfelds: Neben Beiträgen aus der Wissenschaft und politikberatenden Instituten (Algieri/Emmanouilidis/Maruhn 2003; Gnesotto/Grevi 2006)7 sind hier auch die unmittelbar seitens der europäischen Politik bzw. ihrer Institutionen angestoßenen Arbeiten von Bedeutung (González u.a. 2010; Monti 2010).8 Da die Europäische Union in ihrer Politikformulierung weiterhin maßgeblich von den sie konstituierenden Mitgliedstaaten geprägt ist9 und gerade dem deutsch-französischen Bilateralismus in der europäischen Fortentwicklung eine treibende Rolle zugesprochen wird (Guérin-Sendelbach 1993, 1999; MüllerBrandeck-Bocquet 1996; Woyke 2004), richten sich die auf Basis der Einzelanalysen und der daraus entwickelten Szenarien formulierten Empfehlungen besonders an die beiden Nachbarn am Rhein; gerade deshalb ist das Gesamtprojekt in einem deutsch-französischen Rahmen angesiedelt und im vorliegenden Band die Erarbeitung von Einzelanalysen ausdrücklich deutschen und französischen Autoren anvertraut worden. Immerhin können Deutschland und Frankreich in einer größeren Union mit mittlerweile 27 Mitgliedern aufgrund häufig komplementärer – und nicht notwendigerweise kohärenter – Interessen tragfähige Kompromisse vorbereiten helfen (Lind 1998; Weske 2006); zudem haben sie an prominenter Stelle in der deutsch-französischen Agenda neuerlich auch selbst ihre „gemeinsame Verantwortung für Europa“ beschworen und ihre Absicht betont, zusammen das „europäische Aufbauwerk voranzutreiben“ (Deutsch-Französische Agenda 2020: [1]). Trotz dieses deutschfranzösischen Ansatzes sollen sich die Ergebnisse und Empfehlungen aber nicht nur an Deutschland und Frankreich richten, sondern grundsätzliche Anstöße für verantwortungsvolle europäische Politikformulierung bieten. Wie sich die Europäische Union entwickeln wird, hängt schließlich nicht nur an ihren eigenen Grundlagen, sondern eben auch maßgeblich an der aktiven und verantwortungsvollen Gestaltung europäischer Politik durch – idealerweise alle – ihre Mitgliedstaaten.

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Das Institut für Sicherheitsstudien der EU (EUISS) ist hier in besonderer Weise hervorzuheben, das neben der zweitgenannten Publikation zuletzt mit National Intelligence Council/European Union Institute for Security Studies 2010 hervortrat. Siehe zu diesen resümierend auch die Ausführungen von Susanne Nies in diesem Band sowie mit ausdrücklichem Bezug auf die González-Reflexionsgruppe Abels/Eppler/ Knodt 2010. Siehe exemplarisch die Ausführungen von Jared Sonnicksen in diesem Band.

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4. Literatur Abels, Gabriele/Annegret Eppler/Michèle Knodt (Hrsg.) (2010): Die EU-Reflexionsgruppe „Horizont 2020-2030“. Herausforderungen und Reformoptionen für das Mehrebenensystem (Schriftenreihe des Arbeitskreises Europäische Integration, 69), Baden-Baden: Nomos. Algieri, Franco/Janis A. Emmanouilidis/Roman Maruhn (2003): Europas Zukunft. 5 EUSzenarien, München: Centrum für angewandte Politikforschung. Berger, Gaston/Jacques de Bourbon-Busset/Pierre Massé (2007): De la prospective. Textes fondamentaux de la prospective française 1955-1966, Paris: L’Harmattan. Bertrand, Gilles/Anna Michalski/Lucio R. Pench (2000): European Futures. Five Possible Scenarios for 2010, Cheltenham/Northampton: Elgar. Courson, Jacques de (2005): L’appétit du futur. Voyage au cœur de la prospective, Paris: Charles Léopold Mayer. Daase, Christopher/Oliver Kessler (2007): Knowns and Unknowns in the ‘War on Terror’: Uncertainty and the Political Construction of Danger, in: Security Dialogue (38) 4, S. 411434. Demesmay, Claire/Manuela Glaab (Hrsg.) (2009): L’avenir des partis politiques en France et en Allemagne, Villeneuve-d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion. Demesmay, Claire/Andreas Marchetti (Hrsg.) (2009): Le Traité de Lisbonne en discussion: quels fondements pour l’Europe? (Note de l’Ifri, 60), Paris: Institut français des relations internationales. Demesmay, Claire/Andreas Marchetti (Hrsg.) (2010): La France et l’Allemagne face aux crises européennes, Pessac: Presses Universitaires de Bordeaux. Deutsch-französische Agenda 2020 (2010), o.O., abrufbar unter: http://www.auswaertigesamt.de/diplo/de/Europa/DeutschlandInEuropa/BilateraleBeziehungen/Frankreich/100204-ag enda2020.pdf Devrim, Deniz/Evelina Schulz (2009): Enlargement Fatigue in the European Union: from Enlargement to Many Unions (Working Paper, 13) Madrid: Real Instituto Elcano. Europäische Kommission (2010): Europa 2020. Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum (KOM(2010) 2020 endgültig), Brüssel, 3.3.2010. Europäischer Rat (2000): Europäischer Rat 23. und 24. März 2000 Lissabon: Schlussfolgerungen des Vorsitzes. European Commission (2010): Eurobarometer 73: Public Opinion in the European Union: First Results, Brüssel. Gablentz, Otto von der u.a. (Hrsg.) (2000): Europe 2020: Adapting to a Changing World, Baden-Baden: Nomos. Gnesotto, Nicole/Giovanni Grevi (Hrsg.) (2006): The New Global Puzzle. What World for the EU in 2025?, Paris: European Union Institute for Security Studies. [González, Felipe (u.a.)] (2010), Projekt Europa 2030. Herausforderungen und Chancen. Bericht der Reflexionsgruppe an den Europäischen Rat über die Zukunft der EU 2030, Brüssel: Rat der Europäischen Union, abrufbar unter: http://www.consilium.europa.eu/ uedocs/cmsUpload/ de_web.pdf (23.10.2010). Guérin-Sendelbach, Valérie (1999): Frankreich und das vereinigte Deutschland. Interessen und Perzeptionen im Spannungsfeld (Schriften des Forschungsinstituts der DGAP), Opladen: Leske + Budrich.

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Guérin-Sendelbach, Valérie (1993): Ein Tandem für Europa? Die deutsch-französische Zusammenarbeit der achtziger Jahre (Arbeitspapiere zur internationalen Politik, 77), Bonn: Europa-Union. Hannah, Matthew G. (2010): (Mis)adventures in Rumsfeld space, in: GeoJournal (75) 4, S. 397-406. Hooghe, Liesbet/Gary Marks (1995): Birth of a Polity: The Struggle over European Integration, in: Herbert Kitschelt u.a. (Hrsg.): The Politics and Political Economy of Advanced Industrial Societies, Cambridge: Cambridge University Press, S. 70-97. Hooghe, Liesbet/Gary Marks (2006): Europe’s Blues: Theoretical Soul-Searching after the Rejection of the European Constitution, in: PS: Political Science & Politics (online), (39) 2, S. 247-250. Hurrelmann, Achim (2008): Demokratie in der Europäischen Union: Eine Bestandsaufnahme, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (58) 32, S. 3-9. Jäger, Thomas/Melanie Piepenschneider (Hrsg.) (1997): Europa 2020. Szenarien politischer Entwicklungen, Opladen: Leske + Budrich. Jouvenel, Hugues de (1999): La démarche prospective. Un bref guide méthodologique, in : Futuribles 247, S. 47-68. Laumen, Anne/Andreas Maurer (2006): Jenseits des „Permissive Consenus“: Bevölkerungsorientierungen gegenüber Europäischer Integration im Wandel? (Diskussionspapier) Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik. Lind, Christoph (1998): Die deutsch-französischen Gipfeltreffen der Ära Kohl-Mitterand 19821994. Medienspektakel oder Führungsinstrument? (Nomos Universitätsschriften, Politik, 78), Baden-Baden. Lindberg, Leon N./Stuart A. Scheingold (1970): Europe’s Would-Be Polity. Patterns of Change in the European Community, Englewood Cliffs: Prentice Hall. Marchetti, Andreas (2008): Consolidation in Times of Crisis? The Setup of the European Neighbourhood Policy and its Challenges, in: Laure Delcour/Elsa Tulmets (Hrsg.): Pioneer Europe? Testing EU Foreign Policy in the Neighbourhood, Baden-Baden: Nomos, S. 21-34. Marchetti, Andreas/Claire Demesmay (Hrsg.) (2010): Der Vertrag von Lissabon: Analyse und Bewertung (Schriften des Zentrum für Europäische Integrationsforschung, 71), BadenBaden, Nomos. Monti, Mario (2010): Eine neue Strategie für den Binnenmarkt. Im Dienste der Wirtschaft und Gesellschaft Europas. Bericht an den Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso, Brüssel: Europäische Kommission, abrufbar unter: http://ec.europa.eu/ bepa/pdf/monti_report_final_10_05_2010_de.pdf (23.10.2010). Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela (1996): Reform der Europäischen Union. Deutschfranzösische Initiativen, in: Dokumente (52) 6, S. 456-461. National Intelligence Council/European Union Institute for Security Studies (2010): Global Governance 2025. At a Critical Juncture, o.O. Norris, Christopher (2004): Staying for an answer: Truth, knowledge, and the Rumsfeld creed, in: Philosophy & Social Criticism (30) 7, S. 777-798. Weske, Simone (2006): Deutschland und Frankreich – Motor einer Europäischen Sicherheitsund Verteidigungspolitik? (Münchner Beiträge zur europäischen Einigung, 13), BadenBaden: Nomos. Woyke, Wichard (2004): Deutsch-französische Beziehungen seit der Wiedervereinigung. Das Tandem fasst wieder Tritt (Grundlagen für Europa, 5), 2. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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Zum Abschluss des Forschungsprojekts „Deutschland und Frankreich angesichts der europäischen Krisen“, das Dank der finanziellen Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Agence Nationale de la Recherche (ANR) durchgeführt werden konnte, gebührt neben diesen zahlreichen Kollegen, Mitarbeitern und Dialogpartnern unser ausdrücklicher Dank. Zu nennen sind hier zunächst alle an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler und unsere Gesprächspartner in Politik, Verwaltung und Medien, mit denen wir in unterschiedlichen Stadien des Projekts in Austausch treten konnten. Darüber hinaus gilt ein besonderer Dank den an der Entstehung dieser und vorangegangener Publikationen beteiligten wissenschaftlichen Hilfskräften Anne-Lise Barrière und Nele Katharina Wissmann, den Assistentinnen Noumouni Keïta, Pauline Ollier, Delphine Renard und Cécile Tarpinian sowie den studentischen Hilfskräften Mareike Dillmann, Annika Gemlau, Frauke Gottwald, Kirsten Wahner und Natascha Zaun. Die Herausgeber

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