Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben verantwortungsethisch relevant?

Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben – verantwortungsethisch relevant? Dr. Heike Baranzke Bergische Universität Wuppertal Fak. 1, Geistes- /Kulturwissens...
Author: Reiner Gerstle
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Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben – verantwortungsethisch relevant? Dr. Heike Baranzke Bergische Universität Wuppertal Fak. 1, Geistes- /Kulturwissenschaften

Albert Schweitzer „Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.“

Albert Schweitzer: Kritik • Grenzenlose Verantwortung – Überforderung • Nicht nur für Tiere und Pflanzen, sogar für Schneeflocken und Kristalle – kein Biozentriker, eher Holist • Lehnt jede Werthierarchisierung ab – sein Verantwortungsbegriff ist leer • Liefert keine Abwägungskriterien für Konfliktfall – normativ unbrauchbar

• „Ehrfurcht“, „Heiligkeit“ – Tabu statt Argument • Ehrfurcht vor dem Leben – (meta-)ethischer Naturalismus • Schweitzer handelt als Arzt gegen sein eigenes ethisches Prinzip – performativer Selbstwiderspruch • „Ehrfurcht vor dem Leben“ – nicht von Schweitzer erfunden

Magnus Schwantje (1877-1959): „Ehrfurcht vor dem Leben“ „Seit der Mitte der zwanziger Jahre wird das im Jahre 1902 von mir geprägte Wort ‘Ehrfurcht vor dem Leben‘ auch von einigen anderen Schriftstellern oft gebraucht. Die meisten bezeichnen mit ihm aber ein Gefühl, das nicht Ehrfurcht genannt werden darf.“

Magnus Schwantje: „Ehrfurcht vor dem Leben“ „Als ich das Wort ‚Ehrfurcht vor dem Leben’ prägte, und als ich es zu einem Schlagwort der radikal-ethischen Bewegung machte, da wollte ich mit ihm besonders die heilige Scheu vor der Vernichtung irgend eines Lebewesens benennen: die Scheu davor, etwas zu zerstören, was wir nicht neu schaffen können, einem Wesen etwas zu nehmen, was wir ihm nicht wiedergeben und nicht ersetzen können, ein Leid zu erzeugen, für das wir das leidende Wesen nicht entschuldigen können, […]. Von Anfang an gebrauchte ich das Wort auch zur Bezeichnung des Widerwillens gegen eine Ernährung mit Stoffen, die nur durch Tötung gewonnen werden können.“

Magnus Schwantje: „Ehrfurcht vor dem Leben“ „Als etwa 25 Jahre später auch der verehrungswürdige Ethiker, Philosoph, Theologe, Musiker und Wohltäter der Neger Albert Schweitzer dieses Wort gebrauchte, wandte er es in einer andern Bedeutung an. Er nennt Ehrfurcht vor dem Leben nicht nur das, was mit diesem Wort richtig bezeichnet wird, sondern auch die bloße Achtung der Rechte der andern Wesen und das Mitgefühl. […] – Besonders unterscheidet Albert Schweitzers Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben sich von meiner dadurch, daß er meint, dieses Gefühl müsse uns nicht unbedingt vom Fleischessen zurückhalten. Er hält das Fleischessen für unentbehrlich; ich halte es für entbehrlich.“

„Ehrfurcht vor dem Leben“ Magnus Schwantje • Tabu • Eindeutige Wirklichkeit

Albert Schweitzer • Verantwortlichkeit • Dilemmatische Wirklichkeit

Gliederung 1. Verantwortung 2. Ehrfurcht in der philosophischen Ethik 3. Welchen Beitrag liefert Schweitzers „Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben“ zu einer Verantwortungsethik?

Verantwortung „Während die Verantwortlichkeit als Problem der Schuld, der Imputation und Zurechnung von alters her diskutiert wird und in den Auseinandersetzungen um die menschliche Willensfreiheit mitthematisch ist, wird der Begriff V. erst im 19. Jh. zu einem philosophisch relevanten Terminus und im 20. Jh. zu einem Grundbegriff nicht allein der Philosophie, sondern auch der angrenzenden Wissenschaften.“ (HWP Bd. 11, 2001)

Verantwortung • Entstammt der Rechtssphäre: • Jemand muss sich für etwas vor einer Instanz gemäß einer Norm verantworten • Ein mindestens 4stelliger relationaler Begriff

§

Verantwortungsethik „Wir müssen uns klar machen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ Max Weber 1864 - 1920 oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein. Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. ... Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungs-ethischen Maxime handelt – religiös geredet –: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“ (Politik als Beruf 1919)

Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt 1984

Verantwortungsethik

Hans Jonas 1903 - 1993

Zukunftsverantwortung Technikfolgenverantwortung Menschheitsverantwortung

„Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“

Die durch eine ambivalente Technik vergrößerte Handlungsmacht hat den Verantwortungsbereich des Menschen räumlich und zeitlich entgrenzt.

Günter Ropohl Morphologische Matrix der Verantwortungstypen Wer

Individuum

Korporation

Gesellschaft

Was

Handlung

Produkt

Unterlassung

Wofür

Folgen voraussehbar

Folgen unvoraussehbar

Fern- & Spätfolgen

Weswegen

moralische Regeln

gesellschaftliche Werte

staatliche Gesetze

Wovor

Gewissen

Urteil anderer

Gericht

Wann

vorher: prospektiv

momentan

nachher: retrospektiv

Wie

aktiv

virtuell

passiv

verantwortet

Art. „Verantwortung“ – Handbuch Ethik „Der … Begriff ‚Verantwortung‘ verweist … unverkennbar auf die Praxis des ‚Für-etwas-Rede-und Antwort-Stehens.“

Art. „Verantwortung“ – Handbuch Ethik „In der Kernbedeutung des Begriffs heißt ‚sich (für X gegenüber Y unter Berufung auf Z) verantworten‘ soviel wie ‚sich (für X gegenüber Y unter Berufung auf Z) rechtfertigen‘“

„sich“?

Art. „Verantwortung“ – Handbuch Ethik „Da die Frage, wie Handlungen bzw. Handlungsnormen gerechtfertigt werden können, im Mittelpunkt der normativen Ethik steht, kommt … dem Verantwortungsbegriff zentrale Bedeutung zu.“ Schweitzer ≠ normativer Ethiker Was dann?

These Die Verschiebungen im Verantwortungsbegriff indizieren eine allgemeine Akteurvergessenheit in der modernen Begründung der Ethik Juridifizierung Naturalisierung

Verantwortung des Menschen – vor Gott ? Verantwortung „verweist auf eine Grundsituation, welche schon lange vor dem Aufkommen des Wortes ‚Verantwortung‘ leitend und bestimmend war für das sittliche Denken innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition. Steht doch in ihr der Mensch mit all seinem Tun in der Verantwortung vor Gott. Diese Stellung vor Gott liegt allen anderen kommunikativen Zusammenhängen voraus, welche den Menschen sonst noch in Verantwortung nehmen mögen, und sind deren Maßstab und Grenze zugleich.“ J. Fischer et al 2007, 388

Ein grundlegendes (Bedingungs-)Verhältnis

Der Mensch als Statthalter Gottes in der Schöpfung (Gen 1,26ff.) „Dignitas-Würde der Verantwortlichkeit“

Asymmetrische moralische Gemeinschaft „Bonitas-Würde der Kreatürlichkeit“

Gott Abbild „Würde“

sich verantworten vor

alle Menschen „herrschen“ Verantwortung für

Tiere & Erde

Von der Verantwortung zur

Ehrfurcht (in der Philosophie) und zurück

Kant: Säkularisierung der Ehrfurcht „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“ (KpV, Ak V 161) Verabschiedung der Physikotheologie

Kant: Säkularisierung der Ehrfurcht „Denn wenn wir Allgewalt, Allwissenheit u.s.w. eines Welturhebers als anderwärts her uns gegebene Begriffe voraussetzen müßten, um nachher unsere Begriffe von Pflichten auf unser Verhältniß zu ihm nur anzuwenden, so müßten diese sehr stark den Anstrich von Zwang und abgenötigter Unterwerfung bei sich führen; statt dessen, wenn die Hochachtung für das sittliche Gesetz uns ganz frei laut Vorschrift unserer eigenen Vernunft den Endzweck unserer Bestimmung vorstellt, wir eine damit und zu dessen Ausführung zusammenstimmende Ursache mit der wahrhaftesten Ehrfurcht, die gänzlich von pathologischer Furcht unterschieden ist, in unsere moralischen Aussichten mit aufnehmen und uns derselben willig unterwerfen.“ (Ak V 481f.)

Die Wende zum menschlichen Subjekt Gott

Idee der Menschheit homo noumenon Pflichten gegen

empirische Person homo phaenomenon Pflichten in Ansehung von

Tiere, Erde

Gott = Postulat der praktischen Vernunft

Säkularisierung: Die Idee der Menschheit tritt an die Stelle Gottes

Ehrfurcht nach Kant • Keine Furcht vor Strafe, auch nicht vor Gott (pathologisches Naturgefühl) • Sondern ein Gefühl der Achtung vor dem Anspruch des moralischen Gesetzes: • ‚Achtung‘ ist wie ‚Ehrfurcht‘ ambivalent: bewirkt – „die Herabsetzung der Ansprüche der moralischen Selbstschätzung“ – eine „Demütigung auf der sinnlichen Seite“ – und zugleich die „Erhebung der moralischen … Schätzung des Gesetzes selbst“ – eine Erhebung „auf der intellektuellen Seite“ (Peter Probst 1994)

Schweitzer über Kant „Daß Kant Wahrhaftigkeit gegen sich selbst so in den Mittelpunkt der Ethik rückt, zeugt für die Tiefe seines ethischen Empfindens. Aber weil er in dem Suchen nach dem Wesen des Ethischen nicht bis zur Ehrfurcht vor dem Leben vordringt, kann er den Zusammenhang von Wahrhaftigkeit gegen sich selbst und tätiger Ethik nicht erfassen.“ (KE 1923)

Ehrfurcht nach Goethe Wilhelm Meister Wanderjahre „Der Natur ist Furcht wohl gemäß, Ehrfurcht aber nicht; … es ist ein höherer Sinn, der seiner (scil. der menschlichen) Natur gegeben werden muß, … Hier liegt die Würde, hier das Geschäft aller echten Religionen …“ Ehrfurcht ist

- das umfassende Humanitätsideal, auf das alle Erziehung letztlich zielt

Ehrfurcht nach Goethe Wilhelm Meister Wanderjahre Drei verschiedene Grußgebärden in der Pädagogischen Provinz: Ehrfurcht vor dem

1. was über uns ist: Arme kreuzweise über die Brust, freudiger Blick gen Himmel

2. was unter uns ist: Auf dem Rücken gefaltete / gebundene Hände, lächelnder Blick nach unten zur ambivalenten irdischen Wirklichkeit

3. was neben uns ist: Gegen Kameraden gewendet nach ihnen sich richten

Schweitzer über Goethe „Was ihn von Kant und Fichte und Schiller trennt, ist die Ehrfurcht vor der Wirklichkeit der Natur. Sie ist ihm etwas an sich, nicht nur etwas im Hinblick auf den Menschen. Er verlangt von ihr nicht, daß sie sich ganz in unsere optimistisch-ethischen Absichten füge. Er vergewaltigt sie weder durch erkenntnistheoretischen und ethischen Idealismus noch durch anmaßende Spekulation, sondern lebt in ihr als ein Mensch, der staunend das Sein beschaut und sein Verhältnis zum Weltgeist auf keine Formel zu bringen weiß.“ (KE 1923)

Albert Schweitzer Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben „Ich kann nicht anders, als mich an die Tatsache halten, daß der Wille zum Leben in mir als Wille zum Leben auftritt, der mit anderm Willen zum Leben eins werden will. … Ich bin aus der Welt erlöst. In Unruhe, wie sie die Welt nicht kennt, bin ich durch die Ehrfurcht vor dem Leben geworfen. Seligkeit, die die Welt nicht geben kann, empfange ich aus ihr. Wenn in der Sanftmut des Andersseins als die Welt ein anderer und ich uns in Verstehen und Verzeihen helfen, wo sonst Wille andern Willen quälen würde, ist die Selbstentzweiung des Willens zum Leben aufgehoben.“

Fazit: Schweitzers Beitrag zu einer Verantwortungsethik • Erinnerung an die Unvertretbarkeit des moralischen Akteurs • Intrapersonale Wahrhaftigkeit / Verantwortlichkeit • Notwendigkeit der moralischen (tugendethischen) Bildung der Persönlichkeit • Haltungs- und Gewissensethik anstelle normativer Ethik • Kein metaethischer Naturalismus (deskriptivistischer / Sein-Sollens-Fehlschluss) • Über Schweitzer hinaus zu Kant zurück: Können wir auf die transzendentale Idee menschlicher Verantwortungsfähigkeit verzichten? (Akteurrelationalität)