„Es ist gewiss, du bist nicht ich“
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Hiermit versichere Ich, Laura Cardarelli, diese Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt zu haben.
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Cardarelli Laura candidate au Lycée Technique de Lallange
„Es ist gewiss, du bist nicht ich“1 – Eine handlungsorientierte, multimodale Herangehensweise an die Spiegelmotivik in ausgewählten lyrischen Texten Esch-‐sur-‐Alzette 2014 1 Droste-‐Hülshoff, Annette von: Das Spiegelbild.
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Zusammenfassung Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten bietet eine Erweiterung kognitiver, sozialer und affektiver Erfahrungsmöglichkeiten, die vor allem Jugendliche bei ihrer Identitätsfindung und –bildung unterstützen kann. Vor allem lyrische Texte können einen besonderen Beitrag dazu leisten, da sich die Schüler einerseits nicht vom Umfang der Texte abschrecken lassen und sie andererseits am Umgang mit Gedichten exemplarisch lernen können, ihr Ausdrucksvermögen zu erweitern, „indem sie Möglichkeiten
für
die
Verbalisierung
ihrer
Wahrnehmungen,
Erfahrungen,
Empfindungen, Gedanken, Phantasien und Träume kennenlernen.“2 Dieser Arbeit geht der Wunsch voraus, meinen Schülern einen multimodalen, handlungsorientierten Zugang zu einer Auswahl von Gedichten zu ermöglichen, um auf diese Weise sowohl den unterschiedlichen Lerntypen innerhalb der Schulklasse als auch der Vielschichtigkeit der Gattung gerecht zu werden. Es soll gezeigt werden, dass gerade multimodale Methoden sich anbieten, um die Grenzen zwischen alten und neuen Medien, zwischen Literatur und anderen Künsten einzubrechen, so dass den Schülern ein modernes Verständnis von künstlerischem Schaffen im Allgemeinen und von Literatur im Besonderen vermittelt wird. Wird im Lyrikunterricht zusätzlich zu dem fachspezifischen Input mit Bild-‐ und Musikimpulsen gearbeitet, so haben die Lerner in vielfältiger Weise die Möglichkeit, ihr eigenes Lernpotenzial zu entfalten. Der Fokus bei der Interpretation der ausgewählten Gedichte liegt stets auf dem Symbol des Spiegels, welches von Autoren verschiedener Epochen aufgegriffen wird, um unter anderem Identitätskrisen darzustellen. Die folgende Arbeit wird sich mit der langen Geschichte des Spiegels als Metapher und Motiv sowie mit der daraus resultierenden Bedeutung für die Literatur und Kultur im Allgemeinen auseinandersetzen. Der Schwerpunkt des theoretischen Teils dieser Arbeit liegt dabei vor allem auf den Ausführungen des Zeichentheoretikers Umberto Eco sowie der Psychoanalytiker Sigmund Freud und Jacques Lacan. Es wird sich bei der Interpretation der Gedichte herausstellen, dass vor allem ein Bezug auf Sigmund Freuds Thesen zur Persönlichkeitsgestaltung für die Behandlung der Gedichte im Unterricht geeignet ist.
2 Vgl. Hassenstein: Taschenbuch des Deutschunterrichts, S. 639.
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Anhand der Gedichte soll gezeigt werden, dass dem Spiegel bei der Identitätssuche und –bildung eine zentrale Rolle zukommt, da er uns zeigt, wie die anderen uns sehen. Da die Lektüre literarischer Texte innerhalb und außerhalb des schulischen Rahmens Jugendliche auf ihrem Weg zum eigenen Ich unterstützen kann und soll, können Spiegel-‐ Texte demnach einen besonderen Beitrag dazu leisten: „Wenn wir wirklich lesen, um uns selbst zu begegnen (...), dann tun wir dies in doppelter Intensität, wenn wir über Spiegelungen lesen.“3 Im praktischen Teil dieser Arbeit werden die konstruktivistische Didaktik und Pädagogik sowie die Leitgedanken handlungsorientierter Unterrichtsformen erörtert. Zudem wird dargelegt, inwiefern sich offene Unterrichtsmethoden positiv auf die Schülermotivation, das Klassenklima und die Lernergebnisse auswirken können. Ziel dieser Arbeit ist es somit, die Schüler anhand einer Auswahl von Gedichten, die das Spiegelmotiv auf unterschiedliche Art und Weise aufgreifen, für Literatur zu begeistern. Eine sechsstündige Unterrichtssequenz zum Thema „Spiegel-‐Gedichte“ wird im Anhang dieser Arbeit zu finden sein, bei welcher auf eine handlungsorientierte, multimodale Herangehensweise an die Unterrichtsinhalte zurückgegriffen wird. Die besagte Unterrichtssequenz kann auf einer elften Klasse ausgeführt werden, da ihr Inhalt dem Lehrprogramm dieser Klassenstufe entspricht. Auf eine Bewertung der Unterrichtsmaterialien muss in dieser Arbeit verzichtet werden, da das Unterrichtsmodell nicht praktisch umgesetzt wurde. Die Bewertungskriterien können jedoch bei einer Behandlung im Unterricht als Anhaltspunkte genutzt werden, um die erreichbare Qualität des Unterrichts einschätzen zu können.
3 Vgl. Millner, Alexandra: Spiegelwelten. Weltenspiegel. Zum Spiegelmotiv bei Elfriede Jelinek,
Adolf Muschg, Thomas Bernhard, Albert Drach. In: Wiener Arbeiten zur Literatur. Bd. 19, hg von Schmidt-‐Dengler. Wien: Braumüller 2004, S. 23
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Inhalt O. Einleitung...................................................................................................................................... 9 I. Theorie......................................................................................................................................... 13 1. Spiegel ......................................................................................................................................... 13 1.1. Der Spiegel als Gegenstand und als Zeichen........................................................................... 13 1.1.1. Der Spiegel als Gegenstand ................................................................................................... 13 1.1.3. Der Spiegel als Zeichen ........................................................................................................... 15 1.3. Der Spiegel als Symbol in der europäischen Kulturgeschichte...................................... 18 1.3.1. Der Spiegel als Symbol der Erkenntnis und Selbsterkenntnis in der Antike... 19 1.3.2. Unio mystica im Mittelalter................................................................................................... 19 1.3.3. Der Spiegel in der erkenntnistheoretisch geprägten Phase der deutschen Kulturgeschichte .................................................................................................................................... 20 1.3.4. Die Spiegelmetapher nach dem „linguistic turn“......................................................... 23 1. 3. 5. Magische Spiegel...................................................................................................................... 24 1.3.6. Der Spiegel als Symbol des Hochmuts, der Eitelkeit und des Todes: Der Narziss-‐Mythos ....................................................................................................................................... 26 2. Spiegel und die Psychoanalyse............................................................................................ 28 2.1. Sigmund Freud: Psychoanalyse und Narzissmus................................................................. 28 2.1.1. Die psychische Persönlichkeit : Drei psychische Instanzen.................................... 29 2.1.2. Freuds Theorie des Narzissmus.......................................................................................... 31 2.2. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium............................................................................................ 33 2.2.1. Das Spiegelbild: Entfremdung und Ich-‐Spaltung ......................................................... 35 3. Die Spiegelmetapher in der Ästhetik ................................................................................ 37 4. Die Rolle des Spiegels bei der Identitätsbildung in literarischen Prosatexten: ein Einblick ............................................................................................................................................ 41 5. Spiegelgedichte als Spiegel der lyrischen und dichterischen Seele ....................... 51 5.1. Joseph von Eichendorff: Sehnsucht............................................................................................ 51 5.2. Annette von Droste-‐Hülshoff: Das Spiegelbild ...................................................................... 56 5.3. Heinrich Heine: Still ist die Nacht ............................................................................................... 62 5.4. Gottfried Keller: Winternacht ....................................................................................................... 67 5.5. Georg Trakl: Das Grauen ................................................................................................................. 73
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II. Praxis............................................................................................................................................81 1. Persönliche Herausforderung und Zielsetzung............................................................. 81 1.2. Begründung der Themenwahl: Spiegel-‐Gedichte ................................................................ 81 1.3. Begründung der Methodik ............................................................................................................. 82 2. Konstruktivismus und handlungsorientierter Unterricht ........................................ 84 2.1. Anforderungen an die heutige Didaktik................................................................................... 84 2.2. Konstruktivismus............................................................................................................................... 86 2.2.1. Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion.................................................. 88 2.3. Offene Unterrichtsformen ............................................................................................................. 90 2.3.1. Offene Unterrichtsformen als Teilgebiet handlungsorientierten Unterrichts 91 3. Multiple Intelligenzen und multimodaler Unterricht ................................................. 92 4. Formative und summative Bewertung der Unterrichtssequenz............................. 95 4.1. Evaluation im offenen Unterricht ............................................................................................... 95 4.2. Formative Evaluation: das Feedback......................................................................................... 96 III. Die Unterrichtssequenz: Spiegelgedichte.......................................................................96 1. Die erste Unterrichtseinheit: das Spiegelsymbol und Sigmund Freuds „Drei psychische Instanzen .................................................................................................................. 99 2. Die zweite Unterrichtseinheit: Joseph von Eichendorffs „Sehnsucht“.................101 3. Die dritte Unterrichtseinheit: Annette von Droste-Hülshoffs „Das Spiegelbild“ ........................................................................................................................103 4. Die vierte Unterrichtseinheit: Heinrich Heines „Still ist die Nacht“.....................106 5. Die fünfte Unterrichtseinheit: Gottfried Kellers „Winternacht“............................107 6. Die sechste Unterrichtseinheit: Georg Trakls „Das Grauen“...................................110 7. Summative Evaluation: die Klassenarbeit ....................................................................112 IV. Gesamtreflexion....................................................................................................................115 V. Quellen ......................................................................................................................................118 1. Monographien, Sammelwerke, Aufsätze .......................................................................118 2. Internetquellen ......................................................................................................................122 VI. Anhang.....................................................................................................................................125 1. Erste Unterrichtseinheit......................................................................................................125 2. Zweite Unterrichtseinheit...................................................................................................135 3. Dritte Unterrichtseinheit ....................................................................................................143 4. Vierte Unterrichtseinheit....................................................................................................154
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5. Fünfte Unterrichtseinheit ...................................................................................................162 6. Sechste Unterrichtseinheit .................................................................................................171 7. Klassenarbeit ..........................................................................................................................178 8. Korrekturschlüssel ...............................................................................................................180
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0. Einleitung „Man kann doch einen Spiegel besitzen; besitzt man dann auch das Spiegelbild, das sich in ihm zeigt?“4 Viele literaturgeschichtliche Arbeiten zum Spiegelmotiv konzentrieren sich auf die Epoche der Romantik, da dem Spiegel zu dieser Zeit in Verbindung mit der Doppelgängerthematik eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Doch das Motiv zieht sich durch alle Epochen hindurch: Sowohl im Mittelalter als auch in der zeitgenössischen Literatur lassen sich Texte finden, die auf das Spiegelmotiv zurückgreifen, um unter anderem Identitätskrisen darzustellen. Die folgende Arbeit wird sich mit der langen Geschichte des Spiegels als Metapher und Motiv sowie mit der daraus resultierenden Bedeutung für die Literatur und Kultur im Allgemeinen auseinandersetzen. Dafür ist zunächst ein Vorverständnis der verschiedenen Bedeutungen der Metapher in Philosophie, Ästhetik, Theologie und Psychologie, aber auch ein Überblick über die Verwendungsweisen des literarischen Motivs von Nöten. So soll auf die kulturelle Verankerung des Spiegels eingegangen werden, bevor auf antike Texte wie die Bibel, Ovids „Metamorphosen“ und Platons „Politeia“ verwiesen wird, um anschließend zu erläutern, inwiefern Psychoanalytiker wie Sigmund Freud und Jacques Lacan sich der Metapher bedient haben, um Aspekte der Persönlichkeitsgestaltung und der Identitätsproblematik zu erklären. Auch sollen die Eigenschaften und Gaben, die dem Spiegel vom volkstümlichen Glauben zugeschrieben werden, verdeutlichen, warum das Motiv für literarische Texte verschiedener Epochen so interessant ist. In diesem Zusammenhang soll gezeigt werden, dass dem Spiegel bei der Identitätssuche und –bildung eine zentrale Rolle zukommt, weil er uns zeigt, wie die anderen uns sehen. Da die Lektüre literarischer Texte innerhalb und außerhalb des schulischen Rahmens Jugendliche auf ihrem Weg zum eigenen Ich unterstützen kann und soll, können Spiegel-‐ Texte demnach einen besonderen Beitrag dazu leisten: „Wenn wir wirklich lesen, um 4 Wittgenstein, Ludwig : Zettel. Hg. von Anscombe, Gerturde Elizabeth Margaret; Wright, Georg
Henrik. Berkeley, Los Angels: University of California Press 1967, Nr. 670, S. 117. Vgl. Drynda: Spiegelfrauen, S. 17.
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uns selbst zu begegnen (...), dann tun wir dies in doppelter Intensität, wenn wir über Spiegelungen lesen.“5 Ziel dieser Arbeit ist es somit, die Schüler anhand einer Auswahl von Gedichten, die das Spiegelmotiv auf unterschiedliche Art und Weise aufgreifen, für Literatur zu begeistern. Eine sechsstündige Unterrichtssequenz zum Thema „Spiegel-‐Gedichte“ wird im Anhang dieser Arbeit zu finden sein, bei welcher auf eine handlungsorientierte, multimodale Herangehensweise an die Unterrichtsinhalte zurückgegriffen wird. Die besagte Unterrichtssequenz kann auf einer elften Klasse ausgeführt werden, da ihr Inhalt dem Lehrprogramm dieser Klassenstufe entspricht. In einem theoretischen Exkurs werden die konstruktivistische Didaktik und Pädagogik sowie die Leitgedanken handlungsorientierter Unterrichtsformen erörtert. Es wird dargelegt, inwiefern sich offene Unterrichtsmethoden positiv auf die Schülermotivation, das Klassenklima und die Lernergebnisse auswirken können. Denn gerade multimodale Methoden bieten sich an, um die Grenzen zwischen alten und neuen Medien, zwischen Literatur und anderen Künsten einzubrechen, so dass den Schülern ein modernes Verständnis von künstlerischem Schaffen vermittelt wird. Wird im Deutschunterricht zusätzlich zu dem fachspezifischen Input auch mit Bild-‐ und Musikimpulsen gearbeitet, so haben die Lerner zudem in vielfältiger Weise die Möglichkeit, ihr eigenes Lernpotenzial zu entfalten. Über die letzten Jahre haben offene Unterrichtsformen zwar in luxemburgischen Schulen
Einlass
erfahrungsgemäß
erhalten,
doch
weiterhin
handlungsorientierte
und
bleibt
verbreitet.
multimodale
der Die
traditionelle vorliegende
Herangehensweise
Frontalunterricht
Arbeit im
wird
die
Kontext
des
Lyrikunterrichts als mögliches erfolgreiches Konzept darstellen: Das Wissen wird von den Schülern in Lern-‐ und Handlungsprozessen in weitest gehender Autonomie erstellt und zur Förderung aller Intelligenzen innerhalb der Lerngemeinschaft multimodal erweitert. Die Schüler werden „von dem Passivum in das Aktivum übersetzt“6 und sie
5 Vgl. Millner, Alexandra: Spiegelwelten.Weltenspiegel. Zum Spiegelmotiv bei Elfriede Jelinek, Adolf Muschg, Thomas Bernhard, Albert Drach. In: Wiener Arbeiten zur Literatur. Bd. 19, hg von Schmidt-‐Dengler. Wien: Braumüller 2004, S. 23 6 Hugo Gaudig. In Anlehnung an Hanel, Paul: « Lernen durch Lehren, oder Schüler übernehmen Lehrerfunktionen ». In : Staatsinstitut für die Ausbildung der Lehrer an Realschulen. http://www.ldl.de/Material/EmpfLiteratur/hanel.htm
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lernen, Verantwortung für ihr Lernen und das daraus resultierende Aneignen des Gelernten und Erarbeiteten zu übernehmen.
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I. Theorie
1. Spiegel 1.1. Der Spiegel als Gegenstand und als Zeichen 1.1.1. Der Spiegel als Gegenstand Der Spiegel, welcher unter anderem in Form von Wasserspiegeln sogar älter als die Menschheit an sich ist, hat letztere schon immer begeistert. Für die folgende Arbeit ist aber vielmehr die Hauptqualität des Gegenstandes, nämlich die Spiegelung und das Spiegelbild, von Interesse. Trotzdem soll im Folgenden zunächst kurz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit erläutert werden, was unter dem Spiegel als eigenständiger Gegenstand zu verstehen ist, bevor auf die Analyse des Spiegels als Zeichen und als Symbol übergegangen wird. Schlägt man den Begriff „Spiegel“ im Lexikon nach, kann man in Erfahrung bringen, dass es sich dabei um eine ebene oder gekrümmte Fläche handelt, welche auftreffende Strahlen reflektiert, wobei die Richtung dieser zurückgeworfenen Strahlen durch das Reflexionsgesetz bestimmt wird.7 Der Begriff „Reflexion“ bedeutet einerseits „Abbilden“: Der Spiegel reflektiert unsere Erscheinung und bildet sie somit ab. „Reflexion“ bedeutet andererseits aber auch „Nachdenken“ und „Erwägen“8: In der Tat bringt die Spiegelung unserer physischen Erscheinung uns zu einer prüfenden Betrachtung, zum Überlegen. Bereits in der Jungsteinzeit versuchten die Menschen selbst Spiegel herzustellen, wie Funde von polierten Obsidianplatten in Çatalhöyük, in der heutigen Türkei, belegen. Die Menschen des Bronzezeitalters schliffen Metallplatten glatt, um ihr Spiegelbild erkennen zu können. Die Spiegelherstellung war zudem für spirituelle Zwecke von besonderer Bedeutung. Metallene Spiegel dienten unter anderem in den antiken Hochkulturen Ägyptens, Babyloniens und Chinas vor allem weiblichen Verstorbenen als Grabbeigaben. 7 Vgl. Bertelsmann Lexikon in 15 Bänden. Band 13. Bertelsmann Lexikothek Verlag 1995, S. 319. 8 Vgl. Drynda, Joanna: Spiegel-‐Frauen. Zum Spiegelmotiv in Prosatexten zeitgenössischer
österreichischer Autorinnen. In: Studien zur Germanistik, Skandinavistik und Übersetzungskultur. Bd. 3. Hr. v. Kaszynski, Stefan H.; Katny, Andrzej: Krysztofiak, Maria. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2012, S. 17.
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Die ersten Spiegel aus Glas entstanden im spätrömischen Reich um 300 nach Christus und wurden ähnlich wie heute angefertigt: Eine Glasschicht wurde mit Metall hinterlegt. Da das Herstellen farbloser Gläser aber nach Ende des römischen Reiches nicht weiter praktiziert wurde, konnten anschließend über mehrere Jahrhunderte keine Spiegel aus Glas hergestellt werden. Im Jahr 1516 entwickelten die Brüder Dal’Gallo in Venedig erstmals flache Spiegel aus Glas: Dafür brachten Letztere eine dünne Zinnfolie auf dem ebenen Glas auf. Die genaue Vorgehensweise der Spiegelpioniere fand bis ins 19. Jahrhundert Anwendung: Durch das Übergießen mit einer Schicht aus Quecksilber verbindet sich dieses mit dem Zinn zu Amalgam, einer chemisch sehr stabilen Quecksilberlegierung. Die Spiegelhersteller am Hofe Ludwigs XIV entwickelten die flachen Glasspiegel weiter, und ermöglichten es, größere Formate mit glatterer Oberfläche herzustellen. So konnte der Spiegelsaal in Versailles entworfen und ausgestattet werden. Der deutsche Chemiker Justus von Liebig entdeckte Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Methode der Spiegelherstellung und entwickelte den brillanten Glasspiegel, welcher mehr Licht reflektiert als der Quecksilberspiegel. Diese Technik erlangte nach dem Quecksilberverbot von 1886 große Bedeutung für die Spiegelhersteller.9 Heute kennen wir kostengünstige Herstellungsweisen mit Aluminium, wobei Silber die erste Wahl für hochwertige Spiegel bleibt: Spiegel werden heutzutage meistens aus fehlerfreiem Flachglas hergestellt. Gewaschene Glastafeln werden mit einer Zinnchloridlösung vorbehandelt, dann wird eine Silberlösung aus Silbernitrat, in Natronlauge zusammen mit einer Reduktionslösung aus Traubenzucker aufgesprüht. Anschließend wird eine Kupferschicht aufgebracht und nach Trocknung erfolgt eine Schutzlackierung.10
Des Weiteren wird unterschieden zwischen dem ebenen Spiegel, dem hohlen (Konkavspiegel) und dem erhabenen (Konvexspiegel). 9 Vgl. Arbeitskreis Engineering & Anwendungstechnik der Glas Trösch Beratungs-‐GmbH:
Geschichte der Spiegelherstellung. http://www.spiegel-‐info.de/geschichte-‐der-‐ spiegelherstellung/ 10 Vgl. Bertelsmann Lexikon, S. 319.
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Der ebene Spiegel gibt ein wahrheitsgetreues Abbild, sowohl von Längen als auch von Winkeln wieder. Wenn wir uns jedoch im Spiegel betrachten wollen, so erscheint es uns, als ob rechts und links vertauscht wären. Fällt der Blick über zwei Spiegel auf das Objekt, erscheint das Spiegelbild nicht mehr spiegelverkehrt. Dieses Phänomen machen sich Periskope und Spiegelreflexkameras zunutze. So kann man sich selbst durch die Verwendung von zwei Spiegeln so betrachten, wie man von anderen gesehen wird. Wenn die Spiegelfläche uneben ist, wie bei hohlen und erhabenen Spiegeln, dann ist das Spiegelbild verzerrt. Bei konvexen Spiegeln, welche gewölbt wie eine Kugeloberfläche sind, erscheint das virtuelle Spiegelbild immer verkleinert. Im Gegensatz dazu kann durch Hohlspiegel ein vergrößertes Spiegelbild erzielt werden. In unserem Alltag kommen die eben genannten Spiegelarten auf verschiedene Art und Weise zum Einsatz. So werden konvexe Spiegel an Kreuzungen und Ausfahrten eingesetzt, damit die Autofahrer eine Straße oder Kreuzung überblicken können. Konkave Spiegel kennen wir vor allem aus unseren Badezimmern als Kosmetikspiegel, letztere werden aber auch für Spiegelteleskope verwendet.11 Sonstige Anwendungen finden Spiegel auf Jahrmärkten in sogenannten Lachkammern. Hier sorgen Zerrspiegel (verformte Spiegel) zur Unterhaltung, da sie die eigene Erscheinung verzerrt wiedergeben. Der Spiegel als konkret beobachtbarer Gegenstand kann also unter verschiedenen Formen auftreten und unterschiedlichen Zwecken dienen. Inwiefern der Spiegel als Ding an sich sowie seine Qualität der Spiegelung für die Zeichentheorie von Bedeutung ist und ob es sich beim Spiegel und der Widerspiegelung um ein Zeichen handelt, soll im Folgenden erläutert werden. 1.1.3. Der Spiegel als Zeichen Im Folgenden soll auf die Arbeit des Schriftstellers und Semiotikers Umberto Eco verwiesen werden, welcher in „Über Spiegel und andere Phänomene“12 unter anderem
11 Vgl. Bertelsmann Lexikon, S. 319. 12 Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. 8. Auflage. München: Deutscher
Taschenbuch Verlag 2011.
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der Frage nachgeht, ob es sich bei dem Bild, das der Spiegel wiedergibt, um ein Zeichen13 handelt und ob Spiegel somit ein semiotisches Phänomen sind.14 Umberto Eco, 1932 in Alessandria in der italienischen Region Piemont geboren, hat sich vor allem als Schriftsteller und Semiotiker einen Namen gemacht. Seine Vorlieben als Zeichentheoretiker und Historiker sowie auch als Schriftsteller mit immensem Geschichtsbewusstsein und Sinn für Geheimnisse spiegeln sich bereits in seinem Namen wider: Eco steht für die lateinische Bezeichnung "ex caelis oblatus" -‐ "Ein Geschenk des Himmels“. Eco begründet die kulturwissenschaftliche Forschung zeichentheoretisch: „Der Mensch, so hat man gesagt, ist ein symbolisches Wesen, und in diesem Sinne sind nicht nur die Wortsprache, sondern die Kultur insgesamt, die Riten, die Institutionen, die sozialen Beziehungen, die Bräuche usw. nichts anderes als symbolische Formen.“15 Der Semiotiker behauptet, das Spiegelbild sei kein Zeichen. Eco zerlegt die ihn umgebende Welt in Zeichen, und wo er keine entdeckt, versucht er die Diskrepanz zu erläutern. In dem Band „Über Spiegel und andere Phänomene“ finden sich Aufsätze zur Ästhetik,
Analysen
diverser
Phänomene
der
populären
Kultur,
kritische
Textinterpretationen sowie philosophische und semiotische Schriften.16 Umberto Eco definiert den Spiegel zunächst vom Gegenstand an sich ausgehend als regelmäßige Fläche, die in der Lage ist, Lichtstrahlung zu reflektieren. Des Weiteren unterschiedet auch er zwischen ebenem, konkavem und konvexem Spiegel. Der ebene Spiegel ist ihm zufolge eine Fläche, die ein „virtuelles, aufrechtes, seitenverkehrtes (oder symmetrisches) Abbild in gleicher Größe wie das Objekt und frei von sogenannten chromatischen Aberrationen liefert.“17 Dies entspricht dem Spiegel, den wir Menschen als Alltagsgegenstand kennen. Der konvexe Spiegel hingegen zeigt „virtuelle, aufrechte, seitenverkehrte und verkleinerte Abbilder“.18 Unter dem konkaven Spiegel versteht Eco „eine Fläche, die a) 13 Umberto Eco schlägt vor, alles Zeichen zu nennen, was aufgrund einer vorher vereinbarten
sozialen Konvention als etwas aufgefasst werden kann, das für etwas anderes steht. Vgl. Eco: Über Spiegel. 14 Den Begriff Semiose definiert Eco folgendermaßen:“ Semiose ist jenes für die Menschen typische Phänomen, (...) durch welches (...) ein Zeichen, sein Objekt (oder Inhalt) und seine Interpretation in ein Wechselspiel treten. (Eco: Über Spiegel, S. 26.) 15 Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. 9. Auflage. München: Wilhem Fink Verlag 2002, S. 108. 16 Vgl. http://www.umberto-‐eco.de/umberto-‐eco/umberto-‐eco.html 17 Eco: Über Spiegel, S. 29. 18 Eco: Über Spiegel, S. 29.
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wenn das Objekt sich zwischen Brennpunkt und Betrachter befindet, virtuelle, aufrechte, seitenverkehrte und vergrößerte Abbilder liefert, und b) wenn das Objekt die Position variiert, vom Unendlichen bis zur Koinzidenz mit dem Brennpunkt, reale, auf dem Kopf stehende, je nachdem vergrößerte oder verkleinerte Abbilder an verschiedenen Punkten der Raumes liefert.“19 Dabei erklärt Eco, dass er den Begriff „virtuell“ benutze, da der Betrachter das Abbild wahrnimmt, als ob es sich im Inneren des Spiegels befände, obwohl es sich selbstverständlich nur um eine Spiegelfläche handelt, die kein Inneres hat. Auch Eco macht darauf aufmerksam, dass der Mensch davon ausgeht, der Spiegel würde rechts und links vertauschen, obwohl dieser es ist, der sich durch die Identifikation mit seinem Abbild vorstellt, er wäre der Mensch im Spiegel. Dem Mensch gelingt es dabei nicht, das physische Phänomen des Spiegels von den Täuschungen, die jenes hervorruft, zu unterschieden.20 Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der Mensch davon ausgeht, der Spiegel sage die Wahrheit: Wir vertrauen unseren Sinnesorganen und somit den Spiegeln, welche sich durch eine „unverhüllte olympische, animalische, unmenschliche Natur“ auszeichnen, da sie die Objekte nicht interpretieren, sondern direkt wiedergeben.21 Dies führt dazu, dass wir Spiegel als Prothesen (wie etwas Brillen und Ferngläser) einsetzen, um visuelle Reize an Orten wahrzunehmen, wo unser visuelles Organ nicht hingelangt, sei es am eigenen Körper, in einem anderen Raum oder in einer Höhlung.22 Da der Spiegel dem Menschen erlaubt, sich selber zu sehen, wie die anderen ihn wahrnehmen, ist er als „Duplikat des Reizfeldes“ zu verstehen, „in das man gelangen könnte, wenn man das Objekt anstelle seines reflektierten Bildes betrachten würde.“23 Dass das Phänomen des Spiegels einen so großen Einfluss auf die Literatur hat, erklärt Eco folgendermaßen: „Diese virtuelle Verdopplung der Reize (...), diese Enteignung des Bildes, diese permanente Versuchung, mich selbst für einen anderen zu halten, all dies macht die Spiegelerfahrung zu einer absolut singulären Erfahrung auf der Schwelle zwischen Wahrnehmung und Bedeutung.“24
19 Eco: Über Spiegel, S. 29-‐30. 20 Vgl. Eco: Über Spiegel, S. 31. 21 Vgl. Eco: Über Spiegel, S. 34. 22 Vgl. Eco: Über Spiegel, S. 35. 23 Eco: Über Spiegel, S. 38. 24 Eco: Über Spiegel, S. 38.
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Der Spiegel ist als Prothese zugleich auch ein Kanal, der „den Durchlauf von Information erlaubt“.25 Als Kanal und Prothese kann der Spiegel, auf dessen Wahrheitsgehalt wir uns verlassen, Sinnestäuschungen hervorrufen. Als Beispiel nennt Eco die Situation, wenn man einen Raum betritt, der Meinung ist, eine andere Person würde einem entgegenkommen, dann aber feststellt, dass es sich um die eigene Erscheinung in einem Spiegel handelt.26 Gegen Ende seiner Ausführungen kommt Eco zu dem Schluss, dass es sich beim Spiegel aus verschiedenen Gründen nicht um ein Zeichen handeln könne27, worauf in dieser Arbeit jedoch nicht näher eingegangen werden muss: „In der Welt der Zeichen wird der Spiegel zum Phantom seiner selbst, zur Karikatur, zur Verhöhnung oder Erinnerung.“28 1.3. Der Spiegel als Symbol in der europäischen Kulturgeschichte Seit der Antike ist der Spiegel ein beliebtes Symbol, das sich durch alle Gebiete unseres Daseins zieht und das auf unterschiedliche Art und Weise ausgelegt wird. Diese Arbeit soll sich auf die Verwendung des Spiegels in der europäischen Kulturgeschichte begrenzen, da nur diese für die anschließenden Textinterpretationen von Bedeutung sein wird. Wie im Folgenden erläutert werden soll, dient der Spiegel in der europäischen Kulturgeschichte auf der einen Seite als Symbol der Erkenntnis, der Reinheit und der künstlerischen Produktivität, auf der anderen Seite wird der Spiegel jedoch als Symbol des Hochmuts, der Eitelkeit und des Todes eingesetzt. So heißt es bereits bei Artemidor von Daldis, auch Artemidor von Ephesos, Verfasser der „Oneirokritika“ (griech. „Traumdeutung“), Mitte des 2. Jahrhunderts: „Das Bespiegeln im Wasser weissagt dem Träumenden selbst oder einem seiner Vertrautesten den Tod“.29 25 Eco benutzt den Begriff „Information“ im physischen Sinne, als Durchlauf von Signalreizen. Vgl. Eco: Über Spiegel, S. 35. 26 Vgl. Eco: Über Spiegel, S. 36. 27 Unter anderem verweist Eco darauf, das der Spiegel nur in Präsenz eines Referenten anwesend sein und dass das Bild nicht in Abwesenheit des Objektes erzeugt werden kann. Auch sei das Spiegelbild nicht interpretierbar, nicht mit einem allgemeinen Inhalt korrelierbar und nicht unabhängig von einem Medium oder Kanal. Daraus schließt Eco, dass es sich beim Spiegel nicht um ein Zeichen handeln könne. 28 Eco: Über Spiegel, S. 61. 29 Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 358.
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1.3.1. Der Spiegel als Symbol der Erkenntnis und Selbsterkenntnis in der Antike Ausgehend von der antiken Vorstellung (zum Beispiel bei Platon und Plotin30), die auf Erden sichtbare Schöpfung und die menschliche Seele seien ein Spiegel Gottes beziehungsweise des Göttlichen, symbolisiert der Spiegel die wechselseitigen Beziehungen zwischen der physischen und metaphysischen Welt: Der Spiegel wird in diesem Kontext als speculum mundi, speculum vitae, speculum naturale oder speculum historae verstanden. Der wirkungsmächtigste Traditionsstrang geht auf Platons Höhlengleichnis zurück, das später in Richtung auf eine Gott-‐Welt-‐Seele-‐Spiegelung umgedeutet wurde.31 Im platonischen Höhlengleichnis halten die in der Höhle Gefesselten die Schatten, die sie sehen, und die Echos, die sie hören, für die Wirklichkeit. Um sich der Wahrnehmungstäuschung bewusst zu werden, muss zuerst das Wesen des Gesehenen erkannt werden, bevor eine Suche nach der „Quelle“ der Sinneseindrücke gewagt werden kann.32 Wie diese Schattenbilder sind auch Wasserspiegel als Metaphern zu verstehen, die auf ein Dahinter aufmerksam machen. „Der Mensch hat die Dinge wie Abbilder zu verstehen, die auf ein Urbild verweisen.“ Zuerst muss das Wesen der Dingwelt erkannt werden, ehe der Mensch die dahinter liegende Ideenwelt erfassen kann.33 Erblickt man demzufolge das eigene Spiegelbild im Wasser, soll zunächst das „Wesen“ der Erscheinung im Wasser erforscht werden, bevor die Quelle der Spiegelung und somit das „Urbild“ erfasst werden kann: „Im Spiegel des Wassers erkennst du dein Gesicht und im Spiegel deiner Gedanken erkennst du dich selbst.“34 1.3.2. Unio mystica im Mittelalter Die Vorstellung der sich in Gott spiegelnder Seele und der sich in der Seele spiegelnden Gottes zieht sich vor allem durch die mittelalterliche Mystik. Das Spiegelsymbol wird im Mittelalter zum Topos für die Erfahrung der Einheit zwischen Gott und Mensch, der unio 30 Vgl. Platon, Alkibiades 132d-‐133c; Plotin, Enneaden VI, 4, 10 ( Vgl. Metzler Lexikon
literarischer Symbole, S. 357) 31 Vgl. Drynda: Spiegel-‐Frauen, S.21. 32 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 27 33 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 27 34 http://www.bibelwissenschaft.de/online-‐bibeln/gute-‐nachricht-‐ bibel/bibeltext/bibel/text/lesen/stelle/20/270019/270019/ch/98e46dad0fa6abb116171329f 3bac430/
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mystica. Der Spiegel wird somit zum Symbol für die Offenbarung einer höheren, verborgenen Wirklichkeit und Gott/Jesus wird zum Spiegel der Ewigkeit, zum speculum aeternitatis. Der Spiegel zeigt dem Menschen also das, was er nicht mit seinen Sinnen erfassen kann, was nicht in Erscheinung tritt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“35 Außerdem wird der Mensch sich im Gottesspiegel seiner Mängel bewusst, die ihn vom Ideal Gottes trennen, eine Differenz, die der Mensch verringern soll.36 Der Spiegel wird in diesem Kontext zum Symbol der Erforschung, der Erkenntnis und Selbsterkenntnis. Doch Gottes Spiegel auf Erden zeigt nur ungenaue Umrisse, es bedarf einer möglichst reinen Seele, damit Gott sich darin spiegeln kann.37 Vorbild für die makellose Spiegelung, die speculum sine macula, ist die Spiegelung, wie sie von der Gottesmutter Maria verkörpert wird, „die als reiner Spiegel der Ort ist, an dem die Welt sich in Gott zurückspiegelt und so das eigene Vorgehen spiegelnd wiederholt.“38 1.3.3. Der Spiegel in der erkenntnistheoretisch geprägten Phase der deutschen Kulturgeschichte Mit dem Beginn der Neuzeit rücken das Ich und die Darstellung des Erkenntnisvorganges immer weiter ins Zentrum des Interesses.39 Beispiele aus der philosophischen Theoriebildung wie etwa im Platonismus, Idealismus oder dem aristotelisch ausgerichteten Rationalismus zeigen, dass das Spiegelmodell eine zentrale Stellung bei der Darstellung philosophischer Erkenntnistheorien einnimmt. Johann Gottlieb Fichte (1762-‐1814) nutzt die mit der Spiegelmetapher verwandte Metapher des Auges40, um den Vorgang der Reflexion, einen wichtigen Schritt hin zum Selbstbewusstsein, zu veranschaulichen.41 Bei Fichte steht das Auge nicht für das 35 Luther, Martin: 1. Korinther: Das Hohelied der Minne. Kapitel 13, 12. http://www.bibel-‐
online.net/buch/luther_1912/1_korinther/13/ 36 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 26. 37 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 27. 38 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 27. 39 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 30. 40 Das Auge kann sowohl Gegenstände der Umwelt als auch das eigene Sehen wahrnehmen. 41 Vgl. Peez, Erik: Die Macht der Spiegel. Das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik und Romantik. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris: Peter Lang Verlag 1990, S. 200-‐204.
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gewöhnliche Sinnesorgan, sondern fungiert als Chiffre für das geistige Sehen. Das Auge ist bei Fichte nicht auf ein Objekt gerichtet, sondern auf sich selbst gewandt, es ist „ein sich selber sehendes Auge.“42 So verweist die Augenmetapher auf das Selbstbewusstsein des Menschen. Fichte kennzeichnet das sich selber sehende Auge in deutlicher Abgrenzung von der Reflexion, die er durch die Metapher eines sich spiegelnden Subjekts darstellt. Spiegel im Sinne von Rückspiegelung ist identisch mit Reflexion, Zurückwerfen, während das sich selber sehende Auge auf sich selbst bezogen ist.43 Die Vorstellung vom Spiegel der Augen, welche ebenfalls auf Platon zurückgeht, durchläuft einen ähnlichen Wandlungsprozess wie das Spiegelbild. Wurde das Auge traditionell nach platonischen Sehenstheorien als Spiegel der Seele aufgefasst, so tritt nun das Bild der Spiegelung in den Augen des Geliebten für die Beziehung zweier Menschen zueinander in den Vordergrund.44 Bereits die im Altertum verwendete Bezeichnung für die/den Geliebte(n) ocule mi verweist auf diese Verwendungsweise. In zahlreichen literarischen Texten wird das Augenmotiv zur Darstellung der Beziehung zu einer geliebten Person verwendet. So nutzt unter anderem E.T.A. im „Sandmann“45 das Motiv: Als Nathanael die Automatenfrau Olimpia das erste Mal richtig betrachtet, empfindet er ihre Augen als starr und ohne jegliche Sehkraft, „als schliefe sie mit offenen Augen“46, so dass es ihm unheimlich wurde. Auch nach dem Streit mit seiner Verlobten Clara, sieht er sie trotz des schönen Wuchses nur als „steife, starre (...) Bildsäule“. Sein Blick verändert sich erst durch den Erwerb eines Perspektivs, „das die Gegenstände so rein, scharf und deutlich dicht vor die Augen rückte“: Als er Olimpia nun mit Hilfe des Perspektivs beobachtet, verliebt er sich in sie. Die Beziehung zu einer anderen Person in Verbindung mit dem Spiegelsymbol und deren Bedeutung für das Individuum greift auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-‐ 1831) auf. Letzterer zeigt in der „Phänomenologie des Geistes“47, dass das menschliche Selbstbewusstsein eine „gedoppelte Bedeutung“ hat. Zunächst verliert sich das Individuum, wenn es sich als „anderes Wesen“ vorfindet, doch schließlich erkennt es 42 Hammacher, Klaus; Schottky, Richard; Schrader, Wolfgang H. (Hrsg.):Fichte-‐Studien. Beiträge
zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie. Band I. Amsterdam: editions Rodopi 1990, S. 64. 43 Vgl. Fichte-‐Studien I, S. 65. 44 Vgl. Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 22. 45 Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann. Suhrkamp Verlag 2003. 46 Hoffmann, E.T.A.: Der Sandmann. Suhrkamp Verlag 2003. 47 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Werke. Bd. 3. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970.
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„sich selbst im Anderen“. Unter dieser Bewegung des Selbstbewusstseins in der Beziehung auf ein anderes Selbstbewusstsein begreift Hegel die „Begierde“ nach Anerkennung.48 Diese Begierde kann jedoch, Hegel zufolge, nicht befriedigt werden, da das „Tun des Einen“ dem „Tun des Anderen“ stets gegenübersteht. Die Begierde des Einen richtet sich auf die Begierde des Anderen und wird somit zur Begierde des Anderen, so dass jeder versucht das Anderssein des Anderen einzudämmen, ein Teufelskreis, der nur durch den Tod des einen aufgelöst werden kann.49 Hegel beschäftigt sich zudem mit der Reflexion des Selbstbewusstseins und erläutert, inwiefern das Subjekt seine „schlechte Subjektivität“ überwinden muss, um zu einer „allgemeinen Subjektivität“ zu gelangen, und somit den Gegensatz von Subjekt und Objekt zu überwinden. Doch bei Hegel wird lediglich in der Sekundärliteratur die Spiegelmetapher genutzt, um sein Erkenntnismodell zu veranschaulichen: „Die Philosophie versöhnt das Selbsterkennen mit dem Absoluten, das in der Geschichte zu sich selbst kommt. Der Geist schaut im Spiegel der Geschichte sich selber an.“50 So greift unter anderem Lacan die Hegelsche Dialektik der Begierde auf und bringt sie in Verbindung mit dem Spiegelstadium.51 Ihm zufolge ist es der Augenblick des Spiegelns, der „das ganze menschliche Wissen in die Vermittlung durch das Begehren des anderen“ umkippen lässt.52 Bei Hegel wird vereinfachend dargestellt unter folgenden Schritten unterschieden, die ein jedes Selbstbewusstsein spiegelnd durchlaufen muss: außer sich kommen – sich selbst verlieren (anderes Selbst finden) – anderes Selbst aufheben (sich selbst im anderen Selbst finden) – Aufheben des Anderssein – anderes Selbst aufheben (sich seines Selbsts gewiss werden) – sein Selbst im anderen aufheben – Rückkehr zum eigenen Selbst – sich selbst finden – das andere Selbst freilassen und für sich selber bestehen lassen.53 Im Dialektischen Materialismus nutzen Karl Marx und Friedrich Engels die Widerspiegelungstheorie, nach der sich die Einwirkungen der Außenwelt im Kopf des 48 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 27. 49 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 27. 50Konersmann, Ralf: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Frankfurt am Main: Fischer
1991, S. 21. 51 Vgl. 2.2. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium 52 Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Schriften I. Weinheim/Berlin: Quadriga 1986, S. 68. Nach: Pagel, S. 27. 53 Vgl. Phenomenological Approaches to Self-‐Consciousness. http://plato.stanford.edu/entries/self-‐consciousness-‐phenomenological
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Menschen spiegeln.54 Zwar gehen letztere von Hegels „Phänomenologie des Geistes“ aus, doch ist diese Theorie dem Hegelschen Denken entgegengesetzt, da das Subjekt-‐Objekt-‐ Verhältnis hier vom Objekt bestimmt ist und nicht wie bei Hegel vom Subjekt.55 Lenin veranschaulicht diesen Gedanken folgendermaßen: Das gesellschaftliche Bewusstsein spiegelt das gesellschaftliche Sein wider - darin besteht die Lehre von Marx. Eine Widerspiegelung kann eine annähernd genaue Kopie des Widergespiegelten sein, aber es wäre unsinnig, hierbei von Identität zu sprechen. Das Bewusstsein spiegelt überhaupt das Sein wider – das ist die allgemeine These des ganzen Materialismus. Es geht nicht an, ihren direkten und untrennbaren Zusammenhang mit der These des historischen Materialismus: das gesellschaftliche Bewusstsein spiegelt das gesellschaftliche Sein wider, nicht zu sehen.56
Der Spiegel liegt demzufolge innerhalb des Bewusstseins und die Spiegelmetapher stellt in diesem Kontext die Möglichkeit der Selbsterkenntnis dar, welche die Voraussetzung und das Ziel der höchsten Erkenntnis ist.57 1.3.4. Die Spiegelmetapher nach dem „linguistic turn“ Nach dem „linguistic turn“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, der die Wendung zur Sprache in der Philosophie und somit das Ende der erkenntnistheoretisch geprägten Phase der europäischen Kulturgeschichte bedeutet, verliert die Spiegelmetapher als Mittel zur Veranschaulichung philosophischer Denkmodelle ihren Wert. Lag das Ziel jedes erkenntnistheoretischen Modells darin, hinter den Spiegel des Bewusstseins zu gelangen, so wird dieses Ziel von dem Versuch abgelöst, alle Phänomene durch Sprache zu erfassen.58 Doch hat der Spiegel als Symbol Eingang in andere Bereiche des Lebens gefunden, wie etwa in die Naturwissenschaften, wo der Spiegel als Metapher umfunktioniert wird. So bezeichnet man seit der Antike, vor allem im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, 54 Vgl. Engels, Friedrich: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen
Philosophie. In: Marx, Karl; Engels, Friedrich: Werke. Bd. 21. Berlin: Dietz Verlag 1973. S. 259-‐ 307. Hier: S. 281-‐281. Nach: Millner: S. 32. 55 Vg. Millner: Weltenspiegel, S. 32. 56 Lenin, Wladimir I.: Materialismus und Empiriokritizismus. Kritische Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie. Berlin: Dietz Verlag 1952, S. 314. Vgl. Millner, S. 32. 57 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 32. 58 vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 33.
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als Spiegel (speculum) eine Zusammenstellung von Texten, die es erlaubt, einen bestimmten Lebensbereich wie etwa Recht, Moral, Religion zu überblicken, um so den gegebenen Zustand mit dem Soll-‐Zustand zu vergleichen: Dies ist vergleichbar mit einem prüfenden Blick in den Spiegel, daher die Bedeutungsübertragung. Somit wird einerseits die Abbildfunktion und andererseits der moralische Auftrag des Spiegels betont: Der Spiegel „reflektiert nicht einfach die Welt, er wird immer wieder der Welt vorgehalten.“59 So wird das inventarisierte Wissen über die Welt bis zum 17. Jahrhundert als „Weltenspiegel“ aufgefasst, bevor die Bezeichnung speculum durch den Begriff „Enzyklopädie“ abgelöst wird.60 Noch heute findet man den Begriff „Spiegel“, der auf die Bezeichnung speculum zurückzuführen ist, in Form von Zeitungstiteln wie etwa beim deutschen Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ oder bei der britischen Tageszeitung „Daily Mirror“. Die Spiegelmetaphorik ist unter anderem deshalb so interessant, weil sie ambivalent ist. Spiegelung kann sowohl die direkte Wiedergabe als auch Verzerrung und Umkehrung eines Bildes bedeuten. Im Empirismus und Positivismus dient der Spiegel als „Prothese“ da er eine Erweiterung der visuellen menschlichen Erfahrung sein kann,61 doch somit verliert das Abbild für den Menschen ebenfalls an Kontrollierbarkeit. Auf der anderen Seite ist ein Spiegelbild aber immer an die Anwesenheit des abgebildeten Subjektes gebunden. Diese Ambivalenz des Spiegels macht ihn bis heute zu einem der wichtigsten Instrumente der Magie, da er sowohl wahrhaftige Wiedergabe als auch Täuschung bedeuten kann. Wir schenken dem, was wir im Spiegel erkennen, Glauben, auch wenn es sich um eine Verzerrung und Vortäuschung handelt.62 1. 3. 5. Magische Spiegel Als Sinnbild des Wahren kann der Spiegel also gleichzeitig zum Sinnbild des Falschen werden. Da auf das, was der Spiegel uns zeigt, nicht immer Verlass ist (vor allem bei 59 Matt, Peter von: Klar wie je und längst erblindet? Zum Problem der Spiegelbildlichkeit von Literatur. In: Medium und Maschine. Über das Zeitgemäße in der Literatur. Hg. v. Heckmann, Herbert; Dette, Gerhard. Göttingen: Wallenstein 1994, S. 47. 60 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 34. 61 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 34. 62 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 36.
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konvexen, konkaven Spiegel usw.), da wir uns diesbezüglich nicht auf unsere Sinne verlassen können, jedoch Klärungsbedarf für diese Tatsache besteht, wurde in der Vergangenheit oft das Magische als Erklärung herangezogen. So hat bereits Hartlaub darauf verwiesen, dass die Eigenschaften und Gaben, welche dem Spiegel vom Glauben zugeschrieben werden, ein „ungeheures Gebiet“ umfassen.63 Aufgrund dieser Unüberschaubarkeit sollen im Folgenden nur die Verwendungsweisen von „magischen Spiegeln“ im Fokus stehen, die für die europäische Literaturgeschichte von Belang sind. Sowohl in Sagen und Mythen als auch im Aberglauben der Völker rund um den Globus taucht der Spiegel als Mittel zur Veranschaulichung mysteriöser Phänomene oder als Instrument zum Kampf gegen das Böse auf. Dem Spiegel wird hierbei eine besondere Machtposition zugeschrieben, da er imstande ist, Bilder der Wirklichkeit zurückzuwerfen, aber auch einzufangen.64 Im Volksglauben deutet ein zerbrochener Spiegel auf ein bevorstehendes Unheil hin, ganze Völker haben Angst vor der Erscheinung eines Toten oder gar des Teufels im Spiegel. Dem hat man versucht entgegenzuwirken, indem alle Spiegel im Haus eines Verstorbenen verhängt wurden.65 Diese Angst geht darauf zurück, dass das Beschwören besonderer Geister im Zauberspiegel, um diese auf das dunkle hin zu befragen, lange Zeit ein häufiges Phänomen darstellte. Während dem Spiegel bereits im Volksglauben die unterschiedlichsten Bedeutungen zugeschrieben werden, werden letztere im Aberglauben mit übernatürlichen, mysteriösen Kreaturen (Dämone, Vampire usw.) in Verbindung gebracht. So haben Vampire kein Spiegelbild, da sie der Welt der Toten angehören66: Das fehlende Spiegelbild wird hier mit der Seelenlosigkeit assoziiert. In Mythen dient der Spiegel aber andererseits oft als Waffe gegen eine Bedrohung in Form eines Dämons oder Monsters. Der Spiegel fungiert als Schutzschild, das alles Verwünschte in sich aufnimmt. Diese Verwendungsweise des Motivs hat unter anderem Eingang in die antike Mythologie gefunden. Perseus, der Sohn des Göttervaters Zeus, bezwingt die furchterregende und unheilbringende Medusa, indem er ihr mit seinem Bronzeschwert 63 Vgl. Hartlaub, G.F.: Zauber des Spiegels. Geschichte und Bedeutung des Spiegels in der Kunst.
München: R. Piper & Co. Verlag 1951, S. 21f. 64 Vgl. Drynda: Spiegelfrauen, S. 18. 65 Vgl. Drynda: Spiegelfrauen, S. 18. 66 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 51.
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ihr eigenes Spiegelbild zeigt. Durch den Anblick ihrer eigenen Augen wird die sterbliche unter den Gorgonen versteinert, sie wird mit ihren eigenen Waffen geschlagen.67 Auch die Seele des Dionysos, unter anderem der Gott der Fruchtbarkeit und Ekstase, wird dem Mythos nach von den Titanen in einem Spiegel gefangen. Letzterer soll seine eigene Seele im Spiegel entdeckt haben, eine Erfahrung, die ihn sein kindliches Leben kosten sollte.68 In dem Märchen „Schneewittchen“ hat der Spiegel magische Eigenschaften, da er allwissend ist, und in „Alice im Wunderland“ ermöglicht der Blick hinter den Spiegel den Eintritt in eine andere Welt. Diese unterschiedlichen Verwendungsweisen des Motivs haben etwas gemeinsam: Der Spiegel „öffnet Schleusen zu einem Bereich, den wir unter die Oberfläche des Bewusstseins gebannt wissen wollen, da er sich der rationalen Kontrolle entzieht. Er ist schonungslos in dem, was er zeigt, und keiner kann ihm etwas verheimlichen.“69 Diese Hauptbedeutung des Motivs, welche auf eine lange Tradition zurückblickt, hat bis heute die Verwendung des Spiegels als literarisches Motiv beeinflusst. 1.3.6. Der Spiegel als Symbol des Hochmuts, der Eitelkeit und des Todes: Der Narziss-Mythos70 Neben der Homerischen Hymne „An Demeter“ ist der Mythos des römischen Dichters Ovids (43 v. Chr. -‐17 n. Chr.) von Narziss und Echo für die literarische Symbolbildung des Spiegels (und der Narzisse) maßgeblich geworden: Narziss, der die Liebe der Nymphe Echo verschmäht, stirbt, weil er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt.71 Sterbend verwandelt er sich eine Narzisse, die dem Jüngling insofern entspreche, als „sie als schön wie steril, ebenso attraktiv wie giftig und isoliert gilt; sie blüht nur kurz im Frühling, trägt keine Früchte und vertrockne ebenso schnell.“72 Der Jüngling entdeckt im Gebirge eine Wasserquelle und macht halt, um seinen Durst zu stillen. Als er beim Trinken das eigene Antlitz auf der Wasseroberfläche gespiegelt sieht, 67 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 27. 68 http://www.die-‐goetter.de/Dionysoskult 69 Millner: Weltenspiegel, S. 53. 70 Im Folgenden soll der Narziss-‐Mythos kurz angerissen werden, bevor zur eigentlichen
Interpretation nach Freud übergangen wird. Siehe 2.1. Sigmund Freud: Psychoanalyse und Narzissmus 71Vgl. Ovid: The Metamorphoses. Book III: 402-‐510. Vgl. http://poetryintranslation.com/PITBR/Latin/Metamorph3.htm#_Toc64106192 72 Menninghaus, Winfried: Das Versprechen der Schönheit. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 33. Vgl. Drynda, S. 26.
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ist er so von diesem fasziniert, dass er versucht einszuwerden mit ihm als „Liebender und Geliebter“. Als er jedoch erkennt, dass die Liebe, die er dem Spiegelbild entgegenbringt, sich selbst gilt, erscheint ihm die eigene Identität auf einmal fremd: „Mein ist, was ich ersehne“/“Oh, wenn ich doch von deinem eigenen Leib mich zu trennen vermöchte!“ Dichter und Denker vieler Epochen haben sich mit dem Mythos beschäftigt und auf die zentrale Bedeutung der Spiegelung verwiesen: Narziss wird bei Ovid sowohl optisch im Wasser als auch akustisch in Echos Worten gespiegelt, da diese eine Wiederholung seiner eigenen Äußerungen sind. So wird er gleich in doppelter Weise auf seine eigene Persönlichkeit zurückgeworfen73. Er verliebt sich schließlich in sein eigenes Abbild und verstrickt sich so tief in diese Leidenschaft, dass er für die Vereinigung mit seinem Objekt der Liebe, seinem Spiegelbild, den Freitod als einzigen Ausweg sieht. Als er im Objekt seiner Liebe sich selbst erkennt, wird ihm die Unerfüllbarkeit seiner Liebe bewusst und er findet keinen anderen Ausweg als den Tod, damit er von seinem Leid, bedingt durch diese unerfüllte Liebe, erlöst wird. Dabei ist er sich wohl bewusst, dass dies auch die Vernichtung des ersehnten Spiegelbildes bedeutet: „Doch jetzt sterben wir beide, vereinigt in einzigem Hauche.“ Somit erfüllt sich der Fluch der Nymphe Echo, deren Liebe er zuvor abgewiesen hatte. Alexandra Millner verweist auf die Tatsache, dass das Spiegelbild an sich in dem Kontext wertlos erscheine, denn „eigenes Wesen gebricht ihm: mit dir erscheint es und dauert“.74 In der Erzählung Ovids existiert das eigene Spiegelbild nur so lange wie Narziss sich ihm zuwendet und kann nur bis dahin als Lebensmotor aufgefasst werden. Der Versuch einer Verschmelzung des Subjekts mit dem Spiegelbild führt zu einer „Auflösung des Subjekts, das nur im Verhältnis zu einem Gegenüber existieren kann.“75 So kann das Spiegelbild auch als Lebenszeichen verstanden werden, da es „mit der körperlichen Existenz kommt und verschwindet“.76 Da Narziss seit der Ovid-‐Renaissance im 12. Jahrhundert als „der in Selbstvergottung von Gott abgefallene Mensch“ verstanden wird77, wird das Prinzip der Selbstverliebtheit 73 Vgl. Millner, Alexandra: Spiegelwelten.Weltenspiegel. Zum Spiegelmotiv bei Elfriede Jelinek,
Adolf Muschg, Thomas Bernhard, Albert Drach. In: Wiener Arbeiten zur Literatur. Bd. 19, hg von Schmidt-‐Dengler. Wien: Braumüller 2004, S. 37 74 Ovid: Metamorphoses, 435. Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 38. 75 Millner: Spiegelwelten, S. 38. 76 Millner: Spiegelwelten, S. 38. 77 Vinge Louise: The Narcissus Theme in Western European Literature up to the Early 19th Century. Lund: Gleerup 1967.
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seitdem mit Todsünden wie Eitelkeit, Sinnlichkeit und Hochmut (Philantia, Luxuria, Superbia) in Verbindung gebracht.78 In der Renaissance wird der Narziss-‐Mythos zudem als Warnung vor eitler Selbstverzauberung des Künstlers eingesetzt. Man konzentriert sich auf die Vorstellung, dass Narziss selbst der Dichter sei, der sich in seine Kunst verwandele.79 Bis in die Gegenwart konzentriert man sich auf zwei Deutungsstränge des Mythos’. Zum einen wird Narzissmus positiv konnotiert: Das Selbstbewusstsein des Ich wird demzufolge durch die vollkommene Vereinigung mit dem Spiegelbild bis hin zur Partizipation an der Einheit des Universums erweitert.80 Häufiger findet sich jedoch der Deutungsansatz, dass die Anzeichen von Narzissmus die Unfähigkeit des Subjekts, zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen, zeigen. Ovids Erzählung vom selbstverliebten Narziss hat nicht nur zahlreiche Künstler beschäftigt, sondern wurde auch zum Forschungsobjekt der Wissenschaft: der Psychoanalyse.
2. Der Spiegel und die Psychoanalyse 2.1. Sigmund Freud: Psychoanalyse und Narzissmus Die Neuentdeckung narzisstischer Momente in Verbindung mit dem Spiegelmotiv in der Literatur des Fin de Siècle fällt mit der Entstehung der Psychoanalyse zusammen und so findet das literarische Motiv „Eingang in das theoretische Basisinstrumentarium der Ich-‐ Psychologie. Von daher wird es als Darstellungsmuster psychischer und psychotischer Eigenschaften wiederum in die Literatur reintegriert.“81 Um Freuds Theorie des Narzissmus nachvollziehen zu können, soll zunächst von den zentralen Freudschen Begriffen und den grundlegenden Hypothesen seiner Psychoanalyse ausgegangen werden.
78 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 39. 79 Vgl. Daemmrich, Horst S./Daemmrich Ingrid, G.: Themen und Motive in der Literatur: ein
Handbuch. Tübingen, Basel: Francke 1995, S. 263. 80 Vgl. Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 26. 81 Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 27.
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2.1.1. Die psychische Persönlichkeit : Drei psychische Instanzen82 Grundlegend für Freuds Psychoanalyse ist die Annahme, dass es drei psychische Instanzen gibt, welche für psychisches Geschehen verantwortlich sind und somit die Persönlichkeit eines Menschen prägen: die Triebe (ES), die bewusste Persönlichkeit (Ich) sowie das Gewissen (Über-‐Ich). •
Das Es
Das nach dem Lustprinzip funktionierende Es versteht Freud als angeboren, es ist das früheste psychische System. Es handelt sich hierbei um das Unbewusste, welches bei Freud v.a. aus Sexualtrieb sowie aus verdrängten Erlebnissen, Wahrnehmungen und Wünschen besteht. Neben dem Sexualtrieb (Eros) wird das Es von Todes-‐ und Gewalttrieben (Thanatos) beherrscht. Wesentlich ist, dass das Es als Sitz des Trieblebens der unbewusste Teil der Seele ist. „Das Es ist mit einem Hexenkessel vergleichbar: einem Konglomerat von Triebregungen, Anlagen, Wünschen, Gefühlen, Strebungen ohne Logik, ohne Moral, ohne Sinn für Ordnung und Maß, ohne Rücksicht sogar auf die Selbsterhaltung, einzig dem Bestreben nach Lustgewinn und Unlustvermeidung verpflichtet.“83 •
Das Über-Ich
Triebwünsche können in einer Kultur nicht realisiert, sondern müssen unterdrückt, bzw. verdrängt werden. Dieser Prozess wird durch das sogenannte Über-Ich hervorgerufen, welches im Laufe der kindlichen Entwicklung als ein Gegenpart zum Es entsteht. Als kontrollierende, mahnende und strafende Instanz gilt es als das Gewissen des Menschen. Das Über-Ich spricht Verbote und moralische Gesetze aus, ohne die eine Kultur niemals dauerhaft existieren könnte. Freud sieht in dieser Instanz die Verinnerlichung von Normen und Werten der Gesellschaft, welche vor allem durch die elterliche Erziehung vermittelt werden.84 •
Das Ich
Mit der Kategorie des Ichs meint Freud die bewusste Persönlichkeit, den Führer durch die Realität. Seine Aufgabe ist es, zwischen Es, Über-Ich und der Außenwelt zu 82 Vgl. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. Hg. v. Bayer, Lothar. Reclam 2013. 83 http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, S. 6. 84 http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, S. 6.
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vermitteln. Dabei befindet es sich dauerhaft in Konflikt mit den Ansprüchen des Es, den Befehlen des Über-Ichs als auch den Forderungen der Realität. Zum Ich gehören laut Brühlmeier die Sinneswahrnehmung, die Motorik sowie alle bewussten Denk-‐ und Willensvollzüge und letztere Instanz entscheidet, welche Objekte mit sexueller Energie (Libido) besetzt werden. •
Abwehr, Verdrängung, Neurose und Projektion
Brühlmeier verweist darauf, dass der Mensch Mechanismen entwickelt hat, um die für ihn inakzeptablen Impulse des Es abzuwehren, da er nicht bereit ist, die besagten Inhalte bewusst werden zu lassen.85 So versucht der Mensch oft Triebe und Wünsche des Es zu verdrängen. „Bei einer Verdrängung handelt es sich um die unbewusste Unterdrückung eines Triebbedürfnisses (z.B. Sexualtrieb, Aggressionstrieb) oder eines irgendwie belastenden Impulses aus dem Es (z.B. Minderwertigkeits-‐, Schuld-‐, Scham-‐, oder Angstgefühle).“86 Nach Freud handelt es sich also hierbei um einen Vorgang, der vom Ich ausgeführt wird, jedoch nicht unbedingt bewusst wahrgenommen wird. Dabei wird das Verdrängen erst zum psychischen Problem, wenn es ein zu großes Ausmaß annimmt, sich jeder Bewusstmachung entzieht und somit als Ausdruck einer Neurose gelten kann. Allgemein versteht Freud unter Neurose ein psychisches Leiden, das als Resultat einer unvollständigen Verdrängung von Es-‐Impulsen durch das Ich zu sehen ist.87 Der verdrängte Impuls bricht in das Bewusstsein des Menschen ein, das Ich versucht es erneut abzuwehren, indem es ein neurotisches Symptom ausbildet (z.B. ständiges Händewaschen, um verdrängte Schuldgefühle nicht aufkommen zu lassen). Eine Heilung des neurotischen Menschen kann für Freud nur durch die Bewusstmachung der verdrängten Wünsche erzielt werden. Auch müssen die destruktiven Wünsche in produktives Gestalten umgewandelt werden, z.B. durch die Kunst.
85 http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, S. 8. 86 Vgl. http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, S. 8. 87 Vgl. http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, S. 8.
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Bei der Projektion hingegen werden beispielsweise unbewusste Triebimpulse, Wünsche, Schuldgefühle auf andere Objekte (Personen, Gegenstände, Situationen) übertragen.88 Brühlmeier nennt als Beispiel die Situation, wenn Schüler tuscheln und ein Lehrer, der seine Angst vor Schülern verdrängt hat, deren belangloses Getuschel als Komplott gegen seine Person interpretiert. Projizieren wir einen unbewussten Wunsch oder eine unbewusste Angst auf eine Situation oder einen Gegenstand, reagieren wir oft besonders emotional, da wir an diesem Objekt mehr zu erkennen glauben, als das, was es eigentlich bedeutet. •
Der Traum
Im Oktober 1899 erscheint erstmals Freuds Buch „Die Traumdeutung“, welches er in den darauffolgenden Jahren in acht jeweils veränderten Auflagen veröffentlichen lässt.89 Insgesamt kann man festhalten, dass der Traum für Freud die Erfüllung eines Wunsches darstellt. Handelt es sich um einen verdrängten Wunsch, so ist der Traum als Manifestation des Es aufzufassen. Verdrängte Wünsche sowie auch Ängste, Triebe und Leidenschaften drücken sich häufig in Träumen aus, da das Ich während des Schlafens „geschwächt“ ist. „Das Es nützt gewissermaßen die Gunst der Stunde und dringt mit seinen Inhalten ins Traumbewusstsein und –via Rückerinnerung an den Traum – ins Bewusstsein ein.“90 2.1.2. Freuds Theorie des Narzissmus 1914 veröffentlicht der wohl bis heute bekannteste und einflussreichste Psychoanalytiker seine Schrift „Zur Einführung des Narzissmus“91 und versucht, dieses psychologische Phänomen, das bis dahin als eine Perversion galt, zu veranschaulichen und in den Bereich der Normalität zu rücken. Er beruft sich bei seinen Ausführungen auf Otto Rank92 und behauptet, dass „eine als Narzissmus zu bezeichnende Unterbringung
88 Vgl. http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, S. 10. 89 Freud, Sigmund: die Traumdeutung. In der Fassung der Erstausgabe. Anaconda Verlag 2010. 90 http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, S. 22. 91 Vgl. Freud, Sigmund: Zur Einführung des Narzißmus. In: Gesammelte Werke. Bd. 10, Frankfurt
am Main: Fischer 1999, S. 137-‐170. 92 Vgl. Rank, Otto: Ein Beitrag zum Narzissmus. Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen. Bd. III, 1911.
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der Libido (...) eine Stelle in der regulären Sexualentwicklung des Menschen beanspruchen könnte.“93 Narzissmus ist Freud zufolge eine normale Entwicklungsphase in der Kindheit. Während des Aufbaus seines Egos (Ich), das in einer frühen Phase vom Es ununterscheidbar ist, sucht das Kind nach seinem Spiegel-‐Selbst. Sigmund Freud spricht in dem Kontext vom primären Narzissmus: Das Kleinkind richtet seine sexuelle Energie (Libido) ganz auf sich selbst und symbiotisch auf die Mutter, die als kein getrenntes Objekt erlebt wird. Zur gesunden Entwicklung des Kindes gehört, dass sich die Libido nach und nach auf Objekte der Außenwelt richtet. Das erste Objekt, das das Kind mit Libido besetzt, ist nach Freud die mütterliche Brust. Da das Kind die Erfahrung macht, dass letztere nicht immer verfügbar sein kann, entwickelt sich im Kind das Gefühl einer Scheidung zwischen ihm selbst und der Welt. Somit wird die Beziehung zur Mutter ab diesem Zeitpunkt ambivalent, da sie einerseits als nährend und befriedigend, andererseits als versagend empfunden wird. Zudem wird die infantile narzisstische Libido, im Normalfall, in einer späteren Entwicklungsphase des Kindes auf andere Menschen als die eigene Mutter übertragen. Wenn die Libido aber von der Welt zurückgezogen und auf das Ich zurückgelenkt wird, kann diese Regression auf den infantilen Narzissmus zu schweren psychotischen Erkrankungen führen. Freud spricht hier vom sekundären Narzissmus, ein Zustand, der vor allem nach enttäuschter Liebe oder Selbstwertkränkungen auftritt. Freud deutet den sekundären Narzissmus als Reaktion auf den in der ödipalen Rivalität mit dem Vater erworbenen Kastrationskomplex und das verlorene Paradies der Mutter-‐Kind-‐Einheit. Dieses Gefühl des Verlustes vom ursprünglichen Einheitsgefühl wird dadurch kompensiert, dass sich die Triebbefriedigung den anderen Personen entzieht und somit die Libido auf sich selbst richtet. Der sekundäre Narzissmus besteht in der „Rückwendung der von ihr zurückgezogenen Libido“94 auf das Ich und ist auf die Sehnsucht nach dem verloren gegangenen Gefühl der Einheit von Ich und Welt (primärer Narzissmus) zurückzuführen. Paranoide Wahnideen, Halluzinationen, schwere Depressionen, Hypochondrie, Schizophrenie usw. sind Freud zufolge alles narzisstische Zustände. 93 Freud, Sigmund: Zur Einführung des Narzißmus. Internationaler Psychoanalytischer Verlag,
1924. Vgl. https://archive.org/details/Freud_1924_Narzissmus_k 94 Laplanche, Jean; J.-‐B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 321.
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Auch leugnet das Ich gerne Kränkungen, die die eigene Souverinät verletzen, weil es „die in seiner Kindheit genossene omnipotente Selbstliebe nicht entbehren mag und ständig bemüht ist, sie in immer neuen Formen der Ich-‐Idealisierung wiederzugewinnen.“95 In Freuds Theorie des Narzissmus spielt das Spiegelbild an sich keine zentrale Rolle, da er sich auf das Prinzip der Selbstliebe, ausgehend vom Narzissmythos konzentriert.96 Trotzdem sind seine Überlegungen diesbezüglich für diese Arbeit von Belang, was sich bei der Interpretation der ausgewählten Spiegel-‐Gedichte zeigen wird. 2.2. Jacques Lacan: Das Spiegelstadium Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan (1901-‐1981) gilt zwar weder als Literaturwissenschaftler noch als Literaturtheoretiker, trotzdem wird seine Theorie des „Spiegelstadiums“ zur Interpretation zahlreicher literarischer Texte herangezogen. Lacan ist vor allem deshalb bekannt, weil er auf die Sprachtheorien von Ferdinand de Saussure und Roman Jakobson zurückgreifend die psychoanalytischen Modelle und Theorien Sigmund Freuds neu formuliert hat.97 Anhand seiner Aussage „das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ will Lacan aufzeigen, dass die primäre Mutter-‐Kind-‐ Beziehung durch das Auftreten des Namens des Vaters beendet wird und dass das Kind sich von dem Moment an der symbolischen Ordnung der Sprache unterwerfen muss, wenn es seine Bedürfnisse formulieren möchte. So entsteht für Lacan gleichzeitig mit der Sprache das Unbewusste als „Begehren des Anderen", als „Urverdrängung" des Mangels, der durch den Austritt aus der „paradiesischen“ Mutter-‐Kind-‐Beziehung hervorgerufen wird. Ab diesem Zeitpunkt artikuliert sich laut Lacan das Unbewusste nun bei jedem Sprechen des Menschen, ein Phänomen, das man, so die Literaturwissenschaft, auch in literarischen Texten erkennen kann.98 Während Ferdinand de Saussure die Zeichentheorie geprägt hat, indem er das Zeichen von seinem Referenten abgekoppelt hat, geht Lacan einen Schritt weiter. Ihm zufolge kommt das Signifikat des Begehrens nicht zur Sprache, weil die Signifikanten der 95 Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 23. 96 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 42. 97 Vgl. https://www.uni-‐due.de/einladung/Vorlesungen/methoden/lacan.htm
98 Vgl. https://www.uni-‐due.de/einladung/Vorlesungen/methoden/lacan.htm
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Sprache des Unbewussten stets aufeinander verweisen wie in einem Zirkel. Revolutionär für die Verstehenstheorien sind Lacans Ausführungen in dem Sinne, dass sie das Subjekt als in der Sprache gefangen darstellen, „was eine Rekonstruktion von Autorschaft und Autorintention letztlich überflüssig macht (...)“.99 So bemühen sich Literaturwissenschaftler, die Lacans Theorie zur Interpretation literarischer Texte heranziehen, nicht um die Rekonstruktion der psychologischen Biographie eines Autors, sondern suchen im literarischen Diskurs das strukturelle System auf, in welchem die Signifikanten aufeinander verweisen. Für die vorliegende Arbeit soll aber eher Lacans Theorie der Ich-‐Bildung in Verbindung mit dem Spiegelstadium im Fokus stehen, da dieses Theorem für die ausgewählten Gedichte von Belang ist. Im Unterschied zu Freud konzentriert sich Jacques Lacan in seiner Theorie der Ich-‐ Bildung auf den Vorgang der Spiegelung selbst. Er hingegen ortet die wahre Subjektivität nicht wie Freud im bewussten Ich, sondern im Unbewussten. Seine These „Ich ist ein anderer“ zieht sich durch das gesamte Werk des strukturalistischen Psychoanalytikers. Doch wie können Zweifel aufkommen an der Identität unseres Ichs und inwiefern ist unser Ich nicht Ich?100 Lacan, der als Schüler Freuds gilt, wendet sich bei seiner Theorie der Ich-‐Bildung näher mit dem Vorgang der Spiegelung auseinander als dieser. 101 Das Spiegelstadium bezeichnet in der Theorie Jacques Lacans eine Entwicklungsphase des Kindes (6.-‐18. Lebensmonat), innerhalb der die Entwicklung des Ichs stattfindet. Lacan versucht mit dieser Theorie zu erklären, wie der Mensch Selbstbewusstsein entwickelt. Dieser Prozess der Ich-‐Konstruktion wird Lacan zufolge in drei Stufen vollzogen: •
In einer ersten Stufe nimmt das Kind sein Spiegelbild als ein reales Wesen wahr. Der Theorie zufolge fangen Kinder ab dem 6. Lebensmonat an, ihr eigenes Bild im Spiegel zu erkennen. Kinder reagieren in dieser Stufe mit einer "jubilatorischen" Geste der Verzückung auf diese Erfahrung und versuchen, sich auf diese Weise dem Bild anzunähern. Das Kind sieht sich hier zum ersten Mal als Ganzes, anstatt "zerstückelt" aus der Leibperspektive. Auf diese Weise konstituiert sich nach
99 Vgl. https://www.uni-‐due.de/einladung/Vorlesungen/methoden/lacan.htm 100 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 21. 101Vgl. Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der
psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Schriften I. Weinheim/Berlin: Quadriga 1986.
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Lacan die psychische Funktion des Ichs (frz. "je"), da das Kind anfängt, durch das im Spiegel erblickte Selbstbild ein Bewusstsein von sich selbst zu entwickeln. •
In einer zweiten Phase versteht das Kind nach und nach, dass die eigene Erscheinung im Spiegel nur ein Bild ist. So versucht es nicht mehr, eine Person hinter dem Spiegel zu finden, da es weiß, dass es sich nicht um ein reales Wesen handelt.
•
In der letzten Stufe erkennt das Kind schließlich, dass das Kind im Spiegel die eigene Person widerspiegelt: Es begreift, dass es sein eigenes Bild vor sich hat.
Wenn das Kind im frühen Alter von 6-‐18 Monaten in den Spiegel schaut, entwirft es zunächst ein imaginäres Bild von der Gestalt seines Körpers. Die körperlich-‐motorischen Fähigkeiten des Kindes sind in diesem Alter noch sehr mangelhaft und es ist auf weitgehende Hilfe von außen angewiesen. Der Blick des Kindes nimmt jedoch die Einheit des Bildes wahr, eine Einheit, die in der Realität noch fehlt, und setzt sie in Beziehung zum eigenen Körper, indem es die eigenen noch unbeholfenen Bewegungen mit denen im Spiegel vergleicht. Zu diesem Zeitpunkt setzt das Kind sein Ideal-‐Ich durch den eigenen Anblick im Spiegel. Das Spiegelbild zeigt ihm jene Präsenz und Einheit, die ihm seine körperliche Existenz noch nicht garantieren kann. Das Subjekt entwirft somit bei einem ersten eigenen Betrachten im Spiegel sein Ich als psychische Einheit.102 2.2.1. Das Spiegelbild: Entfremdung und Ich-Spaltung Um zurück zu der These Lacans „Das Ich ist nicht das Ich“ zu kommen: Dieses Erkennen im Spiegel ist laut Lacan zugleich ein Verkennen: Der Mensch sieht nicht sich im Spiegel, sondern eben nur sein Bild. „Das Ich der Spiegelerfahrung generiert sich auf imaginärer Basis.“103 Die Einheit des Ichs im Spiegel ist keine reale und somit ruft das Betrachten des eigenen Spiegelbildes ein „unbefriedigtes Begehren“ hervor. Der Spiegel ist der Garant und die Voraussetzung für diese Einheit. Wendet das Ich sich vom Spiegel ab, ist diese Einheit nicht mehr gegeben. Das Spiegelstadium geht daher auch mit der Erfahrung der Entfremdung einher und bewirkt eine Spaltung des Subjekts: Das Ich „antizipiert das Bild seiner Autonomie, um gleichzeitig an der Differenz von fiktiv-‐
102 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 23. 103 Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 25.
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imaginärer Einheit und faktischer Abhängigkeit eine Entfremdung zu erfahren.104 Unter anderem Ovids Narzissmythos sowie Hegels Ausführungen zeigen, dass es dem Ich unmöglich ist, sich in einem anderen zu spiegeln.105 Lacan unterscheidet deshalb zwischen zwei Formen des Ichs: dem Ich (je) und dem Ich (moi). •
Ich (je und moi): "Das Ich ist ein Anderer"
Das Ich (je) ist der unmittelbare Ausdruck des Ichs als eines anderen im Spiegel. Durch den Blick auf das eigene Ich aus der Außenperspektive erfährt das Kind sich als jemand, der von anderen gesehen werden kann. Somit entwickelt sich das soziale Ich („je social“) des Kindes. Umberto Eco sieht den Spiegel in dem Moment, in dem sich die Wendung zum
sozialen
Ich
abzeichnet,
als
„strukturelle
Wegkreuzung“,
als
„Schwellenphänomen“.106 Das Ich (moi) stellt den Ursprung der narzisstischen Identifikation des Ichs mit seinem Größen-‐Selbst dar und steht dem Ich (je) gegenüber, welches Lacan als das wahre Subjekt des Menschen betrachtet. Das Kind orientiert sich nach diesem Ich (moi), da es ihm als Ideal gilt, dem es sich anzunähern versucht, wobei dieses Ideal jedoch unerreichbar bleibt, da es "auf einer fiktiven Linie" situiert ist.107 Dem Spiegel kommt bei diesem Prozess eine entscheidende Funktion zu, da er den narzisstischen Charakter menschlicher Identitätsfindung zeigt: Das Individuum unterliegt der Illusion des Eins-‐sein-‐Wollens mit sich selbst als einem anderen im Spiegel.108 Wie bereits erwähnt wurden sowohl Freuds wie auch Lacans Theorien der Identitätsbildung seit ihrer Entstehung zur Interpretation literarischer Texte herangezogen. Doch die Spiegelmetapher hat zudem Eingang in unterschiedliche Abhandlungen zur Ästhetik an sich gefunden, welche im Folgenden veranschaulicht werden sollen.
104 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 31. 105 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 31. 106 Eco: über Spiegel, S. 28. 107 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 31. 108 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 31.
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3. Die Spiegelmetapher in der Ästhetik109 „In der Diskussion über das Wesen der Literatur wohnt die Spiegelmetapher so hartnäckig wie die Rose in der Liebeslyrik.“110 Die Verwendungsweisen der Spiegelmetapher in der Kunst und für das Wesen der Kunst gehen auf eine lange Tradition zurück. Dem mimetischen Konzept zufolge soll Kunst die Wirklichkeit so präzise wie möglich abbilden und die Natur somit nachahmen. Platons Aussage, die Kunst verdopple nur sinnlose Dinge, ähnlich wie ein Spiegel, und sei somit eine Kopie der Kopie, ein Abbild vom Urbild, hat dazu geführt, dass sie Kunst zusammen mit der Spiegelmetapher häufig entwertet wurde.111 Das Kunstwerk gilt als Abbild eines Gegenstandes, das selbst nur Verkörperung einer Idee ist und der Künstler wird als Nachbildner verstanden, der der Oberfläche der Dinge und den Sinneseindrücken erliegt.112 Am einflussreichsten war möglicherweise Aristoteles’ Kunstverständnis: Kunst als Mimesis ziele nicht auf ein bloßes Kopieren des Zufälligen, sondern solle das „Wahrscheinliche“ darstellen, sodass die freie Tätigkeit des Künstlers nicht ganz unterdrückt ist. Aristoteles’ Kunstauffassung war laut Schweppenhäuser unter anderem für die Kunsttheorie des Idealismus’, besser bekannt als Konstruktivismus, maßgebend.113 Die Verwendung der Spiegelmetapher in Bezug auf die Ästhetik hängt dabei immer eng mit den Denkweisen der jeweiligen Gesellschaftsformen zusammen. Da im Mittelalter und in der Renaissance davon ausgegangen wurde, es gäbe eine Entsprechung zwischen dem Mikro-‐ und Makrokosmos, lag die Funktion des Spiegels und damit auch der Kunst selbst darin, die als Gott verstandene Realität abzubilden. Seit der Renaissance wird das Kunstwerk als Spiegel der Natur aufgefasst. Dabei wird jedoch keine reine Reproduktion und Nachahmung der Oberfläche, sondern eine Nachschöpfung wichtiger Naturzüge angestrebt: Die Kunst zielt somit auf eine korrigierende Imitation.114 Schon Aristoteles hat in seiner „Poetik“ den Unterschied 109 Vgl Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 32. 110 Matt, Peter von: Klar wie je und längst erblindet? Zum Problem der Spiegelbildlichkeit von
Literatur. In: Medium und Maschine. Über das Zeitgemäße in der Literatur. Hg. v. Heckmann, Herbert; Dette, Gerhard. Göttingen: Wallenstein 1994, S. 37. 111 Vgl. Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 33. 112 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 55. 113 Schweppenhäuser, Gerhard: Ästhetik. Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Frankfurt am Main, New York: Campus 2007, S. 155. Nach: Drynda, S. 33. 114Vgl. Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 34.
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zwischen dem Dichter und dem Geschichtsschreiber betont: Während Letzterer eine nachschreibende Tätigkeit betreibt, geht es dem Dichter um das spezifische Abbilden der Wirklichkeit.115 Wie bereits erläutert wurde, zieht sich auch die Auffassung des Buchs als Spiegel durch sämtliche literarischen Epochen.116 Wurde die Spiegelmetapher bis zur Epoche der Aufklärung vor allem zur Darstellung äußerer Gegebenheiten genutzt, erfährt sie unter anderem mit Immanuel Kant (1724-‐ 1804) eine radikale Umdeutung: „Nach Innen gekehrt, wird (der Spiegel) zum Bild der Subjektivität.“117 Diese Verwendungsweise der Metapher wird vor allem für die Epoche der Romantik von Bedeutung sein. Nach Hegels Auffassung in seinen „Vorlesungen über die Ästhetik“118 hat die geschichtliche Situation, in der das Werk entstanden ist, immer einen Einfluss auf das Werk. Da er die Kunst erstmals als geschichtlich-‐kulturelles Phänomen sieht, rückt das Verhältnis von Literatur und Geschichte vermehrt in den Vordergrund: Kunst soll die Idee des Schönen in ihre geschichtliche Realität eingebunden zeigen. Somit kommt es wieder einmal zu einem paradigmatischen Wechsel. War der ästhetische Spiegel nach Innen gekehrt, „ändert (er) seinen Brennpunkt wiederum in Richtung Außen“119 , um die Gesellschaftsordnung widerzuspiegeln: „Die von der Ästhetik des 18. Jahrhunderts verschmähte Mimesis kehrt als soziale Mimesis triumphal zurück.“120 Der Subjektivität kommt in der Epoche der Romantik eine entscheidende Rolle zu. Der Spiegel dient nun nicht mehr ausschließlich dem Reflektieren des Äußeren, sondern wird zunehmend mit der Selbstreflexion des Künstlers und der Selbstreferentialität des Kunstwerks in Verbindung gebracht.121 Friedrich Schlegel gründet 1797 zusammen mit seinem Bruder August Wilhelm Schlegel die Zeitschrift Athenäum, welche von großer Bedeutung für die Kunstauffassung der Romantik sein sollte. Sie ist das Organ der Frühromantiker Schleiermacher, Novalis, Caroline Schlegel. Vor allem in den Fragmenten werden grundlegende Vorstellungen zu einer Poetik der Romantik formuliert, wobei vor allem das 116. Athenäums-‐Fragment 115 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 55. 116 Vgl. 1.3.4. Die Spiegelmetapher nach dem „linguistic turn“. 117 Vgl. Drynda, s. 34. 118 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 56. 119 Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 35 120 Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 35. 121 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 57.
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besondere Bedeutung für die Entwicklung poetologischer Vorstellungen erlangt. Diese sogenannte Progressive Universalpoesie fordert die Vermischung aller Gattungen, das Einbeziehen anderer Künste sowie der Philosophie, der Rhetorik und der Kritik. Indem die Universalpoesie sich möglichst vielen Bereichen des Lebens widmet, wird das Leben selbst zur Dichtung.. Der Dichter wird zu einem freien, schaffenden Genie, das sich von jeder Regelpoetik abwendet. 122 Zudem stellt diese progressive Universalpoesie laut Friedrich Schlegel eine unendliche Spiegelung dar: „Nur sie (die Poesie) kann gleich dem Epos ein Spiegel der ganzen umgebenden Welt, ein Bild des Zeitalters werden. Und doch kann auch sie am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügel der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“123
Auch sieht die progressive Universalpoesie die vielfache Reflexion und die Selbstreflexion als bedeutend an: „(...) so sollte wohl auch jene Poesie, die in modernen Dichtern nicht selten transzendentalen Materialien und Vorübungen zu einer poetischen Theorie des Dichtungsvermögens mit der künstlerischen Reflexion und Selbstbespiegelung (...) vereinigen, und in jeder ihrer Darstellungen sich selbst mit darstellen, und überall zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.“124
Der Spiegel ist dabei das Instrument, das diesen Prozess der Selbstreflexion und diese Form der Selbstdarstellung ermöglichen soll. Durch diese Kunstauffassung, die ihren Ursprung in der Epoche der Romantik findet, wird sich dann im Laufe des 20. Jahrhunderts die Funktion der Spiegelmetapher auch in Bezug auf die Ästhetik verändern. In der modernen, durch Intertextualität und Selbstreferentialität geprägten Kunst, wird die Spiegelmetapher überflüssig.125 Das literarische Kunstwerk bindet sich von der Wirklichkeit los und verweist ausschließlich 122
Vgl. Schlegel, Friedrich: 116. Athenäums-‐Fragment. In: Kritische Schriften und Fragmente (1798-‐1801). Hg. v. Behler, Ernst; Eichner, Hans. Studienausgabe. Bd. 2. Paderborn: Schöningh: 1988 123 Schlegel, Friedrich: 116. Athenäums-‐Fragment. In: Kritische Schriften und Fragmente (1798-‐ 1801). Hg. v. Behler, Ernst; Eichner, Hans. Studienausgabe. Bd. 2. Paderborn: Schöningh: 1988, S. 114-‐115. Nach: Millner, S. 58. 124 Schlegel, Friedrich: 116. Athenäums-‐Fragment, S. 127. Vgl. Millner, S. 58. 125 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 59.
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auf sich selbst beziehungsweise auf andere Kunstwerke. Der Begriff „Intertextualität“ wurde in dem Kontext von der bulgarisch-‐französischen Psychoanalytikerin und Kultur-‐ und Literaturwissenschaftlerin Julia Kristeva geprägt126:
„Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.“ Für Kristeva ist kein Text ein selbstgenügsames Gebilde. Jeder Text besteht aus einer Aneinanderreihung von Zitaten und ist als Kreuzungspunkt anderer Texte zu verstehen. Dabei sind Texte für Kristeva offen für unterschiedliche Interpretationen, von denen keine Endgültigkeit beanspruchen kann. Die Bedeutung des Textes kann daher nicht mehr vom Autor selbst bestimmt werden, sondern wird erst von der Interpretation hervorgebracht.127 Der literarische Text kann somit ausschließlich als Spiegel anderer Texte verstanden werden. Michael Scheffel hat zudem in „Formen selbstreflexiven Erzählens“128 veranschaulicht, inwiefern literarische Texte auf sich selbst verweisen und somit auch sich selbst spiegeln. Die wörtliche Wiederholung der Rahmen-‐ in der Binnengeschichte versteht er als mise en abyme, zum Beispiel wenn eine Figur ihre eigene Geschichte liest wie in Novalis’ Heinrich von Ofterdingen129: Die Titelfigur findet das Buch, das offensichtlich seine eigene Geschichte erzählt. Ähnlich wie die Rolle des Spiegels in der Diskussion um die Ästhetik hat sich auch die Verwendungsweise des Motivs in literarischen Texten gewandelt.
126 Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Literaturwissenschaft und
Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II. Hrsg. v. Jens Ihwe. Frankfurt am Main 1972, S. 345-‐375. 127 Vgl. Kristeva: Bachtin, S. 345-‐375. 128Vgl. Scheffel, Michael: Formen selbstreflexiven Erzählens. Eine Typologie und sechs exemplarische Analysen. Tübingen: Max-‐Niemeyer-‐Verlag 1997. 129 Vgl. Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Hrsg. von: Frühewald, Wolfgang. Reclam Verlag 1987.
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4. Die Rolle des Spiegels bei der Identitätsbildung in literarischen Prosatexten: ein Einblick Das Symbol des Spiegels und insbesondere der Spiegelbegegnung für innere Erfahrungen und dessen Bedeutung für die Identitätsbildung des Menschen zieht sich durch sämtliche literarischen Epochen und zeigt sich sowohl in mittelalterlichen als auch in zeitgenössischen Texten. Im Folgenden sollen nur einige Beispiele zur Veranschaulichung der Verwendungsmöglichkeiten des Motivs genannt werden. Dabei soll der Fokus auf der Literatur ab dem 18. Jahrhundert liegen, da die geplante Unterrichtssequenz die vor dieser Zeit entstandenen Texte nicht berücksichtigen wird. Nennenswert scheint in diesem Kontext Goethes Faust130, der nach dem „schaffenden Spiegel“ fragt. Die Titelfigur von Goethes Lebenswerk ist ein innerlich zerrissener Charakter. Der strebsame Gelehrte hat die Freuden des Lebens versäumt und auch seine angestrengten Forschungen sollten erfolglos bleiben. Ihn plagt das Gefühl weder grundlegende Erkenntnisse noch Ruhm oder Geld gewonnen zu haben. Faust erkennt die Unzulänglichkeit der Wissenschaft, ist jedoch nicht bereit, sich damit abzufinden. Er kennt nur ein Ziel: zu begreifen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“: „Ich, Ebenbild der Gottheit, das sich schon Ganz nah gedünkt dem Spiegel ew'ger Wahrheit, Sein selbst genoß in Himmelsglanz und Klarheit, Und abgestreift den Erdensohn; Ich, mehr als Cherub, dessen freie Kraft Schon durch die Adern der Natur zu fließen Und, schaffend, Götterleben zu genießen Sich ahnungsvoll vermaß, wie muß ich's büßen! Ein Donnerwort hat mich hinweggerafft.“131
Mephisto, der Teufel, mit dem Faust einen Pakt eingeht, nutzt den Visionen schaffenden Spiegel in der Hexenküche hingegen als Mittel für sein Gaukelbild (Helena als Verkörperung der Schönheit). Das eigentliche Sinnbild des Wahren wird hier zum 130 Goethe, Johann Wolfgang von: Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust. Hrg. von
Trunz, Erich. Beck Verlag 2010. 131 Faust: Der Tragödie Erster Teil. Nacht.
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Sinnbild des Falschen, da auf das, was der Spiegel zeigt, kein Verlass ist: Faust (welcher diese Zeit über vor einem Spiegel gestanden, sich ihm bald genähert, bald sich von ihm entfernt hat): „Was seh ich? Welch ein himmlisch Bild Zeigt sich in diesem Zauberspiegel! O Liebe, leihe mir den schnellsten deiner Flügel, Und führe mich in ihr Gefild! Ach wenn ich nicht auf dieser Stelle bleibe, Wenn ich es wage, nah zu gehn, Kann ich sie nur als wie im Nebel sehn! – Das schönste Bild von einem Weibe! Ist's möglich, ist das Weib so schön? Muß ich an diesem hingestreckten Leibe Den Inbegriff von allen Himmeln sehn? So etwas findet sich auf Erden?“132
Mit der Auflösung des christlichen Weltbildes im 18. Jahrhundert wird der Spiegel nicht mehr mit der Anwesenheit Gottes in Verbindung gebracht, sondern dient als Ausdruck menschlicher Subjektivität.133 Der Spiegel verweist immer weniger auf ein Urbild und nimmt häufiger auf die produktiven Fähigkeiten des Menschen Bezug. Das Spiegelbild deutet auf menschliche Beziehungen hin „und wird in dieser psychologisierten Funktion rasch zum Topos erklärt.“134 Das Auseinanderbrechen einer klar strukturierten Ständegesellschaft im Laufe des 18. Jahrhunderts hat zu einer Orientierungslosigkeit und Verunsicherung des Individuums geführt, da Letzteres nicht weiß, wie es mit den neuen ihm verfügbaren Freiheiten umzugehen hat.135 Die Suche nach der eigenen Identität wird somit zu einem Leitmotiv in der Kunst der Moderne. Da das eigene Spiegelbild bei der Herausbildung der Ich-‐Identität eine entscheidende Rolle spielt, rückt es zu Beginn der Neuzeit vermehrt ins Zentrum des Interesses. Doch den neuen Freiheiten des autonomen Individuums steht das Urteil der Gesellschaft gegenüber: „Die einst auf das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen bezogene 132 Faust:Der Tragödie Erster Teil. Hexenküche. 133 Vgl. Drynda, S. 21. 134 Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 22. 135 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 45.
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Spiegelmetapher wird nun auf den rein zwischenmenschlichen Bereich übertragen, denn eine Gesellschaft in Bewegung macht das Urteil der anderen vermehrt zum Maßstab.“136 Das Individuum macht es sich zur Aufgabe, den Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden: Korrektes Rollenverhalten in der Gesellschaft spielt eine immer größere Rolle. Das Vorbild, das es anzustreben gilt, ist nicht mehr Gott, sondern die Norm der Gesellschaft. Der prüfende Blick des Anderen wird somit auch bei der Herausbildung der Ich-‐Identität immer wichtiger, denn Letztere konstituiert sich, indem Fremdbild und Selbstbild aufeinandertreffen. Das eigene Spiegelbild wird dabei zu einem zentralen Instrument, da vor dem Spiegel die Verhaltensregeln der Gesellschaft bewusst einstudiert werden. 137 Wenn der Mensch sich jedoch bei der Entwicklung der eigenen Identität vermehrt auf gesellschaftliche Rollenerwartungen fokussiert, dann wächst die Gefahr der Selbstentfremdung, ein Phänomen das vor allem in die Kunst der Romantik Eingang gefunden hat: „Nehmen die Rollenanteile an der Persönlichkeit überhand oder werden die Rollenerwartungen stark internalisiert, so kann die Identität nicht mehr gewährleistet werden, und das Ich verliert seine integrative Funktion.“138 Erik Peez zeigt in „Die Macht der Spiegel“, dass keine andere Epoche dem Spiegel einen solchen Reichtum an Motiven abgewonnen hat wie das Zeitalter von Klassik und Romantik.139 Letzterer schildert, dass mit den Spiegelmotiven der Status des Subjekts, die Ontologie der Kunst, die Rolle der dichterischen Einbildungskraft und die Bestimmung des 'Selbst' aufgegriffen werden. Wenn das Ich seine wahre Identität verdrängen muss, dann ersetzt es sein „Ich-‐Ideal“140 durch ein „idealisiertes Objekt“, dem es sich unterwirft.141 In der Epoche der Romantik wird der Spiegel somit zu einem beliebten Motiv und meistens tritt die abgespaltene, unerwünschte und deshalb verdrängte Persönlichkeit in Form eines Doppelgängers
136 Millner: Spiegelwelten, S. 44. 137 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 46. 138 Millner: Spiegelwelten, S. 48. 139 Vgl. Peez, Erik: Die Macht der Spiegel. Das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des
Zeitalters von Klassik und Romantik. Frankfurt/M., Bern, New York, Paris: Peter Lang Verlag 1990. 140 Siehe Lacan 141 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 34.
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auf.142 Wenn die gespiegelte Person auseinander tritt und sich das gespiegelte Ebenbild verselbstständigt, dann geht das Spiegelmotiv in das Motiv des Doppelgängers über: Der Konflikt zwischen Zwängen und Sehnsüchten nimmt Gestalt an.143 Der Doppelgänger visualisiert verdrängte Zweifel und Triebe und „solange das Verbotene nicht die Oberhand gewinnt, wirkt das Double stabilisierend auf das Ich, andernfalls ist das Unglück geradezu vorprogrammiert.“144 Unter anderem Albrecht Driesen hat sich mit dem Spiegelmotiv in den Erzählungen E.T.A. Hoffmanns auseinandergesetzt, da das Motiv hier oft eine zentrale Rolle spielt.145 Spiegelbilder entstammen bei Hoffmann ebenso der mittelalterlich mystischen Tradition, dem völkischen Aberglauben wie auch der Rationalität neuzeitlicher Physik. Driesen verfolgt die Verwendungsweise des Motivs in E.T.A. Hoffmanns Erzählungen „Der goldne Topf“, „Die Abenteuer der Silvesternacht“ (aus der Sammlung „Fantasiestücke in Callots Manier“) und in „Prinzessin Brambilla.“146 E.T.A. Hoffmann scheint in besonderer Weise vom Zauber dieses Motivs begeistert gewesen zu sein, da er es immer wieder in seine Erzählungen integriert. Obwohl in der Literaturforschung oftmals darauf verwiesen wird, dass das Spiegelbild bei Hoffmann als eine Spielart des Doppelgängermotivs gesehen werden müsse, lohnt es sich dieses Motiv isoliert zu betrachten. In den „Abenteuern der Silvesternacht“ steht somit Spikhers verlorenes Spiegelbild für die verlorene Identität einer Person:147 „Erasmus verstummte, und auf ganz seltsame Weise fragte Giulietta: »Du denkst wohl an dein Weib? – Ach, Erasmus, du wirst mich nur zu bald vergessen.« – »Könnte ich nur ewig und immerdar ganz dein sein«, sprach Erasmus. Sie standen gerade vor dem schönen breiten Spiegel, der in der Wand des Kabinetts angebracht war und an dessen beiden Seiten helle Kerzen brannten. Fester, inniger drückte Giulietta den Erasmus an sich, indem sie leise lispelte: »Laß mir dein Spiegelbild, du innig Geliebter, es soll mein und bei mir bleiben immerdar.« – »Giulietta«, rief Erasmus ganz verwundert, »was
142 Vgl. Peez, Erik:
Die Macht der Spiegel. Das Spiegelmotiv in Literatur und Ästhetik des Zeitalters von Klassik und Romantik. Frankfurt am Main: Lang 1990. 143 Vgl Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 24. 144 Drynda: Spiegel-‐Frauen, S. 24. 145 Vgl. Driesen, Albrecht: Das Spiegelbild in Erzählungen E.T.A. Hoffmanns: Poetologie eines literarischen Spiegelkabinetts. Verlag Dr. H. H. Driesen 2004. 146 Vgl. dazu auch: Mittermayr, Sigrid: Spiegel und Spiegelmotive in der Literatur: Vornehmlich dargestellt anhand von Texten E.T.A. Hoffmanns. VDM Verlag 2009. 147 Vgl. Driesen: Das Spiegelbild in Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. http://www.driesen-‐ verlag.de/Driesen-‐AlbrechtDas-‐Spiegel-‐Bild-‐in-‐Erzaehlungen-‐E-‐T-‐A-‐Hoffmanns-‐Poetologie-‐ eines-‐literarischen-‐Spiegelkabinetts-‐Albrecht-‐Driesen/
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meinst du denn? – mein Spiegelbild?« – Er sah dabei in den Spiegel, der ihn und Giulietta in süßer Liebesumarmung zurückwarf. »Wie kannst du denn mein Spiegelbild behalten«, fuhr er fort, »das mit mir wandelt überall und aus jedem klaren Wasser, aus jeder hellgeschliffenen Fläche mir entgegentritt?« – »Nicht einmal«, sprach Giulietta, »nicht einmal diesen Traum deines Ichs, wie er aus dem Spiegel hervorschimmert, gönnst du mir, der du sonst mein mit Leib und Leben sein wolltest? Nicht einmal dein unstetes Bild soll bei mir bleiben und mit mir wandeln durch das arme Leben, das nun wohl, da du fliehst, ohne Lust und Liebe bleiben wird?« Die heißen Tränen stürzten der Giulietta aus den schönen dunklen Augen. Da rief Erasmus, wahnsinnig vor tötendem Liebesschmerz: »Muß ich denn fort von dir? – muß ich fort, so soll mein Spiegelbild dein bleiben auf ewig und immerdar. Keine Macht – der Teufel soll es dir nicht entreißen, bis du mich selbst hast mit Seele und Leib.« – Giuliettas Küsse brannten wie Feuer auf seinem Munde, als er dies gesprochen, dann ließ sie ihn los und streckte sehnsuchtsvoll die Arme aus nach dem Spiegel. Erasmus sah, wie sein Bild unabhängig von seinen Bewegungen hervortrat, wie es in Giuliettas Arme glitt, wie es mit ihr im seltsamen Duft verschwand. Allerlei häßliche Stimmen meckerten und lachten in teuflischem Hohn; erfaßt von dem Todeskrampf des tiefsten Entsetzens, sank er bewußtlos zu Boden, aber die fürchterliche Angst – das Grausen riß ihn auf aus der Betäubung, in dicker dichter Finsternis taumelte er zur Tür hinaus, die Treppe hinab.“148
Im „Goldnen Topf“ wird der Spiegel einer Person zugeordnet. Hier soll der Spiegel als Zauberwerkzeug die teuflische Herkunft der alten Liese zum Ausdruck bringen, was durch den schwarzen Raben, der sehr effektvoll auf diesen Spiegel flattert, zusätzlich unterstrichen wird:149 „Die Alte schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Still da, ihr Gesindel!« Und die Meerkatzen kletterten winselnd auf das hohe Himmelbett, und die Meerschweinchen liefen unter den Ofen, und der Rabe flatterte auf den runden Spiegel; (...)“150
In Epoche der Klassik und Romantik findet man zudem viele Texte, die das Motiv des zerbrochenen Spiegels aufgreifen, um die Gefährdung des Individuums zu veranschaulichen, das zwischen eigenen Sehnsüchten und den Anforderungen der 148 Hoffmann, E.T.A.: Die Abenteuer der Sylvester-‐Nacht. Hartmunt Steinecke (Hrsg.): E. T. A.
Hoffmann: Fantasiestücke in Callot's Manier. Werke 1814. Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch, Bd. 14, 2006. 149 Vgl. Driesen: Das Spiegelbild in Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. http://www.driesen-‐ verlag.de/Driesen-‐AlbrechtDas-‐Spiegel-‐Bild-‐in-‐Erzaehlungen-‐E-‐T-‐A-‐Hoffmanns-‐Poetologie-‐ eines-‐literarischen-‐Spiegelkabinetts-‐Albrecht-‐Driesen/ 150 Hoffmann, E.T.A.: Der goldne Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit. Suhrkamp Verlag 2002.
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Gesellschaft hin-‐ und hergerissen ist.151 Das moderne Subjekt versucht den Augen und dem Urteil der Gesellschaft zu entkommen, indem es den Spiegel zerstört und somit entmachtet. „Der zerstörten Illusion vom eigenen Platz im Leben folgt der zerstörte Spiegel.“152 Die Literatur des 20. Jahrhunderts hat sich als Medium etabliert, in welchem sich das Gefühl des Anderssein und der eigenen Fremdheit niederschlägt, da das moderne Individuum im Widerspruch zu einer Gesellschaft steht, die ihm ein Modell von Identität aufzudrängen versucht. Vor allem für Frauen wird die Konstitution des eigenen Ichs problematisch, da sie den Erwartungen einer patriarchalen Gesellschaft gerecht werden und die eigenen Wünsche und Leidenschaften unterdrücken müssen. So wird das Spiegelmotiv vor allem in der Frauenliteratur nach 1945 dazu verwendet, Identitätskrisen darzustellen: „Das Drama der Selbstentfremdung und Identitätssuche findet in diesen Texten vor dem Spiegel statt.“153 Auch in unserer heutigen ambivalenten Welt ist das Ich auf der ständigen Suche nach seiner Identität, nach Einheit und Ganzheit, da er in der Gesellschaft die unterschiedlichsten Identitäten leben muss.154 Die Funktionsregeln der Gesellschaft verlangen dem Menschen immer mehr ab und so „tendiert das Subjekt dazu, sich auf der Ebene des Imaginären zu situieren, um sich qua kollektiver Identifikation an einem Ideal bzw. einer Ideologie zu stabilisieren, die seinem Mangel an Sein entgegenkommt.“155 Wenn der Mensch jedoch sein Es verdrängen muss, um einem idealen Gesellschaftsbild zu entsprechen, dann können sich die inneren Triebe und Leidenschaften entweder in Träumen äußern oder im eigenen Spiegelbild erkennbar werden. Das hinter der gesellschaftlichen Maske verborgene Selbst tritt beim intensiven Blick in den Spiegel hervor. Durch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Spiegelbild wird sich das Individuum der verdrängten Anteile seiner Persönlichkeit bewusst.156 Der Blick in den Spiegel wird in der Kunst der Moderne somit zunehmend negativ konnotiert, da der Spiegel das Individuum mit verdrängten und unerwünschten Persönlichkeitsaspekten 151 Peez, Erik: Die Macht der Spiegel, S. 43f. 152 Vgl. Drynda: Spiegel-‐Frauen, S.30. 153 Millner: Spiegelwelten, S. 48. 154 Vgl. Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 34. 155 Pagel, Gerda: Jacques Lacan zur Einführung. Hamburg: Juniusverlag 2002, S. 34. 156 Vgl. Millner: Spiegelwelten, S. 49.
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konfrontiert. Das Motiv wird in literarischen Texten auf sehr unterschiedliche Art und Weise ausgelegt: Verbrecher können das eigene Spiegelbild nicht mehr ertragen, Frauen und auch Männer schrecken vor dem Anblick des eigenen Ichs zurück, Spiegel zeigen die eigene Selbstverliebtheit und werden in Wahnzuständen zerstört. Im 19. und 20. Jahrhundert lassen sich somit noch die unterschiedlichsten Nachklänge der romantischen Verwendungsweise des Motivs finden. So zum Beispiel in Rilkes „Requiem für eine Freundin“ oder in Bindings „Spiegelgespräche“. Zu dieser Zeit fungiert der Spiegel aber meistens als Symbol für Krisenerscheinungen des Individuums, das sich selbst problematisch geworden ist, wie etwa in Baudelaires „L’irrémédiable“ oder in F. M. Klingers „Die Zwillinge“:157 „Guelfo. (allein, nach einigem Schweigen) Wo bin ich? (kömmt vor den Spiegel) Rächer! Rächer mit flammendem Schwerdt! Hast du eingegraben auf meine Stirne den Mord? hast du ausgesprochen über mich, daß die Himmel zitterten: Unstät und flüchtig! – Hast du's? den Fluch noch nicht? und er brüllt um mich! – Rächer! hi! hi! ich thats wohl! Kömmt er noch nicht, mit glühender Hand den Mord einzugraben? – Ha! ich kann mich nicht ansehen! Reiß dich aus dir, Guelfo! (zerschlägt den Spiegel) zerschlage dich, Guelfo! – Guelfo! Guelfo! geh aus dir! Schaff' dich um! – Jetzt will ich schlafen! O jetzt will ich sanft schlafen! Ferdinando ließ mich lange nicht schlafen, jetzt wird er mich schlafen lassen. Ich will schlafen, Blutiger! und wenn tausend brennende Dolche durch meine Seele gingen. Gute Nacht, Guelfo! hi! hi! gute Nacht, Guelfo! (wirft sich auf den Boden nieder.)“158
So veranschaulicht das Spiegelsymbol das Entsetzen und die Abscheu des Menschen vor seinem Spiegelbild, da letzteres ihm die dunklen und/oder unbewussten Seiten seiner Existenz zeigt .159 Zu dieser Zeit wird das Symbol des Spiegels in literarischen Texten öfters mit dem Tod in Verbindung gebracht. In Grillparzers „Die Ahnfrau“ und Hebbels „Das Mädchen nachts vorm Spiegel“ erschienen im Spiegel der Tod:
157 Vgl. Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 358. 158 Klinger, Friedrich Maximilian: Die Zwillinge. Ein Trauerspiel in fünf Auszügen. Berlin 2013,
Vierter Aufzug, Vierter Auftritt. 159 Vgl. Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 358.
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„Vorm Spiegel steht sie, die schöne Maid, Bei nächtlicher Zeit, Und spricht in magdlichem Scherze, Indem sie den eigenen Reiz beschaut: Wann werd' ich Braut? – Auf einmal erlischt da die Kerze. Und als nun die Nacht ihr Bild verschluckt, Da wird sie durchzuckt Von einem ahnenden Schmerze, Ihr ist, als ob ihr der finstre Tod Den Arm jetzt bot Und Gott befiehlt sich ihr Herze.“160
Vor allem im 20. Jahrhundert symbolisiert der Spiegel die Erkenntnis verlorener Einheit und Ganzheit. Helga Esselborn-‐Krumbiegel hat sich mit dem Spiegelsymbol in Hermann Hesses Werk auseinandergesetzt und Letzteres in Bezug zu der Darstellung „gebrochener Identität“ gesetzt.161 Ausgehend von Lacans Spiegelstadium sieht Esselborn-‐Krumbiegel die Desintegration des Individuums als zentrales Symbol bei Hesse, das anhand unterschiedlicher Spiegelszenen veranschaulicht wird: „Das Bild des Ich, das der Spiegel gebrochen zurückwirft, ist bei Hesse immer zugleich das Bild einer gebrochenen Identität.“162 So ist es kein Zufall, dass in Hesses Erzählungen und Romanen immer wieder zerbrochene und zerschlagene Spiegel sowie dunkle und beängstigende Spiegelbilder vorzufinden sind, da diese wichtige Augenblicke im Leben der Hauptfiguren markieren. Der Blick in den Spiegel steht bei Hesse stets für Selbstbegegnung und ist für seine Hauptfiguren eine lebensverändernde Erfahrung, wobei der Spiegel den Figuren meist die gesuchte Identität verweigert.163 Als Beispiel kann der wohl bekannteste Roman Hesses „Der Steppenwolf“164 genannt werden. „Der Steppenwolf“ erzählt die Geschichte eines tiefen seelischen Leidens der Hauptfigur Harry Haller, welcher an der Zerrissenheit seiner Persönlichkeit leidet: Seine menschliche, bürgerlich-‐angepasste Seite und seine steppenwölfische, einsame, sozial-‐ 160 Hebbel, Christian Friedrich: Gedichte. Ausgabe letzter Hand. Berlin 2013. 161 Vgl. Esselborn-‐Krumbiegel, Helga: Gebrochene Identität. Das Spiegelsymbol bei Hermann
Hesse. http://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/Esselborn-‐spiegel.pdf 162 Esselborn-‐Krumbiegel: Gebrochene Identität, S. 1. 163 Vgl. Esselborn-‐Krumbiegel: Gebrochene Identität, S.2. 164 Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. Suhrkamp Verlag 1974.
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und kulturkritische Seite bekämpfen sich und blockieren Hallers künstlerische Entwicklung. Harry Haller begegnet in der Suche nach und dem Kampf um Identität vielfältigen Spiegelungen: So werden ihm andere Menschen zu Spiegeln (u.a. Hermine) und Pablos magisches Theater ist als Spiegelkabinett zu deuten, das ihn mit Aspekten seines Inneren konfrontiert.165 Während im „Steppenwolf“ durch den Blick in den Spiegel der Eintritt in das eigene Ich gezeigt wird, verweist die Zerstörung des Spiegelbildes auf die Vernichtung von Ich-‐Bildern und „die Unmöglichkeit, die geschaute Erkenntnis zu leben.“166 In Thomas Bernhards Roman „Auslöschung“167 dient der Spiegel zur Darstellung von Täuschung, Verlust und „selbstentblößender Selbstinszenierung.“168 Der Roman besteht ausschließlich aus einem inneren Monolog, einer Niederschrift des Protagonisten Franz-‐ Josef Murau, der seine Gedanken anlässlich des Unfalltodes seiner Eltern und seines Bruders schildert. Ilse Aichinger schildert in der Erzählung „Spiegelgeschichte“169 das Leben einer Frau rückwärts, beginnend mit dem Tod bis zur Geburt: Ein junges Mädchen liegt im Sterben, eine Stimme flüstert eindringlich auf sie ein und lässt noch einmal die Spule des kurzen Lebens ablaufen, vom Ende zum Anfang, also spiegelverkehrt.170 Am Grabe, das sich öffnet, kaum dass es geschlossen ist, beginnt die Geschichte. Der Leichenwagen rollt zurück ins Spital, das Mädchen erhebt sich gesund gleich nach dem Augenblick, in dem es zusammenbrach, es begegnet seinem Freund, als es ihn zum letzten Mal sieht und trennt sich von ihm gleich nach der Minute der Begegnung, wird wieder ein Kind mit langen Zöpfen und stirbt im Augenblick der Geburt. In der Umkehrung des Lebensablaufes geht es Aichinger darum, die Wirklichkeit unwirklich scheinen zu lassen, Geburt und Tod fallen im Punkte Null zusammen.171 165 Esselborn-‐Krumbiegel: Gebrochene Identität, S.8. 166 Esselborn-‐Krumbiegel: Gebrochene Identität, S.9. 167 Bernhard, Thomas: Auslöschung. Ein Zerfall. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1986. 168 Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 358. 169 Aichinger, Ilse: Spiegelgeschichte. In.: Der Gefesselte. Erzählungen I. Fischer Taschenbug
Verlag 2010. 170 Die Spiegelgeschichte, von Ilse Aichinger 1949 verfasst, wurde im August desselben Jahres in vier Folgen in der Wiener Tageszeitung veröffentlicht. . Die Autorin erhielt 1952 für dieses Prosastück den Literaturpreis der Gruppe 47. 171 Vgl. Rahmer, Christoph: Ilse Aichingers Poesie. http://www.zeit.de/1953/39/ilse-‐aichingers-‐ poesie.
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Auch die Nobelpreisträgerin Herta Müller setzt sich mit dem Motiv auseinander: Sie veröffentlichte ihre Essays, in denen sie poetische Überlegungen zum Prozess des Schreibens trifft und über die Entstehung ihrer Texte informiert, unter dem Titel „Der Teufel sitzt im Spiegel“.172 Als rezentes Beispiel ist in diesem Zusammenhang die Verwendungsweise des Motivs in Ferdinand von Schirachs Roman „Tabu“ zu nennen. Schirach versteht das sinnlich erfassbare Ich als bloßes Spiegelbild unserer wahren, verborgenen Persönlichkeit: „Jeden Morgen stehen wir auf, dachte er, wir leben unser Leben, all die Kleinigkeiten, das Arbeiten, die Hoffnung, der Sex. Wir glauben, was wir tun, sei wichtig und wir würden etwas bedeuten. Wir glauben, wir wären sicher, die Liebe wäre sicher und die Gesellschaft und die Orte, an denen wir wohnen. Wir glauben daran, weil es anders nicht geht. Aber manchmal bleiben wir stehen, die Zeit bekommt einen Riss und in diesem Moment begreifen wir es: Wir können nur unser Spiegelbild sehen.“173
Das Spiegelmotiv zieht sich demnach durch alle Epochen hindurch und wird seit der Antike vor allem zur Darstellung von Bewusstseinsinhalten genutzt. In wiefern das Motiv in lyrischen Texten unterschiedlicher Epochen Verwendung findet, soll im Folgenden anhand einer Auswahl von Gedichten dargestellt werden, wobei vor allem die jeweiligen Autoren und ihre Texte im Zentrum des Interesses stehen sollen. Ein kurzer Einblick in das Leben und Werk der Schriftsteller soll einer Interpretation ihrer Texte zugutekommen.
172 Vgl. Müller, Herta: Der Teufel sitzt im Spiegel. Wie Wahrnehmung sich erfindet. Rotbuch
Verlag 1991. 173 Vgl. Schirach, Ferdinand von: Tabu. Piper Verlag 2013.
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5. Spiegelgedichte als Spiegel der lyrischen und dichterischen Seele 5.1. Joseph von Eichendorff: Sehnsucht Joseph von Eichendorff, geboren am 10. März 1788 auf Schloss Lubowitz bei Ratibor/Oberschlesien und gestorben am 26. November 1857 in Neiße, gilt heute als einer der bekanntesten deutschen Schriftsteller der Epoche der Romantik. Das Gefühl der Verbundenheit mit der eigenen Heimat im Allgemeinen und der heimatlichen Natur im Besonderen spielt im Werk Eichendorffs eine entscheidende Rolle: „Die Erfahrung heimatlicher Natur, die er in Worte fassen und besingen will, wird zum auslösenden Moment dichterischen Schaffens.“174 Eichendorff wächst als Sohn eines preußischen Offiziers und reichen Landedelmanns auf Schloss Lubowitz über der Oder sorgenfrei heran und wird streng katholisch erzogen. Aus dem christlichen Glauben, welcher ihm von klein auf prägt, wird der erwachsene Eichendorff in schwierigeren Zeiten Kraft schöpfen.175 Neben dem christlichen Glauben vermittelt seine Familie ihm zudem die Grundlagen für sein literarisches Schaffen, da er durch sein Elternhaus früh mit Literatur in Kontakt kommt. So wundert es nicht, dass Eichendorff bereits als Zehnjähriger erste Texte schreibt. Ein Leitmotiv, das sich von Anfang an durch seine Gedichte zieht, ist die Sehnsucht nach der Ferne, welche mit dem Wunsch nach einem Ausbruch aus der Alltagswelt einhergeht176: „Ach wer da mitreisen könnte in der prächtigen Sommernacht“. Somit wird Eichendorff mit seinen Natur-‐, Heimat-‐ und Landschaftsbildern neben u.a. Novalis und Brentano zu einem der Hauptvertreter der deutschen Romantik. Oft wird die reale Welt bei Eichendorff idyllisch verklärt, es herrscht ein Einheitsgefühl zwischen Mensch und Natur vor und der seinen Stimmungen folgende Mensch steht im Mittelpunkt des literarischen Geschehens.177 Die real empfundene Trennungserfahrung des Menschen von der Natur gilt als Ausgangspunkt für das literarische Schaffen Eichendorffs: Er 174 Lutz, Bernd; Jeßing, Benedikt (Hrsg.): Metzler Lexikon Autoren. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 4. aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimat: Verlag J. B. Metzler 2010. 175 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 157. 176 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 157. 177 Metzler Lexikon Autoren, S. 157.
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versucht „ästhetisch wiederzugewinnen, was in der Realität verloren scheint.“178 Dabei ist es nur eine geringe Anzahl an Bildern und Motiven, die vor allem das lyrische Werk Eichendorffs prägen: „Immer wieder rauschen die Wälder, schlagen die Nachtigallen, plätschern die Brunnen, blitzen die Ströme. Immer wieder kommen Lichter oder Klänge aus der Ferne, von den Bergen, aus der Tiefe, zwischen den Wipfeln herüber oder durch das Fenster herein.“179 Eichendorffs Naturlandschaften sind zugleich als Spiegel innerer Landschaften zu verstehen, welche sich aus verschiedenen Sinneswahrnehmungen zusammensetzen: „In Eichendorffs inneren Landschaften, gefügt aus optischen und akustischen Signalen, antwortet die Sehnsuchtsbewegung des erweckten Herzens dem Ruf, der das lyrische Ich aus der erlösungsbedürftigen Natur erreicht (...)“.180 In dem Roman „Dichter und ihre Gesellen“ singt Fiametta:
Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leib entbrennte, Da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht! Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang, Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht. Sie sangen von Marmorbildern, Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern, Palästen im Mondenschein, Wo die Mädchen am Fenster lauschen, Wann der Lauten Klang erwacht 178 Eichendorff, Joseph von: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon
in 18 Bänden, 3., völlig neu bearbeitete Auflage 2009. Aktualisiert mit Artikeln aus der Kindler-‐ Redaktion, URL: http://www.munzinger.de/document/22000185600_010 (abgerufen von Bibliothèque nationale de Luxembourg am 28.4.2014) 179 Alewyn, Richard.: Eichendorffs Symbolismus. In: Richard Alewyn. Probleme und Gestalten. Essays. (1957). Frankfurt am Main 1974, S. 232-‐244. 180 Eichendorff, Joseph von: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon.
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Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht. -‐181
Unter dem Titel „Sehnsucht“ wurde das Gedicht, das fast alle für Eichendorff typischen Motive vereint, in die Abteilung „Wanderlieder“ der Gesamtausgabe aufgenommen und zählt bis heute zu den bekanntesten Gedichten der Epoche der Romantik. Der Gefühlsbegriff „Sehnsucht“, welcher ausschließlich im Titel des lyrischen Textes auftaucht, bedeutet ein heftiges, oft schmerzliches Verlangen nach etwas, besonders wenn das Ersehnte fern und unerreichbar erscheint. In dem Wortbestandteil „-‐sucht“ (von „siechen“ abgeleitet, mit der ursprünglichen Bedeutung „Krankheit“) wird der psychopathologische Aspekt deutlich, der in diesem Gefühl steckt. Die Sucht bezieht sich primär nicht auf das Ersehnte, sondern auf das Sich-‐Sehnen, auf das Gefühl, das nur solange währt, wie die Erfüllung nicht erreicht wird. Zur Sehnsucht gehört also im Grunde die Erfüllungsscheu und somit kommt es einer krankhaften Veränderung des Seelenlebens, einer Psychose, gleich: Das Ich zieht sich „im Dienste des Es von einem Stück der Realität zurück“ und leidet somit unter einem Realitätsverlust.182 Im Gefühlskult der Romantik nahm dies in sich selbst kreisende Gefühl der Sehnsucht den ersten Rang ein: Es ist die Sehnsucht nach Bewegung und Wandlung, nach Überwindung der Begrenztheit. Neben dem Lied ist es die Kunst, die diese Sehnsucht weckt.183 Das Gedicht „Sehnsucht“184 beinhaltet etliche volksliedartige Elemente, welche sich vor allem in der Form des Textes niederschlagen. Die drei Strophen stellen jeweils eine doppelte Volksliedstrophe mit vier Zeilen dar. Alle Strophen weisen einen doppelten Kreuzreim auf, wobei es auch einen unreinen Reim gibt (V. 5 und V. 7). Das Metrum besteht aus einem dreihebigen Jambus mit zusätzlichen Senkungen. Es ist jedoch nicht gleichmäßig, sondern mit leichten Variationen, so dass das Gedicht nicht
181 Eichendorff, Joseph von: Sämtliche Werke. Historisch-‐kritische Ausgabe. Hg. von Kosch,
Wilhelm; Koopmann, Helmut. Tübingen 1966. 182 http://www.textlog.de/freud-‐psychoanalyse-‐realitaetsverlust-‐neurose-‐psychose.html 183 Vgl. Kohrs, Peter: Deutsch in der Oberstufe 11, Bayern. Lehrer-‐ und Materialienband. Paderborn: Schöningh Verlag 2010, S. 181. 184 Zur Interpretation des Gedichtes wurde folgendes Werk herangezogen: Bogdal ,Klaus-‐Michael; Kammler, Clemens: Oldenbourg Interpretationen: Lyrik von der Romantik bis zur Jahrhundertwende. Interpretation von Thomas Gräff. Band 96. München: Oldenbourg Schulbuchverlag 2000.
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eintönig wirkt. Der dadurch erzeugte lockere, leichtfüßige und fließende Rhythmus passt zum Inhalt des Gedichtes und verweist auf das Lied der Wanderer. Das Vokabular des Gedichtes entspricht dem Ideal einer romantischen, volksnahen Sprache. Der harmonische Klang des Gedichtes wird durch die Vokalität, welche sich durch den ganzen Text zieht, zunehmend verstärkt. In der ersten Strophe sind vermehrt helle Vokale (e-‐ie-‐e) vorzufinden, während im zweiten Teil der dritten Strophe dunkle Vokale (a-‐au-‐a-‐a) vorherrschen. Die Wiederholungen unterstützen die Klangharmonie des Gedichtes.185 Das Gedicht schildert ein nächtliches Naturerlebnis, wobei drei zentrale Bilder auffallen: ein lauschendes Ich am Fenster, zwei wandernde Gesellen und eine vermutlich südliche Landschaft. Inhaltlich sind zwei Teile erkennbar: die Wahrnehmung des Ichs am Fenster (V. 1-‐12) und das Lied der beiden Wanderer (V. 13-‐24). Zudem besteht ein enger inhaltlicher Zusammenhang zwischen den drei Strophen. Der achte Vers wird im letzten Vers des Gedichtes wiederholt, die Situation des Lauschens am Fenster aus der ersten Strophe findet sich auch in der letzten Strophe wieder und dem Posthorn aus der ersten Strophe entspricht „der Lauten Klang“ in Vers 22. Der Standort (Fensterblick aus der begrenzten Enge des Hauses, Einsamkeit, Stille, Statik) und die Gefühlslage des lyrischen Ichs in der ersten Strophe (Melancholie, Wehmut) bilden einen Kontrast zu der Position der Gesellen in der zweiten Strophe (Wandern in der Natur, Gesellschaft, Fröhlichkeit, Bewegung, Freiheit). Diese Gesellen wecken die Sehnsucht des Ichs nach der Ferne und spiegeln dieses Verlangen zugleich wider, womit das Spiegelmotiv bereits auftritt. Das Bild des Fensters steht metaphorisch für eine Grenze, eine Schwelle zwischen Innen und Außen, zwischen geschlossenem Raum und freier Natur. Das lyrische Ich leidet unter seiner Einsamkeit („Am Fenster ich einsam stand“), der Begrenztheit und im Inneren des Hauses und sehnt sich nach einem Aufbruch in die Ferne. Seine Reiselust erwacht durch das Ertönen des Posthorns, ein Signal des Reiseaufbruchs, und dieses Sehnsuchtsgefühl flammt förmlich in ihm auf („Das Herz mir im Leib entbrennte“). Die Natur, vor allem der Sternenhimmel, wird vom lyrischen Ich zunächst visuell wahrgenommen, die Sommernacht wird als „golden“ und 185 Vgl. Kohrs, Peter: Deutsch in der Oberstufe 11, Bayern. Lehrer-‐ und Materialienband.
Paderborn: Schöningh Verlag 2010, S. 181.
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„prächtig“ bewertet und evoziert somit die Konnotation des Göttlichen. Die Landschaft ist durch das Posthorn, den Gesang der Gesellen, das Rauschen der Wälder sowie der Brunnen und den Klang der Laute aber vor allem auch akustisch geprägt. In der zweiten Strophe wird die Situation der beiden Wanderer beschrieben, welche einen deutlichen Kontrast zur Position des lyrischen Ichs darstellt. Das lyrische Ich kann sich bloß nach der Fröhlichkeit (sie singen), Freiheit (sie befinden sich in der freien Natur), Bewegung (sie wandern) und Geselligkeit (sie sind zu zweit) der beiden sehnen. Das Lied, das die beiden Gesellen singen, handelt zunächst von einer wilden, ungebändigten Natur. Es ist von „schwindelnden Felsenschlüften“ und von in die Gewässer abstürzenden Klüften die Rede, die nur schwer mit dem „sachten“ Rauschen der Wälder in Einklang zu bringen scheinen. In der dritten Strophe folgen dann Bilder einer kultivierten Natur. Geschildert wird eine kulturgeprägte Gartenlandschaft, die mit ihren Versatzstücken an das Sehnsuchtsland der
Deutschen,
Italien,
erinnert.
Die
an
südliche
Gegenden
erinnernde
Naturbeschreibung hat bekannte literarische Vorlagen wie etwa das Lied Mignons „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn“ aus Goethes Roman „Willhelm Meisters Lehrjahre“. Im Gedicht „Sehnsucht“ ist diese kultivierte Natur mit ihren Gärten, Lauben, Palästen und Brunnen aber zugleich bedroht: Sie droht zu „verwildern“. Wie das Naturempfinden des „Taugenichts“ in Eichendorffs Novelle sind diese Landschaften, die im Lied der Gesellen auftauchen, als reine Fantasielandschaften zu verstehen, die von den Romantikern als Gegenentwurf zur Wirklichkeit erschaffen worden sind und das Innenleben Letzterer widerspiegeln. Untersucht man das Gedicht gezielt auf die Spiegelmotivik hin, fällt auf, dass die evozierten Naturbilder als Spiegel der Seele des lyrischen Ichs gesehen werden können, da dieses seine Sehnsuchtsgefühle in die Natur projiziert. Die Wanderer und das Posthorn spiegeln die Sehnsucht nach Ferne wider: Das Ich möchte der Enge des Hauses entfliehen und ein freies Leben wie ein Wanderer führen. Der im Gedicht evozierte Palast kann als Topos für die Erinnerung an die vergangene Zeit gelesen werden, die in diesem Bild widergespiegelt wird. Im Sinne Freuds erfolgt hier eine Projektion der inneren Wünsche auf ein anderes Objekt. Wenn solche Leidenschaften und Wünsche, wie die im Gedicht erwähnten, zu lange vom Ich unterdrückt werden, folgt eine sehr emotionale Reaktion, wenn es durch einen äußeren Impuls zur Konfrontation mit
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denselben kommt. So gibt sich das lyrische Ich seinen Wünschen und Leidenschaften hin, sobald es die Wanderer erblickt und ihren Gesängen lauscht.186 Setzt man dies in Bezug zu Eichendorffs Biographie, sehnt das lyrische Ich sich nach einem Palast wie einst das vom Dichter bewohnte Schloss Lubowitz. In den Marmorbildern als Symbol für Eros187 wird schließlich die Sehnsucht nach Liebe erkennbar. Es sind vor allem Wünsche und Sehnsüchte, welche nach Freud dem Es zuzuordnen sind, die sich in diesen romantischen Naturlandschaften widerspiegeln. Das ein oder andere Naturbild kann also als Blick in die Seele des Ichs gesehen werden und somit dient die Natur als Spiegel der Gefühlswelt, ein Leitmotiv, das immer wieder in romantischen Texten auftaucht. Auch die Form des Textes kann man als Spiegel des Inhalts sehen: Die von den Romantikern bevorzugte Volksliedform (drei achtzeilige Strophen, Kreuzreimschema, unregelmäßiges Metrum) spiegelt den Inhalt des Gedichtes wider: Die liedhafte Form passt unter anderem zur Reiselust des lyrischen Ichs und verweist auf das Lied der Wanderer. Bringt man den Titel in Bezug zum Inhalt des Gedichtes, wird erkennbar, dass das Gefühl der Sehnsucht eher eine Tonart des Textes ist. Die Sehnsucht erwacht im Moment des Naturerlebens und richtet sich auf kein konkretes Ziel, sondern nach unbestimmter Ferne, nach Entgrenzung, Bewegung, Wandlung und Überwindung der Begrenztheit des Ichs. Typisch für die Epoche der Romantik sind auch die Gegenden und Landschaften keine konkreten Orte, sondern dienen nur als Stoff für die Sehnsucht des Ichs, als Spiegelung seines Seelenlebens und –leidens. 5.2. Annette von Droste-‐Hülshoff: Das Spiegelbild Annette von Droste-‐Hülshoff wurde am 10. Januar 1797 im Haus Hülshoff bei Münster geboren und starb am 24. Mai 1848 nach langer Krankheit am Bodensee. Bereits zu Lebzeiten hatte sie sich unter Schriftstellern mit ihrer breiten Palette an literarischen Werken einen Namen gemacht. Heute zählen ihre Novellen (z. B. „Die Judenbuche“), 186 Siehe 2.1.1. Die psychische Persönlichkeit: Drei psychische Instanzen. 187 In Eichendorffs Novelle „Das Marmorbild“ ist die steinerne Figur der Venus, der Liebesgöttin
der antiken Mythologie, Relikt einer verflossenen Zeit und symbolische Staffage eines Parks um einen italienischen Palast.
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ihre „Haidebilder“ wie auch ihre religiöse Lyrik („Das Geistliche Jahr“) zu den bedeutendsten Werken des 19. Jahrhunderts. Als unverheiratete Landadelige war Annette von Droste-‐Hülshoff Zeit ihres Lebens an familiäre Aufgaben und Pflichten gebunden und das gesellige Landleben ließ ihr nur wenig Zeit zum Dichten. Sie fühlte sich in ihrer Rolle des keuschen, gehorsamen und hochkatholischen Adelsfräuleins nie wohl und sehnte sich nach einem freien, regellosen Leben als Schriftstellerin, wie es zu dieser Zeit nur das männliche Geschlecht führen konnte.188 So verspürte die Dichterin in ihrem Inneren Leidenschaften und Sehnsüchte, die sie nie auszusprechen vermochte, da sie dem von der Gesellschaft geforderten Bild der fügsamen Adelsfrau gerecht werden musste. Dieser innere Zwiespalt zwischen Gehorsamkeit und Freiheit sowie ihre unerfüllte Liebe zu dem jungen Literaten Levin Schücking haben das literarische Werk von Annette von Droste-‐Hülshoff geprägt.189 Die „Mänade“ im Gedicht „Am Turme“ verkörpert die leidenschaftliche Geliebte, die die Schriftstellerin gern sein würde und auch in dem Gedicht „Das öde Haus“ lassen sich Rückschlüsse auf das Innenleben der Schriftstellerin machen190: Beschrieben wird ein verfallenes Haus, welches in der Literaturforschung als Metapher für die unterdrückten, fast abgestorbenen Gefühle der Schriftstellerin gelesen wird.191 Auch das Gedicht „Das Spiegelbild“, das im Winter 1841/1842 entstanden ist, lässt Bezüge zur Biographie von Annette von Droste-‐Hülshoff erkennen.
Schaust du mich an aus dem Kristall Mit deiner Augen Nebelball, Kometen gleich, die im Verbleichen; Mit Zügen, worin wunderlich Zwei Seelen wie Spione sich Umschleichen, ja, dann flüstre ich: Phantom, du bist nicht meinesgleichen! Bist nur entschlüpft der Träume Hut, Zu eisen mir das warme Blut, Die dunkle Locke mir zu blassen; Und dennoch, dämmerndes Gesicht,
188 Vgl. Kraft, Herbert: Annette von Droste-‐Hülshoff. Rowohlt 1994, S. 22-‐31. 189 Vgl. Muschg, Walter: Die Seherin Annette von Droste-‐Hülshoff. In: Studien zur tragischen Literaturgeschichte. 1965, S. 145. 190 Droste-‐Hülshoff, Annette von: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Bibliothek deutscher Klassiker 103/104. Hg. von Plachta, Bodo; Woesler, Winfried. Frankfurt am Main 1994. 191 Vgl. Matt, Peter von: Verkommene Söhne, missratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur. München 2004.
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Drin seltsam spielt ein Doppellicht, Trätest du vor, ich weiß es nicht, Würd' ich dich lieben oder hassen? Zu deiner Stirne Herrscherthron, Wo die Gedanken leisten Fron Wie Knechte, würd ich schüchtern blicken; Doch von des Auges kaltem Glast, Voll toten Lichts, gebrochen fast, Gespenstig, würd, ein scheuer Gast, Weit, weit ich meinen Schemel rücken. Und was den Mund umspielt so lind, So weich und hülflos wie ein Kind, das möchte ich treue Hut ich bergen; Und wieder, wenn er höhnend spielt, Wie von gespanntem Bogen zielt, Wenn leis es durch die Züge wühlt, Dann möchte ich fliehen wie vor Schergen. Es ist gewiss, du bist nicht Ich, Ein fremdes Dasein dem ich mich Wie Moses nahe, unbeschuhet, Voll Kräfte di mir nicht bewusst, Voll fremden Leides, fremder Lust; Gnade mir Gott, wenn in der Brust Mir schlummernd deine Seele ruhet! Und dennoch fühl' ich, wie verwandt, Zu deinen Schauern mich gebannt, Und Liebe muß der Furcht sich einen. Ja, trätest aus Kristalles Rund, Phantom, du lebend auf den Grund, Nur leise zittern würd' ich, und Mich dünkt -‐ ich würde um dich weinen!192 In dem Gedicht wird das Thema der Identitätsproblematik mit dem Spiegelmotiv aufgegriffen. Beschrieben wird eine Frau, die in den Spiegel blickt und ein fremdes Wesen erkennt, mit dem sie sich nicht identifizieren kann oder will. Dabei wird der Akt des Anschauens auf das Bild übertragen, welches das Ich beobachtet: „Schaust du mich an“. Die Erfahrung der Selbstfremdheit kommt dadurch zum Ausdruck, dass das Ich deutlich Distanz von dem Spiegelbild nimmt („Du bist nicht meinesgleichen“) und dieses als verschwommen wahrnimmt: „Nebelball“, „dämmerndes Gesicht“, „Doppellicht“, 192 Droste-‐Hülshoff, Annette von: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Bibliothek deutscher
Klassiker 103/104. Hg. von Plachta, Bodo; Woesler Winfried. Frankfurt am Main 1994, S. 147-‐ 148.
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„Kometen“. Die Person im Spiegel wird des Weiteren als „Phantom“ bezeichnet, was in Verbindung mit der Metonymie „Kristall“ für Spiegel an die Kristallkugel der Wahrsager und Geisterbeschwörer erinnert.193 Es soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Annette von Droste-‐Hülshoffs Verwendungsweise des Spiegels an die magischen Spiegel aus Sagen und Mythen sowie an die im Volksglauben verankerte Angst erinnert, dass besondere Geister im Spiegel beschwört werden können.194 Das Ich empfindet Entsetzen und Furcht angesichts des eigenen Spiegelbildes, da dieses ihm die verborgenen Seiten seiner Existenz offenbart, die ihm bislang nicht bewusst waren. Somit bringt es seinem Spiegelbild Distanz entgegen und weist es als irreal und ihm nicht zugehörig zurück: Das Gedicht gestaltet somit die Erfahrung der Selbstfremdheit und der Ich-‐Spaltung aus. Nach diesen Ablehnung-‐ und Angstgefühlen stellt das lyrische Ich sich jedoch die Frage, wie es sich zukünftig zu den bislang verborgenen Seiten seines Wesens stellen wird: „Würd’ ich dich lieben oder hassen?“ Im Spiegel werden zwei „Seelen“ erkannt, die sich feindselig gegenüberstehen und sich „umschleichen“ wie „Spione“. Die eine Seele drückt sich in der „Stirne“, also dem Sitz der Gedanken, aus.195 Durch die Kälte und das tote Licht empfindet das Ich Furcht, auch wenn eine gewisse Bewunderung für diesen „Herrscherthron“ der Stirn erkennbar ist.196 Die Begegnung mit dem fremden Ich im Spiegelbild ist zudem von religiöser Demut geprägt, wie der Vergleich mit der biblischen Figur Moses, der sich Gott mit Ehrfurcht nähert, veranschaulicht.197 Doch das Verhältnis des Ichs zum eigenen Spiegelbild scheint ambivalent zu sein, denn das Ich fühlt sich trotz der Furcht, die es empfindet, zu dessen „Schaudern (...) gebannt“ und mit den bislang unbekannten Seiten seiner Persönlichkeit verwandt. Freud zufolge ist diese Erfahrung damit zu erklären, dass das Ich hier versucht zwischen dem Über-Ich und dem Es zu vermitteln. Als kontrollierende Distanz spricht das Über-Ich moralische Gesetze aus, nach denen die Triebe und Wünsche des Es unterdrückt werden müssen, um in der Gesellschaft bestehen zu können. Die zuvor alternative Möglichkeit der Reaktion führt in der letzten Strophe zu einer Lösung. Das Erschrecken mildert sich ab, macht der Trauer Platz und das Ich bekennt 193 Vgl. Oldenbourg Interpretationen, S. 99. 194 Siehe: 1.3.5. Magische Spiegel 195 Vgl. Oldenbourg Interpretationen, S. 100. 196 Vgl. Oldenbourg Interpretationen, S. 100. 197 Oldenbourg Interpretationen, S. 100.
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sich schließlich zu allen Seiten seiner Identität, die ihm durch das Spiegelbild bewusst geworden sind: Das Ich akzeptiert sein Es, um es mit Freuds Worten auszudrücken, oder aber: Das Ich erkennt, dass sein „Ich (..) ein anderer (ist) “, wie Lacan es womöglich sehen würde. Der Spiegel öffnet hier „Schleusen zu einem Bereich, den wir unter die Oberfläche des Bewusstseins gebannt wissen wollen, da er sich der rationalen Kontrolle entzieht. Er ist schonungslos in dem, was er zeigt und keiner kann ihm etwas verheimlichen.“198 Stellt man das Gedicht in Bezug zum Leben Annette von Droste-‐Hülshoffs, lassen sich Rückschlüsse auf die Gefühlswelt der Autorin ziehen. Im Gedicht wird anhand des Spiegelbildes die „verbotene Hälfte“ der Schriftstellerin dargestellt199 Es ist die Hälfte der Droste, die von Gefühlen und Leidenschaften geprägt ist, und die sie stets unterdrücken musste, um den Ansprüchen ihrer Mitmenschen gerecht zu werden. Begriffe wie „Phantom“, „gespenstig“, „fremdes Dasein“ zeigen „die heftige Distanzierung des redenden Ichs vom gespiegelten“.200 Der Grund für diese Distanzierung liegt darin, dass „die Person, die hier im Spiegel erscheint (...) konsequent dem normativen Umriss der domestizierten, bescheiden dienenden, gebärfrommen Frau, die alle ihrem Geschlecht gesetzten Grenzen anerkennt“ widerspricht.201 Zieht man Freuds Theorien zur Abwehr, Verdrängung, Neurose und Projektion heran202, könnte man behaupten, dass das lyrische Ich im Gedicht und auch die Schriftstellerin Mechanismen entwickelt haben, um die Impulse ihres Es abzuwehren, diese jedoch Eingang in die Gedichte gefunden haben. In „Das Spiegelbild“ werden somit unbewusste Triebimpulse, Wünsche, Schuldgefühle usw. auf die Frau im Spiegel projiziert, übertragen, da sie nicht länger vom Über-Ich unterdrückt werden können. Das Innovative der Darstellungsweise der Identitätsproblematik liegt hier jedoch darin, dass das lyrische Ich des Gedichts der Frau im Spiegel den „Thron“ und sich selbst den „Schemel“ zuschreibt.203 Die Frau im Gedicht scheint sich nach diesem Teil ihrer selbst zu sehnen, sie empfindet Bewunderung für das Spiegelbild. Dieses erscheint als „drohendes, furchteinflößendes, Ehrfurcht gebietendes höchstes Wesen, das anzubeten 198Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 53. 199 Matt, Peter von: Familiendesaster, S. 223. 200 Matt, Peter von: Familiendesaster, S. 219. 201 Matt, Peter von: Familiendesaster, S. 219. 202 Siehe Seite 23 203 Vgl. Matt, Peter von: Familiendesaster, S. 221.
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ist“.204 Die Einheit, die das lyrische Ich hier erfährt ist jedoch keine reale und somit ruft das Betrachten des Spiegelbildes ein „unbefriedigtes Begehren“ hervor und geht mit der Erfahrung der Entfremdung einher. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan hat in seiner Abhandlung zum Spiegelstadium diese Erfahrung thematisiert, auch wenn er sich hier auf ein Kind und nicht auf einen Erwachsenen bezieht: Der Spiegel ist die Voraussetzung für diese Einheit, ohne den Spiegel gibt es diese Einheit nicht.205 Wie das Kind in Lacans „Spiegelstadium“ erfährt das Ich sich hier als jemand, der von anderen gesehen werden kann und versucht, sich nach diesem Teil seines Ichs (Lacans „moi“) zu orientieren. Das Gedicht, das anhand der Spiegelmotivik das Thema der Selbstfremdheit und Ich-‐ Erfahrung aufgreift, kann man somit zugleich als Spiegel der Gefühlswelt der Autorin lesen, welche stets darauf geachtet hat, wie die Gesellschaft ihre eigene Person wahrnimmt. Auch andere Interpreten wie unter anderem Walter Muschg haben interessante Beiträge zu diesem Thema geliefert. Letzterer sieht das Gedicht als „das größte Selbstbildnis der Droste“206 und ist der Ansicht, dass die Schriftstellerin den dämonischen Abgrund zum ersten Mal dort erblicke, wo er wirklich sei -‐ in sich selbst. Hinzu kommt, dass die Form des Textes dessen Inhalt widerspiegelt: Der Schweifreim verweist darauf, dass die inhaltlichen Gegensätze schließlich zusammengeführt werden, indem das lyrische Ich seine Identität in all ihren Facetten wahrnimmt. Auch die Metaphern (z.B. Nebelball), die Vergleiche (z.B. „Kometen gleich“, „wie Spione“), die Alliterationen (z.B. „Worin wunderlich“) sowie die Antithesen (z.B. „eisen-‐warme“) unterstreichen die unheimliche Stimmung des Gedichtes. Lars Ingesmann hat das Gedicht ebenfalls mit Hilfe von Sigmund Freuds sowie Jacques Lacans Theorien zu interpretieren versucht. In der Kommunikationssituation des redenden Ichs mit dem Spiegelbild sieht Letzterer ein „Wiederbeleben und Wiedererleben“ unbewusster Konflikte, Gefühle und Leidenschaften, die in dem kindlichen Verhältnis zu den Eltern ihren Ursprung haben: „(...) das Ich spaltet sich in Ich und widergespiegeltes Bild auf und erlebt in der Beziehung zum Bild verschiedene
204 Liebrand, Claudia: Kreative Refakturen. Annette von Droste-‐Hülshoff Texte. Freiburg i. Br.,
Berlin, Wien: Rombach Verlag 2008. 205 Siehe dazu: 2.2.1. Das Speiegelbild: Entfremdung und Ich-‐Spaltung. 206 Vgl. Muschg, Walter: die Seherin Annette von Droste-‐Hülshoff, S. 145.
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Gefühle, die es auch in der Beziehung zu den Eltern gespürt haben muss.“207 Jedoch muss hier darauf geachtet werden, dass eine derartige Interpretation nicht „zu schnell ins Spekulative“ entgleitet, da das Gedicht doch die Situation eines Erwachsenen schildert.208 Das Gedicht kann aber fraglos mit Hilfe von Freuds „Drei psychischen Instanzen“ interpretiert werden, da das Spiegelbild im Gedicht das „Es“, die unausgelebten, unterdrückten Leidenschaften und Triebe des „Ichs“ verkörpert, welche das Ich nicht länger leugnen kann. Das Gedicht passt also aus mehreren unterschiedlichen Gründen in die Reihe „Spiegelgedichte“. 5.3. Heinrich Heine: Still ist die Nacht Heinrich Heine, geboren am 13. Dezember 1797 als Harry Heine in Düsseldorf und gestorben am 17.Februar 1856 in Paris, gilt bis heute als einer der meistgelesenen und bedeutendsten deutschen Schriftsteller und Dichter des 19. Jahrhunderts. Als Sohn eines jüdischen Kaufmanns ergriff er zunächst den Beruf des Vaters, bevor er in Berlin, Göttingen und Bonn die Rechte studierte und 1825 sein juristisches Examen ablegte. Im gleichen Jahr trat er zum protestantischen Glauben über, um in der Gesellschaft anerkennt zu werden und seine bürgerliche Existenz zu festigen, jedoch scheiterten seine Bemühungen um eine Professur in München aus politischen Gründen.209 Sein lyrisches Werk besteht aus traditionell romantischen Liebesgedichten (einfache Volksliedform, romantische Stilmittel, Darstellung von Naturidyllen) wie auch politisch engagierten und gesellschaftskritischen Gedichten. Neben konventionell romantischen Motiven verwendet Heine schon früh ironische Distanzierungen, desillusionierende Schlussverse und das Motiv des Liebesleiden und der Todessehnsucht.210 Die Werke kaum eines anderen deutschen Dichters wurden so oft vertont und in andere Sprachen übersetzt. Als „letzten Dichter der Romantik“ hat Heine die Epoche zugleich überwunden, machte die Alltagssprache lyrikfähig und erhob den Reisebericht in den Bereich der Literatur. Heine war der Ansicht, dass sich „Kunstwelt“ und „wirkliche Welt“ 207 Ingesmann, Lars: Annette von Droste-‐Hülshoff und ihr „Spiegelbild“. Versuch einer Interpretation. In: Germanisch-‐romanische Monatsschrift. Bd 66. 1985, S. 389. 208 Vgl. Böschenstein, Renate:; Niethammer, Ortun (Hrsg.): Idylle, Todesraum und Aggression. Aisthesis 2007. 209 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 301. 210 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 301.
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in der Poesie nicht decken können, eine Denkweise, die für die berühmte Heine’sche Ironie prägend ist: Wahrheit und Lüge scheinen unzertrennbar miteinander verbunden zu sein. 211 Wegen seiner jüdischen Herkunft und seiner politisch kritischen Einstellung war Heine sowohl als Autor wie auch als Mensch ein Außenseiter.212 Viele zeitgenössische Kritiker warfen dem Schriftsteller Heine vor, ichbezogen, originalitätssüchtig, unmoralisch und gotteslästerlich zu sein und so wurde sein literarisches Werk oft nicht im Kontext der literarischen und politischen Zustände gesehen, sondern blieb unbeachtet oder wurde verklärt.213 So wurde sein berühmtester und populärster Gedichtband „Buch der Lieder“ (1827) zunächst „als bürgerlichen Lyrikschatz reduziert“.214 Das „Buch der Lieder“215 zeichnet sich durch Liebesschmerz und Verlusterfahrung aus, welche sich nicht ausschließlich auf die Liebeserfahrungen des Autors (v.a. in der Begegnung seiner beiden Hamburger Cousinen Amalie und Therese) reduzieren lassen.216 Anders als in anderen Gedichten in „Buch der Lieder“, in denen es um die Auseinandersetzung mit einem fremden Gegenüber geht, handelt „Heimkehr XX“ (1823-‐1824) von einem fremden Ich, das in der eigenen Gestalt des Sprechers erkennbar wird und „jenseits von Elend ein Graus(en) erzeugt“217: Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen, In diesem Hause wohnte mein Schatz; Sie hat schon längst die Stadt verlassen, Doch steht noch das Haus auf demselben Platz. 211 Vgl. Heine, Heinrich: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/ Kindlers Literatur Lexikon in
18 Bänden, 3. völlig neu bearbeitete Auflage 2009. URL: http://www. munzinger.de/document/22000280200_020 (abgerufen von Bibliothèque nationale de Luxembourg am 28.04.2014). 212 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 301. 213 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 301. 214 Metzler Lexikon Autoren, S. 301. 215 Zur Interpretation der Gedichte im „Buch der Lieder“ siehe auch: Lüdi, Rolf: Heinrich Heines Buch der Lieder. Poetische Strategien und deren Bedeutung. In: Europäische Hochschulschriften. Reihe I. Deutsche Sprache und Literatur. Band 307. Frankfurt am Main/Bern/Las Vegas: Peter Lang Verlag 1979. 216 Vgl. Heine, Heinrich: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/ Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden, 3. völlig neu bearbeitete Auflage 2009. URL: http://www. munzinger.de/document/22000280200_020 (abgerufen von Bibliothèque nationale de Luxembourg am 28.04.2014). 217 Sousa, Karin : Heinrich Heines « Buch der Lieder. Tübingen: Niemeyer 2007, S. 52.
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Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe,
Und ringt die Hände, vor Schmerzensgewalt; Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe -‐ Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt. Du Doppeltgänger! du bleicher Geselle!
Was äffst du nach mein Liebesleid,
Das mich gequält auf dieser Stelle, So manche Nacht, in alter Zeit?218 Das Gedicht entstand in den Jahren 1823-‐1824, wurde 1828 von Franz Schubert vertont und unter dem Titel „Der Doppelgänger“ in „Schwanengesang“ veröffentlicht. Der Text besteht aus drei vierzeiligen Strophen, das Reimschema in den Quartetten ist jeweils ein Kreuzreim (abab). Heine verwendet Stilfiguren wie Personifikationen (z. B. im 1. Vers: „Es ruhen die Gassen“), ausdrucksstarke Wortneuschöpfungen (z. B. „Schmerzensgewalt“ im 6. Vers) oder die rhetorische Frage (wie in Vers 10-‐12: „Was äffst du nach mein Liebesleid“). Der Rhythmus des Gedichts wird in der dritten Strophe etwas dynamischer.219 In der ersten Strophe des Gedichts wird die Ausgangssituation beschrieben und die Position des lyrischen Ichs explizit genannt: Letzteres betrachtet in der nächtlichen Stille ein Haus, das Erinnerungen an eine vergangene Liebe weckt. Die Nachtruhe, die sich auf die unmittelbare Umgebung, die „Gassen“, erstreckt, wird dabei vor allem akustisch wahrgenommen („Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen“) und diese Beschreibung der akustischen Atmosphäre vermittelt zunächst den Eindruck einer friedlichen Nachtruhe. Die Verwendung des Präteritums („wohnte“) im zweiten Vers lässt erahnen, dass die (einstige) Geliebte das Haus zum gegebenen Zeitpunkt nicht mehr bewohnt und der dritte Vers erläutert anschließend explizit, dass der „Schatz“ „längst die Stadt verlassen“ hat. Im Gegensatz dazu hat der Ort, der für das Ich und seine Geliebte eine große Bedeutung hatte und nun mit Erinnerungen an die gemeinsame Zeit besetzt ist, immer noch Bestand. Das Ich nimmt also in dieser ersten Strophe Bezug auf den Ort des Geschehens, den er vermutlich gezielt aufgesucht hat, und setzt ihn in 218Heine, Heinrich: Buch der Lieder. Nachlese zu den Gedichten. Hrsg. und kommentiert von
Briegleb, Klaus. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1975, S. 118. 219 Zur Interpretation für den Einsatz im Unterricht siehe auch: URL: http://www.school-‐scout.de/4893-‐heine-‐heinrich-‐der-‐doppelgaengershinweise
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Verbindung mit einer immer noch geliebten Person, wie die Verwendung des Kosenamens „Schatz“ vermuten lässt. „Ein Grund für die Heimkehr des Subjekts zu „demselben Platz“ könnte in dessen Wunsch bestehen, sich vergangenes Erleben wieder ins Gedächtnis zu rufen und sich dort insofern seiner eigenen Identität zu vergewissern“220, da die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit als wichtig für die Identitätskonstitution eines Menschen gilt. Im Folgenden muss das Ich in Heines Gedicht feststellen, dass es nicht unmittelbar an die Vergangenheit anknüpfen kann, da sich „Absenzen und Differenzen gebildet haben“.221 In der zweiten Strophe taucht eine weitere Person auf, welche die selbe Stellung wie das lyrische Ich einnimmt („Das steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe“) und welche von der Gewalt der Schmerzen, die mit dem Betrachten des Hauses einherzugehen scheinen, übermannt wird: „Und ringt die Hände vor Schmerzensgewalt“. Der Blick nach oben könnte dabei andeuten, dass diese Person auf der Suche nach Gottes Hilfe ist, von welchem er sich erhofft, dass er ihn von seinem Leiden erlösen könnte. Vers sieben und acht lassen dann jedoch erkennen, dass es sich bei der zweiten Person um das Spiegelbild des Ichs handelt, das durch das Mondlicht auf einer Spiegelfläche des Hauses erkennbar wird („Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt“). Dabei wird explizit erwähnt, dass es dem lyrischen Ich vor diesem „Antlitz“ „graust“, es schreckt also vor seinem eigenen gespenstigen Aussehen zurück. Das lyrische Ich wird also mit seiner eigenen Erscheinung konfrontiert und fühlt sich dabei sichtlich unwohl, was darauf zurückzuführen sein könnte, dass es unterdrückte, unbewusste Anteile seiner Persönlichkeit sowie verdrängte Erfahrungen und Leidenschaften im Spiegel erblickt. Diese könnten bewirken, dass das Ich emotional aufgewühlt ist, sich seiner selbst fremd fühlt und das eigene Spiegelbild als fremde Person wahrnimmt. Nach Katrin Sousa erscheint das Grausen hier als „Zuspitzung eines Gefühl des Unheimlichen, das nach Freud (…) über keine eindeutige Bestimmung verfügt.“222 Der Sprecher dieses Gedichtes erinnert dabei stark an Annette von Droste-‐Hülshoffs lyrisches Ich in „Das Spiegelbild“, da beide mit Facetten ihrer Persönlichkeit konfrontiert werden, die ihnen unangenehm sind und die ihnen Furcht einflößen. Setzt man die im Gedicht beschriebene Erfahrung des lyrischen Ichs zu den Theorien des Zeichentheoretikers Umberto Eco, welcher sich unter anderem damit beschäftigt hat, ob 220 Sousa, Karin: Buch der Lieder, S. 17. 221 Sousa, Karin: Buch der Lieder, S. 17. 222 Sousa, Katrin: „Buch der Lieder“, S. 52.
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es sich bei dem Spiegel um ein Zeichen handele, dann ist der Spiegel hier auf eine gewisse Weise als „Duplikat des Reizfeldes“ zu verstehen. Es handelt sich um „eine virtuelle Verdopplung der Reize“ und es zeigt die „permanente Versuchung, (sich) selbst für einen anderen zu halten“, (...) eine „singuläre Erfahrung auf der Schwelle zwischen Wahrnehmung und Bedeutung.“223 Der Spiegel ist laut Eco immer Kanal und Prothese zugleich224 und kann somit auch Sinnestäuschungen hervorrufen: In Heines Gedicht erliegt das lyrische Ich der Täuschung, es handele sich bei dem Ich im Spiegel um eine andere Person, bis es erkennt, dass es die eigene Erscheinung betrachtet. Diese Erscheinung im Spiegel wäre dann im Sinne Freuds nicht als bloße Widerspiegelung des Selbst, sondern als Projektion zu verstehen, bei der unbewusste Gefühle, Impulse, Wünsche und Leiden auf ein anderes Objekt (hier das eigene Spiegelbild) übertragen werden.225 Das Ich leugnet hier Kränkungen, die die eigene Souveränität in Frage stellen, da es „die in seiner Kindheit genossene omnipotente Selbstliebe nicht entbehren mag und ständig bemüht ist, sie in immer neuen Formen der Ich-‐Idealisierung wiederzugewinnen.“226 In der letzten Strophe des Gedichts kommt es dann zu einem Dialog mit dem Spiegelbild, welches weiterhin als fremde Person wahrgenommen wird. Dabei spricht das Ich es direkt an und weist es als ihm nicht zugehörig zurück. Immer noch „graust“ es dem Ich vor dem gespenstigen Aussehen des eigenen Spiegelbildes: Es wird als „bleicher Geselle“ wahrgenommen. Das lyrische Ich fühlt sich von diesem „Doppeltgänger“ lächerlich gemacht, da es ihn nachzuäffen scheint („Was äffst du nach“). Dabei ist vor allem der Begriff „Doppeltgänger“ anstelle von „Doppelgänger“ interessant. Während es sich bei Doppelgänger um eine Person handelt, die einer anderen im Aussehen so stark ähnelt, dass es zu Verwechslungen ihrer Identität kommen kann, kann der „Doppeltgänger“ als abgespaltener Teil der Persönlichkeit zu sehen sein, der einem so fremd erscheint, dass er als andere Person wahrgenommen wird. Im zweiten Vers der dritten Strophe wird schließlich die Ursache für die emotionale Aufgewühltheit und das gespenstige Aussehen des lyrischen Ichs genannt: das „Liebesleid“. Die Konfrontation mit den Erinnerungen an die unglücklich verlaufene Liebesbeziehung scheinen das lyrische Ich dermaßen zu quälen, dass sich die Leiden 223 Eco: Über Spiegel, S. 38. 224 Siehe Seite 11. 225 Siehe Seite 23. 226 Siehe 2.1.2. Freuds Theorie des Narzissmus
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sogar in seinem Äußeren manifestieren. Vor allem an diesem Schauplatz der gemeinsam verbrachten Zeit treten die Erinnerungen an die amourösen Ereignisse wieder zutage und nehmen Gestalt an. Dass die Liebesbeziehung nicht nur ein unglückliches Ende gefunden hat, sondern es sich dabei um eine destruktive Beziehung an sich gehandelt hat, lassen die zwei letzten Verse („Das mich qequält an dieser Stelle, So manche Nacht in alter Zeit“) erahnen. Die Erinnerungen an diese unglückliche Beziehung sind an diesem Schauplatz so stark, dass sie eine Rückführen in die Vergangenheit ermöglichen. Das lyrische Ich wird also nicht von seinem gespenstigen Aussehen geplagt, sondern vielmehr von den schmerzhaften Erinnerungen an eine vergangene Zeit, die ihn dermaßen quälen, dass er „bleich“ und kraftlos wirkt. Dabei kann man erahnen, dass das Ich mit dieser Liebesbeziehung längst nicht abgeschlossen hat, da es diesen Ort der gemeinsam verbrachten Zeit aufgesucht hat und seine Leiden nach wie vor Bestand haben wie der Schauplatz an sich. Die Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild veranlasst das lyrische Ich in diesem Gedicht also dazu, sich mit der eigenen Gefühlswelt und der damit eng verbundenen eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Im Sinne Sigmund Freuds wird das Ich hier mit den verdrängten Anteilen seines Es konfrontiert, die sein Über-Ich gerade an diesem Schauplatz nicht mehr zu unterdrücken vermag. Womöglich ist es dem Ich eine Weile gelungen, die für ihn inakzeptablen Impulse des Es nach dem im Gedicht erwähnten Beziehungsende abzuwehren. „Bei einer Verdrängung handelt es sich um die unbewusste Unterdrückung eines Triebbedürfnisses (...) oder eines irgendwie belastenden Impulses aus dem Es (z.B. Minderwertigkeits-‐, Schuld-‐, Scham-‐, oder Angstgefühle),“227 die jedoch durch einen Anstoß (hier das Betrachten des Hauses) ins Bewusstsein des Ichs gelangen können. 5.4. Gottfried Keller: Winternacht Der Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller wurde am 19. Juli 1819 in Zürich geboren und verstarb am 15. Juli 1890 in seiner Heimatstadt. Schon zu Lebzeiten war er ein hochgeschätzter Prosaautor, während sein lyrisches Werk, das über 500 Gedichte umfasst, eher unbeachtet blieb.228 Der Sohn eines frühverstorbenen Drechslermeisters 227 http://www.brühlmeier.info/freud.htm, S. 8. 228 Vgl. Keller, Gottfried: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon in
18 Bänden, 3., völlig neu bearbeitete Auflage 2009.
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wächst in bescheidenen Verhältnissen auf und wird dieser Welt der kleinen Leute stets treu bleiben.229 Der kleingewachsene Mann wird zeit seines Lebens unter Depressionen leiden, die Suche nach einer Lebensgefährtin bleibt vergebens und er wird von der Mutter und der Schwester mitversorgt. Was sein literarisches Werk angeht, hat Keller jedoch hohe Ansprüche. So haben vor allem seine Gedichte oft programmatisch-‐ politischen Charakter. Die Schweizer Demokratie erlaubt politisches Handeln und so kreisen seine literarischen Themen um tagespolitische Schweizer Ereignisse wie auch um den deutschen Liberalismus.230 Neben diesen sozialkritischen Gedichten behandelt Keller aber auch politisch-‐weltanschauliche Themen. An seiner ersten Sammlung „Gedichte“ kann man erkennen, inwiefern der Autor mit seiner Naturlyrik und seiner politischen Lyrik an den Vormärzaktivismus anknüpft, wobei sich Keller jedoch stärker auf die konkrete Wirklichkeit einlässt und sich bei seinem rhetorischen Pathos eher zurückhält.231 Mit seiner eigenwilligen Bildlichkeit und seinem „Anthropomorphismus“ nimmt Keller den Symbolismus vorweg und verzichtet auf die im 19. Jahrhundert populäre Erlebnislyrik. Nur als „Natur-‐Dichter“ sieht Keller die Lyrik an ein ungebrochenes Ich-‐Erleben gebunden. So kommt es, dass nur wenige Gedichte Kellers Eingang in Lyrikanthologien seiner Zeit gefunden haben (u.a. „Winternacht“) und dass seine Gedichtsammlungen zu seinen Lebzeiten kaum Achtung finden.232 Was die Form seiner Gedichte betrifft, hält Keller sich an formale Konventionen, gibt die Verbindlichkeit von Strophe, Versmaß und Reim nie auf und bedient sich volksliedartiger Strophentechnik und lyrischer Genres wie der Ballade und des Sonetts. So bildet sein lyrisches Werk eine Ausnahme neben der an Goethe orientierten Erlebnislyrik und der symbolischen Tendenz zur Verknappung und zur chiffrenartigen Gestaltung.233 Die Literaturforschung sagt Keller eine gewisse Nähe zum Naturalismus zu (da er das Hässliche in seine Gedichte mit einbezieht) sowie auch zum Symbolismus
URL: http://www.munzinger.de/document/22000353000_010 (abgerufen von Bibliothèque nationale de Luxembourg am 28.4.2014) 229 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 409 230 Keller, Gottfried: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden. 231 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 409 232 Keller, Gottfried: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden. 233 Vgl. Keller, Gottfried: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden.
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(da ihm das Gesehene zum Symbol wird).234 Dabei wurden der surreale Zug seiner Lyrik sowie auch die darin enthaltenen erotischen Elemente in der Vergangenheit zu oft verkannt.235 Wie bereits erwähnt, ist „Winternacht“ (1851) eines der wenigen Gedichte Kellers, die von den Zeitgenossen beachtet wurden. Das Gedicht entstammt einer zweiten Phase lyrischer Produktion, die zeitgleich mit dem Roman „Der grüne Heinrich“ entstanden ist.
Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt, Still und blendend lag der weiße Schnee. Nicht ein Wölklein hing am Himmelszelt, Keine Welle schlug im starren See. Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf, Bis sein Wipfel in dem Eis gefror; An den Ästen klomm die Nix herauf, Schaute durch das grüne Eis empor. Auf dem dünnen Glase stand ich da, Das die schwarze Tiefe von mir schied; Dicht ich unter meinen Füßen sah Ihre weiße Schönheit Glied um Glied. Mit ersticktem Jammer tastet' sie An der harten Decke her und hin – Ich vergeß das dunkle Antlitz nie, Immer, immer liegt es mir im Sinn!
Das Gedicht spricht von einer nächtlichen Welt, die durch eine Grenze getrennt ist, welche aus einer grünen Eisschicht besteht. Auf dieser zu zerbrechen drohenden Eisschicht eines zugefrorenen Sees befindet sich das lyrische Ich und ist nur durch diese von einer Unterwasserwelt getrennt. Beschrieben werden somit zwei Sphären: oben Land und Luft, blendender Schnee, wolkenloses Sternenzelt, unten Leben und Schwärze.236 In dieser oberen Winterlandschaft herrschen Starre und Leblosigkeit: nicht ein Flügelschlag, nicht ein Wölklein, keine Welle. Das lyrische Ich nimmt diese obere Winterlandschaft als leer wahr und scheint sich in dieser Welt nicht wohlzufühlen. 234 Vgl. Keller, Gottfried: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden 235 Vgl. Keller, Gottfried: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden. 236 Vgl. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik von Heine bis zur Gegenwart. erster Teil. Band 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch 1991, S. 270.
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Vergleicht man diese kalte, aber real scheinende Welt oberhalb der Eisschicht mit der Unterwasserwelt in der zweiten Strophe, fällt auf, dass die hier beschriebenen Elemente belebt und in Bewegung sind. Auch die hier erwähnte grüne Farbe, welche für das Leben steht, bildet einen starken Kontrast zur regungslosen, weißen Winterlandschaft.237 Beschrieben wird in der zweiten Strophe ein Seebaum, der nach oben steigt, bis das Eis seinen Aufstieg einhalten lässt, sowie eine Nixe, die an diesem Gewächs nach oben klettert und die Welt oberhalb der Eisschicht betrachtet. Die Nixe tastet sich an der unpassierbaren Grenze hin und her, während das Ich „ihre weiße Schönheit“ unbeweglich betrachtet. Den weißen Körper der Nixe sieht es als begehrenswert an, obwohl die ihr zugehörige Welt ihm unheimlich erscheint („die schwarze Tiefe“).238 Das Ich und die Nixe sind nur durch eine dünne Eisschicht voneinander getrennt und doch können sie nicht zueinander finden.239 Die Nixe gehört dabei nicht in diese Unterwasserwelt, sie klettert anstatt zu schwimmen und ihr Blick in die obere Welt ist jammervoll.240 Vergleicht man die dritte Strophe mit der vierten, um die mythischen Bilder und Metaphern zu entschlüsseln, fällt auf, dass nun von einem „dunkle(n) Antlitz“ die Rede ist. Dieses Angesicht ist nicht der Nixe, sondern dem lyrischen Ich zugehörig: Das lyrische Ich sieht sein eigenes Gesicht, welches er als fremd, „dunk(el)“ empfindet, auf der dünnen Eisschicht gespiegelt.241 Wird in einem nächsten Schritt das Bild des auf der Eisschicht sich spiegelnden Ichs in Bezug zu der mythischen Welt unterhalb der Eisschicht gesetzt, erkennt man, dass die Welt oberhalb des Sees der Sphäre des Realen zuzuordnen ist, während die Unterwasserwelt die Tiefenschichten des Ichs, das Unbewusste repräsentiert. Diese Tiefenschichten versuchen sich nach oben zu „taste(n)“ wie die Nixe beziehungsweise zur Oberfläche emporzusteigen wie ein Seebaum, können jedoch nicht durch die „harte Decke“ stoßen. Anhand des Motivs der Nixe wird erkennbar, dass das Ich diese Welt des Unbewussten als verlockend und bedrohlich zugleich empfindet. Doch obwohl diese Unterwasserwelt als begehrenswert geschildert wird, macht das Ich keine Versuche, in
237 Vgl. Oldenbourg Interpretationen, S. 135. 238 Vgl. Oldenbourg Interpretationen, S. 135. 239 Vgl. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik, S. 270. 240 Vgl. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik, S. 271. 241 Vgl. Oldenbourg Interpretationen, S. 135.
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diese Welt durchzubrechen, und beschränkt sein Dasein auf die kalte Welt des Realen.242 Keller „paart die erotische Sehnsucht mit der Angst davor. Die Einbildungskraft des Subjekts phantasiert in die emporsteigende Seefrau sein sexuelles Begehren und wehrt es im selben Atemzug ab.“243 Das Ich beobachtet, wie Es und Über-Ich gegeneinander ankämpfen und entscheidet sich schließlich gegen die inneren Triebe und Leidenschaften. Wie in der Geschichte der europäischen Kulturgeschichte weissagt „das Bespiegeln im Wasser (…) dem Träumenden (…) den Tod.“244 Als Symbol der Erkenntnis und Selbsterkenntnis ist der Wasserspiegel hier als Metapher zu verstehen, die auf ein Dahinter aufmerksam macht: „Im Spiegel des Wassers erkennst du dein Gesicht und im Spiegel deiner Gedanken erkennst du dich selbst.“245 Auch hier liegt der Spiegel innerhalb des Bewusstseins und beruft man sich auf den Dialektischen Materialismus, stellt die Spiegelmetapher hier die Möglichkeit der Selbsterkenntnis dar, welche die Voraussetzung und das Ziel der höchsten Erkenntnis ist.246 Laut
Emil
Staiger,
einer
der
meistbeachteten
deutschsprachigen
Literaturwissenschaftler, der die werkimmanente Interpretation für einen gewissen Zeitraum zur führenden Methode der Germanistik gemacht hat, wird die Frau als Geschlechtswesen in dem Gedicht zur mythischen Frau, zur Nixe, und ist die „Projektionsfigur der entfremdeten Geschlechtlichkeit des Ichs. Ein gefrorner Narziss sieht unterm Eis sein anderes, abgeschiedenes Ich, das Ich seiner Sinne und Triebe, als ein fremdes, befremdliches, verstörendes, verführendes Gegenbild. Glied für Glied ist es glasklar vor Augen, aber Glieder sind anonym. Das Gesicht ist dieses und kein anderes, doch es liegt im Dunkeln. Der Mann auf dem Eis weiß alles und nix von der Nix. die geschlechtslose Wortform (bei Keller kommt auch der Nix vor) lässt ahnen: Das dunkle Gesicht ist nix als das eigene als fremdes.“247 Mit dem Motiv der Nixe greift Keller auf eine lange literarische Tradition zurück. Die in Goethes „Fischer“ heraufrauschende Nixe wie auch die bei Brentano und Heine über 242 Vgl. Oldenbourg Interpretationen, S. 135. 243 Sautermeister, Gerhard: Die Lyrik Gottfried Kellers. Exemplarische Interpretationen. In: Quellen und Forschungen zur Literatur-‐ und Kulturgeschichte. Hrsg. von Osterkamp, Ernst; Röcke, Werner. Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 16. 244 Metzler Lexikon literarischer Symbole, S. 358. Siehe auch 1.3. Der Spiegel als Symbol in der europäischen Kulturgeschichte. 245 http://.www.bibelwissenschaften.de. Siehe 1.3.1. Der Spiegel als Symbol der Erkenntnis und Selbsterkenntnis in der Antike. 246 Vg. Millner: Weltenspiegel, S. 32. Siehe 1.3.3. Der Spiegel in der erkenntnistheoretisch geprägten Phase der deutschen Kulturgeschichte. 247 Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik, S. 272.
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dem Wasser schwirrende Loreley sind als erotische Wesen zu sehen, die den männlichen Betrachter zu einer Selbstpreisgabe sowie zu Schiffbruch und Tod verführen.248 Bei Keller kommt es jedoch nicht so weit, da das lyrische Ich sich vor einer Selbstpreisgabe schützt, indem es die Nixe unter „die harte Decke“ verbannt und die weibliche Lockung somit aus seinem Inneren aussperrt.249 Die bewusste Persönlichkeit, das Ich im Sinne Freuds lässt das Über-Ich an dieser Stelle triumphieren: Der kontrollierenden, mahnenden Instanz gelingt es hier, den Sexualtrieb (Eros) zu unterdrücken.250 Dabei werden diese Triebe auf die Figur der Nixe projiziert und aus dem Bewusstsein, unter eine harte Decke verbannt. Die Nixe ist hier im Sinne Ecos als Zeichen zu verstehen, das auf etwas anderes (die Sexualtriebe) verweist und der Wasserspiegel als „Duplikat des Reizfeldes“ erlaubt es dem Ich, sich selber zu erkennen.251
In der Form des Textes erkennt Gerhard Kaiser „eine Tendenz zum Schmelzen des Eises“.252 Auf den ersten Blick wirkt die Form wie „gepanzert“ durch das erzählende, distanzierende Präteritum, die fünfhebigen Trochäenverse und den strengen Kreuzreim. Doch die Enjambements „überfluten“ diese Versgrenze, was zeigt, dass die Welt unterhalb der Eisschicht Gegenwart werden will.253 Während auf inhaltlicher Ebene das Über-Ich also unter der Eisgrenze beleibt, überflutet es auf der Formebene diese Barriere. „Winternacht“ kann insofern als „Spiegelgedicht“ bezeichnet werden, da man anhand einer intensiven Aufarbeitung der beiden im Gedicht beschriebenen Sphären (Winterlandschaft und Unterwasserwelt) erkennen kann, dass der Autor das Thema der Auseinandersetzung mit den eigenen Tiefenschichten, dem Es, anhand des Spiegelmotivs aufgreift und in mythische Bilder kleidet. 248 Vgl. Sautermeister, Gerhard: Die Lyrik Gottfried Kellers, S. 18. 249 Vgl. Sautermeister, Gerhard: Die Lyrik Gottfried Kellers, S. 18. 250 Siehe 2.1.1. Die psychische Persönlichkeit: Drei psychische Instanzen. 251 Siehe 1.2. Der Spiegel als Zeichen. 252 Vgl. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik, S. 272. 253 Vgl. Kaiser, Gerhard: Geschichte der deutschen Lyrik, S. 272.
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5.5. Georg Trakl: Das Grauen Der österreichische Lyriker Georg Trakl wurde am 3. Februar 1887 in Salzburg geboren und ist am 4. November 1914 im Alter von nur 27 Jahren in Krakau gestorben. „Wer vermag er gewesen sein?“, fragte sich Rainer Maria Rilke, als Trakl, wahrscheinlich durch Selbstmord, so früh gestorben war. Wie sein Werk galt auch die Person des Lyrikers als einsam, verschlossen, rätselhaft und voller Leiderfahrung. „Der Versuch, sich zum Leben zu bringen, ohne wirklich lebensfähig zu sein, und zur Sprache zu bringen, was sich der Sprache entzieht, so ließe sich das Paradox von Leben und Werk auf eine Formel bringen.“254 Trakl stammte aus gutbürgerlichen Verhältnissen, kam jedoch mit den bürgerlichen Realitäten nur schwer zurecht. Die Schule brach er ab und den Beruf als Pharmazeut hat er nur sporadisch ausgeübt. Er galt schon als Kind als psychisch labil und kämpfte in seinem kurzen Leben immer wieder mit psychischen Problemen. Seine Kriegserfahrungen im Jahr 1914 (vor allem die Schlacht bei Grodek, über die er eines seiner bekanntesten Gedichte schrieb) sowie die schon früh ausgeprägte Drogen-‐ und Alkoholsucht stürzten ihn in den Wahnsinn. Nur kurze Zeit nach der Schlacht bei Grodek ist
Trakl
an
einer
Kokainvergiftung
gestorben,
nachdem
bereits
einige
Selbstmordversuche gescheitert waren. Zur Schwester Margarethe hatte Trakl angeblich ein inzestuöses Verhältnis. Letztere taucht namenlos immer wieder in seinen Gedichten auf, in denen er seine Erfahrungen zu verarbeiten versucht.255 „Es ist ein namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht“256, notierte Trakl im Jahr 1913. Das mit dieser Erfahrung verbundene Leid, der Verzweiflungston sowie das damit verbundene Todesthema sind prägend für seine Dichtung.257 Sprache verliert ihre Bedeutung und Funktion, da die vom Autor empfundene Hilflosigkeit sprachlos macht. Doch Trakl ist in der Lage, das Unaussprechbare dichterisch zum Ausdruck zu bringen. Der Autor konnte nach Alfred Kolleritisch aussprechen, „was sich dem Gedicht heute schon versagt“. Trakl habe „das Szenario einer geschädigten, untergehenden Welt (…) durch seine poetische, visionäre Sprache für den Augenblick eines Gedichts noch 254Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 766. 255 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 766. 256 Vgl. Hick, Walter : « Zerbrochene Harfe ». Die Dichtung der Frühverstummten. Georg Heym
und Georg Trakl. Aisthesis Essay. Band 21. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2004, S. 48. 257 Vgl. Hinck : Zerbrochene Harfe, S. 48.
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einmal
bannen“
können.258
Seine
Lyrik
scheint
insgesamt
geprägt
von
Untergangsstimmung und Resignation, was in einer starken Metaphorik deutlich wird. In Bildern von Zerstörung und Bedrohung sind Trakls Gefühle von Verzweiflung und Fatalismus erkennbar.259 Doch erst seine spätere Lyrik zeigt die für Trakl typische Eigenheit auf: Aus miteinander verflochtenen Bildgefügen, die häufig fremdartig dunkel wirken und überraschende Farbmotive bevorzugen, entsteht das Bild der zerbrochenen Welt und des leidenden, brüchigen Subjekts in ihr.260 Dabei werden die äußeren Erscheinungen des Verfalls in das lyrische Ich hineinprojiziert, so dass dieses auch als „brüchig“ erscheint. „Der äußere Zustand der Welt und der innere des lyrischen Subjekts werden identisch“.261 Auch in der Form „zerbricht“ Trakl seine späte Lyrik in zunehmendem Maße und sucht so die adäquate Gestaltung seines Inhalts. Nach seinen symbolistischen Anfängen entwickelt er seine Form weiter zu freien Rhythmen und reimlosen, verschlossenen Versen. In dieser äußeren Form zeigt sich das Gefühl Trakls, dass die Welt im Chaos versinkt und dem Untergang geweiht ist.262 Bereits seine frühen Gedichte („Sammlung 1909“) machen in den Bildern des herbstlichen Verfalls, der Schwermut, der Angst und des Untergangs deutlich, wie sehr der Autor seine eigene Existenz als krisenhaft und gefährdet empfindet.263 Unterstützt wird dieser Grundgedanke des Weltuntergangs durch die Häufung des Reihungsstils und den unübersehbaren Traumcharakter von Trakls Gedichten.264 Das Gedicht „Das Grauen“, das erst nach Trakls Tod publiziert wurde, gehört zu der „Sammlung 1909“, deren Entstehungsphase zwischen 1906 und 1909 liegt. In dem Gedicht, das somit kein Werk des „expressionistischen Jahrzehnts“ (1910-‐1920) ist und 258 Kolleritisch, Alfred. In: Antworten auf Georg Trak, hg. Von Finck, Adrien; Weichselbaum,
Hans. Trakl-‐Studien, XVIII. Salzburg 1992, S. 77. Zitiert nach: Csúri, Károly (Hrsg.): Georg Trakl und die literarische Moderne. In: Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte. Band 136. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2009, S. 219. 259 Vgl. Georg Trakl. Leben und Werk. www.school-‐scout.de, S. 2 260 Vgl. Metzler Lexikon Autoren, S. 766. 261 Georg Trakl. Leben und Werk. www.school-‐scout.de, S. 2 262 Zur poetischen Darstellungsweise und Wirkungsgeschichte Trakl siehe auch: Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls. Beiträge zur poetischen Verfahrensweise und zur Wirkungsgeschichte. Trakl-‐Studein. Band XXI. Salzburg/Wien: Otto Müller Verlag 2001 263 Vgl. Trakl, Georg: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online/Kindlers Literatur Lexikon in 18 Bänden, 3. Völlig neu bearbeitete Auflage 2009. URL: http://www.munzinger.de/document/22000698000_010 (abgerufen von Bibliothèque nationale de Luxembourg am 28.04.2014) 264 Vgl. Trakl, Georg: Das lyrische Werk. In: Munzinger Online.
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dennoch in der Literaturforschung zu den frühexpressionistischen Werken gezählt wird, sind viele typischen Eigenschaften von Trakls Lyrik erkennbar. Ich sah mich durch verlass'ne Zimmer gehn. -‐ Die Sterne tanzten irr auf blauem Grunde, Und auf den Feldern heulten laut die Hunde, Und in den Wipfeln wühlte wild der Föhn. Doch plötzlich: Stille! Dumpfe Fieberglut Läßt giftige Blumen blühn aus meinem Munde, Aus dem Geäst fällt wie aus einer Wunde Blaß schimmernd Tau, und fällt, und fällt wie Blut. Aus eines Spiegels trügerischer Leere Hebt langsam sich, und wie ins Ungefähre Aus Graun und Finsternis ein Antlitz: Kain! Sehr leise rauscht die samtene Portiere, Durchs Fenster schaut der Mond gleichwie ins Leere, Da bin mit meinem Mörder ich allein.265 Bereits der Titel des Gedichts „Das Grauen“ weckt Assoziationen eines erschreckenden, unheimlichen Ereignisses. Untersucht man den Standort und die Wahrnehmung des lyrischen Ichs in der ersten Strophe, kann man anhand der Präteritum-‐Form erfassen, dass der Standort und die Wahrnehmung des lyrischen Ichs als Erinnerung in der Vergangenheit gekennzeichnet sind: „Ich sah mich“. Es wird angedeutet, dass das Ich in dieser Erinnerung „verlass’ne Zimmer“ durchschreite und sich somit im Inneren eines Gebäudes befinde. Dass das Zimmer als „verlassen“ gekennzeichnet wird, könnte auf eine mögliche innerliche seelische Leere des lyrischen Ichs hinweisen. Gleichzeitig schildert das Ich jedoch intensive Natureindrücke (Heulen der Hunde, Wehen des 265 Trakl, Georg: Das dichterische Werk. Auf Grund der historisch-‐kritischen Ausgabe von Killy,
Walther; Szklenar, Hans. Deutscher Taschenbuch Verlag 1998.
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Windes) und es sieht die Sterne „irr“ tanzen. Es ergeben sich also zwei Möglichkeiten: Entweder das lyrische Ich beobachtet die Naturereignisse aus dem Fenster eines Gebäudes heraus oder das Geschehen ist auf einer irrealen Ebene anzuordnen. Der Standortwechsel des Ichs sowie die fehlende Einheit der Bilder lässt erahnen, dass die dargestellte Szene nicht der Realität sondern eher einem Traumgebilde entspricht. Der erste Vers der zweiten Strophe liefert schließlich eine Erklärung: Das lyrische Ich spricht von einer „dumpfe(n) Fierberglut“, so dass davon auszugehen ist, dass die beschriebenen Ereignisse einem Fiebertraum entsprungen und somit tatsächlich als Traumsequenz zu kennzeichnen sind. Dies lässt sich unter anderem damit begründen, dass Sterne eigentlich als unbewegliche Himmelskörper wahrgenommen werden und nicht „irr“ tanzen können. Die Verben in der zweiten Strophe stehen im Präsens, so dass der Leser nun in die Gegenwart zurückgeführt wird. Was das Blumenmotiv in der zweiten Strophe angeht, bricht Trakl mit der romantischen Verwendung des Motivs (die Blume als Motiv für die Sehnsucht und die Liebe). Den Blumen wird in diesem Gedicht das Attribut „giftig“ zugesprochen und sie scheinen aus dem Inneren des Ichs zu wachsen („blühn aus meinem Munde“). Die Blume bei Trakl ist somit als zerstörerisches Element zu betrachten, welches als Motiv des inneren Zerfalls genutzt wird. Dabei ist auch der sexuelle Gehalt des Symbols auffällig: Die Blumen werden in Verbindung mit dem Mund gebracht, dem Symbol des sexuellen Begehrens. Dabei muss beachtet werden, dass Sexualität bei Trakl von seelischer Liebe losgelöst und als „besondere Form männlicher Gewalt“ scheint.266 In Vers sieben bis acht erfolgt nun ein doppelter Vergleich der Natur mit dem menschlichen Körper: Das „Geäst“, aus dem Blut „fällt“ wird mit einer Wunde verglichen, während das Blut an sich wie „Tau“ aussieht, sich also in kleinen Tröpfchen „blaß“, dumpf und undeutlich niederschlägt. Das „Blut“ als Symbol der Schuld und des Sterbens weist hier auf einen möglichen tödlichen Ausgang des Handlungszusammenhangs voraus. Der Akt des Fallens steht für den Kontrollverlust des lyrischen Ichs über seinen Körper. Das Blumenmotiv sowie der damit verbundene doppelte Vergleich könnten als Metapher für die seelische Verfassung des Ichs gelesen werden. Letzteres hat das Gefühl, als ob eine Krankheit aus seinem Inneren wachse, möglicherweise psychisch bedingt aufgrund von Schuldgefühlen oder dergleichen. Die Zerstörung des Ichs erfolgt also hier nicht durch eine äußere Einwirkungskraft, sondern durch eine Krankheit im Inneren des 266Vgl. Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls, S. 72.
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Ichs, es handelt sich um ein tief mit der Psyche des Ichs verwurzeltes Leiden, das ihn zugrunde richtet. In der dritten Strophe kommt es zu einer Konfrontation mit dem eigenen Spiegelbild. Dabei blickt das Ich in die „trügerische“, also täuschende „Leere“ eines Spiegels und nimmt etwas Unbekanntes, Gefürchtetes wahr, womit es nicht konfrontiert werden möchte, da es von „Graun“ und „Finsternis“ spricht: Das Angesicht des biblischen Brudermörders Kain, der erste Sohn Adam und Evas, der seinen Bruder aus Neid erschlug, wird im Spiegel erkennbar.267 In der europäischen Kulturgeschichte, insbesondere im Aberglauben der Völker, wurde der leere Spiegel schon immer mit Seelenlosigkeit assoziiert. So haben zum Beispiel mysteriöse Kreaturen wie Vampire und Dämonen kein Spiegelbild, da sie der Welt der Toten angehören.268 Setzt man nun diese Strophe in Bezug zum letzten Vers des Gedichtes, wird deutlich, dass das lyrische Ich die Rollen Kain und Abels vereint und sein eigenes Angesicht im Spiegel erblickt, das ihm fremd erscheint: Das Ich ist mit „(s)einem Mörder (...) allein“. Der Vorhang fällt („Sehr langsam rauscht die samtene Portiere“), der Mond betont noch einmal die „Leere“ des Raumes und das Ich wird mit den Abgründen seiner eigenen Persönlichkeit konfrontiert. Es befindet sich keine weitere Person im Raum, die im Spiegel auftauchen könnte, sondern das Ich betrachtet sich im Spiegel und erblickt seinen Mörder, weil es sich wahrscheinlich selbst umbringen möchte und wird. Letzteres erkennt die Abgründe im eigenen sich spiegelnden Ich, die es als Krankheit im Inneren empfindet und die es dermaßen erschüttern, dass es mit Selbstmordgedanken ringt, um nicht länger damit leben zu müssen. Überraschend ist, dass Trakl die Sonett-‐Form (2 Quartette, 2 Terzette) für sein verschlüsseltes Gedicht gewählt hat. Der innere Zerfall des lyrischen Ichs schlägt sich also nicht in der Form des Textes nieder. Der Autor „zerbricht“ die Form in diesem Gedicht noch nicht und somit findet der Inhalt des Gedichtes hier nicht seine adäquate Gestaltung in der Form. Dennoch spiegeln die dunklen Vokale den düsteren, unheimlichen Charakter des Gedichtes wider. Inwiefern sich ein Bezug zwischen der inzestuösen Beziehung des Autors zu seiner Schwester und dem Gedicht herstellen lässt, ist nicht eindeutig zu klären. Das Gedicht ist posthum veröffentlicht worden und somit konnte er nie Stellung dazu nehmen. 267 Zur an die Bibel anklingenden Sprache im Werk Trakls siehe: Doppler, Alfred: Elemente der
Bibelsprache. In: Die Lyrik Georg Trakls, S. 82-‐102. 268 Vgl. Millner: Weltenspiegel, S. 51.
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Sicherlich steht der psychisch labile Trakl hinter dem von seiner Psyche gequälten lyrischen Ich, jedoch muss hier auf eine Gleichsetzung von Autor und lyrischem Ich verzichtet werden. Auch Alfred Doppler hat darauf hingewiesen, dass das Verhältnis von Dichtung und Biographie einem „prekären Bereich“ angehöre: „Das kurze Leben Trakls enthält ja alle Ingredienzien des Ungewöhnlichen und Anrüchigen: Drogensucht, Alkoholexzesse, die Vermutung oder die Gewissheit eines Geschwisterinzestes, die Unfähigkeit, einen bürgerlichen Beruf auszuüben, und ein Lebensende, das einen Selbstmord nahelegt, wenn er auch nicht mit letzter Gewissheit als erwiesen angesehen werden kann. Dies alles begünstigt eine Darstellung, die zufällig überlieferte Lebenszeugnisse, Briefe, Gedichte, Dramenfragmente und lyrische Prosa zu einem Lebensfaden zusammenspinnt, in dem festgelegt wird, was in vielfach gebrochener Weise zur Sprache kommt.“269
Der für die Unterrichtsreihe „Spiegelgedichte“ anspruchvollste Text zeigt erneut eine mögliche Verwendungsweise des Spiegelmotivs zur Darstellung innerer Leiden und als Medium zur Konfrontation mit der eigenen Persönlichkeit. Interessant ist dabei vor allem, dass im Sinne Freuds der im Gedicht erläuterte Traum als Manifest des Es verstanden werden kann. Verdrängte Triebe, Ängste und Leidenschaften drücken sich laut Freud häufig in Träumen aus, da das Ich während des Schlafens „geschwächt“ ist.270 „Das Es (…) dringt mit seinen Inhalten ins Traumbewusstsein und –via Rückmeldung an den Traum – ins Bewusstsein ein.“271 In diesem Gedicht handelt es sich beim Es nicht wie bei Heine um den Sexualtrieb (Eros), sondern vor allem um den Todes-‐ und Gewalttrieb (Thanatos), der sich in diesem Fall gegen die eigene Person richtet.272 Das Ende des Gedichtes lässt dabei offen, ob das Ich sich seinen Trieben hingeben wird oder ob es ihm schlussendlich gelingen wird, sein Es mit Hilfe seines Über-Ichs zu verdrängen. Die ausgewählten lyrischen Texte haben somit insgesamt ein großes Potential in Bezug auf deren Interpretation mit Fokus auf die Spiegelmotivik. Auf welche Weise die Gedichte jedoch im Schulunterricht eingesetzt werden können, um den Schülern einen 269 Doppler, Alfred: Die Lyrik Georg Trakls, S. 9. 270 Siehe 2.1.1. Die psychische Persönlichkeit: Drei psychische Instanzen. 271 http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, S. 22. 272Vgl. http://www.bruehlmeier.info/freud.htm, S. 6. Siehe 2.1.1. Die psychische Persönlichkeit:
Drei psychische Instanzen.
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möglichst fruchtbaren und lang anhaltenden Wissenserwerb bezüglich der Analyse lyrischer Texte zu ermöglichen, soll nun im praktischen Teil dieser Arbeit erörtert werden.
79
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II. Praxis
1. Persönliche Herausforderung und Zielsetzung Da wir heutzutage nicht mehr auf Literatur angewiesen sind, um Ideen, Programme und Informationen zu vermitteln, beweist Literatur ihre Daseinsberechtigung nur dann, „wenn sie imstande ist, den Lesern bewusst zu machen, was ihnen bisher nicht bewusst war und was sich mit anderen Mitteln nicht bewusst machen lässt.“273 So bieten literarische
Texte
eine
Erweiterung
kognitiver,
sozialer
und
affektiver
Erfahrungsmöglichkeiten, die vor allem Jugendlichen bei ihrer Identitätsfindung und – bildung zugutekommen kann, da sie sich durch die Analyse literarischer Texte mit dem eigenen Ich und der Umwelt auseinandersetzen. Mithilfe literarischer Texte bekommen die Schüler Zugang zu der Gefühlswelt anderer, meist ihnen fremder oder fiktiver Menschen, sie suchen nach Identifikationsmöglichkeiten und somit kann Literatur wie kein anderes Medium der Bewusstseinswerdung und –erweiterung dienen. Im Rahmen dieser Arbeit will ich die Herausforderung annehmen und versuchen, die Schüler anhand ausgewählter Gedichte aus verschiedenen Epochen, die das Symbol des Spiegels auf unterschiedliche Art und Weise aufgreifen, für Literatur zu begeistern. Die Herangehensweise an die Gedichte soll dabei eine handlungsorientierte und multimodale sein, um somit sowohl den unterschiedlichen Lerntypen innerhalb der Schulklasse als auch der Vielschichtigkeit von literarischen Texten im Allgemeinen und Gedichten im Besonderen gerecht zu werden. 1.2. Begründung der Themenwahl: Spiegel-‐Gedichte Thema dieser sechsstündigen Unterrichtssequenz sind fünf Spiegel-‐Gedichte aus verschiedenen Epochen und von verschiedenen Autoren sowie auch eine in das Thema einführende Unterrichtseinheit zu Sigmund Freuds „Drei psychischen Instanzen“. 273 Reich-‐Ranicki, Marcel: Welchen „Mehrwert“ hat moderne Literatur?
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/fragen-‐sie-‐reich-‐ranicki/fragen-‐sie-‐reich-‐ ranicki-‐welchen-‐mehrwert-‐hat-‐moderne-‐literatur-‐1438868.html
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Ich habe mich im Rahmen dieser Arbeit für die Gattung der Lyrik entschieden, da sich die Schüler einerseits nicht vom Umfang der Texte abschrecken lassen und sie andererseits am Umgang mit Gedichten exemplarisch lernen können, wie man Texte interpretiert.274 Sie sollen die Vieldeutigkeit lyrischer Texte erkennen und somit lernen, diese zu ertragen, um sie für den Austausch mit ihren Klassenkameraden fruchtbar zu machen. Außerdem sollen die Schüler durch den Umgang mit Gedichten ästhetisch und moralisch sensibilisiert werden, indem sie lernen, Urteile zu wagen und diese kritisch zu reflektieren.275 Der Umgang mit lyrischen Texten soll den Schülern zudem zeigen, wie sie ihr eigenes Ausdruckvermögen erweitern können, „indem sie Möglichkeiten für die Verbalisierung ihrer Wahrnehmungen, Erfahrungen, Empfindungen, Gedanken, Phantasien und Träume kennenlernen.“276 Das Thema „Spiegel-‐Gedichte“ habe ich deshalb ausgewählt, weil sich hiermit Verbindungen zu der Erfahrungs-‐ und Lebenswelt der Schüler herstellen lassen. Da die Schüler tagtäglich mit Spiegeln und Spiegelbildern konfrontiert werden und das Motiv ihnen möglicherweise aus Filmen wie aus Texten bekannt ist, soll es mir ein Leichtes sein, hier an das Vorwissen und die Erfahrungen der Schüler anzuknüpfen. Somit sollen die Lerner erkennen, dass das Gedankengut von Texten aus vergangenen Epochen auch in unserer heutigen Zeit allgegenwärtig ist. Auch habe ich das Thema ausgewählt, weil das Spiegelsymbol in literarischen Texten zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Ich verleitet und somit kann diese Unterrichtssequenz der Identitätsbildung der Schüler zugutekommen. 1.3. Begründung der Methodik Die Literatur ist seit Jahrhunderten fester Bestandteil der menschlichen Kultur. Seit dem Wegfall der Zugangsrestriktionen, dem Rückgang des Analphabetismus und der damit 274 Vgl. Hassenstein, Friedrich: Taschenbuch des Deutschunterrichts. Bd.2: Literaturdidaktik.
Baltmannsweiler: Verlag Hohengehren 1998, S. 639. 275 Vgl. Hassenstein: Taschenbuch des Deutschunterrichts, S. 639. 276 Vgl. Hassenstein: Taschenbuch des Deutschunterrichts, S. 639.
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verbundenen Entstehung eines massenhaften Lesepublikums im 18. Jahrhundert hat die Literatur sich als Unterhaltungsmedium etabliert.277 Heute sind uns unterschiedlichste Gestaltungsformen von Literatur (gedruckte Bücher, Hörbücher, Internet-‐Literatur, Poetry-‐Slams, Theaterstücke, Märchenverfilmungen usw.) bekannt, die den verschiedenen menschlichen Vorlieben und Interessen entgegenkommen. Insbesondere bei der Freizeitgestaltung spielt die Literatur in ihren vielfältigen Formen bis heute eine entscheidende Rolle. Jedoch muss Literatur sich heutzutage gegen eine Vielzahl von neuen Medien behaupten und immer wieder wird vom Ende der Gutenberg-‐Galaxis gesprochen. Im Rahmen meines Projektes zu einem handlungsorientierten und multimodalen Zugang zu Spiegelgedichten versuche ich deshalb die Grenzen zwischen alten und neuen Medien, zwischen Literatur und anderen Künsten einzubrechen. Den Schülern werden unterschiedliche Gedichtzugänge in Form von Texten, Bildern, Vertonungen und musikalischen Einlagen angeboten, die dazu dienen sollen, sowohl den unterschiedlichen Lerntypen innerhalb der Klasse als auch der Vielschichtigkeit der lyrischen Gattung gerecht zu werden. Ziel ist es, den Schülern ein modernes Verständnis von Literatur zu vermitteln, das ihr Interesse wecken und sie somit zu einer Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Allgemeinen und lyrischen Texten im Besonderen ermuntern soll. Das Wissen soll dabei nicht nur von der Lehrperson vermittelt werden, sondern im Sinne einer konstruktivistisch ausgerichteten Didaktik auch von den Schülern in Handlungsprozessen selbst erstellt werden. Im Folgenden sollen die konstruktivistische Didaktik und Pädagogik sowie die Leitgedanken handlungsorientierter Unterrichtsformen erörtert werden. Zudem wird dargelegt, inwiefern sich offene Unterrichtsmethoden positiv auf die Schülermotivation, das Klassenklima und die Lernergebnisse auswirken können. Dabei wird gezeigt, dass gerade multimodale Methoden sich anbieten, um die Grenzen zwischen alten und neuen Medien, zwischen Literatur und anderen Künsten einzubrechen, so dass den Schülern ein modernes Verständnis von künstlerischem Schaffen vermittelt wird. Wird im Deutschunterricht zusätzlich zu dem fachspezifischen Input auch mit Bild-‐ und Musikimpulsen gearbeitet, so haben die Lerner zudem in vielfältiger Weise die Möglichkeit, ihr eigenes Lernpotenzial zu entfalten. 277Vgl.
Plumpe, Gerhard: Autor und Publikum. In: Brackert, Helmut/Stückrath, Jörn(Hrsg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Band 2. Hamburg: Reinbek 1992, S. 377-‐391
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2. Konstruktivismus und handlungsorientierter Unterricht 2.1. Anforderungen an die heutige Didaktik In unserer heutigen ambivalenten und unüberschaubar gewordenen Gesellschaft scheinen didaktische Ansätze vergangener Zeiten an Geltung zu verlieren. Im bürgerlichen Fortschrittsalter der Moderne galt Rationalität noch als erfolgreichster Zugang zur inhaltlichen Bestimmung von Erkenntnissen und die Didaktik stand unter dem Zwang eines Fortschrittglaubens. Man versuchte anhand formaler Modelle „mit universalistischem Kode“ Normen, Werte und Verhaltensregeln zu entwerfen und einheitliche Lösungen für möglichst viele Fälle anzubieten.278 Im Laufe der Zeit kam man jedoch zu der Einsicht, dass es kein Modell gibt, das auf alles passt, dass keine Analyse vollständig ist und somit waren universalistische Ansprüche zum Scheitern verurteilt. Heute hat man erkannt, dass ein Lernprozess an Beziehungs-‐ und Kommunikations-‐ formen, an kulturelle und linguale Varietäten und somit an unterschiedliche Kontexte gebunden ist. Während im Zeitalter der Moderne die Didaktik unter dem Zwang langfristigen Erfolgs und eines ständig steigenden Fortschritts stand, sollte eine zeitgemäße Didaktik und Pädagogik Erfolg durch Viabilität ersetzen und die Betroffenen bestimmen lassen, was als Erfolg oder Misserfolg gedeutet wird. Wahrheit und Wissen sollten relativiert werden und didaktisches Handeln sollte den Wagnischarakter akzeptieren und nutzen.279 Die heutige Didaktik kann sich nicht mehr auf eine Wissensvermittlung beschränken, die ausschließlich auf die rezeptive Verarbeitung von Inhalten zielt und den Lernern nicht zeigt, wie sie eigenständig Wissen erwerben können.280 Ohne näher auf die gravierenden Wandlungsprozesse der gegenwärtigen Gesellschaft einzugehen, soll der Hinweis genügen, dass neben inhaltlichen und fachlichen Kompetenzen auch „Qualifikationen in formalen Bereichen wie Denken in komplexen Zusammenhängen, Problemlösungsfähigkeit und Abstraktionsfähigkeit (...) wie im personalen Bereich 278
Vgl. Reich, Kersten: Konstruktivistische Didaktik. Das Lehr-‐ und Studienbuch mit Online-‐ Methodenpool, 5. Auflage. Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2012, S. 48 279 Vgl. Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 52 280 Vgl. Gudjons, Herbert: Neue Unterrichtskultur – veränderte Lehrerrolle. Bad Heilbrunn: Klinkhardt Verlag 2006, S. 29
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Zielstrebigkeit, Verantwortlichkeit, Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit, Kontaktbereitschaft“ gelehrt werden müssen.281 Der Schulunterricht muss die Veränderungen in den Aufwachsbedingungen der Kinder und Jugendlichen berücksichtigen. Die Sozialisations-‐ und Lebensbedingungen der Schüler verändern sich in einem rasanten Tempo und dies beeinflusst auch die Unterrichtsarbeit.282 Die wachsende Rolle der Medien und vor allem des Fernsehens führt dazu, dass Kinder und Jugendliche einer Reizfülle ausgesetzt sind, die sie zu einer passiven Konsumorientierung verleitet. Die neuen Medien und die uneingeschränkte Reisefreiheit öffnen den Kindern und Jugendlichen neue Erfahrenswelten, wobei diese „moderne Erfahrung von Welt (...) den sinnlich-‐ganzheitlichen Umgang mit Personen und Dingen“ erschwert.283 Zudem
verschlechtern
sich
Berufs-‐
und
Studienperspektiven
und
die
Zukunftserwartungen der Jugendlichen entsprechen nicht mehr dem naiven Fortschrittsglauben früherer Generationen. Viele Jugendliche haben sich mittlerweile damit abgefunden, kurz-‐ oder langfristig ohne Arbeit zu sein. Zusätzlich werden Kinder und
Jugendliche
sehr
früh
mit
gesellschaftlichen
Problemen
(wie
der
Weltwirtschaftskrise, der Umweltzerstörung, der Armut) konfrontiert. Des Weiteren ist unsere heutige Gesellschaft durch eine passive Konsumorientierung, eine oberflächliche Verarbeitung von Wissen durch neue Informationstechnologien, den Verlust sinnlicher Erfahrungen und Handlungsarmut geprägt. Wenn die Sozialisations-‐ und Lebensbedingungen der Schüler unübersichtlicher und undurchschaubarer werden, dann hat dies natürlich auch Konsequenzen für den Schulunterricht. „Es kostet mehr Kraft und Mühe, in Konkurrenz zu den hochperfektionierten
außerunterrichtlichen
Medien
und
Freizeitangeboten
interessanten Unterricht zu machen.“284 Vor der digitalen Revolution galten die Lehrer als die wichtigsten Hüter des Wissens. Suchte man außerhalb des schulischen Kontextes nach einer Information, musste man eine Bibliothek aufsuchen, während heutzutage das Internet Informationen zu allen möglichen Themen bereithält.285 Der Lehrperson kommt also zunehmend eine doppelte Aufgabe zu: Neben den neuen Medien gilt 281 Vgl. Herbert Gudjons: Neue Unterrichtskultur, S. 29 282 Vgl. Meyer, Hilbert: Unterrichtsmethoden, Band II: Praxisband, 14. Auflage. Frankfurt/M.: Cornelsen Verlag 2011, S. 85 283 Hilbert Meyer: Unterrichtsmethoden II, S. 86 284 Hilbert Meyer: Unterrichtsmethoden II, S. 88 285Da man beim Recherchieren im Internet natürlich nicht ausschließlich auf zuverlässige Artikel stößt, stellt dies ein weiteres Problem beim Lernprozess dar.
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Letztere zwar weiter als Wissensvermittler, doch fungiert sie zusätzlich als Begleiter des Lernprozesses der Schüler, indem sie den Schülern hilft, selbstständig Konstrukteure von Wissen zu werden, die autonom und reflexiv mit Wissen umgehen können. In Zukunft muss die Arbeit in der Schule so gestaltet werden, dass sie auch für die Schüler sinnvoll erscheint. Dieses Ziel kann vor allem durch eine Förderung der handlungsorientierten Eigenaktivität der Lerner erreicht werden, indem diese als Konstrukteure von Wissen eingesetzt werden. Sowohl ihre Kreativität, ihre Motivation und ihr Vorwissen müssen im Unterricht genutzt werden. Im Zuge der Globalisierung und der Verschärfung des internationalen Wettbewerbs müssen den Schülern im Unterricht zunehmend Fähigkeiten vermittelt werden, die sie im späteren Berufsleben benötigen.286 Wenn Jugendliche heute verstärkt Verantwortungsbereitschaft, Eigenständigkeit und kommunikative Kompetenzen erwerben sollen, dann muss die Schule also entsprechende Unterrichtsformen anbieten, die Lehrpersonen müssen ihre Lehrformen überdenken und die Schüler zunehmend auf ihrem Lernweg, ihrer eigenen Konstruktion von Wissen, begleiten. Im Folgenden soll geprüft werden, inwiefern sich diese Anforderungen an eine neue Didaktik und Pädagogik mit einem konstruktivistisch orientierten Lehren verbinden lassen. 2.2. Konstruktivismus Die konstruktivistische Erkenntnistheorie geht davon aus, dass der Mensch seine Umwelt nicht objektiv wahrnehmen kann, sondern dass er sie mithilfe seiner Erfahrungen und seines Vorwissens interpretiert. Wissen entsteht auf der Grundlage interner, subjektiver Konstruktionen und bleibt somit individuell. Fragt man nach den theoretischen Vorläufern einer konstruktivistischen Didaktik, so haben sich drei Ansätze zum Lernen als besonders wichtig herausgestellt: der pragmatische Ansatz John Deweys, der Lernen als aktiven Vorgang begreift, der äußere Wirklichkeiten in Handlungsprozessen erstellt, der Ansatz Jean Piagets, welcher besonderen Wert auf die Entwicklungsstufen der Lerner legt und der sozio-‐ 286
Vgl. Martin, Jean-‐Pol: Lernen durch Lehren: ein modernes Unterrichtskonzept. URL: www.lernen-‐durch-‐lehren.de/Material/Publikationen/aufsatz2000.pdf
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konstruktivistische Ansatz Lev S. Wygotskis, der den Zusammenhang von Kognition und Sozialisation betont.287 Während einige Vertreter des Konstruktivismus’ davon ausgehen, dass die Konstruktion von Wissen ausschließlich subjektiv möglich sei, behaupten andere, dass diese in einem gesellschaftlichen und kulturellen Kontext eingebettet sei.288 Vor allem die Sozio-‐ Konstruktivisten (u.a. Wygotski, Bruner) sehen Wissen als soziales Konstrukt, da der Erwerb von Wissen immer in einem kulturellen Kontext stattfindet. Unsere Umwelt spielt ihnen zufolge also eine nicht zu vernachlässigende Rolle beim Wissenserwerb. Wenn es keine objektive Wirklichkeit gibt und jede Form von Wissen auf Konstruktionen basiert, muss dies auch Konsequenzen für den Schulunterricht haben, da dieser es den Lernern ermöglichen muss, sich so gut wie möglich Wissen anzueignen. Man kann Kindern und Jugendlichen demzufolge kein objektiv richtiges Wissen vermitteln: „Wissen kann nicht in Form von Begriffen, z.B. von einer Person an eine andere einfach weitergegeben werden, jeder (Lerner) muss es für sich selbst erfahren, sich selbst erarbeiten.“289 Hierbei wird stets die aktive Seite des Lernprozesses betont, da Lernvorgänge als Handlungsvollzüge gesehen werden. Als idealtypischer Grundsatz einer konstruktivistischen Didaktik gilt somit, dass man den Lernern die Möglichkeit geben soll, den Sinn eines Unterrichtsgegenstandes selber einzusehen und die daraus folgende Regel selber aufzustellen.290 Zudem sollen alle Konstrukteure von Wirklichkeiten am Unterricht mitwirken und seine Gestaltung entwickeln helfen.291 Es geht also unter anderem darum, die Partizipation der Schüler zu fördern. Der Reformpädagoge Hugo Gaudig (1860-‐1923) hat bereits darauf hingewiesen, dass es darauf ankommt, „den Schüler vom Passivum in das Aktivum zu übersetzen.“292 Auch die konstruktivistische Didaktik geht davon aus, dass alles Lernen von den Konstruktionsprozessen der Lerner abhängt und dass passives Wissen somit einen 287 Vgl. Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 71f. 288
Vgl. Gonschorek, Gernot/Schneider, Susanne/ Petersen, Jörg/ Reinert, Gerd-‐Bodo (Hrsg.): Einführung in die Schulpädagogik und die Unterrichtsplanung, 7. Auflage. Donauwörth: Auer Verlag 2010, S. 186 289Gonschorek, Schneider, Petersen, Reinert: Einführung in die Schulpädagogik und die Unterrichtsplanung, S. 187 290 Vgl. Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 95 291 Vgl. Reich, Kersten: Konstruktivistische Didaktik. Beispiele für eine veränderte Unterrichtspraxis. In: Schulmagazin 5 bis 10, 2005, Heftnummer 3, S. 5. Abrufbar im Internet: http://www.uni-‐koeln.de/hf/konstrukt/reich_works/aufsatze/reich_48.pdf, S. 5 292 Gaudig, Hugo: Die Schule der Selbstständigkeit. 1969, zitiert nach: Herbert Gudjons: Neue Unterrichtskultur, S. 72
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Widerspruch darstellt. Lernen ist nicht von außen zu determinieren, sondern ein „individuelles, aber auch in sozialen Kontexten stattfindendes Konstruieren und Umkonstruieren innerer Welten.“293 Die didaktischen Grundaufgaben der Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion sind dabei für den konstruktivistischen didaktischen Ansatz wesentlich.294 2.2.1. Konstruktion, Rekonstruktion und Dekonstruktion Ein wichtiger Anspruch an eine konstruktivistische Didaktik besteht darin, die Inhalte so auszurichten, dass es den Schülern möglich ist, Unterrichtsinhalte selbst zu untersuchen und auszuprobieren, damit sie diese in eigene Konstruktionen überführen können. Die Lerner sollen selbst entscheiden können, welche Unterrichtsaspekte für sie relevant sind, da diese Selbstbestimmung die Voraussetzung für andauerndes Behalten schafft. In Bezug auf eine Unterrichtssequenz zu „Spiegelgedichten“ kann dies bedeuten, dass die Schüler die werkimmanenten sowie die historischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten vergangener Epochen als eigene Wirklichkeit konstruieren. Dies entspricht einer sozio-‐konstruktivistischen Didaktik und Pädagogik, da die Konzentration des Literaturunterrichts hier auf Sprache, Kultur und Gesellschaft liegt. Das literaturgeschichtliche, die ausgewählten Gedichte betreffende Wissen wird nicht ausschließlich vom Lehrer zum Lerner weitergegeben, sondern von Letzteren in eigenständigen Prozessen selbst erarbeitet. Die „konstruktivistische Wende“295 des Lernprozesses besteht dann darin, dass die Lerner über den Vergleich der unterschiedlichen Textinterpretationen ein tiefer gehendes und differenziertes Verständnis der jeweiligen lyrischen Texte gewinnen können, da die eigene Konstruktion von Wissen zusätzlich reflektiert wird. Obwohl die Lerner ihre Umwelt entdecken und untersuchen sollen, können sie nicht alles neu erfinden, denn „unsere Erfindungen sind dadurch relativiert, dass es sie meist schon gibt.“296 Als Beobachter sollen sich die Lerner fremde Perspektiven erschließen und rekonstruktiv untersuchen, was andere gesehen oder erfahren haben. Hierbei lernen sie zu verstehen, was frühere oder jetzige Beobachter dazu veranlasst haben könnte, ihre Beobachtungen und Erfahrungen auf die gegebene Weise festzulegen. Sie 293 Herbert Gudjons: Neue Unterrichtskultur, S. 72 294 Vgl. Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 138 295 Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 263 296 Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 139
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sollen sich das Wissen also nicht nur kognitiv aneignen, sondern auch die Hintergründe und den Sinn eines solchen Wissens verstehen und reflektieren können.297 Im Hinblick auf den Lyrikunterricht sollen die Schüler also die Perspektiven der Autoren einnehmen und den Zweck sowie die Ursachen der Literaturproduktion verstehen lernen. Bei der Dekonstruktion geht es darum, dass die Lerner ihren Blickwinkel verschieben, um andere Sichtweisen zu gewinnen und somit kritisch gegenüber eigenen „blinden Flecken“ zu werden. Lerner sollen also gemeinsam ihre Ressourcen überprüfen und nach einer konstruktiven, rekonstruktiven und dekonstruktiven Handlung mit Lösungsorientierung suchen. Im Rahmen des Literaturunterrichts sollen die Schüler zum Beispiel die „Spiegelgedichte“ eigenständig (in Still-‐, Partner-‐ oder Gruppenarbeit) interpretieren, um anschießend im Klassengremium zu diskutieren, welche Beobachtungen nun für ein Verständnis des Textes relevant sind und welche nicht. Diese grundsätzlich partizipative und handlungsorientierte Ausdeutung des Lernens wendet sich gegen straffe Lehrplansetzungen von sogenannten Experten und sieht die Lerner als „verantwortliche Verständigungsgemeinschaft“, die eigenständig „kein vollständiges, sondern ein viables (d.h. für sie passendes) Wissen mit Relevanz für die gegenwärtige Lebenswelt erarbeiten.“298 Dem konstruktivistsichen Konzept zufolge muss sich das Geschehen im Klassenraum demzufolge -‐vom lehrerzentrierten Demonstrationsunterricht zur Integration unterschiedlicher Aktivitäts-‐ und Lernformen, -‐von der übergeordneten Vermittlung von Fachwissen zum eigenständigen Handeln der Schüler, -‐von bruchstückhafter Wissensvermittlung zur Vernetzung von Wissen, -‐von einem lehrerzentrierten Frontalunterricht zur Anregung selbstgesteuerter Lernprozesse bei den Schülern entwickeln.299 297 Vgl. Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 262 298Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik. Beispiele für eine veränderte Unterrichtspraxis.
In: Schulmagazin 5 bis 10, 2005, Heftnummer 3, S. 5 299 Vgl. Herbert Gudjons: Neue Unterrichtskultur, S. 36
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Für den Literaturunterricht bedeutet dies also, dass die Schüler in selbstständigen Handlungen die Perspektiven der Autoren literarischer Texte einnehmen und diese rekonstruieren, dass sie außerdem eigene Wirklichkeiten bei der Textproduktion entwerfen und anschließend sowohl den Lernprozess als auch die Unterrichtsinhalte dekonstruieren. Nur ein freier, lebensnaher, handlungsorientierter, also offener Unterricht, der sich nicht ausschließlich an Lehrplänen und Unterrichtsentwürfen orientiert, kann diesen Anforderungen einer konstruktivistischen Didaktik und Pädagogik gerecht werden. Doch was versteht man unter dem Begriff „offener Unterricht“ und welche Unterrichtsmethoden und Sozialformen gelten als „offen“? 2.3. Offene Unterrichtsformen300 301 Es gibt weder eine klare Systematik noch eine überschaubare Definition des Konzepts „Offener Unterricht“, dafür aber ein „Plädoyer für ein Bündel innovativer Unterrichtsformen“302 wie z.B. Wochenplan, Projektlernen, Stationenlernen. Immer mehr Schulprogramme bekennen sich zu offenen Unterrichtsformen, so dass eine einheitliche Definition nur schwer möglich ist. Kasper behauptet sogar: „Offenen Unterricht definieren zu wollen, ist ein Widerspruch in sich selbst“.303 In der Forschung lassen sich zwar verschiedene Versuche einer Definition finden, die sich teilweise in gewissen Punkten ähneln, aber durchaus unterschiedliche Auffassungen von „Offenem Unterricht“ aufzeigen. Dies liegt vor allem daran, dass hier kein wissenschaftlicher Ansatz entwickelt worden ist, sondern eher Konzeptionen von Lehren bestimmter Praktiker, die ihre Ansichten verallgemeinert haben. Doch nach welchen Prinzipien funktioniert „Offener Unterricht“?304 Zunächst einmal muss ein offener Unterricht berücksichtigen, dass eine Klasse nicht als homogene Lerngruppe zu betrachten ist. Die Lehrperson muss sich somit einer Vielfalt von Interessen, Erwartungen und Ansprüchen stellen und diese Gegensätzlichkeit als 300 Vgl. Herbert Gudjons: Neue Unterrichtskultur, S. 92 301
Ich habe mich bei der Definition offenen Unterrichts vor allem auf Herbert Gudjons’ Auffassung konzentriert. 302 Vgl. Herbert Gudjons: Neue Unterrichtskultur, S. 53 303 Kasper, Hildegard: Lasst die Kinder lernen – Offene Lernsituation. Braunschweig: Westermann 1989, S. 5 304 Im Folgenden sollen die wichtigsten Ansprüche an den offenen Unterricht zunächst kurz angesprochen werden, bevor ich später im Detail darauf eingehen werde.
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Chance ansehen, anstatt sie zu verwerfen. Es soll jedoch an dieser Stelle gleich erwähnt werden, dass gerade diese Heterogenität auch zum Problem werden kann, wenn es darum geht, die Schüler an der Unterrichtsplanung zu beteiligen. Vor allem im Literaturunterricht muss die Lehrperson sich an kanonischen, epochen-‐ und gattungstypischen Texten orientieren, die den Erwartungen der Schüler nur bedingt entsprechen. Da man an luxemburgischen Schulen meistens Klassen von über 20 Schülern vorfindet, können somit kaum alle Interessen berücksichtigt werden, ohne zu sehr vom Lehrplan und von den Lernzielen abzuweichen.305 Natürlich sollen sich in einem offenen Unterricht auch unterschiedliche Sozialformen auf effektive Art und Weise ergänzen, ohne sich ausschließlich auf eine Unterrichtsform zu begrenzen. 2.3.1. Offene Unterrichtsformen als Teilgebiet handlungsorientierten Unterrichts Offene Unterrichtsformen reihen sich in das Konzept des handlungsorientierten Unterrichts ein: Handlungsorientierter Unterricht „ist ein ganzheitlicher und schüleraktiver Unterricht, in dem die zwischen dem Lehrer und den Schülern vereinbarten Handlungsprodukte die Organisation des Unterrichtsprozesses leiten, so dass Kopf-‐ und Handarbeit der Schüler in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gebracht werden.“306 Der Enzyklopädie Erziehungswissenschaft zufolge handelt es sich um ein Unterrichtskonzept, „das den Schülern einen handelnden Umgang mit den Lerngegenständen und -‐inhalten des Unterrichts ermöglichen soll. Die materiellen Tätigkeiten der Schüler bilden dabei den Ausgangspunkt des Lernprozesses.“ Ziel eines handlungsorientierten Unterrichts ist es, „durch die aktive Auseinandersetzung und durch den handelnden Umgang der Schüler mit der sie umgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit Erfahrungs-‐ und Handlungsspielräume zu schaffen und dadurch die Trennung von Schule und Leben ein Stück weit aufzuheben.“307 Vor allem beim Sprachenunterricht hat die Lehrperson die Möglichkeit, mit den Unterrichtsinhalten auf die Lebenswelt der Schüler Bezug zu nehmen, ohne zu sehr vom Lehrplan abzuweichen: Bei Sachtextanalysen kann man unter anderem Texte wählen, die den Alltag der Schüler 305 Aufgrund der Komplexität des Themas der geplanten Unterrichtssequenz habe ich auf eine Einbindung der Schüler bezüglich der Planung verzichtet. 306 Hilbert Meyer: Unterrichtsmethoden II, S. 402 307 Haller, Hans-‐Dieter/Meyer, Hilbert (Hrsg.): Ziele und Inhalte der Erziehung und des Unterrichts. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Band 3. Stuttgart: Klett-‐Cotta 1986, S. 600.
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thematisieren. Geht es jedoch um die Behandlung literarischer, lyrischer Texte, so können, wie bereits erwähnt, nicht alle Interessen innerhalb der Klasse berücksichtigt werden, da hier auch kanonische Texte behandelt werden müssen, die nicht unbedingt den Erwartungen aller Schüler entsprechen. Beim handlungsorientierten Unterricht wird davon ausgegangen, dass Lernen ganzheitlich abläuft, also mit Kopf, Herz, Händen und allen fünf Sinnen und somit wird versucht, Denken und Handeln in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander zu bringen. Außerdem müssen die Schüler eigenständiges Handeln üben, da diese Kompetenz in zukünftigen privaten und beruflichen Situationen vorausgesetzt wird.308 Unter eigenständigem Handeln soll jedoch nicht nur das Hervorbringen materieller Produkte gemeint sein, sondern auch Kognition, Denken, Verstehen, Lernen.309 310 Der Begriff „handlungsorientiert“ kann der Lehrperson dabei Schwierigkeiten bereiten, da Letztere oft davon ausgeht, dass mit „Handeln“ eine konkret beobachtbare Tätigkeit mit einem sinnlich erfassbaren Produkt als Ergebnis zu verstehen sei. Jedoch kann der Denkprozess an sich auch schon als Handlung definiert werden, während die eigenständige Konstruktion von Wissen als Ergebnis des handlungsorientierten Unterrichts zu sehen ist. Wichtig ist, dass ein offener und handlungsorientierter Unterricht die Heterogenität einer Klassengemeinschaft berücksichtigt und dieser gerecht zu werden versucht.
3. Multiple Intelligenzen und multimodaler Unterricht “It’s not how smart you are. It’s how are you smart?”311 Die unterschiedlichen Vorstellungen, Interessen und Erwartungen der Lerner soll ein offener Unterricht als Chance sehen, indem die jeweiligen Stärken und Schwächen der Schüler konstruktiv genutzt werden. Kersten Reich empfiehlt den Lehrkräften, „das Kontingente, das Unvollständige, das Offene in allem Wissen und Verhalten“ zu 308 Vgl. Hilbert Meyer: Unterrichtsmethoden II, S. 409f. 309 Vgl. Herbert Gudjons: Neue Unterrichtskultur, S. 65 310Auch das Unterrichtskonzept des Task-based Learning, das für den Fremdsprachenunterricht entwickelt wurde und seit Jahrzehnten erfolgreich angewendet wird, geht davon aus, dass die Wünsche und Bedürfnisse von Lernern berücksichtigt werden müssen und dass authentische, realitätsnahe Kontexte den Lernern den Wissenserwerb erleichtern. 311 Gardner, Howard: Frames of Mind: The Theory of Multiple Intelligences. New York: Basic Books 2011
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akzeptieren und den Lernern „eine Vielfalt an Perspektiven und Möglichkeiten an Wegen“ anzubieten.312 Lange Zeit war man der Meinung, dass Menschen nur eine generelle, angeborene und wenig veränderbare Intelligenz besäßen und demnach war unter anderem der Schulunterricht nur auf diese Intelligenz ausgerichtet. Der Piaget-‐Anhänger Howard Gardner hat in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts jedoch gezeigt, dass die Annahmen einer einzigen generellen Intelligenz durch empirische Studien nicht zu belegen war. Mit seiner Theorie der Multiplen Intelligenzen erlangte er über Nacht Berühmtheit.313 In den „Frames of Mind“ spricht Gardner von sieben grundsätzlichen Intelligenzen, die er mittlerweile auf acht bis neun erweitert hat. So unterscheidet er zwischen folgenden Intelligenzen, die eher als Talente oder Fähigkeiten zu betrachten sind:314 1. sprachliche Intelligenz: Sprache als Mittel für verschiedene Zwecke, Sprachnutzung, Fremdsprachen; 2. logisch-‐mathematische Intelligenz: wissenschaftliche Untersuchungsstrategien, logische Analysen, mathematische Operationen; 3. musikalische Intelligenz: Zuneigung zu, Durchführung von und Komposition von musikalischen Mustern; 4. körperlich-‐kinetische Intelligenz: Einsatz des Körpers zur Lösung von Problemen und Aufgaben; 5. räumliche Intelligenz: räumliche Weite und Tiefe erkennen, nutzen und manipulieren; 6. interpersonale Intelligenz: Verständnis für die Intentionen, Motivationen, Bedürfnisse anderer und Fähigkeit der Zusammenarbeit; 7. intrapersonale Intelligenz: Selbstbeobachtung und Selbstanalyse auch im Blick auf Motivation, Gefühle und eigene Ängste; 8. natürliche Intelligenz: Unterschiede in der natürlichen Umwelt vornehmen und differenziert betrachten, Überlebensfähigkeit in der Natur; 9. existenzielle Intelligenz: existenzielle Fragen sehen und stellen. 312 Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 108 313 Vgl. Howard Gardner: Frames of Mind, 2011 314
Eng verwandt mir Gardners Theorie der Multiplen Intelligenzen ist Frederic Vesters Lerntypologie (Vgl. Frederic Vester: Denken; Lernen, Vergessen). Diese Theorie soll hier aber nicht näher erläutert werden, da Gardners Ausführungen lerntypgerecht sind.
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Dabei soll jeder Mensch diese acht bis neun Intelligenzen besitzen, wobei diese bei allen unterschiedlich ausgelegt sind und auf verschiedene Weisen zusammenwirken. Zudem ist keine Intelligenz an sich als künstlerisch zu betrachten, sondern lediglich das Zusammenspiel verschiedener Intelligenzen kann sich auf eine künstlerische Tätigkeit auswirken. Die Umwelt spielt bei der Ausbildung der Intelligenzen eine große Rolle, da es von den Individuen und ihren Lebensbedingungen abhängt, wie und in welchem Maße die verschiedenen Intelligenzen genutzt werden. Diese Intelligenzen gelten nicht als unveränderlich, sondern können sich ein Leben lang auf unterschiedliche Art und Weise entwickeln. Gardner folgert daraus, dass wir multimodale Zugänge und Wege brauchen, um unsere Interessen und Veranlagungen zu fördern und dies muss Konsequenzen für den Schulunterricht haben. Vor allem, wenn es darum geht, im Sinne eines langfristigen Behaltens Unterrichtsinhalte zu üben und zu wiederholen, müssen mehrere Intelligenzen der Schüler berücksichtigt werden. Es ist offensichtlich, dass die ersten beiden Intelligenzen in Schulen privilegiert werden. Wenn wir aber davon ausgehen, dass mehrere Intelligenzen im Schulunterricht gefördert werden müssen und dass Schulunterricht „eine gewisse Breite und Tiefe der Lernmöglichkeiten anbieten“315 muss, dann gilt ein „eindimensional rationalisierende(r) Unterricht, der sich überwiegend auf der Inhaltsebene abspielt, als zu beschränkte(r) Zugang (...), um unsere Intelligenzen zu fördern.“316 Dem Recht aller Lerner auf eine Förderung ihrer Lernchancen, je nach der jeweiligen Kombination ihrer Multiplen Intelligenzen, muss also Rechnung getragen werden.317 Jedoch stößt die Lehrperson in Klassen von über 20 Schülern an ihre Grenzen, da es aus Zeitgründen nicht möglich ist, bei einem Unterrichtsgegenstand wie etwa einer Epoche im Literaturunterricht alle Kanäle anzusprechen, um somit allen Intelligenzen innerhalb der Klasse gerecht zu werden. Die Vielfalt der Intelligenzen muss also in der Schule gefördert werden. Dies geschieht jedoch nicht, indem man so viel Stoff wie möglich anbietet, sondern zentrale Aspekte eines Themas müssen vertiefend erarbeitet werden. Vor allem ein handlungs-‐ 315 Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 228 316 Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 228 317 Vgl. Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 229
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orientierter und multimodaler Unterricht ermöglicht es, der Vielfalt der Intelligenzen in einer Schulklasse gerecht zu werden. Indem man künstlerische Fächer, Kommunikation und Fächer, die sich mit inter-‐ und intrapersonalen Fragen befassen, in den Sprachenunterricht integriert und auch die Beziehungs-‐ und Selbsterfahrung der Schüler berücksichtigt, können mehrere Intelligenzen der Schüler gefördert werden.318 Auf diese Weise können alle Lerner ihr Lernpotenzial verwirklichen, indem sie andere, verborgene Seiten von Intelligenz entwickeln lernen. Wenn die Lehrperson das Ziel verfolgt, die Schüler über mehrere Kanäle anzusprechen, um mehrere Intelligenzen und unterschiedliche Kompetenzen im Unterricht zu fördern, dann müssen die im Unterricht eingesetzten Unterrichtsmethoden und Sozialformen überdacht werden.
4. Formative und summative Bewertung der Unterrichtssequenz 4.1. Evaluation im offenen Unterricht Damit sich die Schüler die gemeinsam erarbeitenden Lernergebnisse langfristig merken, ist es ratsam, diese in Form einer Klassenarbeit abzufragen. Viele Jugendliche wollen sich das Wissen bezüglich eines Unterrichtsgegenstandes nur aneignen, wenn eine Bewertung darauf Bezug nimmt und dies somit einen Einfluss auf ihre Zeugnisnote hat. Der gemachte Lernprozess soll also bewertet werden, wobei die Lernprozesse und – ergebnisse in der Bewertung aufeinander bezogen sein müssen.319 Die Bewertung im offenen, handlungsorientierten Unterricht ist dabei weitaus komplexer als bei traditionellen, lehrerzentrierten Unterrichtsformen. Offener Unterricht
ist
auf
eine
zielgerichtete
Methodenvielfalt
und
zunehmende
Selbstständigkeit der Schüler aus und soll wichtige Kompetenzen der Schüler fördern, die sie in ihrem späteren Berufsleben benötigen werden. Der Begriff 'Kompetenz' ist hier als "die Gesamtheit aller Fähigkeiten einer Person" zu verstehen und eng mit dem Begriff der allgemeinen Bildung verbunden.320
318 Vgl. Kersten Reich: Konstruktivistische Didaktik, S. 230 319 Vgl. Paradies, Liane/Wester, Franz: Leistungsmessung und –bewertung, 4. Auflage. Berlin:
Cornelsen Verlag 2012, S. 15 320 Vgl. Bohl, Thorsten: Prüfen und Bewerten im offenen Unterricht, 3. Auflage, Weinheim/Basel: Beltz Verlag 2005, S. 21
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So kann vor allem ein offener Sprachenunterricht den Schülern bei der Entwicklung verschiedener, für ihre Zukunft unerlässlicher Kompetenzen helfen: -‐ fachlich-‐inhaltliche Kompetenz: Fachwissen besitzen, urteilen, definieren; -‐sozial-‐kommunikative Kompetenz: kooperieren, einfühlsam zuhören, argumentieren; -‐methodisch-‐strategische Kompetenz: visualisieren, planen, exzerpieren, nachschlagen; -‐Selbst-‐ und Persönlichkeitskompetenz: Selbstvertrauen entwickeln, ein realistisches Selbstbild entwickeln, kritikfähig sein.321 Mit traditionellen Formen der Bewertung (Klassenarbeiten, die auf eine bloße Reproduktion des Gelernten zielen) ist es schwierig, diese Kompetenzen eines erweiterten Lernbegriffs zu überprüfen322, und deshalb muss die Bewertung im offenen Unterricht überdacht werden. Da im luxemburgischen Bildungssystem jedoch ab der 5ième beziehungsweise 9ième keine Bewertung nach Kompetenzen mehr stattfindet und der Lehrplan genau vorgibt, was zu bewerten ist und wie die summative Evaluation erfolgen soll, muss hier nach anderen Möglichkeiten einer differenzierten Bewertung gesucht werden. Neben der zertifikativen Evaluation in Form einer Klassenarbeit am Ende einer Unterrichtssequenz kann somit auch eine differenzierte Bewertung einzelner Kompetenzen und Intelligenzen stattfinden, so dass nicht ausschließlich fachlich-‐ inhaltliches Wissen überprüft wird. Dies kann beispielsweise damit erreicht werden, dass man Prüfungsfragen einbaut, die einen Transfer und eine Reorganisation des Gelernten sowie eigenständige Schülerproduktionen verlangen. Sollen diese Kriterien überprüft werden, ist es allerdings wichtig, diese „so zu konzipieren, dass sie im Unterricht vermittelt und gelernt werden können."323 4.2. Formative Evaluation: das Feedback Neben der summativen Evaluation ist es ratsam, formative Momente der Bewertung in den Unterricht einzubauen, wie zum Beispiel das Feedback in seinen verschiedensten Formen. Feedback (Wie hat die Klasse die Präsentation des Unterrichtsinhaltes erlebt?), Metakognition (Was können wir als Gruppe oder Einzelne schon, was müssen wir noch an Arbeits-‐ und Lernstrategien verbessern?) und Auswertung (Welche Ziele hatten wir,
321 Vgl. Thorsten Bohl: Prüfen und Bewerten im offenen Unterricht, S. 20 322 Vgl. Thorsten Bohl: Prüfen und Bewerten im offenen Unterricht, S. 50 323 Thorsten Bohl: Prüfen und Bewerten im offenen Unterricht, S. 49
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was haben wir erreicht, was nicht, woran lag das?) sind somit für einen offenen Unterricht unverzichtbar.324 In einer Studie zu förderlichen Einflussfaktoren auf den Unterricht325 wurde festgestellt, dass Feedback und reziprokes Unterrichten den größten Effekt auf den Erfolg des Schulunterrichts haben. Doch nicht jede Form von Feedback gilt als sinnvoll und Feedback ist nicht „als Verteilen von Lob oder Tadel“326 zu verstehen, sondern soll „das spezifische Lernziel sowie den erreichten Lernstand in Relation zu diesem Lernziel verdeutlichen und vor allem Informationen bereithalten (...), wie die Performanz zukünftig verbessert werden kann.“327 Dabei soll effektives Feedback nach Hattie drei Fragen beantworten können: 1. Welches Lernziel hat der Schüler zu erreichen? (Where am I going?) 2. Wie hat der oder die Lernende in Relation zum Lernziel abgeschnitten? (How am I going?) 3. Wie kann das Lernziel erreicht werden? (Where to next?) Somit ist das Feedback des Lehrers zur Bewertung der Schülerleistung unter anderem in der Klassenarbeit unverzichtbar. Noch effekiver als das Lehrer-‐Feedback ist für Hattie jedoch das Feedback vom Schüler an den Lehrer: „It was only when I discovered that feedback was most powerful when it is from the student to the teacher that I started to understand it better. When teachers seek, or at least are open to, feedback from students as to what students know, what they understand, where they make errors, when they have misconceptions, when they are not engaged – then teaching and learning can be synchronized and powerful. Feedback to teachers helps make learning visible.“328 Lehrer fragen sich zu selten, ob sie mit ihrer Wissensvermittlung überhaupt erfolgreich waren und ob das Dargebotene auch wirklich bei den Schülern angekommen ist. Ein Feedback vom Schüler zum Lehrer kann ersichtlich machen, womit Schüler noch Probleme haben, ob es Missverständnisse gibt, welche Erfahrungen sie gemacht haben und wo ihre Wünsche liegen. Im Sinne eines konstruktivistischen Unterrichts agieren 324 Vgl. Herbert Gudjons: Neue Unterrichtskultur, S. 110 325 Vgl. Hattie, John A. C.: Visible Learning. A synthesis of over 800 meta-‐analyses relating to
achievement. London & New York: Routledge 2009. 326Köller, Olaf/Möller, Jens: Was wirklich wirkt: John Hattie resümiert die Forschungsergebnisse zu schulischem Lernen. In: Schulmanagement, 2012, Heftnummer 4. 327Köller, Olaf/Möller, Jens: Was wirklich wirkt: John Hattie resümiert die Forschungsergebnisse zu schulischem Lernen 328 John Hattie: Visible Learning, S. 173
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die Schüler hier als „Enttarner ihrer Wirklichkeit“, indem sie sowohl den Verlauf der Sequenz als auch die Unterrichtsinhalte dekonstruieren. So soll die Lehrperson nach einer Unterrichtseinheit stets darauf achten, wie die Schüler den Lernprozess erlebt haben.
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III. Die Unterrichtssequenz: Spiegelgedichte329 In der im Rahmen dieser Arbeit geplanten Unterrichtssequenz zum Thema „Spiegelgedichte“
soll
daher
auf
eine
handlungsorientierte,
multimodale
Herangehensweise an die jeweiligen Unterrichtsinhalte zurückgegriffen werden, um den Anforderungen an eine heutige Didaktik gerecht zu werden. Im Folgenden soll die im Anhang dieser Arbeit zu findende sechsstündige Unterrichtssequenz sowie die diesbezügliche Bewertung der Schülerleistung kurz erläutert werden, um darzulegen, inwiefern die Unterrichtssequenz „Spiegelgedichte“ einer zeitgemäßen Auffassung von Literaturunterricht entspricht.
1. Die erste Unterrichtseinheit: das Spiegelsymbol und Sigmund Freuds „Drei psychische Instanzen Vor Beginn der eigentlichen Unterrichtssequenz „Spiegelgedichte“ sollen den Schülern die methodisch-‐strategischen Kompetenzen zur Analyse lyrischer Texte vermittelt werden, so dass unmittelbar zur inhaltlichen und formalen Analyse der Gedichte übergegangen werden kann. Da das erste Gedicht, „Sehnsucht“ von Joseph von Eichendorff, der Epoche der Romantik zuzuordnen ist, wäre es ratsam auch diese Epoche bereits mit den Schülern behandelt zu haben, damit thematisch an das Vorwissen der Schüler angeknüpft werden kann. Während der einführenden Unterrichtseinheit zu Sigmund Freuds „Drei psychischen Instanzen“ geht es darum, dass die Schüler das Thema „Spiegel“ zunächst einmal an sich selbst erfahren und erste symbolische Bedeutungen des Spiegels erfassen. Das hier erworbene Wissen soll in den übrigen fünf Unterrichtseinheiten stets aufgegriffen werden, so dass an die Kenntnisse der Schüler angeknüpft werden kann. Diese einführende Unterrichtseinheit kann den Schülern eine eigenständige Konstruktion von Wissen in den übrigen fünf Unterrichtsstunden erleichtern. 329 Zur ausführlichen Interpretation der Gedichte vgl. 5. Spiegelgedichte als Spiegel der
lyyrischen und dichterischen Seele
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Im Sinne einer konstruktivistisch ausgerichteten Didaktik werden die Schüler als Einstieg in die Unterrichtseinheit das neue Thema an sich selbst erfahren, um herauszufinden, in welcher Hinsicht dieses für sie persönlich interessant werden könnte. Somit sollen sie über den eigenen Blick in den Spiegel nachdenken, und reflektieren, was ihnen persönlich durch den Kopf geht, wenn sie sich im Spiegel betrachten. Dabei können sie erfassen, dass der Spiegel ihnen weitaus mehr zeigen kann als eine bloße Spiegelung ihres Aussehens. Um ihnen die Arbeit zu erleichtern, soll ein Spiegel in der Klasse aufgestellt werden. Auf diese Weise soll die Grenze zwischen dem Literaturunterricht und der Alltagswelt der Schüler ein Stück weit aufgehoben werden. Während der nächsten Erarbeitungsphase werden die Schüler in einem fragend-‐ entwickelnden Gespräch die Bedeutung und Einsatzmöglichkeiten des Spiegelmotivs erfassen. Indem sie über die Verwendungsmöglichkeiten des Motivs in literarischen Texten sowie in der bildenden Kunst oder im Film nachdenken, sollen sie begreifen, dass Spiegel und Spiegelbilder als Mittel der Erkenntnis und Selbsterkenntnis, als Zeichen der Eitelkeit wie auch als Symbol zur Darstellung von Bewusstseinsinhalten und Ich-‐ Projektionen eingesetzt werden können. Zudem können sie die Relevanz des Motivs daran erfassen, dass es bereits im antiken Griechenland und in bekannten Märchen eingesetzt worden ist. Die folgenden Arbeitsaufträge dienen als Voraussetzung für eine eigenständige Wissenskonstruktion der Schüler während dieser Unterrichtssequenz. Da das Spiegelmotiv vor allem in literarischen Texten als Symbol zur Darstellung von Bewusstseinsinhalten genutzt wird, werden die Schüler ein Arbeitsblatt zur Bewusstseinsstruktur nach Sigmund Freud ausfüllen. Sie sollen die Begriffe „Ich“, „Es“ und „Über-‐Ich“ erklären und erläutern, welche Funktionen den drei psychischen Instanzen jeweils zukommen und wie sie unsere Persönlichkeit prägen können. Der auf dem Arbeitsblatt abgebildete Bildimpuls soll den Schülern die Ausführung dieses Arbeitsauftrages erleichtern: Sie werden auf mehreren Kanälen angesprochen (auditiv und visuell), so dass mehrere Intelligenzen der Schüler gefördert werden können. Im Anschluss reflektieren die Schüler in Stillarbeit, inwiefern die Auseinandersetzung mit den drei psychischen Instanzen einem Verständnis des Spiegelsymbols in literarischen Texten zugutekommen kann und somit ihr Wissen diesbezüglich
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eigenständig konstruieren. Indem sie das neu erworbene Wissen in Bezug zu dem erarbeiteten Cluster zum Symbol des Spiegels setzen, sollen sie erfassen, dass literarische Figuren (beziehungsweise das lyrische Ich im Gedicht) in ihrem Spiegelbild Aspekte ihrer Persönlichkeit erkennen können (das „Es“), die bisher durch das „Über-‐ Ich“ verdrängt worden sind. Als zusätzliche fakultative Erarbeitung wäre es denkbar, den Lernern einen Auszug aus Ferdinand von Schirachs Roman „Tabu“ zu präsentieren330, um ihnen die Aktualität des Spiegelmotivs vor Augen zu führen und sie auf diese Weise zu einer Beteiligung am Unterrichtsgeschehen während dieser Sequenz zu ermutigen. Zudem könnten die Schüler anhand des Zitates eine weitere symbolische Bedeutung des Motivs erfassen: das sinnlich erfassbare Ich als bloßes Spiegelbild unserer wahren, verborgenen Persönlichkeit. Die von den Schülern zu erledigende Hausaufgabe dient der Vorbereitung auf die nächste Unterrichtseinheit. Die Schüler sollen das Gedicht „Sehnsucht“ von Joseph von Eichendorff zu Hause lesen, einen passenden Titel für das Gedicht finden und ihre Titelwahl kurz begründen. Somit setzen sich die Schüler bereits mit der Thematik des Textes auseinander und werden auf eine tiefergehende inhaltliche und formale Analyse vorbereitet.
2. Die zweite Unterrichtseinheit: Joseph von Eichendorffs „Sehnsucht“ Die zweite Unterrichtseinheit knüpft an das Vorwissen der Schüler zur Epoche der Romantik und zur Gedichtanalyse an, indem das Gedicht „Sehnsucht“ von Joseph von Eichendorff sowohl inhaltlich als auch formal analysiert wird. Das Gedicht reiht sich in die Unterrichtssequenz „Spiegel-‐Gedichte“ ein, da die im Text beschriebene Natur als Spiegel der Gefühlswelt des lyrischen Ichs interpretiert werden kann. Der Einstieg in die Unterrichtsstunde besteht aus einer Auseinandersetzung mit dem Titel des Gedichtes. Die Schüler sollten als Hausaufgabe einen passenden Titel für das 330 „Jeden Morgen stehen wir auf, dachte er, wir leben unser Leben, all die Kleinigkeiten, das
Arbeiten, die Hoffnung, der Sex. Wir glauben, was wir tun, sei wichtig und wir würden etwas bedeuten. Wir glauben, wir wären sicher, die Liebe wäre sicher und die Gesellschaft und die Orte, an denen wir wohnen. Wir glauben daran, weil es anders nicht geht. Aber manchmal bleiben wir stehen, die Zeit bekommt einen Riss und in diesem Moment begreifen wir es: Wir können nur unser Spiegelbild sehen.“
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Gedicht finden und ihre Wahl begründen, indem sie sich auf den Inhalt des Gedichtes beziehen sollten. Nach einigen Schülervorträgen und einer Diskussion ihrer Ergebnisse wird der Titel des Gedichtes genannt, gefolgt von einer gemeinsam zu erarbeitenden Definition des Begriffes „Sehnsucht“. Auf diese Weise lernen die Schüler, den Unterricht aktiv mitzugestalten (die Schüler bestimmen, welche Titel passend sein könnten) und sie werden vom Passivum ins Aktivum übersetzt. Da der Text in diesem Unterrichtsentwurf zu Hause vorbereitet worden ist, kann das Gedicht von einem Schüler vorgetragen werden. Es ist zu erwarten, dass die Klasse es begrüßt, dass sie auch bei dieser Unterrichtsphase aktiv bleiben kann. So werden alle Schüler dazu aufgefordert, während des Vortrages darauf achten, welche Personen im Gedicht auftauchen. Die folgenden, zum Teil komplexen Arbeitsaufträge dieser Unterrichtseinheit sollen den Schülern mit dem Beamer präsentiert werden, damit alle Lerner in einer umfangreichen, heterogenen Klasse dem Unterrichtsgeschehen folgen und die Arbeitsaufträge lösen können. Auch werden die Schüler auf diese Weise erneut über zwei Kanäle angesprochen. Im Anschluss untersuchen die Lerner in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch die Position, die Stimmung und die Wahrnehmungen des lyrischen Ichs in der ersten Strophe und vergleichen diese mit der Situation der Gesellen in der zweiten Strophe. Sie sollen erfassen, dass der Standort (Fensterblick aus der begrenzten Enge des Hauses, Einsamkeit, Stille, Statik) und die Gefühlslage des lyrischen Ichs (Melancholie, Wehmut) einen Kontrast zu der Position der Gesellen bilden (Wandern in der Natur, Gesellschaft, Fröhlichkeit, Bewegung, Freiheit) und dass Letztere die Sehnsucht nach Ferne des lyrischen Ichs widerspiegeln. Auch hier werden die Ergebnisse von den Schülern präsentiert, während die Lehrperson ihnen lediglich beratend und helfend zur Seite steht. In der zweiten Erarbeitungsphase wird auf das Vorwissen der Schüler zu der Epoche der Romantik, Gegenstand der vorangegangenen Unterrichtssequenz, zurückgegriffen, damit alle sich in das Unterrichtsgeschehen eingebunden fühlen. Die Schüler werden dazu aufgefordert, in Stillarbeit die Naturmotivik (unberührte und zivilisierte Natur als
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Fantasielandschaft) im Gedicht zu analysieren, indem sie sich auf das Lied der Gesellen beziehen. Anschließend sollen sie in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch erklären, inwiefern diese Naturbeschreibungen typisch für die Epoche der Romantik sind. Da sich die Schüler unter anderem mit dem Naturempfinden des „Taugenichts“ in Eichendorffs Novelle auseinandergesetzt haben, dürften sie wenig Schwierigkeiten haben, zu erkennen, dass die Landschaften, die im Lied der Gesellen auftauchen, reine Fantasielandschaften sind und von den Romantikern als Gegenentwurf zur Wirklichkeit erschaffen worden sind. In einem letzten Schritt wird das Gedicht dann in Bezug zu dem Thema der Unterrichtssequenz, „Spiegel-‐Gedichte“ gesetzt. Indem die Schüler das in der Einstiegsstunde erworbene Wissen aktivieren, sollen sie erfassen, dass die im Gedicht evozierten Naturbilder als Spiegel der Seele des lyrischen Ichs gesehen werden können, da dieses seine Sehnsuchtsgefühle in die Natur projiziert: Die Wanderer und das Posthorn spiegeln die Sehnsucht nach Ferne wider, der Palast steht als Topos für die Erinnerung an die vergangene Zeit und in den Marmorbildern als Symbol für Eros wird die Sehnsucht nach Liebe erkennbar. Während dieser Erarbeitungsphase wird erneut auf den Titel des Gedichtes verwiesen, um den Schülern eine eigenständige Lösungsfindung zu erleichtern. Sie sollen diesen komplexeren Arbeitsauftrag in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch lösen, damit die Lehrperson sie gezielt bei ihrer eigenständigen Wissenskonstruktion unterstützen kann. Als Hausaufgabe untersuchen die Schüler die Form des Gedichtes, indem sie vor allem auf das Reimschema und das Metrum eingehen. Anschließend soll die Form des Textes in Bezug zum Inhalt gesetzt werden und die Schüler können auf diese Weise erfassen, dass die von den Romantikern bevorzugte Volksliedform (drei achtzeilige Strophen, Kreuzreimschema, unregelmäßiges Metrum) den Inhalt des Gedichtes widerspiegelt: Die liedhafte Form passt unter anderem zur Reiselust des lyrischen Ichs und verweist auf das Lied der Wanderer.
3. Die dritte Unterrichtseinheit: Annette von Droste-Hülshoffs „Das Spiegelbild“ In der vorliegenden Unterrichtseinheit sollen die Schüler erfassen, dass Annette von Droste-‐Hülshoff in „Das Spiegelbild“ mit dem Spiegelmotiv das Thema der
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Identitätsproblematik aufgreift, indem sie das Gedicht sowohl sprachlich als auch inhaltlich analysieren. Da das Gedicht umfangreich ist und eine oberflächliche Analyse des Textes vermieden werden muss, wird den Schülern eine gekürzte Textfassung präsentiert (erste, zweite und letzte Strophe). Der Einstieg in die Unterrichtsstunde besteht aus einem Bildimpuls, welcher die Schüler auf die Thematik des Gedichtes einstimmt. Das kubistische Gemälde „Girl before a mirror“ von Pablo Picasso zeigt eine sich im Spiegel betrachtende Dame, wobei das Spiegelbild deren Erscheinung in veränderter Form wiedergibt. Dies passt insofern zu der Thematik des Gedichtes, dass das lyrische Ich weiblich ist und sein Spiegelbild als ihm nicht zugehörig zurückweist: „(...) du bist nicht meinesgleichen!“ Mit diesem Unterrichtseinstieg sollen mehrere Intelligenzen in der Lerngemeinschaft gefördert werden und künstlerisch begabte und interessierte Schüler erhalten die Möglichkeit, ihr Wissen und Talent diesbezüglich im Deutschunterricht unter Beweis zu stellen. So kann dieser Einstieg eine motivierende Funktion für einen Teil der Schüler haben, die ansonsten eher Schwierigkeiten mit literarischen Texten haben. Das Gedicht wird den Schülern dann von der Lehrperson vorgetragen, um ihnen das Textverständnis zu erleichtern. Dabei sollen sie darauf achten, wer im Gedicht auftaucht und in welcher Situation und Gefühlslage sich das lyrische Ich befindet. Die Arbeitsaufträge werden wie in der vorangegangenen Unterrichtseinheit mit dem Beamer präsentiert. Die Unterrichtsergebnisse werden jeweils in einem Tafelbild gesichert und von den Schülern ins Heft notiert. In einer ersten Erarbeitungsphase untersuchen die Schüler in Stillarbeit die ersten beiden Strophen des Gedichtes und gehen darauf ein, wie das lyrische Ich sein eigenes Spiegelbild wahrnimmt und auf welche Weise es auf diese Begegnung mit dem eigenen Ich reagiert. Indem sie die intensive Selbstbeobachtung des Ichs analysieren, sollen sie erfassen, dass es Entsetzen und Furcht angesichts des eigenen Spiegelbildes empfindet, da dieses ihm die verborgenen Seiten seiner Existenz offenbart, die ihm bislang nicht bewusst waren. Indem (wenn nötig) von der Lehrperson auf zentrale Textstellen verwiesen wird, sollen die Schüler begreifen, dass das lyrische Ich seinem Spiegelbild Distanz entgegenbringt und es als irreal und ihm nicht zugehörig zurückweist. Somit
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können die Schüler eigenständig erfassen, dass das Gedicht die Erfahrung der Selbstfremdheit und Ich-‐Spaltung ausgestaltet. In einer zweiten Erarbeitungsphase wird in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch ermittelt, inwiefern die zuvor alternative Möglichkeit der Reaktion („Würd’ ich dich lieben oder hassen?“) in der dritten Strophe zu einer Lösung führt. Die Schüler sollen anhand einer Analyse der dritten Strophe erfassen, dass das lyrische zu dem Schluss kommt, dass es sich diesem fremden Wesen doch „verwandt“ fühlt. Indem bei Bedarf auf Sigmund Freuds „drei psychische Instanzen“ verwiesen wird, können die Schüler erkennen, dass sich das Erschrecken des Ichs vor seinem „Es“ abmildert und der Trauer Platz macht, da das Ich sich schließlich zu allen Seiten seiner Identität bekennt, die ihm durch das Spiegelbild bewusst geworden sind. Zuletzt untersuchen die Schüler in Stillarbeit die Form des Textes, indem sie sich auf das Reimschema und die Stilfiguren (vor allem in der ersten und der zweiten Strophe) konzentrieren. Auch hier können die Schüler auf ihr Vorwissen zurückgreifen, da ihnen die Kompetenzen und methodischen Fähigkeiten zur Analyse lyrischer Texte bereits vermittelt worden sind. Anschließend wird in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch festgehalten, inwiefern die Form des Textes den Inhalt widerspiegelt: Der Schweifreim weist darauf hin, dass die inhaltlichen Gegensätze schließlich zusammengeführt werden, indem das lyrische Ich seine Identität in all ihren Facetten wahrnimmt. Die Schüler sollen erklären, inwiefern die Metaphern, die Vergleiche, die Alliterationen sowie die Antithesen die unheimliche Stimmung des Gedichtes unterstreichen. Als Hausaufgabe lesen die Schüler den Informationstext zum Leben und Werk der Schriftstellerin und können einen möglichen Bezug zum Inhalt des Gedichtes erkennen. Es muss darauf hingewiesen werden, dass sich eine kurzschlüssige Gleichsetzung von Autorin und lyrischem Ich verbietet. Nichtsdestotrotz sollen die Schüler erkennen, dass das Gedicht, das anfangs den Titel „Mein Spiegelbild“ trug, als Spiegel der Gefühlswelt der Autorin gelesen werden kann: Annette von Droste-‐Hülshoff könnte in dem Gedicht ihren eigenen inneren Zwiespalt zwischen ihrem Leben als keusches Adelsfräulein und ihrem Wunsch, eine zügellose Schriftstellerin zu sein, verarbeiten.
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4. Die vierte Unterrichtseinheit: Heinrich Heines „Still ist die Nacht“ In der vierten Unterrichtseinheit wird das Gedicht „Still ist die Nacht“ von Heinrich Heine vor allem in Bezug auf die Spiegelmotivik und die Doppelgängerthematik hin analysiert. Das Gedicht erinnert inhaltlich an Annette von Droste-‐Hülshoffs „Das Spiegelbild“, wobei das lyrische Ich in diesem Gedicht nicht explizit von seinem Spiegelbild, sondern von einem „Doppeltgänger“ spricht, also einem Teil seiner Persönlichkeit, welcher die amourösen Leiden seiner Vergangenheit verkörpert. Als Einstieg in die Unterrichtseinheit folgen die Schüler der Vertonung des Gedichtes durch Franz Schubert und halten erste Eindrücke zu der Stimmung des Gedichtes stichwortartig fest. Hier erfolgt also eine multimodale Herangehensweise an den Text, welche sowohl die unterschiedlichen Intelligenzen der Schüler fördern als auch ihr Interesse wecken soll. Auf diese Weise werden die Schüler über mehrere Kanäle angesprochen, zunächst auditiv und anschließend visuell, und die Schüler können sich persönlich zu dem Gedicht äußern, indem sie ihren Klassenkameraden ihre Ansichten bezüglich der Stimmung mitteilen und diese diskutieren. Nach dieser Einstimmungsphase analysieren die Schüler in Stillarbeit die erste Strophe des Gedichtes und beschreiben die Ausgangssituation. Es ist davon auszugehen, dass dies den Schülern keine Schwierigkeiten bereiten dürfte, da die Position des lyrischen Ichs explizit genannt wird: Letzteres betrachtet in der nächtlichen Stille ein Haus, das Erinnerungen an eine vergangene Liebe weckt. Die einstige Geliebte ist mittlerweile in eine andere Stadt gezogen, doch das Haus hat dem Anschein nach weiterhin eine große Bedeutung für das lyrische Ich, da der Ort mit Erinnerungen an die gemeinsame Zeit besetzt ist. Dieser Gedichtinhalt dürfte für die Schüler nachvollziehbar sein, da sie sich in einer Lebensphase befinden, in der sie erste Erfahrungen mit Liebesbeziehungen und den damit verbundenen Enttäuschungen sammeln. Die Schüler-‐Ergebnisse werden anschließend durch das fragend-‐entwickelnde Verfahren ermittelt und in einem Tafelbild gesichert. Bei der nächsten Erarbeitungsphase wird in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch die Position des lyrischen Ichs mit der einer weiteren in der zweiten Strophe auftauchenden Person verglichen. Indem die Schüler untersuchen, dass diese zweite Person die selbe Stellung wie das lyrische Ich einnimmt („Das steht auch ein Mensch und starrt in die
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Höhe“) und das Ich „seine eigene Gestalt“ erblickt, sollen sie erfassen, dass es sich hierbei um das Spiegelbild des Ichs handelt, das durch das Mondlicht auf einer Spiegelfläche des Hauses erkennbar wird („Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt“). Da im Gedicht explizit erwähnt wird, dass es dem Ich vor diesem „Antlitz“ „graust“, könnten die Schüler eigenständig zur Schlussfolgerung kommen, dass das lyrische Ich vor seinem gespenstigen Aussehen zurückschreckt. Indem sie ihr Wissen zu der vorangegangenen Unterrichtsstunde aktivieren, erfassen sie, dass der Sprecher dieses Gedichtes dem lyrischen Ich in „Das Spiegelbild“ ähnelt, da beide mit Facetten ihrer Persönlichkeit konfrontiert werden, die ihnen unangenehm sind und die ihnen Furcht einflößen. Der Schwerpunkt der letzten Erarbeitungsphase liegt auf einer Analyse des Dialoges mit dem „Doppeltgänger“/Spiegelbild in der dritten Strophe des Gedichtes. Die Schüler sollen in Stillarbeit die Ursache für die emotionale Aufgewühltheit und das gespenstige Aussehen des lyrischen Ichs erfassen: Die Konfrontation mit den Erinnerungen an die unglücklich verlaufene Liebesbeziehung quälen das lyrische Ich dermaßen, dass sich die Leiden sogar in seinem Äußeren manifestieren. Vor allem an diesem Schauplatz der gemeinsam verbrachten Zeit treten die Erinnerungen an die amourösen Ereignisse wieder zutage und nehmen Gestalt an. Auch hier kann man sich als Lehrperson erhoffen, dass dieser Aspekt des Gedichts die Schüler ansprechen dürfte.331 Die Hausaufgabe dient der Vorbereitung auf die nächste Unterrichtseinheit, um den Schülern die inhaltliche Analyse des Gedichtes „Winternacht“ von Gottfried Keller zu erleichtern. Letztere informieren sich mit Hilfe des Internets und Lexika zum Motiv der Nixe in literarischen Texten und notieren einige Stichpunkte diesbezüglich in ihrem Heft. Es ist davon auszugehen, dass die Schüler herausfinden, dass die Nixe oft als Symbol für die erotisch verlockende und zugleich zerstörerische Frau genutzt wird.
5. Die fünfte Unterrichtseinheit: Gottfried Kellers „Winternacht“ In der fünften Unterrichtseinheit ist eine Analyse von Gottfried Kellers Gedicht „Winternacht“ vorgesehen. Anhand einer intensiven Aufarbeitung der beiden im Gedicht beschriebenen Sphären (Winterlandschaft und Unterwasserwelt) sollen die Schüler 331 Vor allem die weiblichen Klassenmitglieder einer elften Klasse bevorzugen erfahrungsgemäß
die Lektüre von Liebesromanen.
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erkennen, dass der Autor das Thema der Auseinandersetzung mit den eigenen Tiefenschichten, dem „Es“, anhand des Spiegelmotivs aufgreift. Um die Schüler angemessen auf eine Analyse des metaphernreichen und verschlüsselten Gedichtes einzustimmen, wird als Einstieg mit einem Bild-‐ sowie auch mit einem Hörimpuls gearbeitet. Letztere folgen einem Hörvortrag, betrachten eine dazugehörige Bilderfolge einer Eislandschaft und äußern anschließend erste Vermutungen zu der Position des lyrischen Ichs und seiner Umgebung. Dann wird das Gedicht den Schülern ausgeteilt und es soll bereits in der Einstiegsphase geklärt werden, dass das lyrische Ich sich auf einem zugefrorenen See befindet. Die erste Erarbeitungsphase knüpft inhaltlich an den Einstieg an: Die Schüler werden aufgefordert, in Stillarbeit die Landschaft in der ersten Strophe zu untersuchen und zu erklären, wie das lyrische Ich dieser Landschaft gegenübersteht. Es wird antizipiert, dass die Schüler anhand der dreifachen Verneinung erkennen, dass das lyrische Ich diese Winterlandschaft als starr, leblos und leer wahrnimmt und dass es sich in dieser Welt nicht wohlzufühlen scheint. Im Anschluss sollen die Schüler im fragend-‐ entwickelnden Gespräch erfassen, dass die beschriebene Winterlandschaft der Realität entsprechen könnte. In der nächsten Erarbeitungsphase wird im fragend-‐entwickelnden Gespräch die Welt oberhalb der Eisschicht mit der Unterwasserwelt in der zweiten Strophe verglichen. Beschrieben wird in der zweiten Strophe ein Seebaum, der nach oben steigt, bis das Eis seinen Aufstieg einhalten lässt, sowie eine Nixe, die an diesem Gewächs nach oben klettert und die Welt oberhalb der Eisschicht betrachtet. Im Gegensatz zu der Starre und Leere der Winterlandschaft sind die hier beschriebenen Elemente belebt und in Bewegung. Auch die erwähnte grüne Farbe, welche für das Leben steht, bildet einen starken Kontrast zur regungslosen, weißen Winterlandschaft. Die Lehrperson kann sich diesbezüglich erhoffen, dass sich die Schüler die beschriebenen Landschaften bildlich vorstellen, da zuvor mit einem Bildimpuls gearbeitet wurde. So dürfte diese Herangehensweise
an
das
Gedicht
den
Schülern
eine
eigenständige
Wissenskonstruktion erleichtern.
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Da die beiden folgenden Arbeitsaufträge332 ein Entschlüsseln der mythischen Bilder und Metaphern von den Schülern verlangt, wird an dieser Stelle wieder auf das fragend-‐ entwickelnde Verfahren zurückgegriffen, um die Schüler angemessen bei der Lösungsfindung unterstützen zu können. In der dritten Strophe erwähnt sich erstmals das Ich. Wir erfahren, dass es nur durch eine dünne, zu zerbrechen drohende Eisschicht von der Unterwasserwelt getrennt ist. Den weißen Körper der Nixe sieht das Ich als begehrenswert an („Ihre weiße Schönheit Glied um Glied“), obwohl die ihr zugehörige Welt dem Ich unheimlich erscheint („die schwarze Tiefe“). Indem die Schüler die dritte Strophe in Bezug zur vierten setzen und erfassen, dass nun von einem „dunkle(n) Antlitz“ die Rede ist, sollen sie erkennen, dass dieses Angesicht nicht der Nixe, sondern dem lyrischen Ich zugehörig ist: Das lyrische Ich sieht sein eigenes Gesicht, welches er als fremd, „dunk(el)“ empfindet, auf der dünnen Eisschicht gespiegelt. In der letzten Erarbeitungsphase wird schließlich geklärt, wie die geschilderte Unterwasserwelt zu interpretieren ist und wie das Ich dieser Sphäre gegenübersteht. Indem die Schüler das Bild des auf der Eisschicht sich spiegelnden Ichs in Bezug zu der mythischen Welt darunter setzen, erkennen sie, dass die Welt oberhalb des Sees der Sphäre des Realen zuzuordnen ist, während die Unterwasserwelt die Tiefenschichten des Ichs, das Unbewusste repräsentiert. Diese Tiefenschichten versuchen sich nach oben zu „taste(n)“ wie die Nixe beziehungsweise zur Oberfläche emporzusteigen wie ein Seebaum, können jedoch nicht durch die „harte Decke“ stoßen. Indem sie das Motiv der Nixe erneut aufgreifen, erfassen die Schüler, dass das Ich diese Welt des Unbewussten als verlockend und bedrohlich zugleich empfindet. Es soll zudem erarbeitet werden, dass obwohl diese Unterwasserwelt als begehrenswert geschildert wird, das Ich keine Versuche macht, in diese Welt durchzubrechen, und dass es somit sein Dasein auf die kalte Welt des Realen beschränkt. Während dieser Erarbeitungsphase können sich die Schüler ihres Vorwissens zum Motiv der Nixe rühmen sowie auch auf ihr Wissen zu unbewussten Aspekten der Persönlichkeit (das „Es“) zurückgreifen.
332 Erarbeitung III und IV: Analyse der dritten und vierten Strophe
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Als Hausaufgabe lesen die Schüler den Artikel über Leben und Werk Georg Trakls, um sich einen Überblick über diesen verschlossenen und verrätselten Schriftsteller zu verschaffen. Die Informationen über die Grundstimmung seines Werkes werden in der kommenden Unterrichtseinheit zur Analyse seines Gedichtes „Das Grauen“ genutzt.
6. Die sechste Unterrichtseinheit: Georg Trakls „Das Grauen“ Während der vorangehenden vier Unterrichtseinheiten zum Thema Spiegelgedichte lag der inhaltliche Fokus meist auf den unterschiedlichen Wahrnehmungen des Ichs im Spiegel. Das Spiegelbild hat dem lyrischen Ich somit jeweils bedrohliche sowie begehrenswerte Aspekte der Persönlichkeit oder auch Erinnerungen an die Vergangenheit offenbart. In dem letzten Gedicht dieser Unterrichtssequenz erblickt das lyrische Ich die Abgründe seiner Persönlichkeit im eigenen sich spiegelnden Ich und erkennt, dass es mit Selbstmordgedanken zu kämpfen hat. Als Einstieg in die letzte Unterrichtseinheit werden sich die Schüler mit dem Titel des Gedichtes „Das Grauen“ auseinandersetzen. Es wird unter anderem festgehalten, dass der Begriff „Grauen“ Assoziationen eines erschreckenden Ereignisses weckt. Indem sie ihr Vorwissen zum Leben und Werk Georg Trakls sowie zu den bereits behandelten Spiegelgedichten aktivieren, sollen die Schüler erfassen, dass das lyrische Ich Entsetzen und Abscheu vor dem eigenen Spiegelbild empfinden könnte, da „das Grauen“ möglicherweise in der Persönlichkeit des lyrischen Ichs angesiedelt ist. Zunächst werden in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch die Position und die Wahrnehmungen des lyrischen Ichs in der ersten Strophe untersucht. Die Schüler sollen anhand der Präteritum-‐Form erfassen, dass der Standort und die Wahrnehmung des lyrischen Ichs als Erinnerung in der Vergangenheit gekennzeichnet sind: „Ich sah mich“. Es wird angedeutet, dass das Ich in dieser Erinnerung „verlass’ne Zimmer“ durchschreite und sich somit im Inneren eines Gebäudes befinde. Gleichzeitig schildert das Ich jedoch intensive Natureindrücke (Heulen der Hunde, Wehen des Windes) und es sieht die Sterne „irr“ tanzen. die Schüler sollen in dem Kontext erklären, dass sich demnach zwei Möglichkeiten ergeben: Entweder das lyrische Ich beobachtet die
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Naturereignisse aus dem Fenster eines Gebäudes heraus oder das Geschehen ist auf einer irrealen Ebene anzuordnen. Die Schüler können gegebenenfalls darauf hingewiesen werden, dass im ersten Vers der zweiten Strophe eine Erklärung geliefert wird: Das lyrische Ich spricht von einer „dumpfe(n) Fierberglut“, so dass davon auszugehen ist, dass die beschriebenen Ereignisse einem Fiebertraum entsprungen und somit als Traumgebilde zu kennzeichnen sind. Dies könnten die Schüler unter anderem damit begründen, dass Sterne als unbewegliche Himmelskörper wahrgenommen werden und nicht „irr“ tanzen können. In der nächsten Erarbeitungsphase wird an das Vorwissen der Schüler angeknüpft. Letztere untersuchen das Blumenmotiv in der zweiten Strophe und erklären, inwiefern Trakl mit der romantischen Verwendung des Motivs (die Blume als Motiv für die Sehnsucht und die Liebe) bricht. Indem sie darauf eingehen, dass den Blumen das Attribut „giftig“ zugesprochen wird und dass Letztere aus dem Inneren des Ichs zu wachsen scheinen („blühn aus meinem Munde“), sollen sie erkennen, dass die Blume bei Trakl als zerstörerisches Element zu betrachten ist, welches als Motiv des inneren Zerfalls genutzt wird. Damit die Schüler diesen Arbeitsauftrag ohne die Hilfe der Lehrperson lösen können, wird dieser in Stillarbeit ausgeführt. Im Anschluss wird zunächst die dritte Strophe untersucht, um diese in einem zweiten Schritt in Bezug zu der letzten Strophe des Gedichtes zu setzen, da in diesen beiden Strophen neue miteinander verbundene Bilder aufgegriffen werden. Indem die Schüler die dritte Strophe inhaltlich analysieren, sollen sie erkennen, dass das Ich in die „trügerische“, also täuschende „Leere“ eines Spiegels blickt und etwas Unbekanntes, Gefürchtetes wahrnimmt, da es von „Graun“ und „Finsternis“ spricht: Das Angesicht des biblischen Brudermörders Kain wird im Spiegel erkennbar. Setzt man nun diese Strophe in Bezug zum letzten Vers des Gedichtes, wird deutlich, dass das lyrische Ich die Rollen Kain und Abels vereint: Das Ich ist mit „(s)einem Mörder (...) allein“, weil es sich wahrscheinlich selbst umbringen wird. Letzteres blickt also in den Spiegel und erkennt Abgründe im eigenen sich spiegelnden Ich, die es dermaßen erschüttern, dass es mit Selbstmordgedanken ringt. Während dieser Erarbeitungsphase können sich vor allem Schüler, die sich mit Inhalten und Motiven der Bibel auskennen, ihres Wissens rühmen und dieses an ihre
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Klassenkameraden weitergeben. Einmal erfolgreich angeeignetes Wissen wirkt sich bei Transferleistungen motivierend auf die Lernenden aus. Nach der inhaltlichen Analyse wird nun in einem letzten Schritt die Form des Gedichtes untersucht und in Bezug zum Inhalt gesetzt. Da antizipiert werden kann, dass die Schüler die Sonett-‐Form dieses verschlüsselten Gedichtes eigenständig erkennen, wird bei diesem Arbeitsauftrag auf die Stillarbeit zurückgegriffen. Im Anschluss sollen die Schüler
im
fragend-‐entwickelnden
Gespräch
erklären
können,
dass
die
Krisenerscheinung des lyrischen Ichs sich also nicht in der Form des Textes niederschlägt. Dies dürfte den Schülern nicht allzu schwer fallen, da während dieser Unterrichtssequenz die Form des Textes stets in Bezug zum Inhalt gesetzt wird. Indem sie zudem auf ihr Vorwissen zum Werk Georg Trakls zurückgreifen, begreifen die Schüler somit, dass der Autor die Form in diesem Gedicht noch nicht „zerbricht“, und der Inhalt des Gedichtes hier nicht seine adäquate Gestaltung in der Form findet. Die Hausaufgabe der letzten Unterrichtseinheit dieser Sequenz besteht aus einem produktiven Schreibauftrag. Die Schüler stellen einen Bezug zwischen der inzestuösen Beziehung des Autors zu seiner Schwester und dem Gedicht her, indem sie einen Brief aus Trakls Sicht an die Schwester schreiben. Dabei soll der Inhalt des Gedichtes berücksichtigt werden, ohne jedoch das lyrische Ich mit dem Autor gleichzusetzen. Hier können vor allem kreative Schüler ihr Talent unter Beweis stellen, indem sie einen eigenen Text produzieren.
7. Summative Evaluation: die Klassenarbeit Die geplante Klassenarbeit zur Unterrichtssequenz besteht lediglich aus drei Fragen zu den im Unterricht behandelten Gedichten sowie aus einer Aufgabenstellung zu einem unbekannten Gedicht, da Schüler einer elften Klasse in der Lage sein sollten, umfangreiche und zusammenhängende Antworten zu verfassen. Da es sich bei den ersten beiden Fragen um eine reine Reproduktion dessen handelt, was im Unterricht aus den Gedichten „Das Spiegelbild“ und „Winternacht“ herausgearbeitet wurde, sollten diese Aufgabenstellungen den Schülern am wenigsten Schwierigkeiten bereiten. Die dritte Aufgabe verlangt eine Reorganisation und einen Transfer des Gelernten: Die
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Schüler sollen den Inhalt von Heinrich Heines Gedicht „Still ist die Nacht“ nutzen, um einen Brief aus der Sicht des lyrischen Ichs an die Geliebte zu schreiben. Da solche produktiven und kreativen Schreibaufgaben während der Sequenz eingearbeitet und von der Lehrperson verbessert werden, soll dieser Unterrichtsaspekt in der Klassenarbeit nicht zu kurz kommen. Auch können kreative Schüler und solche, die sich mit dem Lernen von behandelten Unterrichtsinhalten schwertun, hier wertvolle Punkte sammeln. Es ist zu erwarten, dass die Schülerantworten zu dieser Frage differenzierter ausfallen als die zu den ersten beiden Fragen: Während einige Schüler Spaß an solchen Schreibaufgaben haben, fällt es anderen erfahrungsgemäß schwer, sich in eine literarische Figur beziehungsweise das lyrische Ich hineinzuversetzen. Die letzte Aufgabenstellung (unterteilt in drei Fragen) zu dem den Schülern unbekannten Gedicht „Meeresstrand“ von Theodor Storm verlangt von Letzteren eine Reflexion des Gelernten und eine eigenständige Lösung einer neuen Problemstellung. Anhand der inhaltlichen und formalen Analyse des unbekannten Gedichtes können die Schüler beweisen, dass sie nach dieser Unterrichtssequenz in der Lage sind, Gedichte (zum Spiegelmotiv) sowohl inhaltlich als auch formal eigenständig zu bearbeiten. So wird ebenfalls bei der Bewertung der Schülerleistung versucht, den Anforderungen einer heutigen Didaktik und Pädagogik gerecht zu werden, da die Heterogenität der Schüler berücksichtigt wird und verschiedene Kompetenzen abgeprüft werden.
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IV. Gesamtreflexion Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass diese Arbeit das Ziel verfolgt hat, die Schüler anhand ausgewählter Gedichte, die das Symbol des Spiegels auf unterschiedliche Art und Weise aufgreifen, für Literatur zu begeistern. Dazu wurde eine Unterrichtssequenz
zu
sechs
Unterrichtseinheiten
aufgestellt,
die
eine
Einführungsstunde und fünf Gedichte aus unterschiedlichen Epochen und verschiedenen Autoren beinhaltet, wobei das Spiegelmotiv stets eine entscheidende Rolle bei der Interpretation Letzterer spielen soll. Dabei ist den ausgewählten lyrischen Texten gemein, dass der Spiegel als Motiv für die dichterische beziehungsweise die lyrische Seele gesehen werden kann. In einem theoretischen Exkurs wurde zunächst der Spiegel als Gegenstand, als Zeichen sowie vor allem als Symbol in der europäischen Kulturgeschichte seit der Antike erörtert. Dabei hat sich gezeigt, dass das Motiv sehr komplex ist, unterschiedlich ausgelegt werden kann und sowohl für die Philosophie, die Ästhetik, die Theologie als auch die Psychologie von entscheidender Bedeutung war und noch immer ist. Es wurde auf die kulturelle Verankerung des Spiegels eingegangen, auf antike Texte wie die Bibel, Ovids „Metamorphosen“ und Platons „Politeia“ verwiesen, um anschließend zu erläutern, inwiefern Psychoanalytiker sich der Metapher bedient haben, um Aspekte der Persönlichkeitsgestaltung und der Identitätsproblematik zu erklären. Auch haben die Eigenschaften und Gaben, die dem Spiegel vom volkstümlichen Glauben zugeschrieben werden, verdeutlichen können, warum das Motiv für literarische Texte verschiedener Epochen so interessant ist. Der Schwerpunkt des theoretischen Teils dieser Arbeit lag vor allem auf den Ausführungen des Zeichentheoretikers Umberto Eco sowie der Psychoanalytiker Sigmund Freud und Jacques Lacan. Dabei hat sich bei der Interpretation der Gedichte herausgestellt, dass vor allem ein Bezug auf Sigmund Freuds Thesen zur Persönlichkeitsgestaltung für die Behandlung der Gedichte im Unterricht geeignet ist.
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Ecos Ausführungen zum Spiegel als Zeichen wären für eine 11. Klasse zu komplex,333 während man mit Lacans Thesen schnell ins Spekulative abzugleiten droht, da sein „Spiegelstadium“ die Entwicklung von Kindern beachtet, in den Gedichten jedoch von Erwachsenen die Rede ist. So wurden die ausgewählten Spiegelgedichte hauptsächlich im Hinblick auf Sigmund Freuds „drei psychischen Instanzen“ interpretiert, da diese psychoanalytische Grundlage für die Schüler am ehesten nachvollziehbar scheint. Es wurde dabei stets davon ausgegangen, dass die Schüler sich bereits selbst mit dem eigenen Spiegelbild auseinandergesetzt haben und dass es für sie verständlich ist, dass der Spiegel zur Bewusstseinswerdung dient und als Mittel der Identitätsbildung gesehen werden kann. Auch wurde vorausgesetzt, dass die Schüler begreifen, dass die Persönlichkeit eines Individuums vielschichtig ist, nicht auf äußere, beobachtbare Eigenschaften reduziert werden kann, sondern zudem aus inneren Trieben und Leidenschaften besteht, die oft nicht an der Oberfläche erkennbar sind. Bei der Unterrichtsvorbereitung wurde auf eine handlungsorientierte und multimodale Herangehensweise an die Gedichte zurückgegriffen, um sowohl den unterschiedlichen Lerntypen innerhalb einer Klasse als auch der Vielschichtigkeit von literarischen Texten gerecht zu werden. So wurden im praktischen Teil dieser Arbeit die konstruktivistische Didaktik und Pädagogik sowie die Leitgedanken handlungsorientierter und multimodaler Unterrichtsformen erörtert und es wurde dargelegt, inwiefern sich offene Unterrichtsmethoden positiv auf die Schülermotivation, das Klassenklima und die Lernergebnisse auswirken können. Dabei bieten sich gerade multimodale Unterrichtsinhalte an, um die Grenzen zwischen alten und neuen Medien, zwischen Literatur und anderen Künsten einzubrechen, so dass den Schülern ein modernes Verständnis von künstlerischem Schaffen vermittelt wird. Die im Anhang dieser Arbeit zu findende sechsstündige Unterrichtssequenz zum Thema „Spiegel-‐Gedichte“ kann auf einer elften Klasse durchgeführt werden, da die Texte
333 Eco kommt zu dem Schluss, dass es sich beim Spiegel nicht um ein Zeichen handele, da der
Spiegel nur in Anwesenheit eines Referenten existiere. Trotzdem kann der Spiegel als etwas aufgefasst werden, das für etwas anderes steht und könnte demnach als semiotisches Phänomen gesehen werden.
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sowohl dem Lehrprogramm dieser Klassenstufe als auch den Kompetenzen der Schüler entsprechen sollten. Die ausgewählten lyrischen Texte sollen die Schüler zudem bei ihrer Identitätsfindung und –bildung unterstützen, da Letztere sich durch die Analyse und Interpretation derselben mit dem eigenen Ich und der Umwelt auseinandersetzen. Mithilfe der lyrischen Texte bekommen die Schüler Zugang zu der Gefühlswelt anderer334 , sie suchen nach Identifikationsmöglichkeiten und somit kann Literatur in dem Fall wie kein anderes Medium der Bewusstseinswerdung und –erweiterung dienen. Gerade dem Spiegel kommt bei der Identitätssuche und –bildung eine zentrale Rolle zu, da er uns zeigt, wie die anderen uns sehen. Da die Lektüre literarischer Texte Jugendliche auf ihrem Weg zum eigenen Ich unterstützt, können Spiegel-‐Gedichte demnach einen besonderen Beitrag dazu leisten. Die Auseinandersetzung mit dem Thema „Spiegelgedichte“ hat mir als Lehrperson gezeigt, inwiefern Künstler vergangener Epochen sowie zeitgenössische Schriftsteller sich immer wieder des Motivs bedient haben und weiterhin bedienen, um Aspekte der Persönlichkeitsgestaltung darzustellen. Mir wurde zunehmend bewusst, dass Autoren immer wieder persönliche Erfahrungen und Gefühlszustände in ihre Texte einfließen lassen und dass somit viele lyrische Texte als Spiegel der dichterischen Seele gelesen werden können. Das Thema hat auch mich über die Bedeutung des eigenen Spiegelbildes und die damit verbundene Identitätsproblematik nachdenken lassen und mir gezeigt, dass „wenn wir wirklich lesen, um uns selbst zu begegnen (...), dann tun wir dies in doppelter Intensität, wenn wir über Spiegelungen lesen.“335
334 Dabei ist die Gefühlswelt der Autoren als auch die des lyrischen Ichs in den Texten gemeint. 335 Vgl. Millner, Alexandra: Spiegelwelten. Weltenspiegel. Zum Spiegelmotiv bei Elfriede Jelinek,
Adolf Muschg, Thomas Bernhard, Albert Drach. In: Wiener Arbeiten zur Literatur. Bd. 19, hg von Schmidt-‐Dengler. Wien: Braumüller 2004, S. 23
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V. Quellen
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VI. ANHANG 1. Erste Unterrichtseinheit
1. Sujet de la leçon: Das Motiv des Spiegels und seine symbolische Bedeutung
Die vorliegende Unterrichtseinheit dient einer Einführung in die Sequenz zum Thema „Spiegel-‐Gedichte“. Die Schüler sollen das neue Unterrichtsthema an sich selbst erfahren und erste symbolische Bedeutungen des Spiegelmotivs erfassen. Die Auseinandersetzung mit Sigmund Freuds drei psychischen Instanzen soll ihnen eine eigenständige Konstruktion von Wissen während dieser Unterrichtssequenz erleichtern.
2. Objectifs d’apprentissage et compétences à développer à travers la leçon pédagogique: 2.1. Lernziele 1. Indem die SchülerInnen über den alltäglichen Blick in den Spiegel nachdenken, erfahren sie das neue Unterrichtsthema an sich selbst und erkennen, dass das eigene Spiegelbild ihnen manchmal mehr zeigen kann als eine bloße Spiegelung ihres Aussehens: z. B. Augenringe als Zeichen von Sorgen, Schminke zur Stärkung des Selbstbewusstseins. 2. Die SchülerInnen erfassen mögliche Bedeutungen des Spiegelmotivs (z. B. Spiegel und Spiegelbild als Mittel der Erkenntnis und Selbsterkenntnis, als Zeichen der Eitelkeit, als Symbol zur Darstellung von Bewusstseinsinhalten und Ich-‐Projektionen), indem sie reflektieren, was der Blick in den Spiegel für einen Menschen bedeuten kann. 3. Indem die SchülerInnen das Arbeitsblatt zu dem Thema Psychoanalyse analysieren und ergänzen, erweitern sie ihr Wissen diesbezüglich, erkennen erste mögliche Bezüge zum Unterrichtsthema „Spiegel-‐Gedichte“ und werden somit mit den fachlichen Kompetenzen ausgestattet, die ihnen eine eigenständige Konstruktion von Wissen diesbezüglich ermöglichen sollen. 4. Indem sich die SchülerInnen mit dem Auszug aus Ferdinand von Schirachs neuem Roman „Tabu“ auseinandersetzen, erkennen Sie die Aktualität des Spiegelmotivs und erfassen zudem eine weitere Verwendungsmöglichkeit des Spiegelsymbols: Das sinnlich erfassbare Ich ist als bloßes Spiegelbild unserer wahren verborgenen Persönlichkeit zu betrachten.
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2.2. Fachgebundene Kompetenzen: Leseverstehen • Vorwissen aktivieren und inhaltsbezogene Hypothesen anstellen • Zusammenhänge nachvollziehen und herstellen, Schlüsse ziehen • Gedankengänge nachvollziehen, Inhalte in eigenen Worten wiedergeben • Sachverhalte interpretieren und die Aussagen belegen • Zusammenfassend Bewertungen zu Ansichten und Verhaltensweisen entwickeln, begründen und mit anderen diskutieren • Bezug zur Gegenwart herstellen, die Aktualität literarischer Motive und Texte erkennen • Einzelbeobachtungen zu einer Gesamtdeutung zusammenführen • Texte, Inhalte miteinander in Beziehung setzen • Unbekannte Sachverhalte selbstständig erschließen Texte schreiben • Das Wesentliche eines Sachverhalts in eigenen Worten schriftlich wiedergeben Sprechen, Reden, Zuhören • Diskussions-‐ und Redebeiträge leisten • Sich an die Gesprächsregeln halten • Verständnisfragen und Nachfragen stellen • Im Gespräch die eigene Ansicht begründen und treffend argumentieren • Das Wesentliche eines Sachverhaltes in eigenen Worten wiedergeben 2.3. Transversale Kompetenzen: Arbeitsprozessen planen, durchführen, auswerten • Aufgabenstellungen verstehen und prozessorientiert lösen: Arbeitsschritte erkennen, nachvollziehen, gliedern und verbindlich befolgen Informationen beschaffen, ordnen und strukturieren • Informationen aus Texten entnehmen und auswerten • Stichpunkte sammeln, wichtige Informationen notieren, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden • Inhalte in eigenen Worten zusammenfassen • Unterrichtsergebnisse adäquat festhalten Präsentieren • Texte und eigene schriftliche Produktionen so vorlesen, dass sie für den weiteren Unterricht genutzt werden können
3. Différentes parties de la leçon pédagogique:
Einstieg Die Schüler sollen als Einstieg in die Unterrichtseinheit das neue Thema an sich selbst erfahren, um herauszufinden, in welcher Hinsicht dieses für sie persönlich interessant werden könnte. Somit sollen sie über den eigenen Blick in den Spiegel nachdenken, und reflektieren, was ihnen persönlich durch den Kopf geht, wenn sie sich im Spiegel betrachten. Dabei sollen sie erfassen, dass der Spiegel ihnen weitaus mehr zeigen kann
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als eine bloße Spiegelung ihres Aussehens. Um ihnen die Arbeit zu erleichtern, soll ein Spiegel in der Klasse aufgestellt werden. Da dieser Arbeitsauftrag von den Schülern verlangt, über die eigene Persönlichkeit und Gefühlslage nachzudenken, soll ein Vortrag ihrer Unterrichtsergebnisse nicht erzwungen werden. Erarbeitung und Sicherung I Während dieser Erarbeitungsphase sollen die Schüler in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch die Bedeutung und Einsatzmöglichkeiten des Spiegelmotivs erfassen. Indem sie über die Verwendungsmöglichkeiten des Motivs in literarischen Texten wie auch in der bildenden Kunst oder im Film nachdenken, sollen sie begreifen, dass Spiegel und Spiegelbilder als Mittel der Erkenntnis und Selbsterkenntnis, als Zeichen der Eitelkeit wie auch als Symbol zur Darstellung von Bewusstseinsinhalten und Ich-‐Projektionen eingesetzt werden können. Zudem sollen sie die Relevanz des Motivs daran erfassen, dass es bereits im antiken Griechenland wie auch in bekannten Märchen eingesetzt worden ist. Die Schülerergebnisse sollen in Form eines Clusters an der Tafel festgehalten und von den Schülern ins Heft kopiert werden. Erarbeitung und Sicherung II und III Die nächste Erarbeitungsphase dient als Voraussetzung für eine eigenständige Wissenskonstruktion der Schüler während dieser Unterrichtssequenz. Da das Spiegelmotiv vor allem in literarischen Texten als Symbol zur Darstellung von Bewusstseinsinhalten genutzt wird, sollen die Schüler ein Arbeitsblatt zur Bewusstseinsstruktur nach Sigmund Freud ausfüllen. Sie sollen die Begriffe „Ich“, „Es“ und „Über-‐Ich“ erklären sowie nach einer mündlichen Sicherung erläutern, welche Funktionen den drei psychischen Instanzen jeweils zukommen und wie sie unsere Persönlichkeit prägen können. Der auf dem Arbeitsblatt abgebildete Bildimpuls soll den Schülern die Ausführung dieses Arbeitsauftrages erleichtern: Sie werden auf mehreren Kanälen angesprochen, so dass mehrere Intelligenzen der Schüler gefördert werden können. Die Arbeitsergebnisse werden stichwortartig an der Tafel festgehalten. Erarbeitung und Sicherung IV Im Anschluss sollen die Schüler in Stillarbeit reflektieren, inwiefern die Auseinandersetzung mit den drei psychischen Instanzen einem Verständnis des Spiegelsymbols in literarischen Texten zugute kommen kann. Indem sie das neu erworbene Wissen in Bezug zu dem erarbeiteten Cluster setzen, sollen sie erfassen, dass literarische Figuren (beziehungsweise das lyrische Ich im Gedicht) in ihrem Spiegelbild Aspekte ihrer Persönlichkeit erkennen können (das „Es“), die bisher durch das „Über-‐Ich“ verdrängt worden sind. Eine mündliche Sicherung der Schülerergebnisse soll bei dieser kürzeren Erarbeitungsphase ausreichen. Fakultative Erarbeitung und Sicherung Da das Vorwissen der Schüler zu dem vorliegenden Unterrichtsthema schwer einzuschätzen ist und somit nicht vorausgesagt werden kann, wie viel Zeit benötigt wird, um die Schüler (vor allem beim Erstellen des Clusters) auf die richtige Fährte zu locken, soll ausnahmsweise eine fakultative Erarbeitungsphase eingeplant werden. So könnte den Lernern ein Auszug aus Ferdinand von Schirachs neuem Roman „Tabu“ gezeigt werden, um ihnen die Aktualität des Spiegelmotivs vor Augen zu führen und sie auf diese Weise zu einer Beteiligung am Unterrichtsgeschehen während dieser Sequenz zu ermutigen. Zudem könnten die Schüler anhand des Zitates eine weitere symbolische
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Bedeutung des Motivs erfassen: das sinnlich erfassbare Ich als bloßes Spiegelbild unserer wahren, verborgenen Persönlichkeit. Hausaufgabe Die Hausaufgabe dient der Vorbereitung auf die nächste Unterrichtseinheit. Die Schüler sollen das Gedicht „Sehnsucht“ von Joseph von Eichendorff zu Hause lesen, einen passenden Titel für das Gedicht finden und ihre Titelwahl kurz begründen. Somit setzen sich die Schüler bereits mit der Thematik des Textes auseinander und werden auf eine tiefergehende inhaltliche und formale Analyse vorbereitet.
4. Méthodes et techniques pédagogiques, matériel didactique: Méthodes: Schülervortrag (SV) Stillarbeit (SA) fragend-‐entwickelndes Verfahren (f.-‐e.) Matériel didactique: Arbeitsblatt Tafel Heft Beamer Spiegel
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5. Stundenverlaufsplan Phase Inhalt Organisatorisches Klassenbucheintrag Einstieg Betrachten eines Spiegels und erste Eindrücke: Was zeigt uns unser Spiegelbild? Erarbeitung und -‐Auseinandersetzung Sicherung I mit Spiegeln und Spiegelbildern im Allgemeinen -‐Erstellen eines Clusters Erarbeitung und Ergänzen des Sicherung II Arbeitsblattes zu den drei psychischen Instanzen -‐Arbeitsauftrag 1: Begriffe mit Erklärungen verbinden Erarbeitung und Ergänzen des Sicherung III Arbeitsblattes -‐Arbeitsauftrag 2: Die drei psychischen Instanzen Erarbeitung und Ergänzen des Sicherung IV Arbeitsblattes -‐Arbeitsauftrag 3: Verbindung zum Spiegel-‐Symbol fakultative Auszug aus Ferdinand Erarbeitung und von Schirachs Roman Sicherung „Tabu“ -‐Die Aktualität des Motivs Hausaufgabe Das Gedicht „Sehnsucht“ lesen, einen passenden Titel finden und die Titelwahl begründen
LZ U-Form 1 SA /eventuell SV
Medien Spiegel, Tafel/Heft
Zeit 3’ 5’
2
f.-‐e.
Tafel/Heft
15’
3
SA/SV
Tafel/Arbeitsblatt 4’
3
SA/f.-‐e.
Tafel/Arbeitsblatt 14’
3
SA/SV
Arbeitsblatt
6’
4
SV/ f.-‐e.
Beamer
3’
129
6. Tafelbild Was zeigt uns unser Spiegelbild?
130
Sigmund Freud: Die psychische Persönlichkeit ÜBER-‐ICH ICH
spricht Gebote und Verbote aus kontrolliert unsere Triebe
führt uns durch die Realität vermittelt zwischen den beiden anderen Instanzen
ES
versucht, in unser Bewusstsein zu dringen
131
7. Arbeitsblatt Sigmund Freud: Die psychische Persönlichkeit Drei psychische Instanzen 1. Verbinden Sie folgende Begriffe mit den dazugehörigen Erklärungen. Ich das Gewissen Es die bewusste Persönlichkeit Über-‐Ich die Triebe, das Unbewusste 2. Stellen Sie nun einen Bezug zu folgendem Bild her und erklären Sie, inwiefern diese drei psychischen Instanzen unsere Persönlichkeit prägen können. 1. ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ 2. ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ 3. ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ ___________________________________________________ 3. Inwiefern können Sie bereits eine Verbindung zum Spiegel-Symbol in literarischen Texten erkennen? _____________________________________________________________________________________________________ _____________________________________________________________________________________________________ _____________________________________________________________________________________________________
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8. Lösung Sigmund Freud: Die psychische Persönlichkeit Drei psychische Instanzen 1. Verbinden Sie folgende Begriffe mit den dazugehörigen Erklärungen. Ich = die bewusste Persönlichkeit Es =die Triebe, das Unbewusste Über-‐Ich =das Gewissen 2. Stellen Sie nun einen Bezug zu folgendem Bild her und erklären Sie, inwiefern diese drei psychischen Instanzen unsere Persönlichkeit prägen können. 1. Als Gewissen des Menschen spricht das Über-‐Ich Verbote und moralische Gesetze aus und versucht, unsere Leidenschaften und Triebe zu kontrollieren, da diese in einer Kultur nicht frei ausgelebt werden können. 2. Das Ich, die bewusste Persönlichkeit, führt uns durch die Realität und versucht zwischen den beiden anderen Instanzen und der Außenwelt zu vermitteln. 3. Das Es besteht aus Triebwünschen, aus unausgelebten Leidenschaften sowie aus verdrängten Erlebnissen. Als Sitz des Trieblebens ist das Es der unbewusste Teil unserer Seele, welcher immer wieder versucht, in unser Bewusstsein zu treten. 3. Inwiefern können Sie bereits eine Verbindung zum Spiegel-Symbol in literarischen Texten erkennen? Der Spiegel und das Spiegelbild könnten in literarischen Texten zur Darstellung von Bewusstseinsinhalten genutzt werden. Indem eine literarische Figur beziehungsweise das lyrische Ich eines Gedichtes sich im Spiegel betrachtet, erkennt es Aspekte seiner Persönlichkeit, die ihm bisher nicht bewusst waren, da das Über-‐Ich sie verdrängt hatte.
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9. Auszug aus dem Roman „Tabu“ (Ferdinand von Schirach)
Jeden Morgen stehen wir auf, dachte er, wir leben unser Leben, all die Kleinigkeiten, das Arbeiten, die Hoffnung, der Sex. Wir glauben, was wir tun, sei wichtig und wir würden etwas bedeuten. Wir glauben, wir wären sicher, die Liebe wäre sicher und die Gesellschaft und die Orte, an denen wir wohnen. Wir glauben daran, weil es anders nicht geht. Aber manchmal bleiben wir stehen, die Zeit bekommt einen Riss und in diesem Moment begreifen wir es: Wir können nur unser Spiegelbild sehen.
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2. Zweite Unterrichtseinheit
1. Sujet de la leçon: Die Natur als Spiegel der Gefühlswelt- Joseph von Eichendorff: Sehnsucht In der vorliegenden Unterrichtseinheit soll an das Vorwissen der Schüler zur Epoche der Romantik und zur Gedichtanalyse angeknüpft werden, indem das Gedicht „Sehnsucht“ von Joseph von Eichendorff sowohl inhaltlich als auch formal analysiert wird. Das Gedicht reiht sich in die Unterrichtssequenz „Spiegel-‐Gedichte“ ein, da die im Text beschriebene Natur als Spiegel der Gefühlswelt des lyrischen Ichs interpretiert werden kann.
2. Objectifs d’apprentissage et compétences à développer à travers la leçon pédagogique: 2.1. Lernziele 1. Indem die SchülerInnen die Situation und die Stimmung des lyrischen Ichs sowie seine Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle analysieren, erkennen sie, dass dessen Situation (Fensterblick aus der begrenzten Enge des Hauses, Einsamkeit, Stille, Melancholie, Wehmut, Statik, Bindung) einen Kontrast zu der Position der Gesellen bildet (Wandern in der Natur, Gesellschaft, Fröhlichkeit, Bewegung, Freiheit) und dass Letztere die Sehnsucht des lyrischen Ichs nach der Ferne widerspiegeln. 2. Indem die SchülerInnen ihr Vorwissen zur Naturmotivik aktivieren und die unterschiedlichen Naturbeschreibungen im Gedicht analysieren (unberührte und zivilisierte Natur als Fantasielandschaft), begreifen sie, dass das Gedicht typisch für die Epoche der Romantik ist, da das Erschaffen von Fantasiewelten auch hier einer Flucht aus der Wirklichkeit dient. 3. Indem die SchülerInnen das Gedicht auf die Spiegelsymbolik hin untersuchen, erkennen sie, dass die Naturbilder zudem als Spiegel der Seele des lyrischen Ichs gesehen werden können, da dieses seine Sehnsuchtsgefühle in die Natur und auf die Wanderer projiziert: Die Wanderer und das Posthorn spiegeln die Sehnsucht nach Ferne wider, der Palast steht als Topos für die Erinnerung an die vergangene Zeit, in den Marmorbildern als Symbol für Eros wird die Sehnsucht nach Liebe erkennbar. 4. Indem die SchülerInnen die Form des Textes untersuchen, erkennen sie, dass das Gedicht der von den Romantikern bevorzugten Volksliedform entspricht (drei achtzeilige Strophen, Kreuzreimschema, unregelmäßiges Metrum). Sie erfassen, dass die Form des Textes den Inhalt widerspiegelt: Die liedhafte Form passt unter anderem zur Reiselust des lyrischen Ichs und verweist auf das Lied der Wanderer. 2.2. Fachgebundene Kompetenzen Leseverstehen • Vorwissen aktivieren und inhaltsbezogene Hypothesen anstellen • Zusammenhänge nachvollziehen und herstellen, Schlüsse ziehen (zwischen den
135
• • • • • •
Zeilen lesen) Gedankengänge nachvollziehen, Inhalte in eigenen Worten wiedergeben Sachverhalte interpretieren und die Aussagen anhand entsprechender Textstellen belegen Das Zusammenspiel von Form und Inhalt erschließen Einzelbeobachtungen zu einer Gesamtdeutung zusammenführen Unbekannte Texte selbstständig erschließen Gattungs-‐ und epochentypische Merkmale bestimmen und ihre Wirkung einschätzen
Texte schreiben • Die eigenen Ansichten begründen und die eigene Argumentation ausformulieren • Kreativ und produktiv mit literarischen Texten umgehen Sprechen, Reden, Zuhören • Diskussions-‐ und Redebeiträge leisten • Sich an die Gesprächsregeln halten • Hausaufgaben und eigene schriftliche Produktionen vortragen • Verständnisfragen und Nachfragen stellen • Im Gespräch die eigene Ansicht begründen und treffend argumentieren 2.3. Transversale Kompetenzen Arbeitsprozessen planen, durchführen, auswerten • Aufgabenstellungen verstehen und prozessorientiert lösen: Arbeitsschritte erkennen, nachvollziehen, gliedern und verbindlich befolgen Präsentieren • Texte und eigene schriftliche Produktionen so vorlesen, dass sie für den weiteren Unterricht genutzt werden können
3. Différentes parties de la leçon pédagogique: Einstieg: Der Einstieg in die Unterrichtsstunde besteht aus einer Auseinandersetzung mit dem Titel des Gedichtes. Die Schüler sollten als Hausaufgabe einen passenden Titel für das Gedicht finden und ihre Wahl begründen, indem sie sich auf den Inhalt des Gedichtes beziehen sollten. Nach einigen Schülervorträgen und einer Diskussion ihrer Ergebnisse soll der Titel des Gedichtes genannt werden, gefolgt von einer gemeinsam zu erarbeitenden Definition des Begriffes „Sehnsucht“. Diese soll stichwortartig an der Tafel gesichert und von den Schülern ins Heft kopiert werden. Textbegegnung und Verständnissicherung Da der Text zu Hause vorbereitet worden ist, kann das Gedicht von einem Schüler vorgetragen werden. Während des Vortrages soll darauf geachtet werden, welche Personen im Gedicht auftauchen. Die folgenden, zum Teil komplexen Arbeitsaufträge dieser Unterrichtseinheit sollen den Schülern mit dem Beamer präsentiert werden, damit alle Lerner in dieser umfangreichen Klasse dem Unterrichtsgeschehen folgen und die Arbeitsaufträge lösen können.
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Erarbeitung und Sicherung I: Im Anschluss sollen die Schüler in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch die Position, die Stimmung und die Wahrnehmungen des lyrischen Ichs in der ersten Strophe untersuchen und diese mit der Situation der Gesellen in der zweiten Strophe vergleichen. Sie sollen erfassen, dass der Standort (Fensterblick aus der begrenzten Enge des Hauses, Einsamkeit, Stille, Statik) und die Gefühlslage des lyrischen Ichs (Melancholie, Wehmut) einen Kontrast zu der Position der Gesellen bilden (Wandern in der Natur, Gesellschaft, Fröhlichkeit, Bewegung, Freiheit) und dass Letztere die Sehnsucht nach Ferne des lyrischen Ichs widerspiegeln. Die Ergebnisse werden parallel zu der Erarbeitungsphase in einem Tafelbild festgehalten. Erarbeitung und Sicherung II: In der zweiten Erarbeitungsphase soll auf das Vorwissen der Schüler zu der Epoche der Romantik, Gegenstand der vorangegangenen Unterrichtssequenz, zurückgegriffen werden. Die Schüler werden dazu aufgefordert, in Stillarbeit die Naturmotivik (unberührte und zivilisierte Natur als Fantasielandschaft) im Gedicht zu analysieren, indem sie sich auf das Lied der Gesellen beziehen. Anschließend sollen sie in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch erklären, inwiefern diese Naturbeschreibungen typisch für die Epoche der Romantik sind. Da sich die Schüler unter anderem mit dem Naturempfinden des „Taugenichts“ in Eichendorffs Novelle auseinandergesetzt haben, dürften sie wenig Schwierigkeiten haben, zu erkennen, dass die Landschaften, die im Lied der Gesellen auftauchen, reine Fantasielandschaften sind und von den Romantikern als Gegenentwurf zur Wirklichkeit erschaffen worden sind. Erarbeitung und Sicherung III: In einem letzten Schritt soll das Gedicht dann in Bezug zu dem Thema der Unterrichtssequenz, „Spiegel-‐Gedichte“ gesetzt werden. Indem die Schüler das in der Einstiegsstunde erworbene Wissen aktivieren, sollen sie erfassen, dass die im Gedicht evozierten Naturbilder als Spiegel der Seele des lyrischen Ichs gesehen werden können, da dieses seine Sehnsuchtsgefühle in die Natur projiziert: Die Wanderer und das Posthorn spiegeln die Sehnsucht nach Ferne wider, der Palast steht als Topos für die Erinnerung an die vergangene Zeit und in den Marmorbildern als Symbol für Eros wird die Sehnsucht nach Liebe erkennbar. Während dieser Erarbeitungsphase soll erneut auf den Titel des Gedichtes verwiesen werden, um den Schülern eine eigenständige Lösungsfindung zu erleichtern. Auch sollen die Schüler diesen komplexeren Arbeitsauftrag in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch lösen, damit ich sie gezielt bei ihrer eigenständigen Wissenskonstruktion unterstützen kann. Hausaufgabe: Als Hausaufgabe sollen die Schüler die Form des Gedichtes untersuchen, indem sie vor allem auf das Reimschema und das Metrum eingehen. Anschließend soll die Form des Textes in Bezug zum Inhalt gesetzt werden und die Schüler sollen erfassen, dass die von den Romantikern bevorzugte Volksliedform (drei achtzeilige Strophen, Kreuzreimschema, unregelmäßiges Metrum) den Inhalt des Gedichtes widerspiegelt: Die liedhafte Form passt unter anderem zur Reiselust des lyrischen Ichs und verweist auf das Lied der Wanderer.
4. Méthodes et techniques pédagogiques, matériel didactique:
137
Méthodes: Schülervortrag (SV) Stillarbeit (SA) fragend-‐entwickelndes Verfahren (f.-‐e.) Matériel didactique: Text Tafel Heft Beamer
138
5. Stundenverlaufsplan Phase Organisatorisches
Inhalt
Klassenbucheintrag, Kontrolle der Hausaufgabe Verbesserung der -‐Titelwahl begründen, Hausaufgabe / -‐Definition des Begriffs Einstieg „Sehnsucht“ Textbegegnung und -‐Welche Personen tauchen Verständnissicherung auf? Erarbeitung und Arbeitsauftrag 1: Sicherung I -‐Die Situation des lyrischen Ichs -‐Vergleich mit den Gesellen Erarbeitung und Arbeitsauftrag 2: Sicherung II -‐Analyse der Naturmotivik im Gedicht Erarbeitung und Arbeitsauftrag 3: Sicherung III Die Natur als Spiegel der Gefühlswelt Hausaufgabe -‐Analyse der Form des Gedichtes und Bezug zum Inhalt
LZ U- Form
Medien
Zeit
3’
SV/ f.-‐ e.
Text, 7’ Tafel/Heft
Text
1
SV/ f.-‐ e. f.-‐e.
2
SA
Text, 10’ Tafel/Heft, Beamer
3
f.-‐e.
4
Text, 9’ Tafel/Heft, Beamer 3’
3’
Text, 15’ Tafel/Heft, Beamer
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6. Verbesserung der Hausaufgabe
Der Gefühlsbegriff „Sehnsucht“ bedeutet ein heftiges, oft schmerzliches Verlangen nach etwas, besonders wenn das Ersehnte fern und unerreichbar erscheint. In dem Wortbestandteil „-‐sucht“ (von „siechen“ abgeleitet, mit der ursprünglichen Bedeutung „Krankheit“) wird der psychopathologische Aspekt deutlich, der in diesem Gefühl steckt. Die Sucht bezieht sich primär nicht auf das Ersehnte, sondern auf das Sich-‐Sehnen, auf das Gefühl, das nur solange währt, wie die Erfüllung nicht erreicht wird. Zur Sehnsucht gehört also im Grunde die Erfüllungsscheu. Im Gefühlskult der Romantik nahm dies in sich selbst kreisende Gefühl den ersten Rang ein. Es ist die Sehnsucht nach Bewegung und Wandlung, nach Überwindung der Begrenztheit. Neben dem Lied ist es die Kunst, die diese Sehnsucht weckt.
7. Tafelbild
Joseph von Eichendorff: Sehnsucht
„Sehnsucht“= ein heftiges, schmerzliches Verlangen, die Sucht des „Sich-‐Sehnens“
140
8. Arbeitsblatt Joseph von Eichendorff Es schienen so golden die Sterne, Am Fenster ich einsam stand Und hörte aus weiter Ferne Ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leib entbrennte, Da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte In der prächtigen Sommernacht! Zwei junge Gesellen gingen Vorüber am Bergeshang, Ich hörte im Wandern sie singen Die stille Gegend entlang: Von schwindelnden Felsenschlüften, Wo die Wälder rauschen so sacht, Von Quellen, die von den Klüften Sich stürzen in die Waldesnacht. Sie sangen von Marmorbildern, Von Gärten, die überm Gestein In dämmernden Lauben verwildern, Palästen im Mondenschein, Wo die Mädchen am Fenster lauschen, Wann der Lauten Klang erwacht Und die Brunnen verschlafen rauschen In der prächtigen Sommernacht. -‐ 1. Wählen Sie einen passenden Titel für das Gedicht. 2. Begründen Sie Ihre Titelwahl in zwei bis drei Sätzen, indem Sie sich auf den Inhalt des Gedichtes beziehen. _____________________________________________________________________________________________________ _____________________________________________________________________________________________________ _____________________________________________________________________________________________________
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9. Arbeitsaufträge
1. Untersuchen Sie die Position, die Stimmung und die Wahrnehmungen des lyrischen Ichs in der ersten Strophe und vergleichen Sie diese mit der Situation der Gesellen in der zweiten Strophe. Was stellen Sie fest? 2. Analysieren Sie die unterschiedlichen Naturbeschreibungen im Gedicht, indem Sie sich auf das Lied der Gesellen beziehen. (V. 13-‐24) Erklären Sie, inwiefern diese Naturbeschreibungen typisch für die Epoche der Romantik sind. 3. In welchem Bezug könnten diese Naturbilder zu dem Spiegelsymbol stehen? HAUSAUFGABE: Analysieren Sie die Form des Gedichtes, indem Sie vor allem auf das Reimschema und das Metrum eingehen. Inwiefern können Sie einen Bezug zum Inhalt des Gedichtes erkennen?
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3. Dritte Unterrichtseinheit
1. Sujet de la leçon: Annette von Droste-Hülshoff: Das Spiegelbild- Die Erfahrung der Selbstfremdheit und Ich-Spaltung In der vorliegenden Unterrichtseinheit sollen die Schüler erfassen, dass Annette von Droste-‐Hülshoff in „Das Spiegelbild“ mit dem Spiegelmotiv das Thema der Identitätsproblematik aufgreift, indem sie das Gedicht sowohl sprachlich als auch inhaltlich analysieren. Da das Gedicht umfangreich ist und eine oberflächliche Analyse des Textes vermieden werden soll, wird den Schülern eine gekürzte Textfassung präsentiert (erste, zweite und letzte Strophe).
2. Objectifs d’apprentissage et compétences à développer à travers la leçon pédagogique: 2.1. Lernziele ÜLZ: Die SchülerInnen erkennen, dass Annette von Droste-‐Hülshoff in „Das Spiegelbild“ mit dem Spiegelmotiv das Thema der Identitätsproblematik aufgreift, indem sie das Gedicht sowohl sprachlich als auch inhaltlich analysieren. 1. Indem die SchülerInnen die intensive Selbstbeobachtung des lyrischen Ichs untersuchen, erkennen sie, dass das Ich an sich selbst Seiten entdeckt, die es erschrecken und ihm Furcht einflößen: Schichten treten zutage, die dem Ich fremd sind, es erkennt sein „ES“. Somit begreifen sie, dass das Gedicht die Erfahrung der Selbstfremdheit und der Ich-‐Spaltung ausgestaltet. 2. Indem die SchülerInnen die letzte Strophe untersuchen, erkennen sie, dass das Erschrecken sich abmildert und der Trauer Platz macht. Sie erfassen, dass das Ich sich somit zu allen Seiten seiner Identität, die ihm durch das Spiegelbild bewusst geworden sind, bekennt. 3. Indem die SchülerInnen die Form des Gedichtes untersuchen, erkennen sie, dass diese dem Verhältnis des Ichs zu sich selbst/dem Spiegelbild entspricht: Der Schweifreim weist darauf hin, dass die inhaltlichen Gegensätze (lyrisches Ich-‐ Spiegelbild, gute und böse Seiten der Seele) schließlich zusammengeführt werden, indem das lyrische Ich seine Identität mit all ihren Facetten wahrnimmt. Auch erfassen sie, dass die Metaphern, die Vergleiche und die Alliterationen (1. Strophe) sowie die Antithesen (2. Strophe) zu der unheimlichen Stimmung des Gedichtes beitragen. 4. Indem die SchülerInnen das Gedicht in Beziehung zu Annette von Droste-‐Hülshoffs Biographie sowie zu der Frauenrolle im 19. Jahrhundert setzen, erkennen sie, dass man das Gedicht als Spiegel der Gefühlswelt der Autorin lesen kann, da Letztere hier ihren eigenen inneren Zwiespalt (gehorsames, keusches Adelsfräulein vs. freie, zügellose
143
Schriftstellerin) verarbeiten könnte. Obwohl das Gedicht in einer ersten Fassung den Titel „Mein Spiegelbild“ trug, verbietet sich natürlich eine kurzschlüssige Gleichsetzung von Autorin und lyrischem Ich. 2.2. Fachgebundene Kompetenzen Leseverstehen • Vorwissen aktivieren und inhaltsbezogene Hypothesen anstellen • Methoden der Texterschließung einsetzen • Zusammenhänge nachvollziehen und herstellen, Schlüsse ziehen (zwischen den Zeilen lesen) • Gedankengänge nachvollziehen, Inhalte in eigenen Worten wiedergeben • Sachverhalte interpretieren und die Aussagen anhand entsprechender Textstellen belegen • Das Zusammenspiel von Form und Inhalt erschließen • Zusammenfassend Bewertungen zu Ansichten und Verhaltensweisen entwickeln, begründen und mit anderen diskutieren • Bezug zur Gegenwart herstellen, die Aktualität literarischer Texte erkennen • Einzelbeobachtungen zu einer Gesamtdeutung zusammenführen • Unbekannte Texte selbstständig erschließen • Gattungstypische Merkmale bestimmen und ihre Wirkung einschätzen Sprechen, Reden, Zuhören • Diskussions-‐ und Redebeiträge leisten • Sich an die Gesprächsregeln halten • Verständnisfragen und Nachfragen stellen • Im Gespräch die eigene Ansicht begründen und treffend argumentieren • Das Wesentliche eines Textes in eigenen Worten wiedergeben 2.3. Transversale Kompetenzen Arbeitsprozessen planen, durchführen, auswerten • Aufgabenstellungen verstehen und prozessorientiert lösen: Arbeitsschritte erkennen, nachvollziehen, gliedern und verbindlich befolgen Informationen beschaffen, ordnen und strukturieren • Informationen aus Texten entnehmen und auswerten • Stichpunkte sammeln, wichtige Informationen notieren, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden • Inhalte in eigenen Worten zusammenfassen
3. Différentes parties de la leçon pédagogique:
Einstieg: Der Einstieg in die Unterrichtsstunde besteht aus einem Bildimpuls, welcher die Schüler auf die Thematik des Gedichtes einstimmen soll. Das kubistische Gemälde „Girl before a mirror“ von Pablo Picasso zeigt eine sich im Spiegel betrachtende Dame, wobei das Spiegelbild deren Erscheinung in veränderter Form wiedergibt. Dies passt insofern zu der Thematik des Gedichtes, dass das lyrische Ich weiblich ist und sein Spiegelbild als ihm nicht zugehörig zurückweist: „(...) du bist nicht meinesgleichen!“ Textbegegnung und Verständnissicherung
144
Das Gedicht soll den Schülern von der Lehrperson vorgetragen werden, um ihnen das Textverständnis zu erleichtern. Dabei sollen sie darauf achten, wer im Gedicht auftaucht und in welcher Situation und Gefühllage sich das lyrische Ich befindet. Die Arbeitsaufträge werden wie in der vorangegangenen Unterrichtseinheit mit dem Beamer präsentiert. Die Unterrichtsergebnisse werden jeweils in einem Tafelbild gesichert und von den Schülern ins Heft notiert. Erarbeitung und Sicherung I: Anschließend sollen die Schüler in Stillarbeit die ersten beiden Strophen des Gedichtes untersuchen und darauf eingehen, wie das lyrische Ich sein eigenes Spiegelbild wahrnimmt und auf welche Weise es auf diese Begegnung mit dem eigenen Ich reagiert. Indem sie die intensive Selbstbeobachtung des Ichs analysieren, sollen sie erfassen, dass es Entsetzen und Furcht angesichts des eigenen Spiegelbildes empfindet, da dieses ihm die verborgenen Seiten seiner Existenz offenbart, die ihm bislang nicht bewusst waren. Dabei ist es nicht das lyrische Ich, das sein Spiegelbild betrachtet, sondern es fühlt sich von seinem Spiegelbild beobachtet, blickt in dessen Augen zurück und verschiebt somit den Akt des Anschauens auf das Bild. Das lyrische Ich bringt seinem Spiegelbild Distanz entgegen und weist es als irreal und ihm nicht zugehörig zurück. Somit begreifen die Schüler, dass das Gedicht die Erfahrung der Selbstfremdheit und Ich-‐Spaltung ausgestaltet. Nach diesen Ablehnung-‐ und Angstgefühlen stellt das lyrische Ich sich jedoch die Frage, wie es sich zukünftig zu den bislang verborgenen Seiten seines Wesens stellen wird: „Würd’ ich dich lieben oder hassen?“ Erarbeitung und Sicherung II: In einer zweiten Erarbeitungsphase soll in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch ermittelt werden, inwiefern die zuvor alternative Möglichkeit der Reaktion in der dritten Strophe zu einer Lösung führt. Das lyrische Ich kommt in der letzten Strophe zu dem Schluss, dass es sich diesem fremden Wesen doch „verwandt“ fühlt. Das Erschrecken mildert sich ab, macht der Trauer Platz und das Ich bekennt sich schließlich zu allen Seiten seiner Identität, die ihm durch das Spiegelbild bewusst geworden sind. Erarbeitung und Sicherung III: Zuletzt sollen die Schüler in Stillarbeit die Form des Textes untersuchen, indem sie sich auf das Reimschema und die Stilfiguren (vor allem in der ersten und der zweiten Strophe) konzentrieren. Anschließend soll in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch festgehalten werden, inwiefern die Form des Textes den Inhalt widerspiegelt: Der Schweifreim weist darauf hin, dass die inhaltlichen Gegensätze schließlich zusammengeführt werden, indem das lyrische Ich seine Identität in all ihren Facetten wahrnimmt. Die Metaphern, die Vergleiche, die Alliterationen sowie die Antithesen unterstreichen die unheimliche Stimmung des Gedichtes. Die Unterrichtsergebnisse diesbezüglich sollen von den Schülern auf dem Arbeitsblatt notiert werden. Hausaufgabe: Als Hausaufgabe sollen die Schüler den Informationstext zum Leben und Werk der Schriftstellerin lesen und einen möglichen Bezug zum Inhalt des Gedichtes erkennen. Es soll darauf hingewiesen werden, dass sich eine kurzschlüssige Gleichsetzung von Autorin und lyrischem verbietet. Nichtsdestotrotz kann das Gedicht, das anfangs den
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Titel „Mein Spiegelbild“ trug, als Spiegel der Gefühlswelt der Autorin gelesen werden: Annette von Droste-‐Hülshoff könnte in dem Gedicht ihren eigenen inneren Zwiespalt zwischen ihrem Leben als keusches Adelsfräulein und ihrem Wunsch, eine zügellose Schriftstellerin zu sein, verarbeiten.
4. Méthodes et techniques pédagogiques, matériel didactique: Méthodes: Schülervortrag (SV) Stillarbeit (SA) Lehrervortrag (LV) fragend-‐entwickelndes Verfahren (f.-‐e.) Matériel didactique: Arbeitsblatt (Text) Tafel Heft Beamer
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5. Stundenverlaufsplan Phase Organisatorisches
Inhalt
Klassenbucheintrag, Kontrolle und Einsammeln der Hausaufgabe Einstieg Bildimpuls: Dame vor dem Spiegel Textbegegnung und Lehrervortrag: Verständnissicherung Situation und Gefühlslage des lyrischen Ichs Erarbeitung und Arbeitsauftrag 1: Sicherung I Selbstbeobachtung des lyrischen Ichs (Strophe 1-‐2): Selbstfremdheit und Ich-‐ Spaltung, die dunklen Seiten des Ichs Erarbeitung und Arbeitsauftrag 2: Sicherung II Analyse der 3. Strophe: Die inhaltlichen Gegensätze werden zusammengeführt und das Ich bekennt sich zu seiner Identität mit all ihren Facetten Erarbeitung und Arbeitsauftrag 3: Sicherung III Analyse der Form des Textes (Reimschema, Stilfiguren) und Bezug zum Inhalt Hausaufgabe Lektüre des Informationstextes zum Leben der Annette von Droste-‐ Hülshoff: Bezug zum Gedicht
LZ U- Form
Medien
Zeit
3’
f.-‐e.
Beamer
4’
LV /SA
1
SA/ f.-‐ e.
Text, 18’ Tafel/Heft, Beamer
2
f-‐e.
Text, 10’ Tafel/Heft, Beamer
3
SA/ f.-‐ e.
Text, 10’ Tafel/Heft, Beamer
2’
3’
147
6. Verbesserung der Hausaufgabe (Wird den Schülern als Musterlösung ausgeteilt, sobald ihre Ergebnisse verbessert worden sind.) Verbesserung der Hausaufgabe: Analysieren Sie die Form des Gedichtes, indem Sie vor allem auf das Reimschema und das Metrum eingehen. Inwiefern können Sie einen Bezug zum Inhalt des Gedichtes erkennen? Das Gedicht entspricht der von den Romantikern bevorzugten Volksliedform. Die drei Strophen stellen jeweils eine doppelte Volksliedstrophe mit vier Zeilen dar. Alle Strophen weisen einen doppelten Kreuzreim auf, wobei es auch einen unreinen Reim gibt (V. 5 und V. 7). Das Metrum besteht aus einem dreihebigen Jambus mit zusätzlichen Senkungen. Es ist jedoch nicht gleichmäßig, sondern mit leichten Variationen, so dass das Gedicht nicht eintönig wirkt. Der dadurch erzeugte lockere, leichtfüßige und fließende Rhythmus passt zum Inhalt des Gedichtes und verweist auf das Lied der Wanderer. Das Vokabular des Gedichtes entspricht dem Ideal einer romantischen, volksnahen Sprache. Der harmonische Klang des Gedichtes wird durch die Vokalität, welche sich durch den ganzen Text zieht, zunehmend verstärkt. In der ersten Strophe sind vermehrt helle Vokale (e-‐ie-‐e) vorzufinden, während im zweiten Teil der dritten Strophe dunkle Vokale (a-‐au-‐a-‐a) vorherrschen. Die Wiederholungen unterstützen die Klangharmonie des Gedichtes.
148
7. Tafelbild Annette von Droste-Hülshoff: Das Spiegelbild Das Spiegelbild Ich betrachtet -‐Verschwommenheit (V.2-‐3, V. 11-‐12) -‐Ablehnung (V. 7) -‐feindlich gesinnte Seelen (V. 5-‐6) -‐Unbehagen -‐mögliches Traumbild (V. 8) -‐Angst, Furcht (V. 9) Die dunklen Seiten des Ichs Selbstfremdheit, Ich-Spaltung Nach dem ersten Erschrecken: -‐fühlt sich dem Wesen „verwandt“ (V. 15) -‐Erschrecken macht der Trauer Platz Bekennt sich zu allen Seiten seiner Identität, die ihm durch das Spiegelbild bewusst geworden sind
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8. Arbeitsblätter Annette von Droste-Hülshoff: Das Spiegelbild Schaust du mich an aus dem Kristall Mit deiner Augen Nebelball, Kometen gleich, die im Verbleichen; Mit Zügen, worin wunderlich Zwei Seelen wie Spione sich Umschleichen, ja, dann flüstre ich: Phantom, du bist nicht meinesgleichen! Bist nur entschlüpft der Träume Hut, Zu eisen mir das warme Blut, Die dunkle Locke mir zu blassen; Und dennoch, dämmerndes Gesicht, Drin seltsam spielt ein Doppellicht, Trätest du vor, ich weiß es nicht, Würd' ich dich lieben oder hassen? (...) Und dennoch fühl' ich, wie verwandt, Zu deinen Schauern mich gebannt, Und Liebe muß der Furcht sich einen. Ja, trätest aus Kristalles Rund, Phantom, du lebend auf den Grund, Nur leise zittern würd' ich, und Mich dünkt -‐ ich würde um dich weinen!
150
Annette von Droste-Hülshoff: Leben und Werk Annette
von
Droste-‐Hülshoff
wurde am 10. Januar 1797 im Haus
Hülshoff
bei
Münster
geboren und starb am 24. Mai 1848 nach langer Krankheit am Bodensee. Bereits zu Lebzeiten hatte sie sich unter Literaten mit ihrer
breiten
Palette
an
literarischen Werken einen Namen gemacht. Heute zählen ihre Novellen (z. B. „Die Judenbuche“), ihre „Haidebilder“ wie auch ihre religiöse Lyrik („Das Geistliche Jahr“) zu den bedeutendsten Werken des 19. Jahrhunderts. Als unverheiratete Landadelige war Annette von Droste-‐Hülshoff Zeit ihres Lebens an familiäre Aufgaben und Pflichten gebunden und das gesellige Landleben ließ ihr nur wenig Zeit zum Dichten. Sie fühlte sich in ihrer Rolle des keuschen, gehorsamen und hochkatholischen Adelsfräuleins nie wohl und sehnte sich nach einem freien, regellosen Leben als Schriftstellerin, wie es zu dieser Zeit nur das männliche Geschlecht führen konnte. So verspürte die Dichterin in ihrem Inneren Leidenschaften und Sehnsüchte, die sie nie auszusprechen vermochte, da sie dem von der Gesellschaft geforderten Bild der fügsamen Adelsfrau gerecht werden musste. HAUSAUFGABE: Lesen Sie den Informationstext zum Leben der Schriftstellerin Annette von Droste-‐Hülshoff und stellen Sie einen möglichen Bezug zum Gedicht her. Achten Sie jedoch darauf, dass sich eine kurzschlüssige Gleichsetzung von Autorin und lyrischem Ich verbietet.
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9. Bildimpuls Pablo Picasso: Girl before a mirror
152
10. Arbeitsaufträge (PPT)
1. Untersuchen Sie die ersten beiden Strophen, indem Sie darauf eingehen, wie das lyrische Ich sein eigenes Spiegelbild wahrnimmt und wie es auf diese Begegnung mit dem eigenen Ich reagiert. 2. Beschreiben Sie, inwiefern die zuvor alternative Möglichkeit der Reaktion in der dritten Strophe zu einer Lösung führt. 3. Analysieren Sie die Form des Textes, indem Sie vor allem auf das Reimschema und die Stilfiguren in der ersten und zweiten Strophe eingehen. Erklären Sie, ob sich ein Bezug zum Inhalt erkennen lässt. HAUSAUFGABE: Lesen Sie den Informationstext zum Leben der Schriftstellerin Annette von Droste-‐Hülshoff und stellen Sie einen möglichen Bezug zum Gedicht her. Achten Sie jedoch darauf, dass sich eine kurzschlüssige Gleichsetzung von Autorin und lyrischem Ich verbietet.
153
4. Vierte Unterrichtseinheit
1. Sujet de la leçon: Heinrich Heine: Still ist die Nacht –Das Spiegelbild als „Doppeltgänger“ und die Konfrontation mit der Vergangenheit In der vorliegenden Unterrichtseinheit wird das Gedicht „Still ist die Nacht“ von Heinrich Heine vor allem in Bezug auf die Spiegelmotivik und die Doppelgängerthematik hin analysiert. Das Gedicht erinnert inhaltlich an Annette von Droste-‐Hülshoffs „Das Spiegelbild“, wobei das lyrische Ich in diesem Gedicht nicht explizit von seinem Spiegelbild, sondern von einem „Doppeltgänger“ spricht, also einem Teil seiner Persönlichkeit, welcher die amourösen Leiden seiner Vergangenheit verkörpert.
2. Objectifs d’apprentissage et compétences à développer à travers la leçon pédagogique: 2.1. Lernziele 1. Indem die SchülerInnen die erste Strophe des Gedichts inhaltlich analysieren, erkennen Sie, dass das lyrische Ich in der nächtlichen Stille ein Haus betrachtet, das in ihm Erinnerungen an eine vergangene Liebe weckt („In diesem Hause wohnte mein Schatz“). 2. Indem die SchülerInnen die Position des lyrischen Ichs mit der einer weiteren in der zweiten Strophe auftauchenden Person vergleichen („Da steht auch ein Mensch und starrt in de Höhe“), begreifen sie, dass es sich hierbei um das Spiegelbild des Ichs handelt (ein „Doppeltgänger“), das durch das Mondlicht auf einer Spiegelfläche des Hauses erkennbar wird („Der Mond zeigt mir meine eigene Gestalt.“). 3. Indem die SchülerInnen die Reaktion des lyrischen Ichs auf sein eigenes Spiegelbild untersuchen, erkennen sie, dass es vor seinem eigenen Anblick zurückschreckt („Mir graust es“), weil der eigene gespenstige Anblick („du bleicher Geselle“) ihn plagt. 4. Indem die SchülerInnen den Dialog mit dem Ich in der dritten Strophe analysieren, erfassen sie die Ursache für das gespenstige Aussehen und die emotionale Aufgewühltheit des lyrischen Ichs: Die Erinnerungen an die amourösen Ereignisse und Unglücke in seiner Vergangenheit treten an diesem Schauplatz der gemeinsam verbrachten Zeit wieder zutage und quälen das lyrische Ich dermaßen, dass sich die Leiden sogar in seinem Äußeren manifestieren. 2.2. Fachgebundene Kompetenzen Leseverstehen
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• • • • • • • • • • •
Vorwissen aktivieren und inhaltsbezogene Hypothesen anstellen Methoden der Texterschließung einsetzen Zusammenhänge nachvollziehen und herstellen, Schlüsse ziehen (zwischen den Zeilen lesen) Handlungsverläufe und Gedankengänge nachvollziehen, Inhalte in eigenen Worten wiedergeben Sachverhalte interpretieren und die Aussagen anhand entsprechender Textstellen belegen Das Zusammenspiel von Form und Inhalt erschließen Zusammenfassend Bewertungen zu Ansichten und Verhaltensweisen entwickeln, begründen und mit anderen diskutieren Bezug zur Gegenwart herstellen, die Aktualität literarischer Texte erkennen Einzelbeobachtungen zu einer Gesamtdeutung zusammenführen Unbekannte Texte selbstständig erschließen Gattungstypische Merkmale bestimmen und ihre Wirkung einschätzen
Hörverstehen • Vorwissen aktivieren und Hypothesen anstellen • Auditiv vermittelte Sprache erfassen und verstehen • Gedichtvorträge in angemessener Geschwindigkeit verfolgen, sich Notizen zum Inhalt machen und diese nutzen Sprechen, Reden, Zuhören • Diskussions-‐ und Redebeiträge leisten • Sich an die Gesprächsregeln halten • Hausaufgaben und eigene schriftliche Produktionen vortragen • Verständnisfragen und Nachfragen stellen • Im Gespräch die eigene Ansicht begründen und treffend argumentieren • Das Wesentliche eines Textes in eigenen Worten wiedergeben 2.3. Transversale Kompetenzen Arbeitsprozessen planen, durchführen, auswerten • Aufgabenstellungen verstehen und prozessorientiert lösen: Arbeitsschritte erkennen, nachvollziehen, gliedern und verbindlich befolgen
3. Différentes parties de la leçon pédagogique:
Einstieg: Als Einstieg in die Unterrichtseinheit sollen die Schüler der Vertonung des Gedichtes durch Franz Schubert folgen und erste Eindrücke zu der Stimmung des Gedichtes stichwortartig festhalten. Anschließend sollen sie ihren Klassenkameraden ihre Ansichten diesbezüglich mitteilen. Auf diese Weise werden die Schüler über mehrere Kanäle angesprochen, zunächst auditiv und anschließend visuell, und die Schüler können sich persönlich zu dem Gedicht äußern. Erarbeitung und Sicherung I: Nach dieser Einstimmungsphase sollen die Schüler in Stillarbeit die erste Strophe des Gedichtes analysieren und die Ausgangssituation beschreiben. Es ist davon auszugehen,
155
dass dies den Schülern keine Schwierigkeiten bereiten dürfte, da die Position des lyrischen Ichs explizit genannt wird: Letzteres betrachtet in der nächtlichen Stille ein Haus, das Erinnerungen an eine vergangene Liebe weckt. Die einstige Geliebte ist mittlerweile in eine andere Stadt gezogen, doch das Haus hat dem Anschein nach weiterhin eine große Bedeutung für das lyrische Ich, da der Ort mit Erinnerungen an die gemeinsame Zeit besetzt ist. Die Schüler-‐Ergebnisse werden anschließend durch das fragend-‐entwickelnde Verfahren ermittelt und in einem Tafelbild gesichert. Erarbeitung und Sicherung II: Bei der nächsten Erarbeitungsphase soll in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch die Position des lyrischen Ichs mit der einer weiteren in der zweiten Strophe auftauchenden Person verglichen werden. Indem die Schüler untersuchen, dass diese zweite Person die selbe Stellung wie das lyrische Ich einnimmt („Das steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe“) und das Ich „seine eigene Gestalt“ erblickt, sollen sie erfassen, dass es sich hierbei um das Spiegelbild des Ichs handelt, das durch das Mondlicht auf einer Spiegelfläche des Hauses erkennbar wird („Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt“). Da im Gedicht explizit erwähnt wird, dass es dem Ich vor diesem „Antlitz“ „graust“, sollten die Schüler eigenständig zur Schlussfolgerung kommen, dass das lyrische Ich vor seinem gespenstigen Aussehen zurückschreckt. Indem sie ihr Wissen zu der vorangegangenen Unterrichtsstunde aktivieren, erfassen sie, dass der Sprecher dieses Gedichtes dem lyrischen Ich in „Das Spiegelbild“ ähnelt, da beide mit Facetten ihrer Persönlichkeit konfrontiert werden, die ihnen unangenehm sind und die ihnen Furcht einflößen. Erarbeitung und Sicherung III: Der Schwerpunkt dieser letzten Erarbeitungsphase liegt auf einer Analyse des Dialoges mit dem „Doppeltgänger“/Spiegelbild in der dritten Strophe des Gedichtes. Die Schüler sollen in Stillarbeit die Ursache für die emotionale Aufgewühltheit und das gespenstige Aussehen des lyrischen Ichs erfassen: Die Konfrontation mit den Erinnerungen an die unglücklich verlaufene Liebesbeziehung quälen das lyrische Ich dermaßen, dass sich die Leiden sogar in seinem Äußeren manifestieren. Vor allem an diesem Schauplatz der gemeinsam verbrachten Zeit treten die Erinnerungen an die amourösen Ereignisse wieder zutage und nehmen Gestalt an. Hausaufgabe: Die Hausaufgabe dient der Vorbereitung auf die nächste Unterrichtseinheit, um den Schülern die inhaltliche Analyse des Gedichtes „Winternacht“ von Gottfried Keller zu erleichtern. Letztere sollen sich mit Hilfe des Internets und Lexika zum Motiv der Nixe in literarischen Texten informieren und einige Stichpunkte diesbezüglich in ihrem Heft notieren. Es ist davon auszugehen, dass die Schüler herausfinden, dass die Nixe oft als Symbol für die erotisch verlockende und zugleich zerstörerische Frau genutzt wird.
4. Méthodes et techniques pédagogiques, matériel didactique: Méthodes: Schülervortrag (SV) Stillarbeit (SA) fragend-‐entwickelndes Verfahren (f.-‐e.)
156
Unterrichtsgespräch (UG) Matériel didactique: Arbeitsblatt (Text) Tafel Heft Audio
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5. Stundenverlaufsplan Phase
Inhalt
Organisatorisches Klassenbucheintrag, Kontrolle der Hausaufgabe Verbesserung der „Das Spiegelbild“ und der Bezug Hausaufgabe zur Schriftstellerin Einstieg Arbeitsauftrag 1: Schubert-‐Vertonung und erste persönliche Eindrücke zu der Stimmung des Gedichtes Erarbeitung und Arbeitsauftrag 2: Sicherung I Analyse der ersten Strophe: Betrachten eines Hauses und Erinnerung an eine vergangene Liebe Erarbeitung und -‐Die Begegnung mit dem eigenen Sicherung II Spiegelbild -‐Reaktionen auf das Spiegelbild Erarbeitung und Arbeitsauftrag 3: Sicherung III Analyse der dritten Strophe: amouröse Leiden der Vergangenheit als Ursache für das gespenstige Aussehen des Ichs Hausaufgabe Informieren Sie sich zum Motiv der Nixe in literarischen Texten und notieren Sie einige Stichpunkte diesbezüglich in Ihrem Heft.
LZ U- Form
Medien
Zeit
3’
SV / f.-‐ Heft e. / UG SA / SV Audio / UG
5’ 4’
1
SA / f.-‐ e.
Text, 12’ Tafel/Heft
2, 3
f.-‐e.
Text, 12’ Tafel/Heft
4
SA / f.-‐ e.
Text, 12’ Tafel/Heft
2’
158
6. Tafelbild
Heinrich Heine: Still ist die Nacht 1. Ausgangssituation -‐Akustische Wahrnehmung der Nachtruhe -‐Betrachten eines Hauses
Erinnerungen an eine Liebesbeziehung
hat Bestand war nicht von Dauer 2. Begegnung mit dem Ich -‐Konfrontation mit einer Der unbewusste Teil seiner weiteren Person Persönlichkeit, sein Spiegelbild -‐Emotionale Aufgewühltheit -‐Erschrecken vor dem eigenen Anblick -‐ Selbstfremdheit 3. Dialog mit dem Ich Konfrontation mit den Erinnerungen an eine unglücklich verlaufene Liebesbeziehung -‐treten an diesem Schauplatz der gemeinsam verbrachten Zeit zutage. -‐quälen das lyrische Ich. -‐manifestieren sich in seinem Äußeren.
159
7. Arbeitsblätter
Heinrich Heine: Still ist die Nacht
1
Still ist die Nacht, es ruhen die Gassen,
In diesem Hause wohnte mein Schatz;
Sie hat schon längst die Stadt verlassen,
Doch steht noch das Haus auf demselben Platz.
5
Da steht auch ein Mensch und starrt in die Höhe,
Und ringt die Hände, vor Schmerzensgewalt;
Mir graust es, wenn ich sein Antlitz sehe -‐
Der Mond zeigt mir meine eigne Gestalt.
Du Doppeltgänger! du bleicher Geselle!
10
Was äffst du nach mein Liebesleid,
Das mich gequält auf dieser Stelle,
So manche Nacht, in alter Zeit?
1. Notieren Sie erste Eindrücke zu der Stimmung des Gedichtes. 2. Analysieren Sie die erste Strophe inhaltlich und beschreiben Sie die Ausgangssituation des Gedichtes. 3. Untersuchen Sie den Dialog in der dritten Strophe und nennen Sie die Ursache für den emotionalen Zustand des lyrischen Ichs. Hausaufgabe: Informieren Sie sich zum Motiv der Nixe in literarischen Texten und notieren Sie diesbezüglich einige Stichpunkte in Ihrem Heft.
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8. Quelle zu der Vertonung Franz Schuberts http://www.youtube.com/watch?v=QVJMAbfWx_w
9. Verbesserung der Hausaufgabe (mündlich)
HAUSAUFGABE: Lesen Sie den Informationstext zum Leben der Schriftstellerin Annette von Droste-‐Hülshoff und stellen Sie einen möglichen Bezug zum Gedicht her. Achten Sie jedoch darauf, dass sich eine kurzschlüssige Gleichsetzung von Autorin und lyrischem Ich verbietet. Die Gedichte der Annette von Droste-Hülshoff kann man als Spiegel ihrer Gefühlswelt lesen. Als unverheiratete Landadelige war Annette von Droste Hülshoff an familiäre Aufgaben gebunden und musste ihr Leben so gestalten, wie es die Gesellschaft von ihr erwartete. Doch die Schriftstellerin fühlte sich nie wohl in ihrer Rolle des keuschen, gehorsamen und hochkatholischen Adelsfräuleins. Sie sehnte sich nach einem freien, regellosen Leben als Schriftstellerin, wie es zu dieser Zeit nur Männer führen konnten. Dieser innere Zwiespalt zwischen Gehorsamkeit und Freiheit, sowie auch ihre unerfüllte Liebe zu dem Literaten Levin Schücking, stellt die Droste in ihren Gedichten dar. Die „Mänade“ im Gedicht „Am Turme“ ist die leidenschaftliche Geliebte, die die Schriftstellerin gern sein würde und auch das Gedicht „Das Spiegelbild“ zeigt diese verbotene Existenz. In „Das öde Haus“ beschreibt die Schriftstellerin ein verfallenes Haus, welches als Metapher für die unterdrückten, fast abgestorbenen Gefühle der Schriftstellerin gelesen werden kann.
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5. Fünfte Unterrichtseinheit
1. Sujet de la leçon: Gottfried Keller: Winternacht – Die Auseinandersetzung mit den eigenen Tiefenschichten In der vorliegenden Unterrichtseinheit ist eine Analyse von Gottfried Kellers Gedicht „Winternacht“ vorgesehen. Anhand einer intensiven Aufarbeitung der beiden im Gedicht beschriebenen Sphären (Winterlandschaft und Unterwasserwelt) sollen die Schüler erkennen, dass der Autor das Thema der Auseinandersetzung mit den eigenen Tiefenschichten anhand des Spiegelmotivs aufgreift.
2. Objectifs d’apprentissage et compétences à développer à travers la leçon pédagogique: 2.1. Lernziele ÜLZ: Indem die SchülerInnen das Gedicht „Winternacht“ sowohl sprachlich als auch inhaltlich analysieren, erkennen sie, dass Gottfried Keller das Thema der Auseinandersetzung mit den eigenen Tiefenschichten in mythische Bilder kleidet. 1. Die SchülerInnen begreifen anhand der dreifachen Verneinung in der ersten Strophe, dass die Winterlandschaft oberhalb des Eises durch Starre, Leblosigkeit und Leere gekennzeichnet ist und dass das lyrische Ich diese reale Welt als unerträglich empfindet: Das Ich taucht in der ersten Strophe überhaupt nicht erst auf. 2. Indem die SchülerInnen diese Winterlandschaft mit der Welt unter dem Eis in der zweiten Strophe vergleichen, erkennen sie, dass Letztere belebt ist: Der Seebaum ist in Bewegung, eine Nixe klettert am Gewächs empor und die grüne Farbe bildet einen starken Kontrast zur weißen, leblosen Winterlandschaft oberhalb der Eisschicht. 3. Indem die SchülerInnen das „dunkle Antlitz“, welches das lyrische Ich erblickt, in Bezug zu der klar erkennbaren „weiße(n) Schönheit“ der Nixe setzen, erkennen sie, dass das lyrische Ich hier sein eigenes Gesicht auf der dünnen Eisschicht gespiegelt sieht. Sie erfassen zudem anhand des Attributes „dunk(e)l“, dass Letzteres den eigenen Anblick als unheimlich und fremd empfindet. 4. Indem die SchülerInnen das Bild des lyrischen Ichs auf dem dünnen sich spiegelnden Glase in Bezug zu der magisch-‐mythischen Welt unterhalb der Eisschicht setzen und ihr Vorwissen zum Motiv der Nixe aktivieren, erkennen sie, dass diese Welt die Tiefenschichten des Ichs, das Unbewusste repräsentiert, das wie ein Baum immer wieder zur Oberfläche emporsteigt, jedoch nicht ganz durchstoßen kann. Somit erfassen Sie, dass das lyrische Ich diese Tiefenschichten als verlockend, begehrenswert und bedrohlich zugleich empfindet. 2.2. Fachgebundene Kompetenzen
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Leseverstehen • Vorwissen aktivieren und inhaltsbezogene Hypothesen anstellen • Methoden der Texterschließung einsetzen • Zusammenhänge nachvollziehen und herstellen, Schlüsse ziehen (zwischen den Zeilen lesen) • Handlungsverläufe und Gedankengänge nachvollziehen, Inhalte in eigenen Worten wiedergeben • Sachverhalte interpretieren und die Aussagen anhand entsprechender Textstellen belegen • Zusammenfassend Bewertungen zu Ansichten und Verhaltensweisen entwickeln, begründen und mit anderen diskutieren • Einzelbeobachtungen zu einer Gesamtdeutung zusammenführen • Unbekannte Texte selbstständig erschließen • Gattungstypische Merkmale bestimmen und ihre Wirkung einschätzen Hörverstehen • Vorwissen aktivieren und Hypothesen anstellen • Auditiv vermittelte Sprache erfassen und verstehen • Gedichtvorträge in angemessener Geschwindigkeit verfolgen, sich Notizen zum Inhalt machen und diese nutzen Sprechen, Reden, Zuhören • Diskussions-‐ und Redebeiträge leisten • Sich an die Gesprächsregeln halten • Verständnisfragen und Nachfragen stellen • Im Gespräch die eigene Ansicht begründen und treffend argumentieren • Das Wesentliche eines Textes in eigenen Worten wiedergeben 2.3. Transversale Kompetenzen Arbeitsprozessen planen, durchführen, auswerten • Aufgabenstellungen verstehen und prozessorientiert lösen: Arbeitsschritte erkennen, nachvollziehen, gliedern und verbindlich befolgen
3. Différentes parties de la leçon pédagogique:
Einstieg: Um die Schüler angemessen auf eine Analyse des metaphernreichen und verschlüsselten Gedichtes einzustimmen, soll als Einstieg mit einem Bild-‐ sowie auch mit einem Hörimpuls gearbeitet werden. Letztere sollen einem Hörvortrag folgen, eine dazugehörige Bilderfolge einer Eislandschaft betrachten und anschließend erste Vermutungen zu der Position des lyrischen Ichs und seiner Umgebung äußern. Dann wird das Gedicht den Schülern ausgeteilt und es soll bereits in der Einstiegsphase geklärt werden, dass das lyrische Ich sich auf einem zugefrorenen See befindet. Erarbeitung und Sicherung I: Die erste Erarbeitungsphase knüpft inhaltlich an den Einstieg an: Die Schüler werden aufgefordert, in Stillarbeit die Landschaft in der ersten Strophe zu untersuchen und zu erklären, wie das lyrische Ich dieser Landschaft gegenübersteht. Es wird antizipiert, dass die Schüler anhand der dreifachen Verneinung erkennen, dass das lyrische Ich diese Winterlandschaft als starr, leblos und leer wahrnimmt und dass es sich in dieser
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Welt nicht wohlzufühlen scheint. Im Anschluss sollen die Schüler im fragend-‐ entwickelnden Gespräch erfassen, dass die beschriebene Winterlandschaft der Realität entsprechen könnte. Erarbeitung und Sicherung II: In der nächsten Erarbeitungsphase wird im fragend-‐entwickelnden Gespräch die Welt oberhalb der Eisschicht mit der Unterwasserwelt in der zweiten Strophe verglichen. Beschrieben wird in der zweiten Strophe ein Seebaum, der nach oben steigt, bis das Eis seinen Aufstieg einhalten lässt, sowie eine Nixe, die an diesem Gewächs nach oben klettert und die Welt oberhalb der Eisschicht betrachtet. Im Gegensatz zu der Starre und Leere der Winterlandschaft sind die hier beschriebenen Elemente belebt und in Bewegung. Auch die hier erwähnte grüne Farbe, welche für das Leben steht, bildet einen starken Kontrast zur regungslosen, weißen Winterlandschaft. Erarbeitung und Sicherung III: Da die beiden folgenden Arbeitsaufträge (Erarbeitung III und IV: Analyse der dritten und vierten Strophe) ein Entschlüsseln der mythischen Bilder und Metaphern von den Schülern verlangt, soll hier wieder auf das fragend-‐entwickelnde Verfahren zurückgegriffen werden, um die Schüler angemessen bei der Lösungsfindung unterstützen zu können. In der dritten Strophe erwähnt sich erstmals das Ich. Wir erfahren, dass es nur durch eine dünne, zu zerbrechen drohende Eisschicht von der Unterwasserwelt getrennt ist. Den weißen Körper der Nixe sieht das Ich als begehrenswert an („Ihre weiße Schönheit Glied um Glied“), obwohl die ihr zugehörige Welt dem Ich unheimlich erscheint („die schwarze Tiefe“). Indem die Schüler die dritte Strophe in Bezug zur vierten setzen und erfassen, dass nun von einem „dunkle(n) Antlitz“ die Rede ist, sollen sie erkennen, dass dieses Angesicht nicht der Nixe, sondern dem lyrischen Ich zugehörig ist: Das lyrische Ich sieht sein eigenes Gesicht, welches er als fremd, „dunk(el)“ empfindet, auf der dünnen Eisschicht gespiegelt. Erarbeitung und Sicherung IV In der letzten Erarbeitungsphase soll schließlich geklärt werden, wie die geschilderte Unterwasserwelt zu interpretieren ist und wie das Ich dieser Sphäre gegenübersteht. Indem die Schüler das Bild des auf der Eisschicht sich spiegelnden Ichs in Bezug zu der mythischen Welt unterhalb der Eisschicht setzen, erkennen sie, dass die Welt oberhalb des Sees der Sphäre des Realen zuzuordnen ist, während die Unterwasserwelt die Tiefenschichten des Ichs, das Unbewusste repräsentiert. Diese Tiefenschichten versuchen sich nach oben zu „taste(n)“ wie die Nixe beziehungsweise zur Oberfläche emporzusteigen wie ein Seebaum, können jedoch nicht durch die „harte Decke“ stoßen. Indem sie das Motiv der Nixe erneut aufgreifen, erfassen die Schüler, dass das Ich diese Welt des Unbewussten als verlockend und bedrohlich zugleich empfindet. Es soll zudem erarbeitet werden, dass obwohl diese Unterwasserwelt als begehrenswert geschildert wird, das Ich keine Versuche macht, in diese Welt durchzubrechen, und dass es somit sein Dasein auf die kalte Welt des Realen beschränkt. Hausaufgabe: Als Hausaufgabe sollen die Schüler den Artikel über Leben und Werk Georg Trakls lesen, um sich einen Überblick über diesen verschlossenen und verrätselten Schriftsteller zu verschaffen. Die Informationen über die Grundstimmung seines
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Werkes sollen in der kommenden Unterrichtseinheit zur Analyse seines Gedichtes „Das Grauen“ genutzt werden.
4. Méthodes et techniques pédagogiques, matériel didactique: Méthodes: Schülervortrag (SV) Stillarbeit (SA) fragend-‐entwickelndes Verfahren (f.-‐e.) Unterrichtsgespräch (UG) Matériel didactique: Arbeitsblatt (Text) Tafel Heft Beamer Audio
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5. Stundenverlaufsplan Phase
Inhalt
LZ U- Form Organisatorisches Klassenbucheintrag, Kontrolle der Hausaufgabe Verbesserung der Das literarische Motiv der SV, f.-‐ Hausaufgabe Nixe e. Einstieg / -‐Hörvortrag und Bilderfolge SA/ f.-‐ Textbegegnung und -‐Erste Assoziationen: Das e. Verständnissicherung lyrische Ich und seine Umgebung Erarbeitung und Arbeitsauftrag 1: 1 SA / f.-‐ Sicherung I Analyse der ersten Strophe: e. Starre, Leblosigkeit und Leere der realen Welt Erarbeitung und Analyse der 2. Strophe: 2 f.-‐e. / Sicherung II Vergleich der UG Winterlandschaft mit der Welt unter dem Eis Erarbeitung und Analyse der 3. und 4. Strophe: 3 f.-‐e. Sicherung III -‐Das Eis als Spiegelfläche für das Ich Erarbeitung und Analyse der 3. und 4. Strophe: 4 f.-‐e. / Sicherung IV -‐Die Welt unter dem Eis: das UG Unbewusste, die Tiefenschichten des Ichs Hausaufgabe Informationstext zu Georg Trakl lesen
Medien
Zeit
3’
Arbeitblatt, 5’ Heft Audio, 6’ Beamer, Heft Text, Tafel/Heft
10’
Text, Tafel/Heft
8’
Text, Tafel/Heft
8’
Text, Tafel/Heft
7’
3’
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6. Tafelbild Gottfried Keller: Winternacht
Winterlandschaft -‐leblos -‐leer -‐starr, regungslos -‐klar geordnet
Das Eis als Spiegelfläche für
Die Sphäre des Realen
das lyrische Ich_____________________
Unterwasserwelt
-‐magisch -‐mythisch -‐lebendig -‐unausdeutbar, unheimlich -‐begehrenswert
Die eigenen Tiefenschichten, das Unbewusste: -‐bedrohlich und verlockend -‐steigen zur Oberfläche empor -‐können nicht in die reale Welt durchstoßen
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7. Arbeitsblatt Gottfried Keller: Winternacht
Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt,
Still und blendend lag der weiße Schnee.
Nicht ein Wölklein hing am Himmelszelt,
Keine Welle schlug im starren See.
Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf,
Bis sein Wipfel in dem Eis gefror;
An den Ästen klomm die Nix herauf,
Schaute durch das grüne Eis empor.
Auf dem dünnen Glase stand ich da,
Das die schwarze Tiefe von mir schied;
Dicht ich unter meinen Füßen sah
Ihre weiße Schönheit Glied um Glied.
Mit ersticktem Jammer tastet' sie
An der harten Decke her und hin –
Ich vergeß das dunkle Antlitz nie,
Immer, immer liegt es mir im Sinn!
1 .Schildern Sie, wie die Landschaft in der ersten Strophe dargestellt wird. Wie steht das lyrische Ich Ihrer Ansicht nach dieser Landschaft gegenüber?
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8. Hausaufgabe
Georg Trakl – Leben und Werk336 Geboren am 3. 2. 1887 in Salzburg Gestorben am 4. 11. 1914 in Krakau
„Wer vermag er gewesen sein?“, fragte sich Rainer Maria Rilke, als Trakl, wahrscheinlich durch Selbstmord, so früh gestorben war. Wie sein Werk entzieht sich auch die Person des Lyrikers der Mittelbarkeit: Verschlossen, düster, einsam, verrätselt und voller Leiderfahrung, so war er als Mensch. Der Versuch, sich zum Leben zu bringen, ohne wirklich lebensfähig zu sein, und zur Sprache zu bringen, was sich der Sprache entzieht, so ließe sich das Paradox von Leben und Werk auf eine Formel bringen. Trakl stammte aus gutbürgerlichem Elternhaus, scheiterte aber gänzlich an den bürgerlichen Realitäten. Die Schule wird abgebrochen, der Beruf als Pharmazeut nur sporadisch ausgeübt; die Kriegserfahrung 1914 (Schlacht bei Grodek, über die er eines seiner bekanntesten Gedichte schreibt) stürzt ihn in den Wahnsinn, freilich entschieden gefördert durch die schon früh ausgeprägte Drogen-‐ und Alkoholsucht; einer Kokainvergiftung erliegt er wenig später, nachdem er schon einige Selbstmordversuche unternommen hatte. Zur Schwester Margarethe, die namenlos immer wieder in seinen Gedichten auftaucht, unterhielt er ein inzestuöses Verhältnis. „Es ist ein namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht“, notierte Trakl im Jahr 1913. Das mit dieser Erfahrung verbundene Leid ist das Grundmotiv seiner Dichtung. Erst die spätere Lyrik gewinnt die für Trakl typische Eigenheit: Aus wenigen, miteinander verflochtenen Bildgefügen, die häufig fremdartig dunkel wirken und überraschende Farbmotive bevorzugen, entsteht das Bild der zerbrochenen Welt und des leidenden Menschen in ihr. Auch in der Form „zerbricht“ Trakl seine späte Lyrik in zunehmendem Maße und sucht so die adäquate Gestaltung seines Inhalts. Der Entstehungsprozess der Gedichte lässt verfolgen, dass Trakl fast immer von beobachtbaren Realitätsdetails ausgeht und sie dann im weiteren Arbeitsprozess „verfremdet“, so lange, bis sie sozusagen sprachlos geworden sind.
336 In Anlehnung an: Bernd Lutz, Benedikt Jeßing (Hrsg.): Metzler Lexikon Autoren. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart. 4. Auflage. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler 2010
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9. Audio und Bilderfolge
http://www.youtube.com/watch?v=JaRxPCS98og
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6. Sechste Unterrichtseinheit
1. Sujet de la leçon: Georg Trakl: Das Grauen – Abgründe im eigenen sich spiegelnden Ich Während der vorliegenden Unterrichtssequenz zum Thema Spiegel-‐Gedichte lag der inhaltliche Fokus meist auf den unterschiedlichen Wahrnehmungen des Ichs im Spiegel. Das Spiegelbild hat dem lyrischen Ich somit jeweils bedrohliche wie auch begehrenswerte Aspekte der Persönlichkeit oder auch Erinnerungen an die Vergangenheit offenbart. In dem letzten Gedicht dieser Unterrichtssequenz erblickt das lyrische Ich die Abgründe seiner Persönlichkeit im eigenen sich spiegelnden Ich und erkennt, dass es mit Selbstmordgedanken zu kämpfen hat.
2. Objectifs d’apprentissage et compétences à développer à travers la leçon pédagogique: 2.1. Lernziele 1. Indem die SchülerInnen den Titel des Gedichts auf sich wirken lassen und ihr Vorwissen zum Spiegelmotiv aktivieren, erfassen sie, dass das lyrische Ich im Gedicht Entsetzen, Abscheu und „Grauen“ vor dem eigenen Spiegelbild empfinden könnte. 2. Indem die SchülerInnen den Aufenthaltsort des Ichs (Es ist unklar, ob es sich nun in einem „Zimmer“ oder in der freien Natur befindet) und seine Wahrnehmungen in der ersten Strophe untersuchen, erkennen sie, dass das dargestellte Geschehen nicht auf einer realen Ebene anzusiedeln ist, sondern eher einem Traumgebilde entspricht („Die Sterne tanzten irr“). 3. Indem die SchülerInnen das Motiv der Blume in der zweiten Strophe untersuchen, erfassen sie, dass Trakl mit der traditionellen Verwendungsweise des romantischen Motivs bricht und die Blume als Motiv des inneren Zerfalls nutzt: Die Blume als zerstörerisches, giftiges Element, das aus dem Inneren des Ichs wächst. 4. Indem die SchülerInnen das Spiegelmotiv der dritten Strophe in Bezug zum Schluss des Gedichtes setzen, erkennen sie, dass das lyrische Ich den biblischen Brudermörder Kain in seinem eigenen Spiegelbild erblickt, da es mit Selbstmordgedanken zu kämpfen hat („Da bin mit meinem Mörder ich allein“). Somit erfassen die SchülerInnen, dass das lyrische Ich die Abgründe im eigenen sich spiegelnden Ich erkennt. 5. Indem die SchülerInnen die Form des Gedichtes untersuchen, erkennen sie, dass Trakl für sein verschlüsseltes und eher unkonventionelles Gedicht auf die traditionelle Form des Sonetts zurückgreift: Die Krisenerscheinung des Subjekts im Gedicht schlägt sich nicht in der Form nieder. 2.2. Fachgebundene Kompetenzen Leseverstehen
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• • • • • • • • • •
Vorwissen aktivieren und inhaltsbezogene Hypothesen anstellen Methoden der Texterschließung einsetzen Zusammenhänge nachvollziehen und herstellen, Schlüsse ziehen (zwischen den Zeilen lesen) Handlungsverläufe und Gedankengänge nachvollziehen, Inhalte in eigenen Worten wiedergeben Sachverhalte interpretieren und die Aussagen anhand entsprechender Textstellen belegen Das Zusammenspiel von Form und Inhalt erschließen Zusammenfassend Bewertungen zu Ansichten und Verhaltensweisen entwickeln, begründen und mit anderen diskutieren Einzelbeobachtungen zu einer Gesamtdeutung zusammenführen Unbekannte Texte selbstständig erschließen Gattungs-‐ und epochentypische Merkmale bestimmen und ihre Wirkung einschätzen
Texte schreiben • Texte planen und schreiben • Literarische Texte produktiv und kreativ verarbeiten Hörverstehen • Vorwissen aktivieren und Hypothesen anstellen • Auditiv vermittelte Sprache erfassen und verstehen Sprechen, Reden, Zuhören • Diskussions-‐ und Redebeiträge leisten • Sich an die Gesprächsregeln halten • Hausaufgaben und eigene schriftliche Produktionen vortragen • Verständnisfragen und Nachfragen stellen • Im Gespräch die eigene Ansicht begründen und treffend argumentieren • Das Wesentliche eines Textes in eigenen Worten wiedergeben 2.3. Transversale Kompetenzen Arbeitsprozessen planen, durchführen, auswerten • Aufgabenstellungen verstehen und prozessorientiert lösen: Arbeitsschritte erkennen, nachvollziehen, gliedern und verbindlich befolgen Informationen beschaffen, ordnen und strukturieren • Informationen aus Texten entnehmen und auswerten • Stichpunkte sammeln, wichtige Informationen notieren, Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden • Inhalte in eigenen Worten zusammenfassen Präsentieren • Texte und eigene schriftliche Produktionen so vorlesen, dass sie für den weiteren Unterricht genutzt werden können
3. Différentes parties de la leçon pédagogique: Einstieg: Als Einstieg in die vorliegende Unterrichtseinheit sollen die Schüler sich mit dem Titel
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des Gedichtes „Das Grauen“ auseinandersetzen. Es soll unter anderem festgehalten werden, dass der Begriff „Grauen“ Assoziationen eines erschreckenden Ereignisses weckt. Indem sie ihr Vorwissen zum Leben und Werk Georg Trakls sowie zu den bereits behandelten „Spiegel“-‐Gedichten aktivieren, sollen die Schüler erfassen, dass das lyrische Ich Entsetzen und Abscheu vor dem eigenen Spiegelbild empfinden könnte, da „das Grauen“ möglicherweise in der Persönlichkeit des lyrischen Ichs angesiedelt ist. Erarbeitung und Sicherung I: Zunächst werden in einem fragend-‐entwickelnden Gespräch die Position und die Wahrnehmungen des lyrischen Ichs in der ersten Strophe untersucht. Die Schüler sollen anhand der Präteritum-‐Form erfassen, dass der Standort und die Wahrnehmung des lyrischen Ichs als Erinnerung in der Vergangenheit gekennzeichnet sind: „Ich sah mich“. Es wird angedeutet, dass das Ich in dieser Erinnerung „verlass’ne Zimmer“ durchschreite und sich somit im Inneren eines Gebäudes befinde. Gleichzeitig schildert das Ich jedoch intensive Natureindrücke (Heulen der Hunde, Wehen des Windes) und es sieht die Sterne „irr“ tanzen. Es ergeben sich also zwei Möglichkeiten: Entweder das lyrische Ich beobachtet die Naturereignisse aus dem Fenster eines Gebäudes heraus oder das Geschehen ist auf einer irrealen Ebene anzuordnen. Der erste Vers der zweiten Strophe liefert eine Erklärung: Das lyrische Ich spricht von einer „dumpfe(n) Fierberglut“, so dass davon auszugehen ist, dass die beschriebenen Ereignisse einem Fiebertraum entsprungen und somit als Traumgebilde zu kennzeichnen sind. Dies lässt sich unter anderem damit begründen, dass Sterne als unbewegliche Himmelskörper wahrgenommen werden und nicht „irr“ tanzen können. Erarbeitung und Sicherung II: In der nächsten Erarbeitungsphase soll an das Vorwissen der Schüler angeknüpft werden. Letztere sollen das Blumenmotiv in der zweiten Strophe untersuchen und erklären, inwiefern Trakl mit der romantischen Verwendung des Motivs (die Blume als Motiv für die Sehnsucht und die Liebe) bricht. Indem sie darauf eingehen, dass den Blumen das Attribut „giftig“ zugesprochen wird und dass sie aus dem Inneren des Ichs zu wachsen scheinen („blühn aus meinem Munde“), sollen sie erkennen, dass die Blume bei Trakl als zerstörerisches Element zu betrachten ist , welches als Motiv des inneren Zerfalls genutzt wird. Damit die Schüler diesen Arbeitsauftrag ohne die Hilfe der Lehrperson lösen können, soll dieser in Stillarbeit ausgeführt werden. Erarbeitung und Sicherung III: Im Anschluss wird zunächst die dritte Strophe untersucht, um diese in einem zweiten Schritt in Bezug zu der letzten Strophe des Gedichtes zu setzen, da in diesen beiden Strophen neue miteinander verbundene Bilder aufgegriffen werden. Indem die Schüler die dritte Strophe inhaltlich analysieren, erkennen sie, dass das Ich in die „trügerische“, also täuschende „Leere“ eines Spiegels blickt und etwas Unbekanntes, Gefürchtetes wahrnimmt, da es von „Graun“ und „Finsternis“ spricht: Das Angesicht des biblischen Brudermörders Kain wird im Spiegel erkennbar. Setzt man nun diese Strophe in Bezug zum letzten Vers des Gedichtes, wird deutlich, dass das lyrische Ich die Rollen Kain und Abels vereint: Das Ich ist mit „(s)einem Mörder (...) allein“, weil es sich wahrscheinlich selbst umbringen wird. Letzteres blickt also in den Spiegel und erkennt Abgründe im eigenen sich spiegelnden Ich, die es dermaßen erschüttern, dass es mit Selbstmordgedanken ringt. Erarbeitung und Sicherung IV:
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Nach dieser inhaltlichen Analyse soll nun in einem letzten Schritt die Form des Gedichtes untersucht und in Bezug zum Inhalt gesetzt werden. Da antizipiert werden kann, dass die Schüler die Sonett-‐Form dieses verschlüsselten Gedichtes eigenständig erkennen, soll bei diesem Arbeitsauftrag auf die Stillarbeit zurückgegriffen werden. Im Anschluss sollen die Schüler im fragend-‐entwickelnden Gespräch erklären, dass die Krisenerscheinung des lyrischen Ichs sich also nicht in der Form des Textes niederschlägt. Indem sie auf ihr Vorwissen zum Werk Georg Trakls zurückgreifen, begreifen die Schüler, dass der Autor die Form in diesem Gedicht noch nicht „zerbricht“, und der Inhalt des Gedichtes hier somit nicht seine adäquate Gestaltung in der Form findet. Hausaufgabe: Die Hausaufgabe der letzten Unterrichtseinheit dieser Sequenz besteht aus einem produktiven Schreibauftrag. Die Schüler sollen einen Bezug zwischen der inzestuösen Beziehung des Autors zu seiner Schwester und dem Gedicht herstellen, indem sie einen Brief aus Trakls Sicht an die Schwester schreiben. Dabei soll der Inhalt des Gedichtes berücksichtigt werden, ohne jedoch das lyrische Ich mit dem Autor gleichzusetzen.
4. Méthodes et techniques pédagogiques, matériel didactique: Méthodes: Schülervortrag (SV) Stillarbeit (SA) fragend-‐entwickelndes Verfahren (f.-‐e.) Unterrichtsgespräch (UG) Matériel didactique: Arbeitsblatt (Text) Tafel Heft
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5. Stundenverlaufsplan Phase
Inhalt
Organisatorisches Klassenbucheintrag, Kontrolle der Hausaufgabe Einstieg Worauf könnte sich der Titel beziehen? Erarbeitung und Analyse der ersten Strophe: Sicherung I Die Position und die Wahrnehmungen des lyrischen Ichs: ein Traumgebilde? Erarbeitung und -‐Analyse der zweiten Strophe Sicherung II -‐Arbeitsauftrag 1: Das Motiv der Blume: Abwendung vom romantischen Topos Erarbeitung und Analyse der dritten und vierten Sicherung III Strophe: -‐Der biblische Brudermörder Kain im eigenen Spiegelbild: -‐Selbstmordgedanken des lyrischen Ichs Erarbeitung und Arbeitsauftrag 2: Sicherung IV Analyse der Form des Gedichts und Bezug zum Inhalt Hausaufgabe Stellen Sie einen Bezug zwischen Trakls Beziehung zu seiner Schwester und dem Gedicht her. Verfassen Sie anschließend einen Brief aus Trakls Sicht an die Schwester, indem Sie den Inhalt des Gedichtes berücksichtigen.
LZ U- Form
Medien
Zeit
3’
1
UG
Tafel/Heft 5’
2
f.-‐e. / UG
Text, 7’ Tafel/Heft
3
SA / SV Text, 12’ Tafel/Heft
4
f.-‐e.
Text, 13’ Tafel/Heft
5
SA /f.-‐ e.
Text, 7’ Tafel/Heft
3’
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6. Tafelbild Georg Trakl: Das Grauen Standort und Wahrnehmung des lyrischen Ichs als Erinnerung: -‐im Inneren eines verlassenen Gebäudes ein Traumgebilde -‐intensive Natureindrücke Seelische Verfassung des lyrischen Ichs: -‐eine Krankheit im Inneren -‐Schuldgefühle innerer Zerfall -‐Ahnung eines tödlichen Ausgangs Wahrnehmung des Spiegelbildes: -‐seiner Persönlichkeit entfremdet -‐etwas Unbekanntes, Unheimliches -‐Abgründe im eigenen sich spiegelnden Selbstmordgedanken Ich -‐das Unbewusste
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7. Arbeitsblatt Georg Trakl: Das Grauen Ich sah mich durch verlass'ne Zimmer gehn. -‐ Die Sterne tanzten irr auf blauem Grunde, Und auf den Feldern heulten laut die Hunde, Und in den Wipfeln wühlte wild der Föhn. Doch plötzlich: Stille! Dumpfe Fieberglut Läßt giftige Blumen blühn aus meinem Munde, Aus dem Geäst fällt wie aus einer Wunde Blaß schimmernd Tau, und fällt, und fällt wie Blut. Aus eines Spiegels trügerischer Leere Hebt langsam sich, und wie ins Ungefähre Aus Graun und Finsternis ein Antlitz: Kain! Sehr leise rauscht die samtene Portiere, Durchs Fenster schaut der Mond gleichwie ins Leere, Da bin mit meinem Mörder ich allein. 1. Erklären Sie, inwiefern Trakl mit der Verwendung des romantischen Blumenmotivs bricht, indem Sie sich auf den Inhalt der zweiten Strophe beziehen. 2. Analysieren Sie die Form des Gedichtes, indem Sie unter anderem auf die Gliederung und das Reimschema eingehen. In welchem Bezug steht der Inhalt zu der Form des Gedichtes? HAUSAUFGABE: Stellen Sie einen Bezug zwischen Trakls Beziehung zu seiner Schwester und dem Gedicht her. Verfassen Sie anschließend einen Brief aus Trakls Sicht an die Schwester, indem Sie den Inhalt des Gedichtes berücksichtigen
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7. Klassenarbeit Name, Vorname: _______________________________ Klasse :__________________ Datum : ______________________________ Klassenarbeit: Spiegel-Gedichte (60 P.) 1. Annette von Droste-Hülshoff: Das Spiegelbild Beschreiben Sie die Gefühle des lyrischen Ichs, als es sein Spiegelbild erblickt, nennen Sie die Ursache für diese Reaktion und erläutern Sie, inwiefern sich die Einstellung des lyrischen Ichs im Laufe des Gedichtes verändert. (15 P.) 2. Gottfried Keller: Winternacht Erklären Sie die Funktion der im Gedicht geschilderten Unterwasserwelt, indem Sie auf folgende Fragen eingehen: -‐Wer und was wird beschrieben? -‐Wofür steht diese Welt? -‐Wie steht das lyrische Ich dieser Sphäre gegenüber? (15 P.) 3. Heinrich Heine: Still ist die Nacht Schreiben Sie einen Brief aus der Sicht des lyrischen Ichs an die Geliebte, indem Sie den Inhalt des Gedichtes berücksichtigen. (12 P.) 4. Theodor Storm: Meeresstrand (Siehe S. 2) 4.1. Erläutern Sie, inwiefern man die im Gedicht geschilderte Natur als Spiegel der Gefühlswelt des lyrischen Ichs bezeichnen kann, indem Sie sich auf zwei Naturbilder beziehen. (8 P.) 4.2. Beschreiben Sie die Form des Gedichtes (Strophenform, Metrum, Reimschema). (6 P.) 4.3. Suchen Sie nach einer Synästhesie im Gedicht und definieren Sie dieses Stilmittel. (4 P.)
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Theodor Storm: Meeresstrand Ans Haff nun fliegt die Möwe, Und Dämmerung bricht herein; über die feuchten Watten Spiegelt der Abendschein. Graues Geflügel huschet Neben dem Wasser her; Wie Träume liegen die Inseln Im Nebel auf dem Meer. Ich höre des gärenden Schlammes Geheimnisvollen Ton, Einsames Vogelrufen -‐ So war es immer schon. Noch einmal schauert leise Und schweiget dann der Wind; Vernehmlich werden die Stimmen, Die über der Tiefe sind.
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8. Korrekturschlüssel 1. Annette von Droste-Hülshoff: Das Spiegelbild Beschreiben Sie die Gefühle des lyrischen Ichs, als es sein Spiegelbild erblickt, nennen Sie die Ursache für diese Reaktion und erläutern Sie, inwiefern sich die Einstellung des lyrischen Ichs im Laufe des Gedichtes verändert. (15 P.) Sprache: 7,5 P. / Inhalt: 7,5 P. -‐Anfangs: Entsetzen, Furcht, Distanz, weist es als irreal zurück (2,5 P.) -‐Alternative Möglichkeit: lieben oder hassen? (1 P.) -‐Trauer um die verborgene Seite des Ichs (2 P.) -‐Akzeptanz (2 P.) Das lyrische Ich in „Das Spiegelbild“ empfindet zunächst Entsetzen und Furcht angesichts des eigenen Spiegelbildes, da es ihm die verborgenen Seiten seiner Existenz offenbart, die ihm bislang nicht bewusst waren. Es bringt seinem Spiegelbild somit Distanz entgegen und weist es als irreal und ihm nicht zugehörig zurück. (Dabei ist es nicht das lyrische Ich, das sein Spiegelbild betrachtet, sondern es fühlt sich von seinem Spiegelbild beobachtet, blickt in dessen Augen zurück und verschiebt somit den Akt des Anschauens auf das Bild. ) Nach diesen Ablehnung-‐ und Angstgefühlen stellt das lyrische Ich sich jedoch die Frage, wie es sich zu den bislang verborgenen Seiten seines Wesens stellen wird, und kommt schließlich zu dem Schluss, dass es sich diesem fremden Wesen doch verwandt fühlt. Das Erschrecken mildert sich ab und macht der Trauer Platz: Das lyrische Ich weint um diesen Teil seiner Persönlichkeit, den es nie ausleben konnte und der vermutlich auch in Zukunft im Verborgenen bleiben muss. Trotzdem bekennt sich das Ich schließlich zu allen Seiten seiner Identität, die ihm durch das Spiegelbild bewusst geworden sind. 2. Gottfried Keller: Winternacht Erklären Sie die Funktion der im Gedicht geschilderten Unterwasserwelt, indem Sie auf folgende Fragen eingehen: -‐Wer und was wird beschrieben? -‐Wofür steht diese Welt? -‐Wie steht das lyrische Ich dieser Sphäre gegenüber? (15 P.) Sprache: 7,5 P. / Inhalt: 7,5 P. -‐leere Winterlandschaft vs. belebte Unterwasserwelt: Seebaum, Nixe, grüne Farbe (2,5 P.) -‐Die Unterwasserwelt als Symbol für die Tiefenschichten des Ichs (2,5 P.)
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-‐Das Unbewusste seiner Persönlichkeit als bedrohlich und verlockend, aber das Ich verbleibt in der realen Welt (2,5 P.) Das lyrische ich befindet sich auf einem zugefrorenen See, empfindet die Welt oberhalb der Eisschicht als starr und leer und schildert die Welt unter dem Eis als belebt. Beschrieben wird ein Seebaum, der in Bewegung ist und nach oben steigt, bis das Eis seinen Aufstieg einhalten lässt. An diesem Gewächs klettert eine Nixe nach oben, dessen Schönheit vom lyrischen Ich bewundert wird. Verzweifelt sucht diese mythische Figur nach einem Durchlass zur oberen Welt. Die grüne Farbe der Sphäre unterhalb der Eisschicht bildet einen starken Kontrast zur weißen, leblosen Winterlandschaft. Dieser naturmagische Bereich symbolisiert die Tiefenschichten des Ichs, das Unbewusste seiner Persönlichkeit, das immer wieder zur Oberfläche emporsteigt, jedoch nicht ganz durchstoßen kann. Anhand des Motivs der Nixe, welche dieser Unterwasserwelt zugehörig ist, wird erkennbar, dass das lyrische Ich diese Tiefenschichten als verlockend und bedrohlich zugleich empfindet. Obwohl diese Unterwasserwelt als begehrenswert geschildert wird, macht das lyrische Ich keine Versuche, in diese Sphäre durchzubrechen und verbleibt in der kalten Realität. 3. Heinrich Heine: Still ist die Nacht Schreiben Sie einen Brief aus der Sicht des lyrischen Ichs an die Geliebte, indem Sie den Inhalt des Gedichtes berücksichtigen. (12 P.) Sprache: 6 P. / Inhalt 6 P. -‐Betrachten des Hauses: Erinnerungen an gemeinsame Zeit (2 P.) -‐Unglücklich verlaufene Liebesbeziehung, Leiden der Vergangenheit ( 2 P.) -‐Leiden der Vergangenheit manifestieren sich in seinem Äußeren (2 P.) Zu beachten ist: Das lyrische Ich betrachtet in der nächtlichen Ruhe ein Haus, in dem die einstige Geliebte gelebt hat. Letztere ist mittlerweile in eine andere Stadt gezogen, doch das Haus hat weiterhin eine große Bedeutung für das lyrische Ich, da der Ort mit Erinnerungen an die gemeinsame Zeit besetzt ist. Die Erinnerungen an die Vergangenheit lassen das Liebesleid in der Gegenwart wieder aufleben. Das lyrische Ich erblickt sein Spiegelbild auf einer Spiegelfläche des Hauses und schreckt vor seinem gespenstigen Aussehen zurück: Die Erinnerungen an die amourösen Leiden der Vergangenheit quälen das lyrische Ich dermaßen, dass sich diese sogar in seinem Äußeren manifestieren.
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4. Theodor Storm: Meeresstrand (Siehe S. 2) 4.1. Erläutern Sie, inwiefern man die im Gedicht geschilderte Natur als Spiegel der Gefühlswelt des lyrischen Ichs bezeichnen kann, indem Sie sich auf zwei Naturbilder beziehen. (8 P.) Sprache: 4 P. / Inhalt 4 P. -‐ 2 Naturbilder ( 2x2= 4 P.) Mögliche Antworten: Das lyrische Ich projiziert seine Stimmung der Melancholie in die Natur: Der Abendschein wird nur indirekt als Spiegelung wahrgenommen, der Nebel trübt den Blick und auch die akustischen Eindrücke verstummen („Noch einmal schauert leise/ Und schweiget dann der Wind“). Auch das Gefühl der Einsamkeit des lyrischen Ichs spiegelt sich in den Naturbildern wider: Nur eine einzige Möwe ist zu erkennen, das Vogelrufen ist „einsam“ und auch die Inseln erinnern an diese Isolation. 4.2. Beschreiben Sie die Form des Gedichtes (Strophenform, Metrum, Reimschema). (6 P.) -‐Volksliedstrophen (2 P.) -‐dreihebige Verse ( 2 P.) -‐Reimschema ( 2 P.) Theodor Storm nutzt in diesem Gedicht Volksliedstrophen. Die drei vierzeiligen Strophen enthalten dreihebige Verse mit unregelmäßiger Füllung. Jeweils zwei Verse sind reimlos, der zweite und der vierte Vers reimen sich in jeder Strophe. 4.3. Suchen Sie nach einer Synästhesie im Gedicht und definieren Sie dieses Stilmittel. (4 P.) -‐Definition ( 2 P.) -‐Beispiel ( 2 P.) Die Synästhesie verbindet verschiedene Sinneseindrücke, es werden verschiedene Bereiche der Wahrnehmung gekoppelt. In der dritten Strophe wird der visuelle Eindruck synästhetisch durch den akustischen ergänzt: Das sich zurückziehende Wasser erzeugt Geräusche im Schlamm.
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Danksagung Zunächst möchte ich mich bei meiner Begleiterin, Frau Danielle Zerbato, bedanken. Ich verdanke ihr jede erdenkliche Unterstützung durch wertvolle Ideen und anregende Diskussionen. Ihr kompetenter Rat und ihre kreativen Denkanstöße haben maßgeblich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen. Ohne ihre ständige Erreichbarkeit und schnelle Rückmeldung bei dringenden Fragen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ferner möchte ich mich bei meinen beiden Tutorinnen, Frau Pia Reimen und Frau Carole Weicker, bedanken, die mich während des Referendariats und darüber hinaus hingebungsvoll auf den Lehrerberuf sowie auf das damit verbundene Verfassen dieser Arbeit vorbereitet haben. Außerdem möchte ich Frau Narmina Pasqualoni danken, die meine Arbeit Korrektur las und mich stets mit konstruktiven Verbesserungsvorschlägen und nützlichen Hinweisen unterstützt hat. Ein großer Dank geht auch an meine Eltern, die mir das Studium der Germanistik überhaupt erst ermöglicht haben und mir auch während der Anfertigung dieser Arbeit immer unterstützend und liebevoll zur Seite standen. Danke auch an meinen Lebensgefährten, Max Krippler, für die nötige Ruhe und Geduld sowie die ermunternden Worte, womit er mich immer wieder motiviert hat, diese Arbeit fertig zu stellen.
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