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DIE ÜBERSICHT

Kai-Uwe Eckardt

Erythropoietin: Karriere eines Hormons ZUSAMMENFASSUNG

Stichwörter: Erythropoietin*, rhEPO, Hormon, chronische Nierenerkrankung, Anämie. Durch sauerstoffabhängige Produktion des Hormons Erythropoietin (EPO) steuert die Niere die Neubildungsrate von Erythrozythen. Inadäquat niedrige EPO-Produktion führt bei chronischen Nierenerkrankungen zur Entwicklung einer Anämie. Seit zehn Jahren steht gentechnologisch hergestelltes rekombinantes EPO (rhEPO) für den therapeutischen Einsatz zur Verfügung. Die renale Anämie läßt sich damit in nahezu allen Fällen effektiv behandeln. Auch die Frühgeborenenanämie und Entzün-

dungs- und Tumoranämie, bei denen die EPO-Antwort der Niere reduziert sein kann, können in vielen Fällen mit rhEPO gebessert werden. Selbst bei völlig intakter endogener EPO-Produktion kann durch EPO-Therapie eine zusätzliche Stimulation der Erythropoese induziert werden, was bei Eigenblutspendern ausgenutzt wird. Der geschätzte weltweite jährliche Umsatz von rhEPO liegt jetzt schon bei 2 000 Millionen Dollar, und eine kostengünstigere Herstellung würde einen weiter zunehmenden Einsatz des Hormons ermöglichen.

Key words: Erythropoietin, recombinant EPO, hormon, chronic renal failure, anemia. Ten years ago, following cloning of the gene for erythropoietin (EPO), the primary humoral regulator of red cell formation, and its successful expression in mammalian cell lines, the first dialysis patients were treated with recombinant EPO in order to improve the anemia that occurs in chronic renal failure. The success of this treatment has exceeded even the most optimistic expectations. More than 90 per cent of renal patients respond to EPO therapy, and improvement of their anemia is associated with a significant,

and partly unexpected, reduction of morbidity. Meanwhile more than 350 000 patients with renal failure worldwide are regularly treated with EPO. The hormone was also found to be effective in the treatment of anemia of prematurity, in subgroups of patients with anemia of chronic diseases, and in autologous blood donors, allowing them to predonate more blood in a given time period. Second generation drugs are on the horizon which may further improve the therapeutic options for stimulating erythropoiesis and hopefully will also allow a reduction of treatment costs.

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ekombinantes humanes Erythropoietin (rhEPO) ist zu einem exemplarischen Vertreter einer zunehmenden Zahl von gentechnologisch hergestellten Therapeutika geworden, zu denen Impfstoffe, Zytokine, Enzyme und Hormone gehören. Dabei unterscheidet es sich von anderen Hormonen wie Insulin und Wachstumshormon insofern, als die gentechnologische Herstellung nicht die Aufreinigung aus tierischem oder menschlichem Gewebe ablöst, sondern überhaupt erstmals eine therapeutische Anwendung ermöglicht hat. Aus 2 500 Litern Urin von Patienten mit schweren aplastischen Anämien und dadurch stark stimulierter EPO-Produktion wurden ursprünglich wenige Milligramm des Hormons aufgereinigt (62) (Grafik 1). Die Bestimmung der Aminosäurensequenz von Bruchstücken dieses Materials war Voraussetzung, um mit komplementären Oligonukleotiden das EPO-Gen * alternative deutsche Schreibweise: Erythropoetin

SUMMARY

aus Genbanken zu isolieren (34, 44). Während die Menge des aus Urin aufwendig isolierten EPO lediglich ausgereicht hätte, um einen einzigen Dialysepatienten ein bis zwei Jahre lang zu behandeln, steht rekombinantes, durch Expression des Gens in Säugetierzellkulturen gewonnenes EPO theoretisch unbegrenzt zur Verfügung.

Physiologie von Erythropoietin Das Hormon EPO besteht aus einer Eiweißkette von 165 Aminosäuren, an die vier komplexe Kohlenhydratseitenketten angebunden sind, die 40 Prozent des gesamten Molekulargewichtes von 35 kD ausmachen. Es ist ein essentieller Wachstums- und Überlebensfaktor für späte erythroide Vorläuferzellen Abteilung Innere Medizin mit Schwerpunkt Nephrologie und Intensivmedizin (Leiter: Prof. Dr. med. U. Feil), Charité-VirchowKlinikum Berlin

(Grafik 2) (16, 35, 42). Die Bindung von EPO an spezifische Oberflächenrezeptoren dieser Zellen ermöglicht ihre Ausdifferenzierung zu Retikulozyten und Erythrozyten, indem ein frühzeitiger, vorprogrammierter Zelltod (Apoptose) verhindert wird (41). Die Plasmaspiegel von EPO, die überwiegend in „Units“ angegeben werden, liegen normalerweise bei etwa 10 bis 25 U/l, was einer Konzentration von zirka 3 bis 7 pmol/l entspricht (13, 21, 77). Jede Form von Sauerstoffmangel, sei es durch Reduktion der Sauerstofftransportkapazität bei Anämie, durch Blockade der Sauerstofftransportkapazität bei Kohlenmonoxydexposition oder durch Verminderung der arteriellen Sauerstoffsättigung bei Ventilationsstörungen oder Höhenexposition, führt normalerweise nach 1,5 Stunden zu einem Anstieg des EPO-Spiegels (13, 17, 21, 77, 97). Bei anhaltender, schwerer Anämie können die Plasmakonzentrationen tausendfach erhöht sein (13, 21, 77). Produziert wird EPO vor allem in Leber und Nieren, wobei

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die Leber der entscheidende Produktionsort in der Fötalphase ist (27). Zumindest unter tierexperimentellen Bedingungen kann der Beitrag der Leber zur EPO-Produktion zwar auch im erwachsenen Organismus durchaus relevant bleiben, ein Ausfall der renalen Produktion wird aber durch die Leber normalerweise nicht kompensiert (92).

Als die ersten niereninsuffizienten Patienten mit rhEPO behandelt wurden (24, 98), wußte man zwar, daß es bei ihnen trotz anhaltend niedriger Hämoglobin Konzentrationen zu keinem adäquaten Anstieg der EPOSpiegel kommt (Grafik 3); welche Zellen EPO normalerweise produzieren und wie Sauerstoffmangel zu diesem Anstieg Grafik 1 führt, war aber völlig unklar. Mittlerweile sind zelluläre Klonierung des Expression des EPO Gens SauerstoffsensorEPO Gens in Zellinien mechanismen, die Aufreinigung von EPO zu einem AnEinbau der EPO cDNA in aus 2 500 l Urin stieg der Expreseinen Expressionsvektor*** von Patienten sion des EPOmit aplastischen Anämien Gens unter HypoEinschleusung des Vektors in (→ ca. 7 mg) xie führen, charakSäugetierzellen terisiert und zum (z.B. „chinese hamster ovary“ = „CHO“-Zellen) Teil identifiziert Verdau zu worden. In der LePeptidfragmenten ber findet die ExIsolierung von Zellen, pression von EPO die EPO exprimieren Bestimmung der in Hepatozyten Aminosäuresequenz und perisinusoidaAmplifikation eines Klons dieser Fragmente len, sogenannten dieser Zellen Ito-Zellen statt (→ Produzentenklon) und (18, 56), in der NieAliquottierung Synthese von radioaktiv re in peritubulären markierten, komplementären Fibroblasten, die Oligonukleotiden funktionelle und strukturelle ÄhnHerstellung von Screening einer humanen lichkeiten mit den rekombinantem EPO DNA Gen-Bank* mit Ito-Zellen aufweidiesen Oligonukleotiden Einbringen eines Aliquots sen (3, 57). Warum von Zellen des Produzentendiese Zellen im zellklons in das ZellkulturLaufe einer chroExtraktion von medium eines Biofermenters nischen NierenEPO Gen-Fragmenten (z.B. 1 600 l Volumen) erkrankung die (genomische DNA) Fähigkeit zu einer Vermehrung dieser Zellen adäquaten EPOund semikontinuierliche Radioaktive Markierung Produktion verlieErnte des Zellkulturmediums dieser Fragmente und ren, ist weiterhin Sreening einer zu mRNA unklar und könnte aus humaner Leber Filtration des Mediums und mit einer Transkomplementären cDNA chormatographische Aufreinigung formation dieser Bank** von rekombinantem EPO Zellen im pathologisch veränderQualitäts- und Reinheitskontrolle Extraktion von EPO cDNA ten Nierengewebe zusammenhängen. Die Störung könn*Ca. 3 x 105, in das Genom von Phagen integrierte DNA-Fragmente mit einer te aber auch dar4 Länge von ca. 1 x 10 Nukleotiden, die das haploide menschliche Genom entauf beruhen, daß halten. durch den Ausfall **cDNA enthält im Gegensatz zur genomischen DNA nur die kodierenden Anteile der renalen Ausder DNA. scheidungsfunktion *** Zirkuläres DNA-Element, das in Zellen integriert und dann von diesen Zellen funktionelle Vorabgelesen werden kann. aussetzungen für

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den Sauerstoffsensormechanismus entfallen. Interessante Hinweise gibt es dafür, daß die die EPO-Produktion steuernden zellulären Mechanismen, einschließlich der Aktivierung eines Hypoxie-induzierbaren Transkriptionsfaktors und dessen Bindung an eine regulatorische DNA-Sequenz im Bereich des EPO-Gens (72, 84, 96) nicht nur für die Regulation von EPO relevant sind. Vielmehr scheinen diese Mechanismen in anderen Zellen und unter anderen (patho)physiologischen Bedingungen eine Vielzahl von Stoffwechsel-, Wachstums- und Entzündungsprozessen sauerstoffabhängig zu regulieren (10, 76). Die weitere Aufklärung dieser Regulation wird deshalb vermutlich über die Pathophysiologie der Erythropoese hinaus bedeutsam sein.

Einsatz von rekombinantem Erythropoietin Die zehnjährige Erfahrung mit dem therapeutischen Einsatz von rhEPO hat mindestens vier wesentliche Aspekte gelehrt: « Für die renale Anämie ist EPO-Mangel die entscheidende Ursache; sie kann durch EPO-Substitution in nahezu allen Fällen erfolgreich behandelt werden. ¬ Die pathophysiologische Bedeutung der renalen Anämie ist größer als bislang angenommen. ­ Auch bei einem Teil der Patienten mit anderen Anämieformen, die nicht primär auf EPO-Mangel beruhen, und bei Gesunden mit ungestörter EPO-Produktion läßt sich die Blutbildung durch rhEPO-Therapie stimulieren. ® Die unerwünschten Wirkungen sind insgesamt gering und akzeptabel.

Chronische Niereninsuffizienz Entgegen langjährigen Spekulationen über urämische Hemmstoffe der Blutbildung ist die Ansprechbarkeit des Knochenmarks auf rhEPO bei Niereninsuffizienz nicht wesentlich beeinträchtigt (25), und 95 Prozent der Patienten lassen sich erfolgreich mit rhEPO behandeln (1, 14, 22,

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90). Die Geschwindigkeit der Anämiekorrektur ist dosisabhängig. Mit hohen Dosen (1500 U/kg und Woche) kann ein Anstieg des Hämatokrits um mehr als drei Prozentpunkte pro Woche erreicht werden (24). Eine solch schnelle Korrektur ist aber in der Regel nicht notwendig, unökonomisch und vermutlich mit einem erhöhten

Risiko für das Auftreten von Nebenwirkungen behaftet. Deshalb wird die Therapie üblicherweise mit einer niedrigen Wochendosis von etwa 75 U/kg begonnen. Steigt der Hämatokrit nicht innerhalb von etwa vier Wochen um mehr als drei Prozentpunkte, sollte die Dosis um zirka 25 U/kg und Woche erhöht werden. In der Erhal-

Grafik 2

Regulation der Blutbildung durch sauerstoffabhängige Produktion von Erythropoietin Erythrozyten Lunge Sauerstoffsättigung Retikulozyten

arterieller Sauerstoffgehalt

Erythroblasten

Sauerstoff-Sensing – Hepatozyten – perisinusoidale Ito Zellen

CFU-e

– peritubuläre Fibroblasten

Aktivierung regulatorischer Segmente des EPO Gens (hypoxieinduzierbarer Transkriptionsfaktor HIF 1) EPO Gen – Transkription

BFU-e pluripotente Stammzellen

EPO mRNA Leber

Knochenmark

Niere

Serum EPO Grafik 3

Schematische Darstellung der Beziehung zwischen Serum-EPO und Hämoglobin Serum-EPO (mU/ml) 10 000 normale EPO-Antwort reduzierte EPO-Antwort (Anämie chronischer Erkrankungen) fehlende EPO-Antwort (renale Anämie)

1 000

100

10 4

6

8

10 Hämoglobin (g/dl)

12

14

16

tungsphase ist bei einigen Patienten eine Dosisreduktion möglich. Die Applikation kann intravenös oder subkutan erfolgen. Durch subkutane Applikation wird im Vergleich zur intravenösen Gabe eine zwar deutlich geringere, aber gleichmäßigere und länger anhaltende Erhöhung der Plasmaspiegel erreicht, wodurch bei einem Teil der Patienten eine gewisse Dosiseinsparung möglich ist (9, 37, 51). Bei Hämodialysepatienten wird rhEPO aus rein praktischen Erwägungen häufig im Anschluß an die jeweilige Dialyse gegeben. Insbesondere die subkutane Applikation kann aber auch zu anderen Zeitpunkten erfolgen, und Dosierungsschemata von einmal wöchentlich bis hin zu täglicher Applikation sind möglich. Voraussetzung für die Wirkung von rhEPO ist die ausreichende Verfügbarkeit von Eisen, wobei der zusätzliche Bedarf häufig durch parenterale Eisengabe gedeckt werden muß (32, 50). Bei ausreichender Eisenzufuhr ist ein Nichtansprechen auf die Therapie selten und kann auf latente Entzündungssituationen oder Malignome hinweisen, bei denen die Eisenfreisetzung aus aufgefüllten Speichern vermindert sein kann oder Entzündungsmediatoren mit der Wirkung von EPO interferieren (59). Weitere Ursachen verminderten Ansprechens können das Vorliegen einer Knochenmarksfibrose infolge eines Hyperparathyreoidismus (75) oder eine Aluminiumüberladung (65) sein. Auch eine inadäquat geringe Dialysebehandlung führt zu einer suboptimalen Antwort auf rhEPO (33). Interessanterweise hat erst die Behandlung der renalen Anämie deutlich gemacht, welche Bedeutung ihr für die Situation eines Niereninsuffizienten zukommt. Nicht nur lassen sich durch rhEPO allgemeines Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit verbessern und der Transfusionsbedarf senken. Vielmehr werden eine große Vielzahl physiologischer Partialfunktionen, deren Störung man zuvor in erster Linie der Urämie zugeschrieben hatte, von kognitiver Funktion bis hin zur Immunfunktion (Textkasten: Positive Effekte), durch teilweise Korrektur der Anämie eindrucksvoll beeinflußt. Rückgewinn oder Erhalt einer zumindest partiel-

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len Arbeitsfähigkeit scheinen möglich, sofern die sozioökonomischen Voraussetzungen dafür vorliegen. Gerade unter diesem Aspekt ist ein frühzeitiger Therapiebeginn vor Beginn der Dialysepflichtigkeit wichtig. Wesentlich ist dabei, daß die Therapie mit rhEPO den Nierenfunktionsverlust bei präterminal Niereninsuffizienten nicht beschleunigt (78, 82, 94). Ob letztendlich auch die Mortalität chronisch Nierenkranker durch die Behandlung mit rhEPO gesenkt werden kann, wird unklar bleiben. Es ist aber zumindest nicht unwahrscheinlich, wenn man berücksichtigt, daß sich unter der Anämiekorrektur die Myokardhypertrophie als ein nachgewiesener Risikofaktor zurückbildet (47, 52, 87). Eine entscheidende, noch ungeklärte Frage ist die nach dem anzustrebenden „Ziel-Hkt/Hb“. Bisherige Erfahrungen stützen sich im wesentlichen auf eine Anhebung des Hb auf 10 bis 12 g/dl. Vielfach wird vermutet, daß weitere Korrektur auch zu weiterer Verbesserung des Gesamtzustandes der Patienten führen wird. Kontrollierte Studien, die mittlerweile zu dieser Frage durchgeführt werden, müssen aber zunächst klären, ob das bislang beobachtete günstige Verhältnis zwischen Nutzen und Risiken der rhEPO-Therapie auch bei höheren Hämoglobin-Werten bestehen bleibt und welche zusätzlichen Dosen und damit Kosten für eine weitere Hämoglobin-Anhebung erforderlich sind.

Fortschritt (5, 53). In Relation zum Körpergewicht sind höhere Dosen erforderlich als bei Erwachsenen, was aber nicht unbedingt ein schlechteres Ansprechen des Knochenmarks bedeutet, da die Abbaurate und das Verteilungsvolumen von EPO bei Neugeborenen höher sind als bei Erwachsenen (5).

Anämie chronischer Erkrankungen Viele chronisch entzündliche oder maligne Erkrankungen gehen mit einer Anämie einher. Diese sogenannte „Anämie chronischer Erkrankungen“, die in erster Linie auf einer Bildungsstörung roter Blutzellen bePositive Effekte bei der Behandlung von niereninsuffizienten Patienten mit rhEPO verbesserte Lebensqualität

(11, 39, 64)

verbesserte körperliche Leistungsfähigkeit

(11, 52, 58)

reduzierter Transfusionsbedarf

(24, 98)

verminderte Anginapectoris-Symptomatik

(52, 99)

Reduktion von Myokardhypertrophie

(47, 52)

verbesserte kognitive Funktion

(54)

verbesserter Ernährungszustand

(4, 38)

verbesserter Glukosemetabolismus

(2)

verbesserte Sexualfunktion

(8, 81)

verbesserte Immunfunktion

(85)

reduzierte Blutungsneigung

(90, 95)

verminderter Juckreiz

(15, 93)

Vermeidung von Eisenüberladung

(43)

Frühgeborenenanämie Die Anämie von Früh- und Neugeborenen ist ein zweites Indikationsgebiet, bei dem eine Substitutionstherapie mit rhEPO möglich ist. In der Perinatalphase ist das Ansprechen der endogenen EPO-Produktion auf einen Hämoglobin-Abfall vermindert, was mit der Verlagerung der EPO-Produktion von der Leber in die Nieren zusammenhängen könnte (19). Der Transfusionsbedarf von Frühgeborenen stellt trotz aller Bemühungen um Minimierung iatrogener Blutverluste ein relevantes Problem dar, und die Möglichkeit, die Blutbildung dieser kleinen Patienten durch rhEPO-Gabe zu stimulieren, bedeutet deshalb einen wesentlichen A-288

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ruht, ist weltweit nach der Eisenmangelanämie die zweithäufigste Anämieform (59). Bei zahlreichen der zugrunde liegenden entzündlichen oder malignen Erkrankungen wurde gezeigt, daß der Anstieg der EPO-Spiegel geringer ausgeprägt ist als bei chronischen Blutungsanämien (Grafik 3). Ursache für diese Hemmung der EPO-Produktion können zirkulierende Zytokine sein oder hämodynamische Faktoren wie die Plasmaviskositätserhöhung bei Gammopathien (26, 36, 89). Da eine inadäquat niedrige EPO-Produktion häufig nur ein Teilaspekt in der Pathogenese dieser Anämien ist und beispielsweise auch eine direkte Hemmung der Erythropoese oder eine verminderte Eisenfreisetzung aus dem retikuloendothelialen System beteiligt sind, ist die Chance einer Behandelbarkeit mit rhEPO grundsätzlich geringer als bei der renalen Anämie. Mit im Vergleich zur „Substitutions“-Therapie bei Niereninsuffizienz deutlich höheren, „pharmakologischen“ Dosen können aber bei vielen Patienten mit Karzinomen, Lymphomen und chronisch entzündlichen Gelenk- oder Darmerkrankungen eine Anhebung des HbWertes, eine Reduktion des Transfusionsbedarfs und vielfach auch eine Verbesserung der Lebensqualität erreicht werden (Textkasten: Erfolgreiche Anämie-Behandlung). Besonderen Stellenwert hat die EPO-Therapie unter chemotherapeutischer Behandlung mit Cis-Platin, da dabei eine durch Nierenschädigung induzierte Störung der EPO-Produktion eine wesentliche Rolle spielt (100). Für AIDS-Patienten und Patienten mit myelodysplastischem Syndrom (MDS) konnte gezeigt werden, daß der endogene Serum EPO-Spiegel eine gewisse Voraussage über den Therapieerfolg erlaubt (Patienten mit Spiegeln > 500 U/l sprechen deutlich schlechter an) (31, 69). Bei Patienten mit myelopdysplastischem Syndrom scheint außerdem eine Kombination von EPO mit anderen Wachstumsfaktoren (79) sinnvoll zu sein.

Eigenblutspender Die Beziehung zwischen Sauerstoffangebot und EPO-Spiegeln ist exponentiell und im Bereich einer nur

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geringen Reduktion des arteriellen Sauerstoffgehaltes sehr flach (Grafik 3). Das bedeutet, daß ein mäßiger Hämoglobin-Abfall oberhalb einer HbKonzentration von etwa 10 g/dl nur zu einem geringen, in Einzelfällen kaum nachweisbaren EPO-Anstieg führt (40, 46, 61). Aus teleologischer Sicht scheint diese „konservative“ Regulation sehr sinnvoll: das Risiko einer durch Überstimulation des Knochenmarks induzierten Polyzythämie ist höher als das einer nur langsamen Korrektur einer mäßiggradigen Anämie. Unter kontrollierten Bedingungen kann durch pharmakologische Dosen von rhEPO die Blutbildung aber soweit stimuliert werden, daß die Anämiekorrektur schneller erfolgt Chronisch entzündliche oder maligne Erkrankungen, bei denen über eine erfolgreiche Anämie-Behandlung mit rhEPO berichtet wurde. rheumatoide Arthritis

(60, 70)

chronisch entzündliche Darmerkrankungen (83) AIDS

(31, 69)

Multiples Myelom

(48, 67)

Non-HodgkinLymphome

(67)

Karzinome mit und ohne Chemotherapie

(7, 49, 66, 102)

und so bei Eigenblutspendeprogrammen eine größere Menge Erythrozyten präoperativ gewonnen werden kann (29, 71). Da operativer Blutverlust offensichtlich weitgehend unabhängig ist von dem vorhandenen Blutvolumen, profitieren insbesondere Patienten mit einem entsprechend ihrer Konstitution niedrigen Blutvolumen (Frauen mit niedrigem Körpergewicht) von der präoperativen EPOTherapie. Darüber hinaus wird derzeit in zahlreichen Studien auch der perioperative Einsatz von rhEPO zur Verringerung des Transfusionsbedarfs und zur schnelleren postoperativen Anämiekorrektur evaluiert. Ein-

drucksvolle Berichte liegen bereits vor über die Vermeidung von Transfusionen durch EPO-Therapie bei Zeugen Jehovas (28).

Mißbrauch als Doping-Mittel Von Leistungssportlern kann rhEPO eingesetzt werden, um durch Steigerung der Blutzellmasse die Ausdauerleistungsfähigkeit zu erhöhen (88). Diese Anwendung von rhEPO wird wie die Gabe von Eigenoder Fremdblutkonserven als „BlutDoping“ eingestuft (12, 80). Allerdings ist der Nachweis der rhEPOApplikation auf Grund der Strukturähnlichkeit mit dem endogenen Hormon und der lang anhaltenden Wirkung schwer zu führen. Ungeachtet der sportlich-ethischen Problematik ist die Anhebung des Hämoglobins auf supranormale Werte mit einem erheblichen gesundheitlichen Risiko für die Athleten verbunden und hat in Verbindung mit der Hämokonzentration unter der körperlichen Belastung vermutlich schon zu mehreren Todesfällen geführt (88).

Nebenwirkungen Der zunehmende Einsatz von rhEPO wäre nicht möglich, wenn die kontrollierte Therapie nicht weitgehend ohne ernsthafte Nebenwirkungen wäre. Das gentechnologisch hergestellte Hormon ist, was den Proteinanteil betrifft, identisch mit dem endogenen Hormon und, was den Zuckeranteil der derzeit verfügbaren Präparate betrifft, sehr ähnlich (91). Die Bildung von Antikörpern ist vermutlich unter anderem deshalb weltweit nur in sehr wenigen Einzelfällen beobachtet worden (6, 63, 68), und in zumindest einem dieser Fälle wurde ein EPO-Präparat mit einer etwas anderen Zuckerstruktur verwendet (6). Klinisch relevant ist als Nebenwirkung ein Anstieg des Blutdrucks (23, 55, 74), der aber nicht direkt unter der Applikation auftritt und praktisch nur bei Niereninsuffizienten beobachtet wird, obwohl andere Patienten sehr viel höhere Dosen erhalten. Vermutlich hat EPO deshalb keine direkte hypertensive Wirkung, sondern die mit Korrektur der Anämie verbundene Erhöhung des peripheren

Widerstandes führt vor allem bei entsprechend prädisponierten Patienten zu Blutdruckanstiegen. Direkte Effekte auf Gefäßzellen lassen sich experimentell nur mit rhEPO-Konzentrationen nachweisen, die in der Regel weit über den unter Therapie erreichten Konzentrationen liegen (73). Hypertensive Enzephalopathie und Krampfanfälle sind in den ersten klinischen Studien beschrieben worden (20), werden aber unter langsamerer Anämiekorrektur mit niedrigen rhEPO-Dosen praktisch nicht mehr beobachtet. Die Verbesserung der Gerinnungsfunktion kann in Verbindung mit der Zunahme der Blutviskosität die Entstehung von Thrombosen der Dialysefisteln begünstigen, aber die Inzidenz von Shuntthrombosen ist insgesamt nicht wesentlich gesteigert (11, 90).

Kosten, Nutzen und Perspektiven In der Therapie dialysepflichtiger Niereninsuffizienz ist rhEPO mittlerweile fest etabliert. Schon bei präterminalen, noch nicht dialysepflichtigen Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz und erst recht bei nicht renalen Indikationen ist die Umsetzung von Studienergebnissen in die Praxis aber längst noch nicht so weit vorangeschritten. Die Zulassungen für rhEPO beschränken sich bislang auf die Indikationen Niereninsuffizienz, Chemotherapie mit Platin, Frühgeborenenanämie und Eigenblutspende. Weitere kontrollierte Studien sind nötig, um bei unterschiedlichen nichtrenalen Indikationen Richtlinien für eine sinnvolle Anwendung geben zu können. Die Erfahrung mit chronisch Nierenkranken lehrt aber sicherlich, daß man dabei die pathophysiologische Relevanz einer chronischen Anämie nicht unterschätzen sollte. Von daher könnte der Einsatz von rhEPO durchaus in Situationen sinnvoll sein, in denen eine mäßige Anämie üblicherweise toleriert wird, solange sie nur mit Fremdblutgaben behandelt werden kann, wie bei vielen chronischen Erkrankungen, nach Blutverlusten aus unterschiedlicher Ursache, postoperativ oder bei Intensivpatienten. !

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vorübergehend in unterschiedlichen Zellen exprimiert wird, die daraufhin das Hormon sezernieren (30, 86). Obwohl solche Strategien noch weit vom klinischen Einsatz entfernt sind, ist durchaus nicht auszuschließen, daß sie nach weiteren zehn Jahren Erfahrung mit EPO als Therapeutikum zum Behandlungsrepertoire von Anämien gehören werden.

Grafik 4

L2 N 52

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Der Autor dankt Herrn Prof. Dr. med. U. Frei und Herrn Priv.-Doz. Dr. med. D. Kampf für Ihre Unterstützung bei der Erstellung des Manuskriptes.

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C 181

Zitierweise dieses Beitrags: Dt Ärztebl 1998; 95: A-285–290 [Heft 6] C

Die Bildung eines Dimers aus zwei EPO-Rezeptormolekülen ist Voraussetzung für die Aktivierung des EPORezeptors und damit die zelluläre Wirkung von EPO auf erythropoetische Vorläuferzellen. Dazu bindet normalerweise ein EPO-Molekül an die extrazellulären Komponenten von zwei Rezeptormolekülen, die sogenannten EPO-bindenden Proteine. Die Grafik zeigt eine dreidimensionale Darstellung eines Komplexes aus einem Dimer künstlich synthetisierter EPO-mimetischer Peptide (im Zentrum). Diese nur 20 Aminosäuren langen Peptide, die nicht mit EPO strukturverwandt sind, können die Funktion des 165 Aminosäuren langen EPOMoleküls ersetzen. Reproduziert aus Livnah et al. 1996.

Limitierend für einen umfassenderen Einsatz sind vor allem die Kosten, insbesondere auch weil die erforderlichen Dosen in diesen Situationen relativ hoch sind. Der derzeitige Preis für rhEPO ist mitbestimmt durch eine auf Dialysepatienten zugeschnittene Kalkulation, aber auch durch die Kosten der Herstellung in aufwendigen Säugetierzellkulturen. Nachdem zunächst ein gentechnologisches Produkt entwickelt wurde, das dem endogenen Hormon soweit als möglich entspricht, gehen Entwicklungsansätze deshalb heute schon dahin, das Molekül gezielt zu modifizieren, um beispielsweise die Stabilität und damit die Wirksamkeit zu erhöhen oder auch eine orale Einnahme zu ermöglichen. Eine andere aufsehenerregende Strategie gelang im letzten Jahr mit der Herstellung von einfachen, 14 bis 20 Aminosäuren langen, nicht mit EPO strukturverwandten Peptiden, die den EPO-Rezeptor in vivo und in vitro stimulieren und damit das Hormon möglicherweise völlig ersetzen können (Grafik 4) (45, 101). Dieses „Molecular mimicry“ gilt als Sensation im Bereich der BiotechnoloA-290

gie und könnte erhebliche Auswirkungen auf die Behandlungskosten und damit auch die Therapieoptionen haben. Auch gentechnologische Ansätze werden tierexperimentell verfolgt, bei denen ein modifiziertes EPO-Gen

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Sonderdruck beim Verfasser und über die Internetseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist. Anschrift des Verfassers

Priv.-Doz. Dr. med. Kai-Uwe Eckardt Abteilung Innere Medizin mit Schwerpunkt Nephrologie und Intensivmedizin Charité-Virchow-Klinikum Medizinische Fakultät der Humboldt-Universität Augustenburger Platz 1 13353 Berlin

Knochendichte und Brustkrebsrisiko bei postmenopausalen Frauen Frauen mit der höchsten radiologisch ermittelten Knochendichte haben ein erhöhtes Risiko, ein postmenopausales Mammakarzinom zu entwickeln. Dieser Zusammenhang zwischen der Knochendichte, die als Maß für die Höhe der körpereigenen Östrogenwerte genommen wurde, und dem Auftreten postmenopausaler Mammakarzinoma zeigte sich in einer Gruppe von 1 373 Frauen aus der Framingham Studie, bei denen in den Jahren von 1967 bis 1970 eine posterioanteriore Röntgenaufnahme der Hand gemacht wurde. In der Gruppe traten bis Ende 1993 insgesamt 91 Brustkrebsfälle auf, wobei die Frauen mit der dichtesten Korti-

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kalis am zweiten Metakarpalknochen überdurchschnittlich häufig betroffen waren (RR 3,5 im Vergleich zu 1,0 bei den Frauen der höchsten Quartile an Knochendichte im Vergleich zur niedrigsten Quartile). Die Hintergründe dieses Zusammenhangs sind bisher nicht völlig geklärt, die kumulative Wirkung körpereigener Östrogene könnte eine Rolle spielen. silk Zhang Y, Kiel DP et al.: Bone mass and risk of breast cancer among postmenopausal women, N Engl J Med 1997; 336: 611–617. Dr. Y. Zhang, Rm. b-612, Boston University Medical Center, 88 E Newton St., Boston, MA 02118, USA.