Erinnern Psychoanalytische Konzepte und Kontroversen

Habermas, T. (2010). ). Psychoanalyse als Erinnerungsforschung. In Eichenberg, C., Gudehus, C., & Welzer, H. (Hrg.). Handbuch Gedächtnis und Erinnerun...
Author: Klaudia Ritter
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Habermas, T. (2010). ). Psychoanalyse als Erinnerungsforschung. In Eichenberg, C., Gudehus, C., & Welzer, H. (Hrg.). Handbuch Gedächtnis und Erinnerung (S. 64-74). © München: Metzler.

Erinnern Psychoanalytische Konzepte und Kontroversen Tilmann Habermas Verdrängte Erinnerungen drängen auf Wiederkehr Für die Psychoanalyse ist das Gedächtnis von zentraler Bedeutung, da es einen dynamischen Begriff des Unbewussten erlauben muss. Es war die zentrale Idee Sigmund Freuds, dass psychische Symptome in einer motivierten Unkenntnis über uns selbst wurzeln. Symptome verstand Freud (1896) als Erinnerungssymbole, die verschlüsselt auf vergangene Erlebnisse verweisen so wie antike Ruinen auf historische Gebäude und Lebensweisen. Im Unterschied zum Archäologen, der allein die Schichten der Zeit abzutragen und Verstümmelungen des Verfalls zu entschlüsseln hat, sehe der Psychoanalytiker sich jedoch einer weiteren Kraft gegenüber, der der Verdrängung. Denn Symptome entstünden erst durch den aktiven und motivierten Ausschluss von Erlebnissen aus der Erinnerung, der nur mehr verzerrte Erinnerungssymbole zulasse. Motiviert werde die Verdrängung durch den seelischen Schmerz, den traumatische oder konflikthafte Erinnerungen hervorrufen. Diese Idee impliziert ein Modell des Gedächtnisses,  das wichtige Erlebnisse nicht vergisst: „Alles Wesentliche ist erhalten, und selbst was vollkommen vergessen scheint, ist noch irgendwie und irgendwo vorhanden, nur verschüttet, der Verfügung des Individuums unzugänglich gemacht“ (Freud 1937, 46); Verzerrungen und Verluste treten demnach weder bei der Aufnahme noch während des Behaltens von Informationen auf, sondern beim Erinnern;  das eine Form der Speicherung erlaubt, die nicht intentional zugänglich ist – das dynamisch Unbewusste;  in dem verdrängte Erinnerungen aktiv bleiben und auf Äußerung drängen, im Falle der Hysterie durch ein Symptom – die Wiederkehr des Verdrängten;  in dem eine psychische Funktion über die Erträglichkeit von Erinnerungen wacht und sie gegebenenfalls verdrängt bzw. transformiert – Freuds Zensur bzw. Abwehr des Ichs. Freuds Vorstellungen davon, was verdrängt wird, veränderten sich mit der Entwicklung seines Werkes. In dem anfänglichen Modell einer traumatischen Genese der Hysterie sind es Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit, die verdrängt werden und als Symptom wiederkehren. Allerdings trifft Freud hier auf einige Schwierigkeiten, denn er musste erklären, weshalb nicht sofort nach dem Missbrauch Symptome entstanden, sondern erst im Erwachsenenalter. Dazu führte Freud (1896) den Begriff der Nachträglichkeit ein, der nachträglichen Wirksamkeit von erinnerten Erlebnissen, wenn sie durch rezentere Ereignisse eine neue Bedeutung erhalten. Im Falle der Hysterie, so Freuds frühes Modell, könne das Mädchen erst ab der Pubertät die sexuelle Bedeutung der Missbrauchshandlungen und deren Unzulässigkeit verstehen. Um die schlummernden Erinnerungen zu wecken, bedarf es allerdings eines daran erinnernden Erlebnisses im Erwachsenenalter. Erst dann setzen die Verdrängung und damit zugleich die Symptombildung ein. Auch bei anderen Neurosen vermutet Freud als pathogenetische Kraft die Verdrängung von Erinnerungen an sexuelle Kindheitserlebnisse. Bei der Zwangsneurose beispielsweise handele es sich allerdings neben der Erinnerung an sexuellen Missbrauch auch um die Erinnerung an eigene sexuell

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getönte aggressive Handlungen. Bei der Zwangsneurose führt Freud ein weiteres mögliches Schicksal verdrängter Erinnerungen ein. Denn in der Pubertät beginne die Erinnerung Selbstvorwürfe auszulösen, die zu Verdrängung der Erinnerung führe und zur Entwicklung von Charaktereigenschaften, die ebenfalls der Abwehr dienten, wie Gewissenhaftigkeit, Schamhaftigkeit und Selbstmisstrauen. Erst bei einer Wiederkehr des Verdrängten im Erwachsenenalter, ausgelöst durch innere oder äußere Umstände, entstehe die Notwendigkeit einer zweiten Abwehraktion, die diesmal zu Zwangssymptomen führen könne. Ein drittes Schicksal der verdrängten Erinnerungen führt Freud mit dem Begriff der Übertragung ein, nämlich das Schicksal, in sich wiederholende Handlungsmuster umgesetzt zu werden. Bei sich bietenden Gelegenheiten werden traumatische oder konflikthafte verdrängte Erlebnisse unbewusst reinszeniert. Auch hier wieder bietet die Hysterie das Modell, nämlich die Tendenz, Andere in Inszenierungen und in starke, aus der Entfernung als übertrieben oder unangemessen erlebte Gefühle zu verwickeln. Eigentlich in eine historische Situation gehörende Gefühle und Handlungen werden auf aktuelle signifikante Andere übertragen, ohne dass die Person dessen gewahr würde – sie hält ihre Gefühle und Handlungen für einzig und allein in der gegenwärtigen Situation begründet. Wege zur Erinnerung Es finden sich bei Freud fünf Wege zum Verdrängten, die zugleich ein Licht auf sein Verständnis des Erinnerns werfen. 1. Seine erste Methode war die Hypnose, mit der er die Verdrängung meinte zu umgehen und direkten Zugriff auf die Wissensbestände der Patientinnen zu erlangen. Da posthypnotisch die Verdrängung nicht nachhaltend aufgehoben werden konnte, sondern wieder in ihr Recht gesetzt wurde, entwickelt er die Methode der freien Assoziation. In dieser wird der Patient durch eine liegende Position und minimale Stimulierung in eine entspannte, meditative Stimmung versetzt, so dass er sich möglichst ungelenkten Einfällen überlassen kann. Denn erfahrungsgemäß wirkt die Zensur stärker bei gerichtetem Erinnern als beim ungelenkten Gedankenfluss. Nach Martin Conways Modell vom autobiographischen Gedächtnis (siehe Kapitel II.1) wird beim Bewusstseinsstrom oder freiem Assoziieren nicht top-down, schemageleitet erinnert, sondern reizgesteuert direkt auf konkrete Erinnerungen oder Teile davon zugegriffen. Die Reize des unwillkürlichen Erinnerns sind beim freien Assoziieren nicht Wahrnehmungen der Umwelt, sondern der Gedankenfluss, bei dem ein Einfall zum nächsten führt. Die so entstehenden Bruchstücke und Sequenzen scheinbar unverbundener Einfälle lassen sich dann neu zusammensetzen und zu Hinweisen auf aktuelle Konflikte und vergangene Episoden ergänzen. Dies geschieht durch Deutungen von Abwehrmechanismen, mittels derer die Zensur Erinnerungen und Wünsche verzerrt, und durch Deutungen von Ängsten und abgewehrten Wünschen. Deutungen können dann zu weiteren Erinnerungen führen. 2. Eine besondere Form, wenn man so möchte, des freien Assoziierens sah Freud im Traum. Diese ungelenkten Träume, ähnlich auch die etwas stärker gelenkten Tagträume und überhaupt Fantasie sind nach Freuds Vorstellung wenig zensiert, da der Realität und Umsetzung enthoben, und damit besonders wunschnah. Wilfred Bion sollte später den erstrebenswerten Zustand des Analytikers, den Freud gleichschwebende Aufmerksamkeit genannt hat, als rèverie, als Wachträumen bezeichnen, in dem er offen für die unbewusste Kommunikation des Patienten ist. 3. Ein dritter Weg, Erinnerungen wachzurufen, sind Konstruktionen oder Rekonstruktionen des Analytikers. Dieser konstruiert aufgrund verschiedener Hinweise ein Modell davon, wie er sich bestimmte Kindheitserfahrungen des Patienten so vorstellen kann, dass sie zu den neurotischen Symptomen, Handlungs- und Erlebnisweisen sowie den freien Einfällen passt. Konstruktionen erklären Symptome, insofern sie einen plausiblen kindlichen Erfahrungshintergrund und Konflikte darlegen, die die im erwachsenen Leben des Patienten unpassend erscheinenden Symptome motivieren könnten. Freud anerkannte 1937 den hypothetischen Charakter von Konstruktionen, die aber gleichwohl indirekte Bestätigung durch den Patienten erfahren können. In der Fallgeschichte des

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Wolfsmannes spielt die Konstruktion der sogenannten Urszene, also des kindlichen Erlebens des elterlichen Beischlafs, die zentrale Rolle. Gerade in dieser Fallgeschichte meinte Freud, eine tatsächliche Begebenheit rekonstruiert zu haben, auch wenn er konzidiert, dass man sich des Anteils an fantasierten Elementen nie sicher sein könne. Gerade die nach Meinung Freuds ubiquitären Szenen wie die Urszene, die Verführung durch ein Elternteil und die Kastrationsdrohung enthalten aber häufig einen erheblichen Fantasieanteil, der sich meist nicht vom Erinnerungsanteil scheiden ließe. Aber an der Wirksamkeit dieser Urfantasien ändere deren lebensgeschichtlicher Realitätsgehalt wenig – sie strukturierten ohnehin das psychische Innenleben und könnten pathogen wirken. Hier zeigt sich in verschiedenen Schriften Freuds eine gewisse Bandbreite seiner Auffassungen davon, ob Konstruktionen die historische Realität in Form von Erinnerungen und Bestätigungen durch Dritte erreichen können. 4. Ein weiterer Weg zu verschütteten Erinnerungen führte für Freud (1899) über die bewussten Kindheitserinnerungen. Allerdings seien diese in der Regel entstellt und verdichtet. Freud entlarvt eine eigene Kindheitserinnerung aufgrund historischer Inkompatibilitäten als Fälschung und Verdichtung von entstellten Erinnerungen aus verschiedenen Lebensphasen. Freud beschreibt eine Kindheitsamnesie, also Unfähigkeit, sich an die ersten 2 bis 3 Lebensjahre zu erinnern, sowie eine verminderte Fähigkeit, sich an die folgenden Jahre bis ungefähr zum 6. bis 8. Lebensjahr zu erinnern. Er erklärt dies mit dem späten Wirksamwerden der Verdrängung (durch die Errichtung des Über-Ichs, wie er später sagen würde), weshalb die noch ungefilterten Triebäußerungen aus den ersten Lebensjahren der Verdrängung bzw. der systematischen Verzerrung anheim fielen. Daraus entstünden Deckerinnerungen, also harmlos wirkende Kindheitserinnerungen, die Erinnerungen an trieb- und damit konflikthaftere Erinnerungen sozusagen verdeckten. Damit sind zwar Kindheitserinnerungen in der Regel nicht als bare Münze zu nehmen, können aber Hinweise auf die verdrängten Erinnerungen an Kindheitserlebnisse geben. Alfred Adler hat Kindheitserinnerungen noch deutlichere Aufschlüsse zugestanden, insofern sie zentrale Lebensthemen enthielten. In Ahnlehnung an den Emotionspsychologen Sylvan Tomkins wurden früheste Kindheitserinnerungen später als Kernepisoden gedeutet, in denen sich zentrale, in der Kindheit verwurzelte Konflikte und Beziehungsmuster spiegeln. Ernst Kris (1956) beschreibt, wie Teile oder gar die gesamte Lebensgeschichte als ein persönlicher Mythos verwendet werden können. Wie einzelne Deckerinnerungen, aber wesentlich umfassender, dient er der Abwehr der Erinnerung an schmerzliche Erinnerungen. Der persönliche Mythos ist eine ausgearbeitete, aber starre und wesentlich verzerrte Version des eigenen Lebens, die wesentliche Dinge auslässt. Diese Patienten vermeiden es, ihre Lebensgeschichte anderen darzulegen. Sie halten mit aller Macht an ihrer Version ihres Lebens fest. Otto Kernberg erweitert die Definition des persönlichen Mythos als Lebenserzählung einer fantasierten vergangenen Beziehung zu einem geliebten Anderen, die eine wesentliche Abwehrfunktion für das Selbstbild beispielsweise als unschuldiges Opfer hat. Nach Kernberg tendieren insbesondere Patienten mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu derart rigide verteidigten Auffassungen ihrer persönlichen Vergangenheit. Zur Verleugnung und Idealisierung neigende Menschen, also beispielsweise Menschen mit einer unsicher-vermeidenden Bindung oder sogenannte Repressor, die bedrohliche Wahrnehmung vermeiden, erinnern weniger und weniger frühe spezifische Kindheitserlebnisse, was insofern zu Kernbergs Beobachtung passt, als spezifische Erinnerungen glatte, einseitige Deutungen der Vergangenheit in der Regel erschweren. 5. Ein letzter, und aus heutiger Sicht der wesentliche Weg, um verdrängte Erinnerungen zu reaktivieren, ist die Übertragung konflikthafter Beziehungsmuster und dazugehörender Wahrnehmungen, Gefühle und Handlungstendenzen durch den Patienten von einem historischen Liebesobjekt auf den Analytiker. Die durch die intime Behandlungssituation – hohe Behandlungsfrequenz, Liegeposition, relative Anonymität des Analytikers, Einseitigkeit der intimen Selbstoffenbarung, verständnisvolle und nicht urteilende Anteilnahme – begünstigte Entwicklung heftiger erotischer Gefühle von Patientinnen und auch Behandlern, die die Behandlung insgesamt gefährdeten, verwandelte Freud in ein Behandlungsmittel, ja in das zentrale Mittel, Patienten zu verstehen, indem er diese Gefühle als nicht auf die aktuelle, sondern eine historische Situation

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bezogen verstand. Damit verrät sich in den der aktuellen Behandlungssituation nicht angemessenen Erlebnis- und Handlungsweisen des Patienten ein neurotisches Persistieren einer unbewältigten Vergangenheit. Die emotional abhängige Position des Patienten gegenüber dem Therapeuten erleichtert es, Erinnerungen an analoge Situationen hervorzurufen, also vorzugsweise an Situationen aus der eigenen Kindheit mit den Eltern. Denn über die aktuellen situativen und emotionalen Reize gelingt es am ehesten, verschüttete Erinnerungen zu reaktivieren, und zwar erst einmal als Einfärbung der Wahrnehmung der gegenwärtigen Situation, also als Übertragung. Gelingt es, den Patienten davon zu überzeugen, dass sein Erleben und Handeln nicht ganz realitätsangemessen ist, kann mit ihm nach lebensgeschichtlichen Situationen gesucht werden, in die es besser passt: Aus einem Wiederholen in der Übertragung wird ein Erinnern. Die Vergangenheit verliert ihre Macht über die Gegenwart dadurch, dass sie erinnert und damit in der Vergangenheit platziert wird. Umgekehrt, so Freud, kann der Einfluss der Vergangenheit nur in der Gegenwart gelöst werden – historische Konflikte können nur soweit sie aktuell sind, im Kontext der Übertragung gelöst werden. Wenn Übertragungskonflikte verstanden und gelöst werden, erlaubt dies, zwischen Gegenwärtigem und Vergangenem zu unterscheiden – eine wesentliche Komponente des Erinnerns. Die durch Sandor Ferenczi vorbereitete Entwicklung in den sogenannten Objektbeziehungstheorien der 1940er Jahren (Ronald Fairbairn, Melanie Klein, Michael und Alice Balint, Donald Winnicott, John Bowlby), die Behandlungsdauer von psychoanalytischen Behandlungen zu verlängern und die entscheidenden Entwicklungskonflikte vom Vorschulalter in das erste Lebensjahr zu verlegen, an das man sich in der Regel nicht mehr erinnert, erschwerte es wesentlich, Freuds Maxime vom Verwandeln des in der Übertragung Wiederholten in Erinnern zu realisieren. Der Begriff der Übertragung wurde insbesondere bei Balint und Winnicott durch den der therapeutischen Regression überlagert, in der der Patient sich so auf den Therapeuten und das therapeutische Setting verlassen kann, dass er in den Sitzungen emotional in eine starke Abhängigkeit vom Analytiker gerät. Das ermöglicht es, archaische Ängste der psychischen Desintegration und des Verrücktwerdens zu erleben, gegen die eine Charakterabwehr etabliert worden war. Diese Ängste gehören ursprünglich in das erste Lebensjahr und werden mithin wieder erlebt, können aber kaum bewusst erinnert werden. In der Variante der Objektbeziehungstheorie von Melanie Klein löst sich der historische Bezug neurotischer Muster ganz auf und wird ersetzt durch ein zwar aus dem ersten Lebensjahr stammendes, aber immer präsentes Innenleben unbewusster Fantasien. Freuds Gedächtnismodelle Bei Freud lassen sich zwei Modellvorstellungen vom Gedächtnis unterscheiden. Freuds erstes Gedächtnismodell war ein neuronales Netzwerkmodell mit zwei wesentlichen Ebenen, einer morphologischen Ebene der Nervenarchitektur und einer dynamischen Ebene der entlang der Nervenbahnen verschiebbaren Energie. In dem Modell vertreten die Nerven Vorstellungen. Die Verknüpfung von Nerven bildet Assoziationen von Vorstellungen ab. Assoziation bedeutet hier, dass beim freien Gedankenfluss ein Gedanke zum nächsten, eben assoziierten Gedanken führen kann. Die Energie oder Libido ist im Grunde sexueller und motivationaler Natur, bildet doch das Besetzen eines Nervs mit Libido ab, dass die entsprechende Vorstellung erwünscht wird. Entsprechend bedeutet die Besetzung einer Vorstellung mit Libido zugleich, dass eine vorbewusste, präreflektiv gegebene Erinnerung oder Wissen mit der Besetzung mit Energie bewusst wird, so dass der Wunsch bewusst verfolgt und realisiert werden kann. Vergessene Erlebnisse sind, sofern sie halbwegs wichtig waren, als Nerv gespeichert, jedoch nicht aktiviert. Normale, vorbewusste Erlebnisse können durch Suchen und gezielte Erinnerungsversuche gefunden und erinnert werden. Verdrängte Erlebnisse hingegen, die ihre Bedeutung und Bedrohlichkeit durch ihre Wunschkomponente erhalten, sind durch sogenannte Gegenbesetzungen gegen das Bewusstwerden geschützt. Freuds Zugang zu verdrängten Erinnerungen mittels freier Assoziationen wird in dem Modell abgebildet als ein Gleitenlassen der Libido (Aufmerksamkeit, Bewusstsein) über die Nervenbahnen.

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Abbildbar sind in dem Modell Abwehrmechanismen wie das Verschieben eines Wunsches oder einer Emotion von einer Person auf eine andere als Verschieben der Libido von einem Nerv auf einen assoziierten, wobei hier die eigentlich qualitätslose Libido doch die Qualität bestimmter Wünsche oder Emotionen annimmt. Wenn eine Vorstellung nach Verschiebung durch eine assoziierte Vorstellung vertreten wird, handelt es sich um eine Metonymie, die mit der ursprünglichen Vorstellung durch raumzeitliche Kontiguität verknüpft ist, also durch ein gemeinsames Auftreten zum selben zeitpunkt am selben Ort. Ein weiteres Kriterium für eine Assoziation kann Ähnlichkeit sein, so dass durch den Mechanismus der Verdichtung mehrere Vorstellungen durch eine einzige, je ähnliche Vorstellung vertreten werden können, also durch eine Metapher. Andere Abwehrmechanismen, die eine Vorstellung oder Erinnerung verzerren, können jedoch nicht in dem Modell abgebildet werden. In seinen metapsychologischen Schriften von 1915 modifiziert Freud diese Vorstellung, indem er unbewusste von vorbewussten, also bewusstseinsfähigen und bewussten Erinnerungen und Vorstellungen dadurch unterscheidet, dass letztere sprachlich gefasst seien, jene aber lediglich Dingvorstellungen enthielten, also in einem Wahrnehmungsmodus, vor allem dem visuellen, gespeichert seien. In seinem späteren Vergleich des menschlichen Gedächtnisses mit dem Wunderoder Zauberblock jedoch nutzt Freud die Metapher der Inschrift für das Gedächtnis, und unterscheidet ein bewusstes Kurzzeit- von einem unbewussten Langzeitgedächtnis, das ebenfalls eine Niederschrift aufbewahre. Das Unbewusste kenne weder Zeit noch Widerspruch oder logische Verknüpfungen, wie sie durch Konjunktionen ausgedrückt werden, weder Negation noch eine Prüfung auf Plausibilität und mithin keine abgestufte Sicherheit des Wissens, wie sie durch epistemische Modalworte ausgedrückt werden. Motive für das Verdrängen oder Verzerren von Erinnerungen sind bei Freud primär die Peinlichkeit sexueller Wünsche, die sich in Erinnerungen offenbaren, aber auch aggressiver Wünsche und Handlungen, die beide gegen eigene Moralvorstellungen verstoßen. Ein weiteres Motiv sind Erinnerungen, die gegen die Idealvorstellungen von einem selbst verstoßen und eventuell Scham hervorrufen könnten. Man erinnert sich also als moralischer und idealer als man tatsächlich ist und war. Ein weiteres Motiv, das bei Freud weitgehend implizit bleibt, ist das Vermeiden negativer, schmerzlicher Emotionen. Motive für Abwehr, die sich auf andere Personen beziehen, wie der Wunsch, andere beispielsweise als nur gut oder schlecht zu sehen, um Ambivalenzkonflikten zu entgehen, wurden erst von den Objektbeziehungstheoretikern formuliert. Diese formulierten auch weitere Formen der Abwehr und Verzerrung von Erinnerungen, die sich auf die Erinnerung von Personen beziehen, wie das Idealisieren und Entwerten oder das Spalten in Gut und Böse. Die Objektbeziehungstheorien postulieren auch ein neues Format der Speicherung von Erfahrungen im Gedächtnis, nämlich Beziehungsmuster, in denen sich wiederholte Erfahrungen, verzerrt durch Wünsche und Abwehrmechanismen, kondensieren. Soweit Freuds Vorstellungen und die seiner unmittelbaren Nachfolger. In einem Sprung in die rezente Vergangenheit werden im Folgenden neuere psychoanalytische Vorstellungen vom Erinnern und Gedächtnis anhand dreier Kontroversen entfaltet, die die letzten beiden Jahrzehnte beherrscht haben: Die Frage, ob traumatische Erfahrungen historisch getreu zu rekonstruieren und erinnern seien, dann die Frage, ob überhaupt eine zumindest subjektiv plausible Lebensgeschichte in der Therapie zu rekonstruieren sei, oder ob es ausreicht, unformulierte Regungen in Einfälle und Geschichten zu übersetzen, ungeachtet ihrer Fiktionalität bzw. Veridikalität. Abschließend kommt der Trend zur Sprache, aus der Literatur zu bildgebenden Verfahren des Gehirns experimentalpsychologische Gedächtniskonzepte unreflektiert zu übernehmen. Müssen und können traumatische Vorfälle historisch zutreffend rekonstruiert werden? Die Kontroverse begann in der akademischen Psychologie und der US-amerikanischen Öffentlichkeit in den späten 1980er Jahren. Sie spitzte zwei Positionen Freuds zu einander ausschließenden Thesen zu, nämlich ob sexueller Missbrauch in der Kindheit überhaupt verdrängt und dann erst im

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Erwachsenenalter wieder erinnert werden kann, oder ob Erinnerungen an sexuellen Missbrauch in der Kindheit, die im Erwachsenenalter in einer Psychotherapie erstmals auftauchen, ein Produkt suggestiven Nachforschens bzw. ödipaler Fantasien sei. Die Kontroverse wurde heftig und im Einzelfall auch juristisch geführt. Die Dichotomie war schon etwas merkwürdig, da Freud zwar seine Traumatheorie der Entstehung der Hysterie durch sexuellen Missbrauch aufgegeben, nicht aber jeglicher traumatischen Ätiologie abgeschworen hatte, sondern sowohl die Färbung von Erinnerungen durch Wünsche, in diesem Fall inzestuöse Wünsche, wie aber auch tatsächlich traumatische Erinnerungen anerkannte. Eine traumatische Verursachung neurotischer Symptome war einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg in Misskredit geraten, und in der Psychoanalyse überwog die Überzeugung, dass Neurosen durch intrapsychische Konflikte verursacht seien. Die Rolle der kindlichen Umwelt wurde dann durch Figuren wie Donald Winnicott und John Bowlby wieder in ihr Recht gesetzt. Der Bedeutung traumatischer Erlebnisse allerdings wurde erst durch die Veteranen des Vietnamkriegs und deren psychoanalytisches Sprachrohr, Mardi Horowitz, zu ihrem Recht verholfen. Innerhalb der Psychoanalyse bewirkte eher die Erforschung und Anerkennung der langfristigen psychischen Folgen der Shoa – z.B. in der Langzeitstudie von Keilson – sowie die in den 1980er Jahren zunehmende Bereitschaft der Opfer und ihrer Kinder, unter ihnen viele Psychoanalytiker, sich mit der Shoa und ihren Auswirkungen zu öffentlich beschäftigen, eine Neubewertung der Rolle traumatischer Erfahrungen für die Entstehung psychischer Symptome. Das ist für die Gedächtniskonzeption der Psychoanalyse insofern von Belang, als es heute viele Psychoanalytiker für wesentlich erachten, die historischen Realitäten der Opfer- und Täterschaft anzuerkennen, und nicht Schuld zu verleugnen bzw. erlebte Ohnmacht, Lebensbedrohung und Traumatisierung zu einer Fantasie und Retrojektion zu verniedlichen, die, so etwa Keilson oder Grubrich-Simitis, zu einer Sekundärtraumatisierung führen können. Die Anerkennung der historischen Realität sei wesentlich, um nicht psychotische Verzerrungen in der Realitätswahrnehmung zu induzieren. Neben der Debatte über die richtige Behandlungstechnik, also ob historische Begebenheiten richtig zu rekonstruieren seien, ob es sich nun um selbsterlebte oder von den Eltern erlebte und an die nächste Generation unbewusst weitergereichte traumatische Erlebnisse handelt, spielt die derart erfolgte Wiedereinführung traumatischer Verursachung in die Psychoanalyse eine Rolle für die Gedächtniskonzeption. Im Extrem wird vertreten, dass in der Übertragung sehr, sehr frühe Erlebnisse erinnerbar seien, sofern es sich um traumatische Erlebnisse handelt. Dies wird damit begründet, dass traumatische Erfahrungen, wie schon Freud bezüglich der traumatischen Kriegsneurosen meinte, sich durch einen Wiederholungszwang auszeichnen, also eine unkontrollierbare Wiederkehr traumatischer Szenen im Traum wie im Wachleben, wenn es erinnerungsauslösende Reize gibt. Traumatische Wiederholungen hatte Freud als den Versuch gedeutet, Unerledigtes später doch noch psychisch zu verarbeiten. Traumatische Flashbacks, wie sie der vormalige LSD-Forscher Mardi Horowitz 1976 nannte, zeichnen sich durch ihre Unkontrollierbarkeit und auffallende Unpassendheit aus. Sie können partiell sein, also lediglich isolierte Aspekte der traumatischen Situation wieder aufblitzen lassen. Doch soweit traumatische Erfahrungen im Erwachsenenalter erlebt wurden, werden sie in der Regel erinnert und unterliegen keiner vollständigen Amnesie. Leonore Terr, die mit traumatisierten Kindern arbeitete und über unabhängige Berichte über die Traumatisierungen durch sexuellen Missbrauch und Entführung verfügte, bestätigte 1990 auch für Kinder, dass sie sich an traumatische Erfahrungen erinnern. Nur Kinder, die jünger als 2 bis 3 Jahre zum Zeitpunkt der Traumatisierung gewesen waren konnten sich nicht bewusst erinnern. Dennoch verfügten auch sie über eine nichtverbale Erinnerung an das Traumageschehen, wie sich in repetitiven Handlungen, Zeichnungen und spezifischen körperlichen Sensibilitäten zeigte, die in Einzelfällen verständlich wurden, wenn sie aufgrund von Aktenunterlagen, Fotos oder Zeugenaussagen Dritter historisch kontextualisiert werden konnten. Bei anhaltenden Situationen der wiederholten Traumatisierung, wie sie bei häuslichem Missbrauch und bei Internierung typisch ist, können einzelne Erinnerungen

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verblassen. Das führt Terr auf das Erlernen dissoziativer Techniken zurück, mit denen Opfer sich davor schützen, die Traumatisierung jedes Mal hautnah miterleben zu müssen. Die Nichtverarbeitung von traumatischen Erfahrungen wird seit Freud und Janet daran geknüpft, dass diese nicht vergehen wollen und somit nicht zur Vergangenheit werden. In einer gängigen Interpretation heißt das, dass sie nicht als auf die Vergangenheit verweisende Geschichte erzählbar, sondern nur wiedererlebbar sind. Janet hatte 1929 auf die nicht erfolgte Integration des Erlebnisses in die Lebensgeschichte verwiesen, also ein Nichtakzeptieren der Ursachen und Folgen des Ereignisses und der Implikationen bezüglich der eigenen Person. Das veranschaulichte er an einer Patientin, die Szenen vom Tag vor dem Tod ihrer Mutter immer wieder neu erleben musste, da sie den Tod verleugnete. In einer anderen Variante wird der traumatische Charakter eines Erlebnisses daran festgemacht, dass es nicht als integrale Geschichte, sondern nur fragmentiert erzählbar sei. Laub und Auerhahn stellten 1993 die These auf, dass das Ausmaß der traumatischen Wirkung von Erlebnissen an den Grad ihrer Darstellbarkeit und Erzählbarkeit gebunden sei, und erstellten eine Rangfolge von acht Graden der Symbolisierung traumatischer Erfahrungen. Diese gehen von der bedrohlichen Wirkung bestimmter Geräusche über persistierende Verleugnungen und eine distanzlose Erzählweise, in der der Erzähler sich wie in die Vergangenheit zurückversetzt erlebt, bis hin zu einer Erzählweise, in der der Erzähler zwischen damaligem Erleben und heutiger Erzählperspektive unterscheidet und sich zwischen beiden hin und her bewegen kann. Laub und Auerhahn verknüpfen die Schwierigkeiten des Versprachlichens und Erzählens insbesondere bei Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern mit der zerstörerischen Erfahrung des Verlusts jeglichen menschlichen Gegenübers. Der innere Ansprechpartner, das innere Gegenüber, dem man beim Erinnern erzählt und das für das Erinnern notwendig ist, ist nicht mehr verfügbar bzw. zerstört, so dass Erinnern unmöglich geworden ist. Aufgabe des Analytikers sei es, einen sicheren, empathischen Anderen zu ermöglichen, der mit dem Patienten auch aufgrund eigener historischer Kenntnisse gemeinsam eine Vergangenheit konstruiert, die der Patient so noch nie repräsentiert hat. Hier wird nicht eine bereits versprachlichte und dann verdrängte Erfahrung erinnert, sondern eine Vergangenheit aufgrund von nichtsprachlichen Erinnerungen und Erinnerungsfragmenten sowie zusätzlichen Kenntnissen aus anderen Quellen erstmals sprachfähig gemacht. In einem sehr unterschiedlichen historischen Kontext, nämlich dem Alltag einer weitgehend zivilisierten Gesellschaft bezweifeln viele analytische Autoren die Möglichkeit, sich plötzlich wieder an traumatische Erfahrungen aus der Kindheit zu erinnern, nämlich sexuellen Missbrauch, der zuvor jahrzehntelang vergessen war. Hierfür werden klinische Erfahrungen und systematische empirische Studien angeführt. Damit begründen sie ihre grundlegende Skepsis, ob das Aufdecken von historisch zutreffenden, völlig neuen Erinnerungen überhaupt möglich sei. Der Widerspruch zu Dori Laubs Position ist ein relativer, wenn man bedenkt, dass es Laub nicht um die völlige Rückkehr der Erinnerung geht, sondern die Rekonstruktion wahrscheinlicher traumatischer Kontexte für Erinnerungsfragmente in extrem traumatisierenden historischen Umständen. An diesem Punkt wird der mögliche Einfluss von Schuldgefühlen auf das Erinnern deutlich. Denn das tatsächliche oder auch nur imaginäre Erinnern von Situationen, in denen man Opfer einer Aggression war, kann auch dazu dienen, Schuldgefühle abzuwehren, um nicht eigene Anteile am Zustandekommen von Situationen anerkennen zu müssen. Andererseits kann das Ausblenden oder eigene bzw. fremde Nichtanerkennen von traumatischen Erfahrungen beispielsweise von Inzestopfern durch Schuldgefühle motiviert sein und seinerseits depressive Gefühle verstärken. Eine Lebensgeschichte verantworten, oder nur passende Geschichten erzählen? Gegenüber dem Unterfangen, in der Analyse ein Erlebnis historisch getreu zu rekonstruieren, lässt sich einmal einwenden, dass dies therapeutisch gar nicht nötig sei, da in der Regel nicht einmalige Ereignisse, sondern wiederholte Erlebnisse bzw. die Qualität der Beziehungen zu den Eltern und darin enthaltende Konflikte die strukturbildenden und pathogenetisch relevanten Faktoren sind. Weiterhin lässt sich einwenden, dass in der Regel Patient und Therapeut die Veridikalität von Erinnerungen

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nicht überprüfen können. Deshalb komme es vielmehr auf eine nicht allzu lückenhafte und plausible Rekonstruktion der Vergangenheit des Patienten an, die helfe, seine gegenwärtigen Konflikte und Probleme zu verstehen. Roy Schafer (1983) legt bei der Rekonstruktion der Vergangenheit weniger Wert auf die Veridikalität der Rekonstruktion denn darauf, dass sie die gegenwärtigen unflexiblen, erstarrten Erlebens- und Handlungsweisen des Patienten verständlich machen, indem sie sie in eine nachvollziehbare Geschichte einbetten. Sie muss auch die Motive dafür erklären können, dass die bisherige Geschichte unvollständig, verzerrt oder widersprüchlich war. Vor allem aber, so Schafer, zeichnen sich neurotisch verzerrte Lebensgeschichten dadurch aus, dass ihr Autor sein Leben nicht verantwortet, sondern sich als Opfer fremder Schicksalsmächte ausweist, da der Kern neurotischer Symptomatik ja die Verleugnung eigener Motive sei, die anzuerkennen zu schmerzlich sei. Ziel der Psychoanalyse sei es mithin, dem Patienten zu ermöglichen, sein Leben so zu erinnern und zu erzählen, dass er die eigenen Motive und Handlungen als eigene anerkennt, statt sie Umständen und traumatischen Erlebnissen zuzuschreiben. Das schließt nicht aus, omnipotente Verzerrungen der Erinnerung, in denen die eigene Ohnmacht verleugnet wird, um die Schmach und Demütigung nicht erleben zu müssen, ebenfalls zu korrigieren. Der insgesamt erweiterte Handlungsspielraum, den der Patient sich so retrospektiv zugesteht, lasse ihn zugleich eines auch prospektiv erweiterten Handlungsspielraums gewahr werden. Die Arbeit in der psychoanalytischen Therapie erfordere mithin weniger das Erinnern neuer historischer Fakten oder Begebenheiten als vielmehr die erneute Bewertung, Verknüpfung und Deutung der persönlichen Vergangenheit, also weniger eine Revision dessen, was erinnert wird, als vielmehr, wie es erinnert wird. Dies erfordert eine deutende Tätigkeit des autobiographischen Urteilens in Auseinandersetzung mit den erinnerten Episoden. Als weiteres Argument gegen den primären Anspruch auf historische Rekonstruktion zugunsten des moderateren Anspruchs auf die Konstruktion einer verantworteten Lebensgeschichte führt Schafer an, dass diese Lebenserzählung im Grund ko-konstruiert werde von Patient und Analytiker, und folglich bei jedem Patient-Analytiker-Paar etwas anders ausfallen würde. Das psychoanalytische Gedächtnismodell hat sich so unter der Hand gewandelt. Denn erinnert werden nach Schafer nicht mehr Sachvorstellungen, sondern interpretierte und bewertete Episoden und Sachverhalte. Erinnern erweitert sich hier zu einer situativ und in einer Beziehung verankerten Tätigkeit, die auf Kooperation angewiesen ist. Die Auswahl und Relevanzsetzungen der Erinnerungserzählungen werden durch die aktuellen Übertragungskonflikte und Reaktionen und Deutungen des Analytikers maßgeblich beeinflusst. Gleiches gilt für das Zulassen und Offenbaren von Erinnerungen und der durch sie ausgelösten Emotionen, deren Berichten wiederum den weiteren Verlauf des Erinnerns beeinflusst. Die Deutungen des Analytikers und der Prozess des gemeinsamen Ringens um ein Verständnis gehen verdichtet in das zukünftig erinnerte Leben ein. Noch weiter radikalisiert haben diese Position manche Analytiker, die den interpersonalen Charakter des analytischen Prozess zum Angelpunkt ihres Verständnisses erheben. Wenn erstens die Aufgabe der Analyse darin besteht, aktuelle nichtverbale Regungen in Worte zu fassen, und wenn zweitens diese Regungen von Patienten und, hoffentlich zu geringerem Anteil, vom Analytiker stammen, dann sind alle Einfälle und Deutungen, die das Feld beeinflussen und motivieren, nur innerhalb der aktuellen Beziehung zu verstehen und notwendig eine Koproduktion. Ferro fasst das mit der gelungenen Metapher vom bipersonalen Feld. In dieser überraschenden Aufnahme von Kurt Lewins Kritik an der historischen Orientierung der Psychoanalyse – dieser verlangte, dass alle beteiligten Kräfte im aktuellen Feld wirksame Kräfte zu sein hätten – radikalisiert Antonino Ferro (2009) Schafers Position, indem er darauf besteht, dass alle Einfälle und Erzählungen immer dem aktuellen bipersonalen Feld entspringen. Deshalb sei es letztlich unwichtig, ob die Einfälle und Erzählungen sich auf die persönliche Vergangenheit des Patienten beziehen, auf seinen Alltag, einen Nacht- oder Tagtraum, oder auf die therapeutische Beziehung. Für die therapeutische Wirksamkeit sei allein bedeutsam, dass die aktuellen nichtverbalen Regungen des bipersonalen Feldes zur Sprache finden, durch Einfälle und Bilder, die zu einer Geschichte zusammengefügt werden. Erinnerung spielt in dieser radikal interpersonalen Psychoanalyse keine Rolle mehr. Was in der Vergangenheit

Erinnern – Psychoanalytische Konzepte und Kontroversen

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problematisch und konfliktreich war, ist nur von Bedeutung, sofern es sich in der therapeutischen Beziehung abbildet und im bipersonalen Feld einen Resonanzraum findet. Nicht mehr die lebensgeschichtliche Erklärung, sondern das Einbetten in jegliche Art von nachvollziehbarer und zum aktuellen Feld passenden Geschichte helfe, die Regungen, die auf eine an bewusster Entscheidung vorbei sich realisierende Handlung drängen, zu symbolisieren und kommunizieren und damit in die Intersubjektivität des Paares einzubinden. Erst dies erlaube auch, die Regungen dem Erleben des Patienten zugänglich zu machen. Vielleicht ist diese Art der Psychoanalyse ja die analytischste in dem Sinne, dass sie eine neue Erfahrung mit sich selbst und anderen ermöglicht, während die Arbeit an Erinnerungen und der Lebensgeschichte droht, kognitiv einseitig zu bleiben, wenn sie nicht in der Offenheit für neue Erfahrungen im Hier und Jetzt gründet. Doch selbst Patienten einer solchen Therapie werden, wenn auch nicht notwendigerweise in der Therapie, so doch in anderen Kontexten im Lichte ihres durch die Therapie veränderten Selbstverständnisses auch ihre Vergangenheit anders erinnern und ihr Leben anders erzählen. Das Unbewusste als implizites Wissen? Es gibt eine Reihe von Versuchen, am Anspruch der Psychoanalyse als allgemeine Psychologie festzuhalten, und dies mit einem Brückenschlag zur Experimentalpsychologie zu belegen. So übersetzte Erdelyi 2006 die klassische Verdrängungs- und Abwehrlehre in die Termini der klassischen Gedächtnispsychologie. Allerdings ist die klassische Gedächtnispsychologie so eng an experimentelle Paradigmata des Lernens geknüpft, dass dieser Versuch nur schwerlich einen substantiellen Brückenschlag schaffen kann. Abschließend gilt es, einen Versuch, die aktuelle therapeutische Psychoanalyse mit der moderneren Gedächtnispsychologie ins Gespräch zu bringen, kritisch zu erörtern. In einem einflussreichen Editorial schlägt Peter Fonagy (1999) vor, die Begriffe der Verdrängung und des dynamischen Unbewussten aufzugeben. Gearbeitet werde in der Psychoanalyse an der Modifikation von interpersonellen Wahrnehmungsmustern, die im ersten Lebensjahr erworben und deshalb gar nicht erst verdrängt sein könnten, sondern lediglich zum impliziten (versus bewusst-expliziten) Gedächtnis gehörten, oder auch zum prozeduralen (versus sprachlich-deklarativem) Gedächtnis. Fonagy sucht so den Anschluss an die Neuropsychologie, die diese gedächtnispsychologischen Begriffe aufgegriffen hat und Aktivitäten den verschiedenen Hirnarealen zuweist. Auch Fonagy hält im Grunde die psychoanalytische Gedächtnistheorie für obsolet. Nun ist der Prototyp des impliziten Gedächtnisses in der Gedächtnispsychologie dasjenige implizite Wissen, das durch das Erlernen und wieder Vergessen von Material zustande kommt und ein erneutes Lernen des Materials erleichtert, obwohl es selbst nicht zugänglich ist. Deshalb ist implizites Gedächtnis nicht identisch mit dem noch nie Gewussten, auf das Fonagy abzielt. Der Vergleich mit dem prozeduralen Gedächtnis ist zutreffender, denn dieses umfasst habitualisierte Bewegungsabläufe wie Fahrradfahren, die nie zur Gänze in Worte gefasst werden können. Auch dem prozeduralen Gedächtnis mag das Sich-Einschwingen auf andere zuzuordnen sein, wie es der Säugling mit der Bezugsperson lernt, und wie es der Erwachsene weiter unbemerkt tut, nicht zuletzt in der Beziehung zum Analytiker. Colwyn Trevarthen spricht in einer geglückten Formulierung von der Choreographie der Beziehung. Auch Daniel Stern und Kollegen (Boston Change Process Group, 2007) betonen nicht wie Fonagy Wahrnehmungsmuster, sondern eben jene Weisen des Miteinander-Seins als die grundlegende Matrix für Objektbeziehungen, die verinnerlicht dann spätere Weisen des Miteinander-Seins strukturieren. Doch die Rede vom prozeduralen Wissen erlaubt es nicht, zwischen mehr und weniger neurotischen Weisen des Miteinander-Seins zu unterscheiden, obwohl dies auf der Ebene von vorsprachlichen Interaktionen durchaus möglich ist, wie die Arbeiten zur Bindungssicherheit zeigen. Defensive bzw. unsichere Bindungsmuster sind denn auch mit Beeinträchtigungen des autobiographischen Gedächtnisses insofern verbunden, als Menschen mit unsicher-vermeidenden Bindungsmustern sich überhaupt schlechter an die Kindheit erinnern, und beide unsicher

Tilmann Habermas

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gebundenen Typen mehr Schwierigkeiten haben, autobiographisches Wissen mit konkreten autobiographischen Erinnerungen zu verknüpfen. Als das primäre Resultat von Konflikten sind heute nicht mehr Gedächtnisverzerrungen anzusehen, sondern vielmehr Abwehrphänomene in der Interaktion – darin ist sich die psychoanalytische Literatur heute weitgehend einig. Und wahrscheinlich ist sie sich ebenso darin einig, dass eine erfolgreiche Therapie primär neurotische Beziehungsmuster ändert. Doch das wird, würde Ferro einwenden, nicht ohne Beteiligung des In-Worte-Fassens und Erzählens von Beziehungsschicksalen erreicht. Und über Ferro hinausgehend lässt sich argumentieren, dass ein wichtiger, wenn nicht gar unerlässlicher Weg doch über das Verknüpfen von neu erzielten Einsichten in aktuelle Gefühle, Wünsche und Ängste mit Erinnerungen und der eigenen Lebensgeschichte geht. Denn oft geben erst der Vergleich von aktuellen Anmutungen, Gefühlen und Einfällen mit Informationen aus dem Leben des Patienten Aufschluss oder zumindest die Bestätigung für Vermutungen, was die im Moment noch nicht verstandenen Regungen bedeuten könnten. An der therapeutischen Beziehung gewonnene Einsichten können erst dann eingefleischte Weisen des Miteinander-Seins erschüttern, wenn sie das Selbstverständnis in Frage stellen und weitere Teile des Lebens besser verstehen lassen. Wenn man mit Freud an einem über die therapeutische Situation hinausreichenden Erkenntnisanspruch festhält, dann muss man psychoanalytische Einsichten zumindest mit Teilen der modernen Psychologie verträglich formulieren können. Dafür muss man an andere Begriffe der experimentellen Gedächtnispsychologie sowie stärker an die Säuglingsforschung, an die Entwicklungspsychologie des Erinnerns und der Emotionen sowie an Modellen spezifisch autobiographischen Erinnerns anknüpfen. So bietet es sich an, mit Stefan Granzow (1994) an Modellen anzuschließen, die zwischen einem wahrnehmungs- und handlungsnahen sowie einem reflexiv-sprachlichen Gedächtnissystem unterscheiden, um den Prozess des Bewusstwerdens von Handlungsimpulsen abzubilden. Es bietet sich in der soeben angedeuteten Weise an, auf der Handlungs- und Interaktionsebene Konflikte und Abwehrprozesse zu identifizieren, beginnend bei Säuglingen. In der weiteren Entwicklung sind dann deren Internalisierung und Reaktualisierung zu modellieren und studieren – dazu gibt es auch Anknüpfungspunkte in der Entwicklungspsychologie der Emotionen bspw. bei Manfred Holodynski. Robyn Fivush (s. Kap. I.3) hat vorgemacht, wie man die Internalisierung interpersoneller Praktiken am Beispiel des Erinnerns studieren kann. Wenn man sich die gemeinsamen Erinnerungserzählungen von Müttern und Kindern genauer anschaut, kann man entdecken, dass die nicht-elaborierten Erinnerungsgespräche sich häufig durch defensive Prozesse insbesondere der Mutter auszeichnen, die sich gegen ein kooperatives Erinnern zu richten scheinen. Deren Internaliserung erschwert es Kindern, dann später selbständig zu erinnern. In der Interaktion gründende defensive Prozesse verzerren dann ab der Adoleszenz systematisch die Lebenserzählungen, wie dies Otto Kernberg und Margaret Main gezeigt haben. Schließlich eignet sich Martin Conways Modell des Aufbaus autobiographischen Wissens als Anknüpfungspunkt, um den geringeren Einfluss von Abwehrprozessen bei nicht-intentionalem Erinnern zu modellieren.

Literatur Boston Change Process Study Group: The foundational level of psychodynamic meaning: Implicit processes in relation to conflict, defense and the dynamic unconscious. In: International Journal of Psychoanalysis 88 (2007), 843-860. Erdelyi, Mathew Hugh: The unified theory of repression. Behavioral and Brain Sciences 29 (2006) 499-551. Ferro, Antonino: Psychoanalyse als Erzählkunst und Therapie. Gießen 2009. Fonagy, Peter: Memory and therapeutic action. In: International Journal of Psychoanalysis 80 (1999), 215-223. Freud, Sigmund: Die Ätiologie der Hysterie. In: Ders. Gesammelte Werke, Band 1. Frankfurt a.M. 1896, 423-460. - : Über Deckerinnerungen. In: Ders. Gesammelte Werke, Band 1. Frankfurt a.M. 1899, 529-554. - : Konstruktionen in der Analyse. In: Ders. Gesammelte Werke, Band 16, 41-56. Frankfurt a.M. 1937. Granzow, Stephan: Das autobiographische Gedächtnis: Psychoanalytische und kognitionswissenschaftliche Aspekte. München 1994. Kris, Ernst: The personal myth – a problem in psychoanalytic technique. In: Journal of the American Psychoanalytic Association 4 (1956), 653-681. Schafer, Roy: The analytic attitude. New York 1983.