ERIC LINDSTROM. Wie ich dich sehe

ERIC LINDSTROM Wie ich dich sehe E R Z Ä H L E N D E S P R O G R A M M JU G EN D BU C H i Liebe macht sehend »Ich bin wie du mit geschlossenen A...
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ERIC LINDSTROM

Wie ich dich sehe

E R Z Ä H L E N D E S P R O G R A M M JU G EN D BU C H

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Liebe macht sehend »Ich bin wie du mit geschlossenen Augen, nur cleverer!« Das ist Parkers Credo und sie hat strenge Regeln aufgestellt, wie sie behandelt werden will. Seit der Trennung von ihrem Freund Scott und dem Tod ihres Vaters verlässt sie sich nur noch auf sich selbst. Für jeden Tag, an dem sie nicht heult, gibt sie sich einen Goldstern. Sie trainiert fürs Laufteam – okay, sie ist blind, aber ihre Beine funktionieren ja. Und sonst hält sie sich die meisten Leute mit Ruppigkeit vom Hals. Bis Scott ihrer Liebe doch noch eine Chance geben will … • Realistisch und unsentimental aus der Sicht eines blinden Mädchens erzählt • Eine sympathische, außergewöhnliche Protagonistin • Wunderschönes, lebensbejahendes Happy End • Ein starkes Debüt!

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Prolog Prolog Mein Wecker piepst. Mit einem Schlag bringe ich ihn zum Verstummen und drücke gleichzeitig den Knopf für die Sprachansage, weil ich immer gern auf Nummer sicher gehe. »Fünf Uhr fünfundfünfzig«, meldet Stephen Hawking. Ich schiebe das Fenster hoch und halte eine Hand nach draußen. Kühl, neblig, aber nicht zu feucht. Wahrscheinlich bewölkt. Wahllos greife ich mir Klamotten aus dem Schrank – Sport-BH, ärmelloses Shirt, Shorts, Joggingschuhe. Meine Laufsachen sind sowieso alle schwarz. Die Tücher nicht. Ich befühle sie, taste nach den kleinen Etiketten und überlege, in welcher Stimmung ich bin. Aus irgendeinem Grund verspüre ich leichte Unruhe und entscheide mich für eins, das vielleicht hilft: gelbe Baumwolle mit aufgestickten Smileys. Ich binde es mir um den Kopf und schiebe es so zurecht, dass zwei der Smileys genau auf Höhe meiner geschlossenen Lider grinsen. Als ich nach draußen trete, spüre ich die Morgensonne warm auf dem Gesicht. Anscheinend ist der Himmel doch klar, zumindest am Horizont. Ich ziehe die Haustür hinter mir zu und stecke den kalten Schlüssel in meine Socke. Vom Plattenweg aus biege ich nach rechts auf den Gehsteig ab und jogge los. Die drei Blocks bis zum Gunther Field sind fest in mei-



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ne Füße, meine Beine und mein Körpergefühl einprogrammiert. Nach sieben Jahren kenne ich jede einzelne Bodenwelle, jeden Riss im Asphalt, jede hervorstehende Wurzel. Ich muss nicht sehen, wo ich langlaufe, ich spüre es. »Parker, STOPP !« Schwankend und mit vorgestreckten Händen bleibe ich abrupt stehen, als würde vor mir ein Loch im Boden klaffen – was durchaus sein kann, falls seit gestern ein Bagger hier gewesen ist. »Entschuldige bitte, Parker!« Mrs Reiches leidende Hausfrauenstimme hallt von der Veranda zu mir rüber. Jetzt kommt sie mit klimpernden Schlüsseln die Einfahrt heruntergeeilt. »Lens Bruder ist gestern ziemlich spät nach Hause gekommen und …« Ich stelle mir lieber nicht vor, wie es sich angefühlt hätte, wenn ich in vollem Lauf gegen seinen Van geprallt wäre. Die Hände weiter vor mir ausgestreckt, gehe ich Schritt für Schritt vorwärts, bis ich kaltes, von Morgentau überzogenes Blech unter den Fingerkuppen spüre. »Schon okay. Sie müssen den Wagen meinetwegen nicht extra umparken.« Ich taste mich an der Karosserie entlang. »Doch, doch, natürlich mach ich das. Wenn du zurückkommst, ist er weg.« Im Weitergehen höre ich, wie Mrs Reiche hinter mir den Wagen startet. An der Ecke warte ich, bis sie fertig ist und den Motor wieder abgestellt hat, um zu lauschen, ob ein Auto kommt. Es ist aber bloß Vogelgezwitscher zu hören, also überquere ich die Kreuzung. Als ich ein paar Minuten später den Maschendrahtzaun berühre, der das Baseballfeld umgibt, wende ich mich nach

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rechts. Vierzehn Schritte zur Öffnung im Zaun und dann links hindurch mit ausgestreckter Hand, nur für den Fall, dass ich mich heute ausnahmsweise mal verschätzt haben sollte, obwohl mir das seit Jahren nicht mehr passiert ist. Alles geht gut. Wie immer. Das Feld ist ungefähr hundert Meter breit. Falls hier seit gestern Morgen irgendwelche neuen Hindernisse aufgetaucht sein sollten, stehen die Chancen eher schlecht, dass ich sie entdecke, indem ich einmal quer rübergehe. Aber so verrückt es auch ist, dass ich überhaupt hier laufe – es wäre noch viel verrückter, loszulaufen, ohne die Strecke vorher wenigstens einmal abgegangen zu sein. Nach hundertzweiundvierzig Schritten bin ich am Zaun auf der gegenüberliegenden Seite angekommen. Alles wie immer. Ich mache ein paar Dehnübungen, danach bin ich bereit. Fünfundsiebzig lange Laufschritte. Ich drossle mein Tempo, schlage den Zaun ab und laufe das Ganze wieder zurück. Ab der fünften Runde beginne ich zu sprinten. Diesmal sind es nur sechzig Schritte, wieder langsamer zum Zaun, Abschlag und zurück. Anschließend zwei Schritte zur Seite, um wieder zurück auf meine ursprüngliche Startposition zu kommen. Obwohl es wärmer und windstiller ist als gestern, fühlt sich die Luft, durch die ich fliege, kühl an. Die schlimme Sommerhitze beginnt erst in ein paar Wochen. Nach dem zehnten Sprint beschließe ich, dass es genug ist. Ich überquere wieder die Straßenkreuzung und falle danach in einen leichten Trab, den ich verlangsame, als ich mich der abgesenkten Einfahrt der Reiches nähere. Ich habe zwar gehört, wie Mrs Reiche den Wagen weggefahren hat, aber wenn

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man ein Hindernis einmal abgespeichert hat, ist es schwierig, es aus dem Kopf zu löschen. Sobald ich erneut Gehwegplatten unter meinen Sohlen spüre, laufe ich wieder schneller. Ich schließe die Haustür auf und weiß sofort, dass irgendwas nicht stimmt. Es riecht nicht nach Frühstück. Selbst an normalen Cornflakes-Tagen gibt es immer auch Toast. In der Küche höre ich nur das Summen des Kühlschranks, das Ticken der Uhr über dem Herd, meine Atemzüge und meinen Herzschlag, als ich die Luft anhalte, um in die schläfrige Stille des Hauses hineinzuhorchen. Auf dem Weg zur Treppe stolpere ich im Flur über etwas, gehe in die Hocke und taste über den Boden. Vor mir liegt mein Vater in seiner Flanell-Schlafanzughose und einem T-Shirt. »Dad? Dad! Was ist los?« »Parker.« Seine Stimme klingt merkwürdig monoton. Nicht gepresst oder als wäre er verletzt. »Bist du gestürzt? Was ist passiert?« »Hör zu«, sagt er immer noch ganz ruhig und nicht so, wie jemand klingen müsste, der vor einer Treppe auf dem Boden liegt. »Jeder Mensch hat Geheimnisse, Parker. Jeder Mensch ist ein Geheimnis.« In dem Moment wache ich auf –  wie immer –, aber das ist genau, was letztes Jahr am dritten Juni, eine Woche nach Ferienbeginn und zwei Wochen nach meinem sechzehnten Geburtstag, wirklich passiert ist. Jedenfalls bis auf zwei Details. Erstens: Ich wäre zwar tatsächlich beinahe gegen den Van der Reiches geknallt, das war aber erst ein paar Wochen später. Und zweitens lag mein Vater nicht vor der Treppe auf dem Boden. Als ich ihn gefunden habe, lag er noch im Bett und war schon seit Stunden tot.

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EINS Eins Marissa schluchzt. Wieder mal. »Er … er … hat mich überhaupt nicht beachtet …« Ihre Stimme kommt von so tief in ihr drin, dass es sich beinahe anhört, als würde sie grunzen. Echt traurig. Dabei ist sie eigentlich alles andere als bescheuert. Jedenfalls, wenn es nicht gerade um Owen geht. »Könnt ihr nicht doch mal mit ihm reden?« Ich sage darauf genauso wenig wie Sarah. Wir geben anderen gern gute Ratschläge – sogar ganz ohne Gegenleistung –, mischen uns aber nie aktiv ein. Das haben wir Marissa auch schon tausendmal gesagt. Es hat keinen Sinn, kostbaren Sauerstoff zu verschwenden und es ihr noch mal zu sagen. Stattdessen warten wir, bis sie sich ausgeheult hat. Es gongt sowieso gleich. Letztes Schuljahr haben wir genau dieses Szenario alle paar Wochen in Dauerschleife durchgespielt. Ansonsten spricht Marissa kaum mit mir. Ich könnte nicht mal sagen, wie sich ihre Stimme anhört, wenn sie gerade mal nicht so klingt, als würde sie an ihren Tränen und ihrem Rotz ersticken, falls sie sich nicht schleunigst die Nase putzt. Die meisten Menschen denken, wenn man blind wird, werden die übrigen Sinne automatisch schärfer. Was auch stimmt, aber es ist nicht so, als hätte man plötzlich Super-

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kräfte. Der größte Unterschied besteht eigentlich darin, dass man sich besser auf das Wesentliche konzentrieren kann, sobald man nicht mehr alles sieht. Andererseits nehme ich unsere Sitzungen mit Marissa dadurch auch mit jedem einzelnen klebrigen akustischen Detail wahr, das ihr Mund und ihre Nase hervorbringen können. So wie sie klingt unerwiderte Liebe für mich. Ziemlich eklig. »Kannst du nicht was machen, Parker?« »Tu ich doch. Ich sage dir, dass du dir einen anderen suchen sollst …« Unserem erprobten Drehbuch folgend, lege ich eine Pause ein, damit sie mich unterbrechen kann. »Neeeeein!« Eigentlich bin ich die ungekrönte Königin der Kunst, es mir am Arsch vorbeigehen zu lassen, was andere Leute über mich denken, aber selbst mir nötigt es Respekt ab, dass es Marissa offensichtlich komplett egal ist, wenn jeder auf dem Pausenhof mitbekommt, wie sie schluchzend zu einer Lache aus Tränen und Schnodder zerfließt – und das auch noch am ersten Tag des neuen Schuljahrs. »So was wie Seelenverwandte gibt es nicht, Marissa. Und wenn es sie gäbe, wären das zwei Menschen, die sich beide zueinander hingezogen fühlen. Du willst mit Owen zusammen sein, Owen will aber lieber mit Jasmine zusammen sein, was bedeutet, dass Owen nicht dein Seelenverwandter ist, verstanden? Du bist bloß seine Stalkerin.« »Was? Mit Jasmine?« Ich genieße den kurzen Moment der Stille, während sie diese Information verdaut, die so neu nicht ist, weil wir ihr das eigentlich schon letztes Frühjahr gesagt haben. »Aber … aber die ist doch …«

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»Ja, stimmt. Jasmine steht auf Mädchen, aber sie hat noch nicht die Richtige gefunden, weswegen sich Owen dämlicherweise einbildet, er hätte eine Chance bei ihr. Das macht es noch ein bisschen sinnloser, dass er ihr hinterherläuft, und noch trauriger, dass du ihm hinterherläufst. Du musst endlich einsehen …«, Sarah schnalzt warnend mit der Zunge, aber wenn ich erst mal in Fahrt bin, fällt es mir manchmal schwer, die Bremse zu ziehen, »… dass es zwischen Owen und dir nur genau eine einzige Gemeinsamkeit gibt. Nämlich die Tatsache, dass ihr beide in jemanden verliebt seid, der nichts von euch will. Mit Liebe, Seelenverwandtschaft oder dem, was man Beziehung nennt, hat das überhaupt nichts zu tun.« Das darauf folgende Schweigen ist das perfekte Beispiel dafür, was ich am Blindsein am allermeisten hasse: nicht sehen zu können, wie Leute auf das reagieren, was ich sage. »Weil er mich nicht kennt …« Marissa schnieft. »Aber wenn er mich kennenlernen würde, dann …« Der Gong bringt die Rettung. Für mich und für sie. Vor allem für sie. *** »Hey, hey … wenn das nicht Parker Blindfisch in Begleitung ihrer treuen zweibeinigen Sehhilfe ist«, höre ich eine vertraute helle Stimme von links und dazu das Klappern einer Schließfachtür, die geöffnet wird. »Hilfe, bitte sag mir, dass dieses Mädchen ihr Schließfach nicht direkt neben meinem hat«, flüstere ich Sarah theatralisch zu und tue so, als wäre ich entsetzt. »Das wäre mein Tod. Ich hab nämlich in den Ferien rausgefunden, dass ich

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allergisch gegen PVP bin, und muss deswegen jetzt immer einen EpiPen im Rucksack mitschleppen.« »Ach, ich bin also PVP?«, fragt Faith schnippisch. »Und was soll das sein? P … P wie … Populäre …?« »Polyvinylpyrrolidon. Ein gern verwendeter Inhaltsstoff in Haarsprays, Haargels, Klebestiften und Sperrholz.« »Ich glaube, da irrst du dich. PVP steht für populäre vielumschwärmte Persönlichkeit.« Ich muss lachen und falle aus meiner Rolle. »Nicht schlecht, Fay-Fay. Hast du dir das etwa gerade selbst ausgedacht?« »Na klar. Ich bin nicht so doof, wie du aussiehst.« Eine Welle aus Kiwi-Erdbeer-Aromen trifft mich und ich stähle mich innerlich, weil ich weiß, was gleich passiert. Unglaublich, dass jemand, der so zart und dünn ist wie Faith, so fest zudrücken kann. Wenn sie einen umarmt, fühlt sich das immer an, als wäre sie ein Hundert-Kilo-Bär, der einen in den Schwitzkasten nimmt. Ich halte sie einen Moment zu lange fest und lasse dann wieder los. »Brauchst du echt einen EpiPen?«, fragt sie. »Du weißt doch gar nicht, was ein EpiPen ist.« Sarah lacht. »Mein Neffe hat eine Erdnussallergie«, sagt Faith. »Du weißt anscheinend nicht, dass du eine arrogante, überhebliche Kuh bist.« »Doch. Das hab ich schon öfter gehööööööööööö…« Offensichtlich kommt Sarah auch gerade in den Genuss einer Umarmung. »Was sagt ihr zu den ganzen fremden Leuten, die sich hier

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rumtreiben?«, fragt Faith so laut, dass alle um uns herum es hören können. »Die Schule ist der reinste Zoo.« »Gut, dass sie die Neuen sind und nicht wir«, sagt Sarah.  Ich bin ganz ihrer Meinung. Der Gemeinderat von Coastview hat vor einiger Zeit entschieden, dass die Stadt sich keine zwei Highschools mehr leisten kann, weshalb die Jefferson High geschlossen wurde und mit Beginn dieses Schuljahrs sämtliche Schüler auf die Adams übergewechselt sind. In den Fluren wimmelt es von Leuten, die DIE REGELN nicht kennen, denn diesmal sind es nicht nur die Neuntklässler, die neu sind. Ich muss mich an Sarahs Arm festklammern, um durch das Gedrängel zu meinem Schließfach zu kommen. Es wird nicht einfach werden, diese ganzen Ahnungslosen zu erziehen, aber wenigstens muss ich nicht den Grundriss einer neuen Schule auswendig lernen. »Oh, hey, ich muss dich nochmal drücken«, sagt Faith, die sich anscheinend gerade an Regel Nr. 2 erinnert hat, diesmal etwas leiser. Sie umarmt mich. »Entschuldige, dass ich nicht kommen konnte. Wir waren den ganzen Sommer in Vermont, sonst hätte ich mich auf jeden Fall gemeldet.« »Klar, weiß ich doch«, sage ich schnell und hoffe, dass das Thema damit abgehakt ist. »Sag mal, war das Marissa, mit der ihr da vorhin auf dem Hof geredet habt? Es sah aus, als würde sie heulen.« »Neues Jahr, alte Story«, seufzt Sarah. »Bitte sagt mir, dass es diesmal wegen einem anderen ist.  … Im Ernst? Nein …!« Ich stelle mir die verschiedenen Gesichtsausdrücke vor, um die Lücken zu füllen, Nicken, hochgezogene Augenbrauen. »Deswegen hat sie geweint? Die denkt aber auch nur an

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sich, oder … Moment mal!« Ich höre, dass Faith sich umgedreht hat, um mich anzusehen. »Weiß sie es überhaupt? Oder habt ihr es ihr etwa gar nicht erzählt?« »Natürlich hab ich es ihr erzählt«, sage ich. »Ach, übrigens, Marissa, während du dich in den Sommerferien nach einem Typen verzehrt hast, den du nicht mal kennst, ist mein Vater gestorben und meine Tante ist mit ihrer Familie hergezogen, weil unser Haus größer und schöner ist als ihrs.« »Das hast du aber nur gedacht, oder?«, sagt Faith. »Das hast du nicht wirklich so zu ihr gesagt?« »Gott, Fay. Ich sage den Leuten ehrlich meine Meinung, aber ich bin nicht fies.« »Mit kleinen Ausnahmen«, wirft Sarah ein. »Ich muss los. Mathe.« Ich klappe meinen Stock auseinander. »Es sind so viele Neue unterwegs, dass ich bestimmt eine Weile brauche, bis ich mich zum Klassenzimmer durchgekämpft hab.«  »Hat sie noch keinen neuen Buddy?«, höre ich Faith Sarah fragen, während ich mich klappernd durch den Flur navigiere. »Petra ist ja nach Colorado gezogen, oder?« Ich bin froh, dass sie sich so locker darüber unterhalten können, ohne ein blödes Gefühl zu haben. Die beiden kommen für das Best-Buddies-Programm sowieso nicht in Frage. Faith ist viel zu beschäftigt (eben eine populäre vielumschwärmte Persönlichkeit) und Sarah kann mir nicht helfen, weil ich in vielen Fächern in Leistungskursen bin und sie bloß im Grundkurs. Allerdings hat sich das Problem schon von selbst erledigt, weil es eine Schülerin gibt, die neu von der Jefferson zu uns gekommen ist, in allen meinen Kursen sitzt und sich sofort bereit erklärt hat, mein Buddy zu werden.

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*** Sobald ich mich auf den Platz ganz hinten rechts gesetzt habe, der in allen Kursen mit einem Namensschild für mich reserviert ist, geht es auch schon los. »Du bist also blind, was?« Ich neige meinen Kopf der unbekannten Jungenstimme entgegen, die von dem Platz direkt vor mir kommt. Ziemlich tief, ziemlich machomäßig. Klingt nach Footballspieler oder irgendeinem anderen Sportidioten. Aber das behalte ich erst mal nur als vorläufige Arbeitsthese im Hinterkopf, während ich auf weitere Hinweise warte. »Bist du sicher, dass du im richtigen Kurs sitzt?«, frage ich. »Mathe für geistige Überflieger ist am Ende des Gangs. Hier ist der ganz normale Leistungskurs.« »Du bist wahrscheinlich bei der Kensington, oder? Fangt ihr dieses Jahr schon so früh an?« Ich habe keine Ahnung, was er damit meint oder wer diese Kensington sein soll. Vielleicht eine Lehrerin von der Jefferson. »Hey, Dumpfbacke«, sagt eine andere Jungenstimme, die jemandem gehört, der links von Dumpfbacke sitzt. »Sie ist wirklich blind.« Interessant. Diese zweite Stimme klingt zurückhaltender und erstaunlich gelassen dafür, dass ihr Besitzer gerade einen Sportidioten mit Macho-Stimme beleidigt hat. Irgendwie kommt sie mir vage bekannt vor, aber ich kann sie noch nicht zuordnen. »Die Kensington stellt den Leuten doch immer so Auf-

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gaben. Die müssen dann eine Zeit lang so tun, als wären sie …«  »Ich weiß. Und ich weiß auch, dass sie keine Blindenstöcke verteilt. Erst recht nicht am ersten Schultag in der ersten Stunde.« »Aber wenn sie wirklich blind wäre, würde sie doch keine Augenbind…« »Glaub mir einfach und halt’s Maul, okay?« Harsche Worte, die aber mit gleich bleibend freundlicher Stimme ausgesprochen werden. Heute Morgen habe ich mich für ein Tuch aus weißer Seide mit zwei großen schwarzen X auf jedem Auge entschieden. Ich hatte noch kurz überlegt, ob ich nicht doch lieber mein japanisches Stirnband nehmen soll, auf dem in Kanji »Kamikaze« steht, was wörtlich übersetzt »Göttlicher Wind« bedeutet, ich wollte die Frischlinge aber nicht mit so einer doppeldeutigen Botschaft verwirren. Jedenfalls weiß ich jetzt, dass es ein Fehler war, meine Weste zu Hause zu lassen. Normalerweise laufe ich immer in einer verschlissenen Armeejacke mit abgetrennten Ärmeln herum, die über und über mit Buttons übersät ist, die mir Freunde im Laufe der Jahre gebastelt oder gekauft haben. Darauf stehen Sprüche wie Ja, ich bin blind. Krieg dich wieder ein! oder Blind – nicht taub, nicht geistig beschränkt und mein persönlicher Favorit: Parker Grant braucht keine Augen, um dich zu durchschauen. Tante Celia hat mich heute Morgen überredet, sie nicht anzuziehen, weil sie meinte, ich würde damit die Leute von der Jefferson, die mich noch nicht kennen, vor den Kopf stoßen. Sie hat sich geirrt. Diese Leute haben es dringend nötig, vor den Kopf gestoßen zu werden.

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Ich höre Schritte und dann das Knarzen von Holz und quietschendes Metall, als sich jemand auf den Platz links von mir fallen lässt. »Hi, Parker.« Das ist Molly. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich musste noch mal im Sekretariat vorbei.« »Es hat noch nicht gegongt, also bist du nicht zu spät.« Ich versuche entspannt zu klingen und ihr gleichzeitig klarzumachen, dass die Tatsache, dass sie mein Buddy ist, nur bedeutet, dass sie mir ein bisschen im Unterricht helfen soll und nicht beim Leben im Allgemeinen. »Aha, du heißt also Parker …«, sagt Dumpfbacke. »Hey, toll«, lobe ich ihn. »Das hast du daraus geschlossen, dass mich jemand so genannt hat, stimmt’s? Mit der gleichen Methode hab ich rausgefunden, wie du heißt. Nämlich Dumpfbacke. Aber Dumpfbacke klingt irgendwie nicht besonders nett. Ich nenne dich lieber D.B.« »Ich …« »Schsch…« Ich schüttle den Kopf. »Bitte, D.B. Mach das nicht kaputt.« Das darauf folgende Schweigen ist das perfekte Beispiel dafür, was ich am Blindsein am allermeisten liebe: nicht sehen zu können, wie Leute auf das reagieren, was ich sage. »Ich …«, versucht es D.B. noch einmal, dann gongt es.

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Über den Autor Eric Lindstrom hat viele Jahre als Game Designer, Art Director und Autor in der Unterhaltungsindustrie gearbeitet und wurde dann Vor- und Grundschullehrer. Er lebt mit seiner Frau und mehreren Katzen an der Westküste der USA. Mehr unter www.ericlindstrombooks.com.

Eric Lindstrom Wie ich dich sehe Aus dem Englischen von Katarina Ganslandt Umschlag: formlabor Ca. 240 Seiten Ab 14 Jahren 15 x 22 cm, Hardcover mit Schutzumschlag 978-3-551-58347-5 Ca. € 15,99 (D) / € 16,50(A) / sFr. 23,50 Erscheint im Dezember 2016 book